Der Ginkönig muss sterben - Jochen Bender - E-Book

Der Ginkönig muss sterben E-Book

Jochen Bender

0,0
8,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Dreifachmord auf Mallorca trägt die Handschrift der Mafia. In seiner Finca wurden der Ginkönig, Besitzer des gleichnamigen Clubs am Ballermann, seine Schwiegermutter und eine junge Frau mit Kopfschüssen hingerichtet. Kommissar Jens Hurlebaus wird von Stuttgart nach Mallorca entsandt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jochen Bender

Als Jugendlicher konnte Jochen Bender ein gutes Buch kaum aus der Hand legen. Manch eine Lesenacht endete erst mit dem morgendlichen Gesang der Vögel. Schreiben wurde zu seinem Weg der kreativen Auseinandersetzung mit der Welt. In Landau und Tübingen studierte er Psychologie und schrieb zugleich seinen ersten Roman. Er arbeitete in der Kriminologie und im Frauenknast. Seine Erfahrungen als Psychologe fließen in seine Bücher ein.

Bisher bei Oertel+Spörer erschienen: »An der Kante«, »Die Millionen von Neresheim«, »Ein feiges Attentat« und »Tödlicher Handel«.

Zum Inhalt:

Fast alle kriminalistischen Aspekte dieses Romans sind realen Kriminalfällen entnommen. Hauptsächlich inspirierte mich ein grausamer und sinnloser Dreifachmord auf Mallorca am »Bierkönig«, seinem achtjährigen Sohn und der Pflegerin seiner zweitausend Papageien. Der Fall beschäftigte lange die Polizei Mallorcas sowie zwei zur Unterstützung dorthin entsandte deutsche Polizisten. Mir diente die Tat als Vorlage für einen rein fiktiven Krimi. Wichtig ist mir zu betonen, dass ich mich in den kriminellen Aspekten in mancher Hinsicht sehr eng an die Vorlage hielt, alle geschilderten Personen jedoch rein fiktiv sind und eventuelle Ähnlichkeiten mit den tatsächlichen Mordopfern rein zufällig wären. Aus dem Bierkönig wurde ein GinKönig, aus dem achtjährigen Sohn eine Schwiegermutter, da mir Kindsmorde zu brutal sind.

Gleiches gilt für den im Buch geschilderten Kunstdiebstahl, die Kunstfälscher und den Polizistenmord.

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2018Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: © fotolia, HankerGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-88627-591-5

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Jochen Bender

Der GinKönig muss sterben

Schwabenkrimi

Oertel+Spörer

Jeder Mensch will sich ununterbrochen über irgendetwas hinwegtäuschen. Dazu sollen ihm die anderen behilflich sein. Die es nicht tun, sind dann unliebsame Naturen!

Peter Altenberg (1858–1919)

Gedankenversunken öffne ich die Glastür. Brennende Hitze schlägt mir entgegen, während zwei tiefe Stimmen verstummen. Hinter ungewöhnlich dichten Dampfwolken zeichnet sich schemenhaft ein gedrungener Körper ab. Ich schließe die Tür hinter mir und nehme neben dem Mann Platz. Viel mehr als sein Oberarm ist nicht zu sehen. Auf einem beeindruckenden Bizeps ist ein rotes Herz tätowiert, dekoriert mit einer halben Zitronenscheibe und einer Krone. Eine Banderole mit der Aufschrift »Gin« zieht sich quer über das Herz. Ich schüttle den Kopf. Erst in diesem Augenblick sehe ich, dass von oben eine Hand mit einem schwarzen Dolch auf das Herz zielt, sowie die darunter tätowierten Worte »never again«. Der Gin scheint nicht länger seine königliche Liebe zu sein. Warum lässt man sich eine solche Bildergeschichte in die eigene Haut stechen?

In diesem Augenblick setzt die Dampfmaschine aus. Die Schwaden verziehen sich. Zwei gedrungene Männer, mit muskulösen, durch gewaltaffine Tattoos verunzierten Körpern, starren mich finster an. Die Situation riecht nach Stress und Gewalt. Ich bin kein Feigling, aber der Klügere gibt nach.

»Jedenfalls habe ich schon lange keine Dose mehr aufgemacht«, setzt in diesem Augenblick mein Nachbar die durch mein Eintreten unterbrochene Unterhaltung fort.

»Meine bekommt nur noch Trockenfutter.«

»Ich koche für meine nur noch Geflügel und frisches Gemüse. So können wir gemeinsam Abendessen, sie aus ihrem Napf und ich am Tisch.«

»Apropos Napf, bei Liebestier habe ich neulich einen total süßen gesehen. Er ist hellrosa und ringsum sind kleine Mäuschen aufgedruckt. Da konnte ich nicht widerstehen. Muschi liebt ihn total.«

»Bei Liebestier? Da hab ich meiner ein total süßes Halsband in Pink erstanden! Ich meine, sie mag eigentlich keine Halsbänder, aber ab und zu bringe ich sie doch dazu, es zu tragen.«

Ich erhebe mich.

