Der gezeichnete Mensch - Nikolas Huperz - E-Book

Der gezeichnete Mensch E-Book

Nikolas Huperz

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Beschreibung

Ein Trüffelschwein im Bummelstreik, Dolores platzt vor Freundlichkeit und Karl wird vielleicht (vielleicht aber auch nicht) von Außerirdischen entführt. Absurd, rätselhaft und ständig stirbt jemand. Vogel Dave erforscht die Menschentiere, Wechselblüter Gustav wird zum König der Schildkröten. Warum bilden die Blutspuren an den Wänden ein seltsames Muster? Wie kam es, dass plötzlich alle Möbel aus der Stadt verschwanden? Und wer ist eigentlich dieser Friedbert Erkling? 55 Geschichten. Grotesken, Rätsel und Paranoia.

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Seitenzahl: 175

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Dem Dachs

Inhalt

Bummelstreik

Der Giftmörder

Ronja

Der Fliegenklatschenkönig

Salatreste

Der gezeichnete Mensch

Der dreitägige Sturm

Der Dachs und die Prohibition

Der Fall Ronnie Bartling

Super Gnu

Zeichnungen

Der Laubblätter-Fotograf

Verhältnisse

Von der Erforschung des Lichts

Alles in Ordnung

Archibald und die Liebe

Vom Bau der Eisenbahn

Möbel

Fridolin und die Pauke

Der Finanzhai

Von der Wichtigkeit der Gesetze

Die nicht zielgerichtete Handlung

Liebe in Konserven

Dirk

Das Rumpeln überm Stillen Eckchen

Personenausruf

Bitte nicht nachmachen!

Bei näherer Betrachtung des Reflexes

Frankophil

Dave und die Menschentiere

Emilios guter Riecher

Lambda

Fetisch

Stein

Fiona aus den Feldern

Das Geräusch beim Treten auf Disteln

Verbote

Von der Erforschung der Ehrlichkeit

Wo die Bäume Pflanzen sind

Die Lehren des Alexander Janfeld

Irgendwo da draußen

Friedbert Erkling

Der Sache gerecht werden

Bescheidenheitsberge

Augustin

Der Schaufenstermann

Lorenz und der Berglöwe

Katharina

Gespräche mit Kojoten

Inkognito

Schlafen

Dachs II

Die Ansprache

Joe der Fiesling

Der Schildkrötenzyklus

Bummelstreik

Largo war ein Trüffelschwein und war des Suchens überdrüssig. Seinen Unmut zum Ausdruck bringend, trat er in den Bummelstreik und schleppte sich fortan mit aufdringlich langsamer Geschwindigkeit durch die Welt. Was hatte er schon davon, sich zu beeilen? Einen Bonus bekam er nicht, schlachten würde man ihn auch nicht, denn immerhin war er (trotz seines Streiks) einer der besten Schnüffler weit und breit. Den Status einmal hart erarbeitet, war er nun den Leistungsdruck leid. Immer dieser Stress! Warum nicht mal die Landschaft genießen? Ach, Largo. Rum-Ta-Ta (links), Rum-Ta-Ta (rechts), Schritt für Schritt, Meter für Meter. Er wusste schon auf große Distanz, wo man den Trüffel finden konnte. Dennoch schlurfte er bedächtig drauf zu, ließ sich alle Zeit der Welt. Hätte man ihm einen der Trüffel gegeben (sagen wir jeden fünften), hätte er sich die Sache vielleicht überlegt. Doch sie gaben ihm keinen einzigen.

Ab und an traf er einen Kollegen. Dann grüßte er, wie man das bei Arbeitskollegen eben so macht, und grunzte kurz. Der Kollege dachte sich dann immer so was wie: »Mann, dieser Largo, der kann es sich wirklich leisten, die Dinge ruhig anzugehen!«

Eines Tages gaben die Menschen ihm mehr zu essen, belohnten ihn, doch Largo wollte kein normales Essen. Er wollte die Trüffel. Sogar einen am Tag hätte er als fair empfunden, je nachdem, wie der Absatz war. Da verschickten diese Menschen das Zeug in die Städte, wo die Leute es gar nicht zu würdigen wissen. Also lehnte Largo ab, aß nicht das Belohnungsessen. Das war Largo: Largo war konsequent.