»Oh … stört es Sie, wenn wir uns unterhalten? Dann sind wir selbstverständlich ruhig!«

»Nein, schon gut, mir ist es hier nur zu heiß«, verabschiede ich mich.

Draußen schüttle ich mich. Was zum Teufel war das? Die Typen sehen aus wie Schläger und tratschen wie Kaffeetanten jenseits des Klimakteriums. Ich versuche zu grinsen, aber es will mir nicht so recht gelingen. In letzter Zeit fühle ich mich einfach zu oft im falschen Film.

Hier im Mineralbad Cannstatt wird es heute nichts mehr werden. Daher beschließe ich, mich stattdessen ins Stuttgarter Nachtleben zu stürzen. Mit meinem alten, laut nagelnden und herrlich qualmenden Daimler überquere ich mit dem Ziel Bohnenviertel den Neckar. Durch den Schwanentunnel gelange ich zur Mooswand. Wie immer spreche ich dort ein Stoßgebet, dass diese schwäbische Innovation mir die Trennung von meinem alten Diesel ersparen möge. Das zunehmend trostloser werdende Äußere der Mooswand lässt mich am Sinn meiner Worte zweifeln.

Auf dem Rest der Fahrt geht mir das Tattoo aus dem Dampfbad nicht mehr aus dem Sinn. Es fühlt sich fremd und verstörend an, neige ich doch absolut nicht zur Esoterik. Dennoch spüre ich die absolute Gewissheit, dass ein Mord passiert ist, einer bei dem Gin und die Krone des Königs eine Rolle spielen und bei dem die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen.

Im Paul & George drängen sich Männer und Frauen auf der Jagd nach Unterhaltung, Aufmerksamkeit und einem Zipfelchen Glück. Letzteres werden die meisten auch in dieser Nacht nicht finden. Sie suchen Liebe und bekommen bestenfalls Sex. Ich bin des Jagens müde, nicht nur nach Liebe, sondern auch nach Mördern. Letzteres wäre kein Problem, arbeitete ich nicht in der Mordkommission. Lana, die Leiterin des Morddezernats, weiß um meine Müdigkeit. Nein, wirklich wissen kann sie es nicht, aber sie ahnt es. Daher versucht sie seit einiger Zeit, mich ins Innenministerium abzuschieben.

Genauso altmodisch wie ich selbst es bin, ist meine Vorliebe für schwere Rotweine aus Spanien. Dem Hype um Gin widerstand ich bisher mühelos. Ein Kellner beugt sich zu mir hinab.

»Gin!«, brülle ich ihm ins Ohr.

»Welchen?«

»Keine Ahnung!«

»Einen lokalen?«

»Okay.«

»Monkey 47, GINSTR oder Don’t call me?«

»Was ist der Unterschied?«

Sein Blick verrät, dass er mich für einen Banausen hält.

»Nun, zunächst einmal die Herbals. Dann …«

»Ginster!«

Da ich mit Affen nichts am Hut habe und das Ausmaß an Anglizismen als Pest empfinde, erscheint er mir am passendsten.

»Welches Tonic?«

Fassungslos starre ich ihn an.

»Oder wollen Sie ihn lieber …«

»Mann! Das hier soll ein gepflegtes Besäufnis mit Schnaps werden! Machen Sie daraus bitte keine Doktorarbeit! Mischen Sie irgendetwas zusammen und gut ist es!«

Beleidigt zieht der Kellner ab. Vielleicht streckt er meinen Schnaps jetzt mit Wasser aus der Toilettenschüssel. Aber letztendlich wäre mir selbst das egal, schließlich desinfiziert Alkohol.

Zwei Frauen betreten das Paul & George. Meine Blicke folgen ihren Kurven auf dem Weg zur Theke. Beide sind jung und heiß. Die weniger Heiße checkt mit einem kurzen Rundblick das Angebot an Kerlen. Ihre Augen gleiten über mich hinweg. Für sie bin ich nicht mehr als ein bedeutungsloser Teil der Requisite auf der Bühne ihres Lebens. Ich seufze.

Mein Gin kommt. Ich stürze ihn hinunter. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Trotzdem halte ich dem Kellner das leere Glas hin.