Er bummelte weiter vor sich hin, bis die Menschen ihm schließlich gaben, was er verlangte. Jeden Tag bekam er einen einzigen Trüffel. Als seine Kollegen davon hörten, traten sie ebenfalls in den Bummelstreik, manche blieben unterwegs sogar auf dem Bauch liegen und taten keinen Meter mehr. Die Menschen dachten, es handle sich um Erschöpfung, bis sie irgendwann verstanden, dass sie es Largo gleichtaten. Vielleicht hätten die Menschen Largo einfach rausschmeißen sollen, zum Verzehr freigeben. Dieser aufmüpfige Revoluzzer! Wäre Largo nicht der Beste gewesen, hätte man ihm das alles vermutlich niemals durchgehen lassen.

Der Giftmörder

Nachdem F. M. einen Mord im Fernsehen gesehen hatte, überfiel ihn plötzlich eine nagende Angst. Es war keine gewöhnliche Angst, sondern eine Angst, die beim Schließen der Augen zur Panik wurde. Sie rührte von der (mit geringer Wahrscheinlichkeit möglichen) Anwesenheit eines Fremden, ohne sein Einverständnis. Er fürchtete plötzlich, jemand könne sich in sein Zimmer schleichen, während er schlief. Der bloße Gedanke daran, dass ihn jemand im Schlaf beobachten könnte, ließ ihn erschaudern. Generell war F. M. kein ängstlicher Typ. »Das ist doch nicht normal, das ist doch nicht notwendig für das Überleben«, dachte er bei sich. Schließlich war diese Angst nicht diese, die man vor einem großen Tier hat oder vor der Höhe eines Baumes, bei deren Überwindung man sich verletzen könnte. Diese Angst baute alleine auf dem Gedanken auf, dass es theoretisch möglich gewesen wäre. Es hätte auch einen Sturm geben können oder einen Krieg. Beides wäre vielleicht sogar wahrscheinlicher gewesen als ein Mord an ihm, an dem, der noch nie wirklich jemandem aufgefallen war. Aber der Film hatte das prinzipiell mögliche Sich-Ereignen eines Mordes in sein Bewusstsein gebracht und da war es nun. Er sorgte sich, er würde noch Albträume kriegen, wenn er weiter darüber nachdachte. Es würde noch seine Psyche belasten, Spuren hinterlassen. Und wie er sich darum sorgte, schlief er auch schon ein, träumte schlecht vom Giftmörder aus dem Fernsehen, wie er nachts um seinen Körper schlich, ihn beobachtete und seine Lebensmittel vergiftete, sodass F. M. am nächsten Morgen sterben würde.

Als er aufwachte, war alles wie immer. Er ging seiner gewohnten Wege, doch als es ans Frühstück ging, stockte er plötzlich. Er hatte keine Ahnung mehr, was wirklich war und was nicht, also aß er lieber nichts (im Zweifel für die Sicherheit) und ging nach draußen.

Er hatte eine fürchterliche Woche vor sich, geprägt von Angst und Schlaflosigkeit, von unerholsamen Träumen und einer Besorgung nach der anderen, welche getätigt werden musste, um die Lebensmittel zu ersetzen, bis er schließlich auch das Gift nicht mehr im Lebensmittelgeschäft ausschloss. Vielleicht war die Sache von höherer Stelle geplant, vielleicht hingen die Lebensmittelverkäufer auch mit drin oder der sehr geschickte Einzeltäter hatte seine Stammläden ausspioniert und auch dort seine Routineartikel vergiftet. Es hätte schließlich jeder sein können. Vielleicht war der Täter auch so skrupellos, dass er (ohne Rücksicht auf Kollateralschäden) einfach überall beliebig viele Lebensmittel vergiftet hatte, nur um ihn zu erwischen. Vielleicht galt dieser Terror nur F. M.! Auch wenn diese Annahme auf irgendeine Art und Weise schon egozentrisch war, wäre es dennoch möglich gewesen.

Als ihm auch die Lebensmittelgeschäfte nicht mehr sicher genug waren, beschloss er, nicht nur seine Lieblingsläden zu meiden, sondern auch alle anderen. F. M. beschloss, nur noch die Reste von anderen zu essen, welche er auf der Straße fand. Er beobachtete seine ganz persönlichen Vorkoster sogar noch eine Weile, um zu sehen, ob sie umkippten. Wenn sie am Leben blieben (und das blieben sie immer), konnte er unbesorgt essen und trinken. Er wusste, jeder Überlebende war ein Gegenbeispiel zu seiner Befürchtung und mit jedem nahm die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passieren würde, ab. Aber vielleicht nahm sie auch gerade deswegen zu, denn der Anschlag konnte immer näher rücken. Und war nach dem 55sten Vorkoster noch nichts geschehen, so konnte doch das Essen des 56sten vergiftet sein. Und so gab er seine Wohnung auf und so verlor er seine Arbeit und so wurde er ein Obdachloser, der paranoid umherirrte. Und da fragen sich die Leute, wie es zu so was kommen kann.

Ronja

Ronja war ein Ball aus Frohsinn. Als sie Richtung Gesellschaft rollte, zerschellte sie in tausend Teile. Erst als sie sich wieder gesammelt hatte, ließ man sie herein. Zerstückelt und mit tausend Pflastern geflickt, war sie nun gebrochen genug, um nicht weiter für Unruhe zu sorgen. Ihr kindlicher Frohsinn hätte die Verhältnisse gestört. Man sagte ihr, das müsse sie doch verstehen.

Der Fliegenklatschenkönig

Als die Polizei am Morgen des 4. März 2004 zu einem Haus nahe der Akademiestraße gerufen wurde, war schnell klar, dass es sich um einen Mord handeln musste. Die Kommissare fanden am Tatort ein seltsames Muster vor, das sich über die Wände des Zimmers zog. Merkwürdige Blutspuren, manchmal dünn und manchmal dick. Gelegentlich war ein Tropfen die Wand herabgelaufen, aber es waren nicht die gewöhnlichen Spritzer, wie man sie beispielsweise bei Erstechen vorfindet. Solch ein Muster hatten sie noch nie gesehen. Da hörten sie plötzlich über Funk von einem seltsamen Übergriff, der sich am Vortag ereignet hatte. Die Ärzte im Hospital informierten die Polizei über einen sonderbaren Mann, der am 3. März gegen Nachmittag in die Notaufnahme eingeliefert worden war.

Um die Ereignisse vom 3. März 2004 zu verstehen, braucht man Kenntnis über einen stadtbekannten Mann, der sich stolz und voller Eitelkeit der Fliegenklatschenkönig nannte. Obwohl es möglich war, ganz normal mit ihm zu reden, war er äußerlich betrachtet ein Schmuddel-Typ. Da er wirklich stets eine Fliegenklatsche mit sich trug (und zwar immer), ließe sich schon in gewisser Weise sagen, dass er tatsächlich der Fliegenklatschenkönig war. Man konnte ihn oft in der Akademiestraße beobachten, wie er tänzelnd durch die Gegend hopste. Er selbst sprach niemanden an, schließlich hielt er sich selbst nicht für verrückt. Wenn er aber von jemandem gefragt wurde, was genau er dort trieb, ging er nur oberflächlich darauf ein, erklärte es nicht zufriedenstellend, doch demonstrierte durch wohl gewählte Worte, dass er kein Verrückter war. Nur ab und an, wenn jemand Unsinn redete, haute er ihm mit seiner Fliegenklatsche auf den Kopf. »Dummkopf!«, sagte er mit dem ironischen Unterton eines Kindes und stand da wie eine Fee mit ihrem Fliegenklatschen-Zauberstab. Sein Blick war in solchen Situationen immer voller Erwartung. Zutraulich schaute er sein Gegenüber an, wartete auf eine Reaktion, doch es kam nichts. Die Leute wendeten sich ängstlich von ihm ab. Dann stand er für gewöhnlich noch eine Weile dort und schaute ihnen nach. Das war der Beweis für ihn: Er konnte tatsächlich zaubern.