»Noch einen!«

Er sieht mich an, als sei ich etwas Glibbriges oder sonst wie Ekliges. Ein falsches Wort und er landet unsanft auf dem Boden. Er ist klug genug zu schweigen. Wir wiederholen den Vorgang dreimal, entwickeln nahezu unser eigenes kleines Ritual. Zwischendurch sehe ich den Kurven und Rundungen nach, auch wenn ich nicht mehr auf der Jagd sein will. Warum besitze ich keinen Schalter, der meine Augen unempfänglich für weibliche Reize macht? Endlich stellt sich die Wirkung des Alkohols ein. Ich lehne mich zurück und grinse entspannt ins Nirwana.

Mein Handy vibriert in der Jackentasche. Um diese Zeit kann es nur Lana sein. Ruft sie so schnell schon wegen des Mordes am GinKönig an? Mit einem Grinsen stelle ich fest, dass ich den König des Schnapses rächte, indem ich vier Gins killte.

Der Alkohol und die Enge im Raum gestalten es mühsam, an das Gerät zu kommen. Leise fluchend versuche ich mit zwei Fingern, es nach oben aus der Tasche zu ziehen. Das blöde Ding entgleitet mir und verschwindet unter dem Tisch. Laut fluchend beuge ich mich hinab, was sich als keine gute Idee erweist, drängt doch umgehend der konsumierte Alkohol wieder nach oben. Stöhnend richte ich mich wieder auf. Mit geschlossenen Augen gebe ich meinem Körper die Gelegenheit, alle Funktionen in den Normalzustand zu bringen. Angesichts des vielen Gins in meinem Magen kein leichtes Unterfangen. Ich war schon einmal besser beieinander. Einmal mehr nehme ich mir vor, das Saufen zurückzufahren.

»Gehört das Ihnen?«

Durch die Kakofonie der Laute zu vieler Gäste dringt eine Frauenstimme. Ich öffne die Augen. Eine Frau meines Alters steht vor mir. Ihre grauen Augen blicken freundlich auf mich hinab. Ein Lächeln zum Anbeißen umspielt ihre Lippen. In der Hand hält sie mein Telefon. Sie muss ein Engel sein.

»Darf ich Sie zum Dank auf einen Drink einladen?«

Ich weise auf den freien Stuhl an meinem winzigen Tisch.

»Stört es Lana nicht, wenn Sie mich einladen?«

»Lana?«

Woher zum Teufel kennt sie meine Chefin? Sie sieht mir meine Verwirrung an.

»Als ich Ihr Telefon aufhob, stand auf dem Display Anruf von Lana.«

»Ach so! Lana Lansik ist nicht meine Frau und auch nicht meine Freundin.«

»Sondern?«

»Meine Chefin.«

»Ihre Chefin?« Sie verbarg ihre Skepsis nicht. »Ruft die Sie oft um diese Uhrzeit an?«

»Nur bei Mord.«

»Bei Mord?«

Ihre Skepsis macht Erstaunen Platz.

»Ja ich …«

Das Telefon in meiner Hand vibriert erneut. So leicht gibt Lana nicht auf.

»Bitte setzen Sie sich, dann erkläre ich Ihnen gleich alles in Ruhe.«

Der Engel zaudert kurz, dann setzt er sich.

»Ja, Chefin!«, spreche ich betont laut ins Gerät.

»Seit wann nennst du mich Chefin?«

»Was gibt’s?«

»Du fliegst morgen nach Mallorca.«

»Nach Mallorca?«

Ich musste meinem Erstaunen ziemlich laut Ausdruck verliehen haben. Trotz des immensen Geräuschpegels drehen sich etliche Gäste zu mir um.

»Ja.«

»Was zum Teufel soll ich da?«

Reicht es ihr nicht mehr, mich ins Innenministerium abzuschieben? Muss es jetzt das Ausland sein?

»Du wirst als Verbindungsbeamter zur spanischen Polizei fungieren.«

»Für wie lange?«

»Bis wir dich dort nicht mehr brauchen.«

Ich schweige. Ihre Worte wirken wie eine Drohung. Vermutlich kann man nicht vielen Deutschen durch einen Aufenthalt unbestimmter Länge auf Mallorca drohen, mir leider schon.

»Was ist passiert?«

»Ein Dreifachmord, alle Opfer sind Deutsche, zwei davon aus dem Ländle. Alle drei wurden mit Kopfschüssen hingerichtet. Sieht nach Mafia aus.«

»Warum ich?«

»Weil du Spanisch sprichst.«

Ich glaube ihr nicht. Meine Spanischkenntnisse sind vorgeschoben. Lana will mich loswerden. Meine Vorgesetzte teilt mir in knapper Form noch einige Details mit, dann beenden wir das Gespräch. Zum Glück hat der Engel gewartet. Neugierig sieht sie mich an.

»Musst du jetzt los?«

»Nein, ein paar Stunden bleiben uns noch.«

»Bist du wirklich bei der Mordkommission?«

»Ja, sogar als Kommissar.«

»Und du darfst dienstlich nach Mallorca fliegen?«

»Dürfen? Ich muss!«

Alessandro legte normalerweise Wert auf eine lässige Attitüde. Heute war er zu nervös dafür. In Hannover wechselte er vom Intercity in den Nachtzug von Hamburg nach Stuttgart. Angesichts seines schmalen Budgets hatte es ihn viel Überwindung gekostet, den Aufpreis für ein Bett im Nachtzug lockerzumachen. Für den Rest des Monats wären nicht einmal mehr Bierchen in billigen Studentenkneipen drin. Aber eine Fahrt am Tag hätte eine Hotelübernachtung notwendig gemacht und wäre ihn noch teurer gekommen.

Mit dem Koffer in der Hand suchte er sein Abteil. Die Tür stand offen. Im engen Gang davor standen zwei finstere Typen. Er nickte ihnen zu, sie starrten grimmig zurück. In den Händen hielten sie Wassergläser, auf dem Boden stand eine Flasche billigen Wodkas. Das konnte ja lustig werden. Alessandro zwängte sich an ihnen vorbei in den winzigen Kabuff. Schweigend sahen die Männer ihm zu. Die obere Pritsche war bereits zerwühlt, ein Pyjama und eine abgewetzte Reisetasche signalisierten Besitzanspruch. Laut Fahrschein stand sie eigentlich ihm zu. Er blickte in Richtung der beiden Männer. Der kleinere, ein grobschlächtiger Typ in fleckiger Jeansjacke, starrte ihn finster an. Der größere, dessen abgewetzte Lederjacke in Kontrast zu seinen sorgfältig manikürten Händen stand, sah weg. Alessandro entschied, es lohne sich nicht, sich wegen der Pritsche zu streiten. Er richtete sich die untere Pritsche, dann schloss er die Tür des Abteils. Die Männer ließen es geschehen. Drohend lastete sein Termin in Stuttgart auf ihm und hielt ihn vom Schlafen ab. Voller Sorge spielte er in Gedanken wieder und wieder durch, was ihn bei den Schwaben erwartete. Vergeblich sehnte er den Schlaf herbei, er kam einfach nicht. Dabei musste er unbedingt schlafen, um für den Termin fit zu sein! Die Tür öffnete sich. Der grobschlächtige Typ wankte ins Abteil. Offensichtlich war er sturzbetrunken. Zumindest schaffte er es nicht mehr, die Tür hinter sich wieder zu schließen. Sein Saufkumpan übernahm es für ihn. Alessandro hörte das Klackern einer Flasche, die über den Boden kullerten. Hoffentlich kotzte der Betrunkene nicht ins Abteil! Im Dunkeln nahm Alessandro die Versuche des Mannes wahr, die obere Pritsche zu erklimmen. Ärger wallte in Alessandro auf. Erst hatte der Typ ihm die obere Pritsche weggenommen, jetzt war er zu besoffen, um hochzukommen! Der Typ brach zusammen, polterte auf den Boden. Gebannt lauschte Alessandro in die Dunkelheit. Nichts rührte sich, außer den Geräuschen des Zuges war nichts zu hören. Selbst der schwere Atem seines Mitreisenden war verstummt. Lebte der überhaupt noch? Alessandro wollte soeben das Licht einschalten, als ihn bleierne Müdigkeit befiel.

Der Engel begleitet mich in meine Wohnung. An großspurigen Tagen bezeichne ich sie als mein Penthouse, aber eigentlich ist es eine schäbige Dachwohnung in einem heruntergekommenen Gewerbebau an der Mercedesstraße. Ihr größter Vorzug besteht aus dem Blick über Cannstatter Wasen und Neckar hinweg aufs Mineralbad Leuze und den Stuttgarter Osten, den sie bei Tag bietet. Bei VfB-Spielen und zu Wasenzeiten wimmelt es vor meiner Tür von Besoffenen, die laut grölen und die Gegend vollkotzen. Dennoch fühle ich mich hier wohl und will ich nicht weg, was nicht nur daran liegt, dass ich in Cannstatt aufgewachsen bin.

»Ich mach uns mal zwei Drinks.«

»Hast du noch nicht genug?«

»Nur um den Kräutergeschmack des Gins loszuwerden. Gin und ich, das passt einfach nicht.«

»Okay, aber wozu brauchst du das Ding?«

»Das?«

Ich hebe den Spätzlesschwoab aus Gussaluminium. Sie nickt.

»Um Eis zu crushen. Komm mit.«

Sie folgt mir in die Küche. Ich wickle Eiswürfel in ein Handtuch, lege es auf den Boden und schlage mit dem Spätzlesschwoab darauf ein. Das der damit verbundene Lärm mitten in der Nacht niemanden stört, ist ein weiterer Vorzug der Wohnung.