Einmal fragte ihn jemand, ob er denn nun der König der Fliegenklatschen wäre oder der König mit der Fliegenklatsche. »Dummkopf!«, flutschte es mal wieder aus ihm heraus und er tätschelte wie gewohnt den Kopf des Fragenden, doch dieser wollte das so nicht akzeptieren. »Antworte! Für wen hältst du dich?«, stieß er aus und packte ihn am Kragen, drückte ihn gegen die Wand und ließ nicht locker. »Ich bin der Fliegenklatschenkönig, der König mit der Fliegenklatsche!« Der Fremde schien mit dieser Antwort zufrieden. Da ließ er locker, drehte sich um, doch der Fliegenklatschenkönig haute ihm erneut (dieses Mal von hinten) auf den Kopf und rief: »Dummkopf!« Der Mann rastete aus und schlug ihn zusammen. Was für ein leichtfertiger Fehler!

Spät am Abend klingelte es plötzlich an der Tür des Schlägers. Er erwartete keinen Besuch mehr, öffnete dennoch und eine Horde Irrer mit Fliegenklatschen stürmte herein. »Wir sind die Fliegenklatschengarde des Fliegenklatschenkönigs! Ich bin der Fliegenklatschengeneral!«, sprach einer von ihnen. Der Schläger wusste nicht, wie ihm geschah. »Exekutiert ihn!«, fügte der General hinzu und schon klatschten sie ihn zu Tode.

Am Morgen des 4. März fand man ihn dann in seiner Wohnung. Die Tür stand noch weit offen und ein Nachbar hatte hineingelinst. Die Fliegenklatschengarde hatte ihre blutigen Fliegenklatschen gegen die Wände geklatscht. Das Muster, das sich dadurch ergeben hatte, war furchteinflößend, ein schreckliches Markenzeichen der Fliegenklatschengarde, nur für besondere Fälle vorgesehen. Dies war einer davon, denn der Mann hatte den König attackiert. Man hatte ein Zeichen setzen müssen.

Am 4. März gegen Mittag: Bei jeder Frage, die die Beamten dem Verdächtigen stellten, haute er ihnen mit seiner Fliegenklatsche auf den Kopf, die er sich seit seiner Einlieferung in die Notaufnahme weigerte, abzugeben. Dabei rief er »Dummkopf!«, in einem pubertär unverschämten Ton, der die Beamten an die Grenzen ihrer Geduld brachte. Die Androhung exekutiver Konsequenzen (Haft, Ausnüchterungszelle, Einweisung) verlief ins Leere. Der Fliegenklatschenkönig schien über den Dingen zu stehen. »Für Sie immer noch: Eure Majestät!«, fügte er gelegentlich hinzu, wenn die Beamten ihn erneut angingen und die Wahrheit von ihm verlangten.

Am Morgen des 5. März ging ein weiterer Notruf bei der Polizei ein, der Verdächtige habe es geschafft, sich zu entfernen. Trotz der Bewachung durch zwei Beamte vor dem Zimmer des Verdächtigen war ein Ausbruch des Monarchen nicht zu verhindern gewesen. Nach Aussagen des Pflegepersonals seien früh am Morgen merkwürdig gekleidete Männer mit Fliegenklatschen aufgetaucht, die sich vor den beiden Beamten postiert hatten. Bevor die beiden wussten, wie sie reagieren sollten, wurden sie von der Armee entwaffnet und kampfunfähig geklatscht. Im Hospital sei Panik ausgebrochen. Da sei der Verdächtige vor die Tür getreten (einer seiner Untertanen hatte ihn befreit) und die Hand gehoben. Die Garde habe augenblicklich aufgehört, die Beamten zu klatschen. Da hat er sie begnadigt und ihnen das Leben geschenkt. Daraufhin sei der Fliegenklatschenkönig mit seinem Gefolge verschwunden, als wäre es sein gutes Recht gewesen, einfach so nach draußen zu spazieren und in der Welt zu verschwinden.

Bis heute wurde er nicht gefunden. Man weiß nicht viel über ihn, doch man weiß (und das ist die einzige Botschaft, die er dem Volk jemals geschickt hat), dass man sich mit dem Fliegenklatschenkönig besser nicht anlegt.

Salatreste

»Zimmer Eins Bindestrich Fünf.«

Warum immer die hinteren Zimmer?

»Zimmer Eins Bindestrich Sechs.«

Er versucht schon seit geraumer Zeit, sich das Mitzählen abzugewöhnen. Es ist schon öfter vorgekommen, dass er (tief in Gedanken versunken) die Zimmernummer vergessen hatte oder was genau mit dem Zimmer nicht in Ordnung war. Bei mehreren Fußmärschen am Tag kommt man da schon mal durcheinander: Glühbirne wechseln, eine Tür klemmt, Bettwäsche nicht nach Belieben. Die meisten Beschwerden kann er vollkommen nachvollziehen. Er würde auch nicht hier wohnen wollen. Er weiß schließlich, wie hier alles gemacht wird, wer hier arbeitet und sich womit wie viel Mühe gibt und so weiter. Auch im Allgemeinen sind Hotels nicht wirklich seine Sache. Also zählt er einfach Zimmernummern. Am Anfang hatte noch der Blick aus dem Fenster auf die Hasen im Hof gereicht, um sich zu beschäftigen. Für die Kinder ist das eine große Sache, doch an solch eine Aussicht hat man sich schnell gewöhnt. Bei den zahlreichen Versuchen, die Hasen im Gestrüpp ausfindig zu machen, ist er öfter gegen eine Wand oder einen Wäschewagen gelaufen. Dabei hat er sich zwar nie wirklich verletzt, aber neulich hat es ein Gast gesehen und seitdem lässt er es und zählt weiter.

»Zimmer Eins Bindestrich Sieben.«

Er könnte trödeln, der Chef ist unten.

»Zimmer Eins Bindestrich Acht.«

Geschafft. Ein kurzer Blick aus dem Fenster. Manchmal muss er kurz etwas Aussicht tanken, um wieder freundlich sein zu können. Gleich wird ein Gast vor ihm stehen. Da ist gute Laune angesagt. Er klopft an die Tür. Keiner öffnet. Er klopft nochmal. Keine Reaktion. Er ruft, er würde reinkommen. Niemand antwortet. Er klopft erneut und dreht den Knauf um. Abgeschlossen. Er nimmt den Schlüssel und geht rein. Das ist eigentlich nicht erlaubt, doch wieder nach unten laufen, um den Chef zu fragen, ob er sich vielleicht im Zimmer geirrt habe? – Das hat er schon öfter gemacht und ihm wurde nur geantwortet, dass ein Fehler ausgeschlossen sei. Irgendwann hat er sogar mal gesagt bekommen, er solle sich merken, dass Fehler generell ausgeschlossen seien. Dann hat er immer wieder nach oben gehen müssen. Und dann hieß es wieder: »Zimmer Eins Bindestrich Eins und so weiter«. Dieses Mal spart er sich den Klamauk. Soll der Chef doch endlich diese Funkgeräte besorgen, die er ihm schon so oft vorgeschlagen hat. »Zu hektisch für ein Hotel«, hat der geantwortet. Dieses Mal bricht er die Regeln und betritt das Zimmer. Niemand ist da. Was nun? Er ist bestellt worden, um eine Glühbirne auszutauschen. Wenn er die Glühbirne jetzt austauscht, wird der Gast wissen, dass er in seinem Zimmer gewesen ist. So muss man denken, wenn man in einem Hotel arbeitet. Diskretion und so was. Bei solchen Fehlern kann es richtig Ärger geben und sein Chef ist Choleriker aus Überzeugung. Kein übler Kerl, nur eben cholerisch. Die Glühbirne ist gar nicht kaputt. Das Licht geht an, sobald man den Schalter betätigt. Er schließt die Tür und schlurft zurück.