»Du hast echt ’ne Meise«, meint sie kopfschüttelnd.

Von ihren Worten lasse ich mich nicht irritieren. Routiniert mixe ich zwei Caipirinhas und reiche ihr einen. Sie setzt sich auf mein Ledersofa, dessen beste Tage einige Zeit zurück liegen. Sicherheitshalber nehme ich im Sessel gegenüber Platz. Christina sieht mich irritiert an.

»Hast du etwa Angst vor mir?«

»Jetzt bilde dir nur nichts ein! Ich mach halt gern langsam.«

Wir nuckeln an unseren Drinks.

»Langsam machen ist gut«, meint sie.

Den Rest der Nacht erzählt sie von ihren Enttäuschungen in der Liebe. Ich höre schweigend zu, stelle nur gelegentlich eine Frage, wenn ihr Redefluss zu versiegen droht. Zur Belohnung fährt sie mich, als es Zeit dafür wird, in meinem Daimler hoch zum Flughafen. Erneut spreche ich beim Passieren der Mooswand ein kurzes Stoßgebet. Mein alter Diesel nagelt laut vor sich hin, aus dem Auspuff qualmen schwarze Rußwolken. Seit einfach denkende Moralisten den Diesel zum Feindbild erkoren haben, hänge ich noch stärker an ihm.

Christina kurvt geschickt die Neue Weinsteige hoch. Mein Blick hängt hypnotisch an ihren schlanken Händen auf dem Lenkrad.

»Glaubst du wirklich, du kriegst die Maschine noch?«

»Klar, schließlich habe ich kein Gepäck.«

»Allein die Sicherheitskontrolle …«

»Kein Problem für mich!«

Sie schweigt, wirft mir aber einen skeptischen Seitenblick zu. Die erste Maschine des Tages fliegt von Stuttgart aus um zehn vor sechs nach Mallorca. Mir fällt kein Ziel ein, das passender wäre, den Tagesbetrieb eines deutschen Provinzflughafens zu eröffnen.

»Kommst du am Wochenende nach?«

Ein wunderbares Lächeln macht sie noch hübscher. Vielleicht habe ich das Ding mit der Liebe zu einer anderen Frau doch zu voreilig abgeschrieben. Das Leben nach meiner Scheidung ist schließlich nie zu der erhofften Orgie an Eroberungen geworden.

»Willst du wirklich, dass ich komme?«

»Klar, du hast mit deiner Beschreibung des Trockenmauernweges meine Neugierde geweckt.«

»Wann warst du letztmals Wandern?«

»Schon eine Weile her, täte mir aber sicher gut, es mal wieder zu tun.«

Am Flughafen küsse ich sie leidenschaftlich, ehe ich aussteige und auf die Sicherheitsschleuse zu schlendere. Ohne auf die wütenden Proteste zu achten, dränge ich an den Wartenden vorbei. Der Security-Mann will einschreiten und mich zurechtweisen. Mein Dienstausweis hält ihn davon ab. Die Hostess am Gate lässt mich mit einem leicht verkniffenen Lächeln als Letzten an Bord. Am Eingang des Airbus liegen Zeitungen. Die schrillste titelt »Königsmord auf Mallorca«.

Bei der Landung erwache ich. Zerknittert, aber immerhin mit einer kleinen Mütze Schlaf versorgt, stapfe ich benommen aus dem Airbus. Direkt am Gate hält ein schneidiger, junger Spanier ein Schild mit meinem Namen in der Hand.

»Hallo.«

»Hola!« Zackig salutiert er. »Sind Sie Comisionado Hurlebaus?«

»Der bin ich. Woher können Sie Deutsch?«

»Ich arbeitete ein Jahr in Ihrem Land.«

»Wie heißen Sie?«

»Raul.«

»Jens.«

Wir reichen uns die Hand, werfen einander prüfende Blicke zu. Ich mag Raul, wir werden miteinander auskommen. Durch einen Seitenausgang verlassen wir den riesigen Flughafen. Im absoluten Halteverbot wartet ein knallroter Seat Leon. Der Spanier rast mit einem Tempo, das zur Farbe des Wagens passt.

»Was kannst du mir über die Morde berichten?«

»Alle drei wurden in der Finca des GinKönigs erschossen. Der König selbst, seine Schwiegermutter und eine Mitarbeiterin.«

Meine Nackenhaare sträuben sich. Das Tattoo aus dem Dampfbad kommt mir in den Sinn. Wie habe ich vorab vom Mord am GinKönig wissen können? Mein absolut rationales Weltbild gerät ins Schwanken.

»Seine Schwiegermutter? Was ist mit seiner Frau?«

»Die hielt sich zum Tatzeitpunkt in Deutschland auf. Wir konnten sie bisher nicht erreichen.«

»Warum nicht?«

»Ihr Handy ist ausgeschaltet. Wir wissen nicht, wo sie abgestiegen ist.«

»Merkwürdig.«

»Reiche Menschen sind oft seltsam.« Raul zuckt gleichmütig die Achseln. »Der Koch meint, die Señora will bei ihren Ausflügen nach Deutschland immer ihre Ruhe haben. Sie ist dort nie zu erreichen. Gelegentlich telefoniert sie aus Deutschland mit ihrer in der Finca lebenden Mutter. Vom GinKönig will sie bei ihren Ausflügen hingegen nichts hören.«

»Woher kommt eigentlich der bescheuerte Name?«

»GinKönig?«

»Ja.«

»So heißt seine Bar am Ballermann.«

»Bar?«

»Eher Club oder Diskothek. Der Laden hat ihn jedenfalls reich gemacht.«

»Bringst du mich direkt aufs Präsidium?«

»Comisionado Amengual dachte, du würdest dir gerne einen Eindruck vom Tatort machen. Also fahre ich dich zur Finca des GinKönigs.«

Der Tatort ist okay, wenn es irgend geht, werde ich mir jedoch den Anblick der Leichen ersparen.

»Gut, weck mich, wenn wir dort sind.«

Ich kippe die Lehne des Beifahrersitzes nach hinten und schließe die Augen. Natürlich werde ich trotz meines Schlafdefizits nicht wirklich schlafen können, aber ich muss ungestört nachdenken. Was zum Teufel hat Lana vor? Nach dem Job hier lecken sich zahlreiche jüngere und ehrgeizigere Kollegen die Finger. Die Presse wird sich wie die Geier auf die Morde stürzen und allen die danach gieren reichlich Gelegenheit bieten, sich zu profilieren. Warum halst sie ihn mir auf? Mein Telefon klingelt. Das Display zeigt meine Ex an.

»Ja?«

»Hat es geklappt?«

»Was?«

»Tu nicht so! Du weißt genau, was ich meine!«

Wie zum Teufel hat Sonja so schnell von meinem Damenbesuch vergangene Nacht erfahren?

»Wir sind da.«

Raul zeigt auf ein stattliches Gebäude.

»Ich kann jetzt nicht, lass uns später reden.«

Hinter einem hohen Zaun aus massiven, oben spitz zulaufenden Eisenstangen thront auf einer kleinen Erhebung ein stattlicher Bau aus grauen Steinen. Die Kanten und Bögen sind aus hellerem, behauenem Stein gefertigt, die Mauern aus Natursteinen gefügt. Sprossentüren und Sprossenfenster sind aus hellem Holz geschreinert und mit blauen Lamellenläden versehen. Die Finca macht einen sehr gepflegten Eindruck. Man riecht das Geld seines Besitzers. Zwischen dem Zaun und dem Gebäude erstreckt sich eine großzügig bemessene Rasenfläche. Als ich aussteige, ertönt vom Gebäude her ohrenbetäubender Lärm. Es klingt nach dem Gesang und Gekrächze tausender Vögel. Ich sehe jedoch keinen einzigen Flattermann.

»Was zum Teufel ist das?«

Ein Mann steht mit dem Rücken zu uns am Zaun und starrt auf das Haus. Anscheinend hat er meine auf Deutsch gesprochenen Worte gehört und auch verstanden. Jedenfalls dreht er sich um und blickt mich an. Ich nicke ihm zu. In sein Gesicht haben sich tiefe Lachfalten eingegraben, auch wenn er momentan traurig aussieht. Ich schätze sein Alter auf etwa siebzig Jahre.

»Hinter der Finca befindet sich ein moderner Anbau. Dort züchtet Herr Breitner exotische Vögel, überwiegend Papageien, bevorzugt solche, die auf der Liste bedrohter Arten stehen und viel Geld einbringen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich bin ein Freund Klaras und war hin und wieder dort zu Gast.«

»Klara?«

»Klara Stöckle, Herrn Breitners Schwiegermutter.«

»Wie heißen Sie?«

»Herbert Schneider. Mir gehört das Café Feldberg. Im Vergleich zum GinKönig ein äußerst bescheidenes Geschäft. Aber falls Sie während Ihres Aufenthaltes auf Mallorca Lust auf Kuchen aus einer deutschen Bäckerei und Filterkaffee haben, sind Sie mir herzlich willkommen.«

»Kannten Sie Frau Stöckle gut?«

Er nickt bekümmert.