»Zimmer Eins Bindestrich Sieben.«

Nochmal Blick aus dem Fenster.

»Zimmer Eins Bindestrich Sechs.«

Wie unglaublich langweilig.

»Zimmer Eins Bindestrich Fünf.«

Wo sind die Hasen?

»Zimmer Eins Bindestrich Vier.«

Da ist einer!

»Zimmer Eins Bindestrich Drei.«

Da ist noch einer!

»Zimmer Eins Bindestrich Zwei.«

»Au!« – Gegen die Wand gelaufen. Fast geschafft.

»Zimmer Eins Bindestrich Eins.«

Ende des Flurs, Treppe runter. Wenn er jetzt zum Chef geht und sagt, dass keiner da war, sagt der bestimmt, er solle wieder raufgehen und es nochmal versuchen. Außerdem hat es heute Morgen, als er die Kasse abgerechnet hatte, eine Differenz gegeben. Eins Dreißig hat gefehlt. Da musste er sich was anhören. In der Kasse waren etwas über Fünfhundert gewesen, die am Vortag noch nicht dort gewesen waren. Also zuzüglich Wechselgeld, das sowieso immer in der Kasse liegt. Da hat vielleicht einer im Stress aus Versehen mal eben statt »Eins Komma Drei Null« »Zwei Komma Sechs Null« in die Kasse eingegeben und das Geld ist niemals dagewesen. Vielleicht hatten sich die Eins Dreißig auch aus vielen kleinen Kleckerbeträgen zusammengesetzt. Hier und da mal was aufgerundet. Das hätte jeder machen können, eventuell auch er selber. Das will er gar nicht ausschließen. Manchmal springt auch einer aus der Küche rüber zur Kasse, wenn ein Gast was kaufen will. Jeder hätte etwas vergessen, falsch eintippen oder sich verrechnen können. Er ist zwar offiziell der Kassenmann, aber auch offiziell der Tellerwäscher und dazu der Assistent des Hausmeisters. Er empfängt die Gäste, danach deckt er die Tische, danach rückt er Stühle für ein Plenum zurecht, dann repariert er kurz etwas und wäscht die Teller der Gäste ab, denen er eben noch bei ihrer Anreise als Repräsentant des Hotels entgegengetreten ist. Junge für alles! Einmal hat er ein komplettes Bettgestell von einem Flügel in den anderen getragen, Meter für Meter, hat sich abgemüht. Sonst war keiner da gewesen, der das hätte machen können. Die Gäste haben das gesehen, haben sich gefragt, was das soll und ob er der einzige Angestellte dort ist. Wenn der Chef nur wüsste, wie lächerlich sich das Hotel damit macht! Sagen kann er es ihm nicht. Er würde eh nur wieder ausrasten. Wie dem auch sei: Eins Dreißig (?) soll er ihm doch vom Lohn abziehen!