»Hatte sie Feinde?«

»Klara?« Er sieht mich entsetzt an. »Wo denken Sie hin! Klara war eine Seele von einem Menschen, die keiner Fliege etwas zuleide tat. Wenn einer von den drei Feinden hatte, dann Breitner!«

»Wegen seiner illegalen Vogelzucht?«

»Auch, aber …«

In diesem Augenblick ertönt von der Finca her besonders lautes Vogelgeschrei. Wir sehen alle drei dorthin und erblicken eine Wolke bunter Papageien, die sich soeben hinter dem Haus in den Himmel erhebt.

»Mierda!«

Raul zieht seine Pistole.

»Da lässt jemand die Vögel frei! Setzen Sie sich ins Auto und warten dort auf mich!«

Schon stürmt mein spanischer Begleiter in seinem jugendlichen Übermut davon. Verblüfft starre ich ihm hinterher. Glaubt er ernsthaft, ich setze mich ins Auto und warte auf ihn? Meine Hand gleitet unter meine Lederjacke, dorthin wo sich üblicherweise meine Waffe befindet. Sie ist nicht dort. Natürlich ist sie es nicht, schließlich bin ich geflogen und befinde mich im Ausland. Fluchend renne ich unbewaffnet hinter ihm her.

Raul hat bereits die rechte Gebäudeecke erreicht. Ich verliere ihn aus den Augen. Als ich selbst die Ecke umkurve, keuche ich wie ein Asthmatiker nach einem Fußmarsch ins dritte Geschoss und bekomme kaum noch Luft. Vielleicht soll ich meinen Aufenthalt hier nutzen, um mit dem Saufen aufzuhören und stattdessen lieber etwas für meine Kondition zu tun?

Als ich die nächste Ecke erreiche, kann ich den modernen Anbau der alten Finca sehen. Um wieder zu Atem zu kommen halte ich an und stütze mich an die Natursteinmauer. Von Raul ist nichts zu sehen. Beide Flügel der Tür des Anbaus stehen offen. Nach wie vor ergießt sich aus ihr ein Strom laut kreischender Vögel in den Himmel. Durch den Lärm der Flattermänner hindurch vermeine ich spanische Sätze zu vernehmen, die jedoch sofort wieder verstummen. Noch während ich überlege, was dies zu bedeuten hat, stürmen drei komplett schwarz gekleidete Gestalten mit schwarzen Sturmhauben über den Köpfen aus dem Gebäude auf mich zu. Vor Schreck zucke ich zusammen. Eilig ziehe ich mich hinter die Hausecke zurück. Noch während meines Rückzugs greife ich erneut nach meiner nicht vorhandenen Waffe.

Die drei haben mich und die Bewegung meiner Hand in die Jacke gesehen. Ich sehe sie vor Schreck zusammenzucken, sich etwas zurufen und die Laufrichtung ändern. Erleichtert stelle ich fest, dass sie Angst vor mir haben. Mit der Hand in der Lederjacke setze ich meinen grimmigsten Gesichtsausdruck auf und mache zwei Schritte in ihre Richtung. Schrille Schreie, zwar auf Spanisch, aber eindeutig im Sopran erklingen. Die drei vermummten Gestalten eilen auf den hinteren Eisenzaun zu. Die hektisch auf und ab hüpfenden Pobacken in den schwarzen Hosen besitzen allesamt eindeutig weibliche Proportionen. Von einer Waffe ist weit und breit nichts zu sehen. Mit neuem Mut setze ich hinter den Flüchtenden her.

Auch wenn es sich um Frauen handelt, rennen sie schneller als ich. Wo bleibt Raul? Seine jugendliche Kraft, vor allen Dingen seine Schnelligkeit, werden gebraucht! Ich drehe mich um. Von ihm ist noch immer nichts zu sehen. Die drei Biester müssen ihn außer Gefecht gesetzt haben.

Die Vorderste erreicht den sicherlich drei Meter hohen Zaun. Ich bin gespannt, wie sie ihn zu überwinden gedenkt. Er besteht aus senkrechten Eisenstäben von zwei Zentimetern Durchmesser, die oben als Spitze geformt sind. Ein schwer zu überwindendes Hindernis. Die Schnellste bildet eine Räuberleiter. Ihre Komplizin ist rasch mit einem Fuß auf ihrer Schulter, die Untere bildet mit beiden nach oben gestreckten Armen einen höheren Tritt, von dem aus die Andere sich voller Schwung und Eleganz über den Zaun schwingt.

»Na warte, zumindest dich kriege ich!«, murmele ich vor mich hin.