Die Stimmung ist aktuell zu angespannt, also muss er ein Ergebnis vorweisen können. Schlüssel, Stofftüte, ab zu den Getränkeautomaten im Untergeschoss. Dort ist er alleine. Die beiden Automaten stehen in einer Nische. Nahende Personen würde er schon von weitem kommen hören. Wenn er Geld stehlen wollte, würde er es dort tun. Was bildet dieser Typ im Büro sich ein? Wenn er klauen würde, würde er es viel geschickter machen. Niemand würde es merken. Niemand zählt bei den Automaten genau nach. Da ist zwar ein Zähler eingebaut, aber die Getränke haben unterschiedliche Preise und bei den Snacks wird es richtig kompliziert. Dort würde er etwas mitgehen lassen. Die riesige Automatentür (so, wie eine Automatenvorderwand eben aussieht) versperrt jede Sicht. Er könnte sogar durch die Tür mit jemandem reden und zeitgleich etwas Geld in seine Taschen gleiten lassen. Aber er ist eben einfach kein Typ, der so was macht. Umso wütender macht es ihn, beschuldigt zu werden und dann auch noch wegen Eins Dreißig. Vielleicht war es die Art und Weise der Beschuldigung: Der König wirft dem Pöbel vor, er wäre durch seine Armut geradezu anfällig für Gaunereien. Vielleicht hatte der König ja selbst etwas von dem Geld genommen! Vermutlich ist so erst sein Reichtum entstanden. »Argh!« Wenn ihn eins wütend macht, dann moralisches Fehlverhalten vorgeworfen zu bekommen, wo er sich doch immer so anständig benimmt. Wütend und gedankenabwesend zählt er das Automatengeld akribisch genau, muss wegen Konzentrationsmangels mehrere Male von vorne anfangen. Damit macht er sich wieder verdächtig. Egal, was er tut, er macht es falsch. Da ruft schon wieder eine aus der Küche. »Tellerwaschen!« Er mag den rauen Umgangston und dass immer direkt gesagt wird, was Sache ist, aber jetzt gerade ist es unpassend. Er ist jetzt auch mal cholerisch! Oder darf er sich das nicht erlauben? Dürfen das nur die im Büro? Vermutlich. Er beruhigt sich, lässt seine Wut etwas abklingen und schluckt sie runter. Das kann nicht gesund sein. Er braucht eine neue Stelle. Hier wird er noch wahnsinnig!

Mit den Geldsäcken oben angekommen, donnert der Chef ihm entgegen. Warum er denn nicht in Zimmer »Zwei Bindestrich Acht« gewesen wäre. Der Gast sei aufgebracht. »Dann hätte der Gast mal im Zimmer sein sollen!«, denkt er sich. »Eins Bindestrich Acht. Da war ich doch. Hat keiner aufgemacht«, sagt er. »Zwei! Zwei Bindestrich Acht! Kannst du nicht zählen? Warst du zu faul, um eine Etage weiter nach oben zu gehen?« Diese sinnlosen Vorwürfe. Natürlich kann er zählen, natürlich wäre er auch eine Etage weiter nach oben gegangen als sinnlos auf der ersten hin und zurück. Wie soll er dem Chef das erklären. Vermutlich meint der diese Fragen gar nicht ernst. Ihm fällt der Spruch des Kollegen wieder ein, der Chef sei ein echtes Rhetorik-Genie. Laut werden und überflüssige Fragen stellen? Das soll ein Genie sein? Das Problem ist, dass es heute schon das zweite Mal ist, dass die beiden aneinandergeraten. Und es ist noch nicht mal Mittag! Außerdem wurde er vor wenigen Stunden des Diebstahls bezichtigt und steht nun mit zwei vollen Säcken Automatengeld vor ihm. Ist doch klar, wie das aussieht.

»Eins Bindestrich Eins.«

»Eins Bindestrich Zwei.«

Moment!

»ZWEI Bindestrich Eins.«

Rachegedanken.

»Zwei Bindestrich Zwei.«

Vielleicht sollte er wirklich etwas klauen. Den Ärger hat er ja

schon bekommen.

»Zwei Bindestrich Drei.«

Aber er ist nicht so einer.

»Zwei Bindestrich Vier.«

Ein neuer Job muss her.

»Zwei Bindestrich Fünf.«

Aber woher nehmen wenn nicht stehlen?

»Zwei Bindestrich Sechs.«

Haha – stehlen – welch Ironie!

»Zwei Bindestrich Sieben.«