Die Zweite rollt sich auf der anderen Seite geübt ab, während die Dritte bereits ebenfalls die Räuberleiter erklimmt. Offensichtlich sind die drei nicht nur sportlich und gut aufeinander eingespielt, sondern besitzen Übung im Überwinden von Zäunen und ähnlichen Hindernissen. Ich bin gespannt, wie die Schnellste den Zaun zu überwinden gedenkt. Kaum ist die zweite Einbrecherin auf der anderen Seite, als sich die letzte umdreht und geschickt die Eisenstäbe hinaufklettert. Will die junge Frau ernsthaft versuchen, ohne Tritt die Eisenspitzen zu überwinden? Ein riskantes Unterfangen. Ich sehe ihre Hände abrutschen und ihren Körper von den tödlichen Spitzen aufgespießt.

Ehe dies tatsächlich eintreten kann, bin ich heran. Mit beiden Händen ergreife ich einen ihrer Füße und ziehe daran. Sie besitzt genug Kraft in den Händen, um sich trotz meines Ziehens an den Stangen festhalten zu können. Was nun? Natürlich könnte ich sie mit Gewalt und der Macht meiner neunzig Kilo vom Zaun losreißen. Solange ich sie am Fuß festhalte, wird sie dann allerdings unsanft mit dem Oberkörper oder gar Kopf aufschlagen und sich möglicherweise ernsthaft verletzen, was ich nicht will. So befinden wir uns in einer gewissen Pattsituation. Ihre Gefährtinnen reden hektisch in Spanisch auf sie ein.

»Kommen Sie doch bitte freiwillig herunter, ich will Sie nicht verletzen«, rede ich ihr ruhig und langsam zu.

Sie wendet den Kopf. Durch die Öffnung der Sturmhaube blickt sie auf mich herab. Klar bin ich Bulle, aber eben auch Mann. Der Blick in ihre grünen Augen gefällt mir. Ich lächele und lockere meinen Griff um ihre Fessel. Augenblicklich dreht sie das nur noch locker von mir gehaltene Bein um hundertachtzig Grad, stößt sich mit den Händen vom Zaun ab und zieht das Bein mit aller Kraft an. Voller Wucht prallt sie auf meine Schulter. Obwohl sie deutlich leichter ist als ich, reicht die Masse ihres Körpers locker, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ich kippe nach hinten um und lasse sie instinktiv los. Der Versuch mit ausgestreckten Armen meinen Sturz abzufangen führt mit Sicherheit zu Knochenbrüchen. Dank meines intensiven Judotrainings in jüngeren Jahren will ich mich stattdessen reflexartig abrollen. Da die Vermummte auf mir landet, gelingt es mir nur bedingt. Ich höre meine Rippen krachen und bleibe, vergeblich nach Atem ringend, im Gras liegen. Sie rappelt sich indessen sofort wieder auf und wieselt in Richtung Finca davon. Ich will aufstehen und ihr hinterher, bekomme aber noch immer keine Luft. Mein Brustkorb schmerzt höllisch. Zunehmend panischer schnappe ich nach Luft. Jeder Versuch einzuatmen tut verdammt weh. Zornig sehe ich meiner Peinigerin hinterher. Aus der Finca treten mehrere Männer in weißen Overalls, vermutlich Beamte der Kriminaltechnik. Ich bete inständig, dass sie das Biest zu fassen bekommen und sie dabei nicht eben sanft anfassen. Dann verliere ich das Bewusstsein.

Aufwachen du Säufer!«

Alessandro di Lorenzo spürte, wie jemand heftig an seiner Schulter rüttelte. Sein Mund war trocken und sein Kopf schmerzte. Er versuchte die Augen zu öffnen, was nur mühsam gelang.

»Was ist los?«

»Wir sind am Zielbahnhof Stuttgart! Die übrigen Fahrgäste haben längst den Zug verlassen. Sie und Ihr Saufkumpan müssen ebenfalls aussteigen.«

Ein Adrenalinschub weckte ihn. Stuttgart? Sein Reisewecker hätte doch eine halbe Stunde vor Ankunft klingeln sollen! Er richtete sich auf. Eine neue Schmerzwelle zuckte durch seinen Schädel. Er stöhnte und schloss die Augen, bis das Schlimmste abgeklungen war. Dann stellte er die Füße aus dem Bett.

Sein linker Fuß landete auf dem Körper seines auf dem Fußboden liegenden Mitreisenden. Kurz zuckte er zurück, quetschte den Fuß dann aber in den Spalt zwischen dessen Körper und der schmalen Pritsche. Neben dem Mann lag eine leere Wodkaflasche. Kein Wunder, dass der Bahnbeamte ihn für einen Säufer hielt. So höllisch, wie sein Kopf schmerzte, hatte er die Flasche allein geleert. Aber Moment, das stimmte nicht! Er hatte keinen Tropfen angerührt, auch wenn es sich anders anfühlte.

In diesem Augenblick überkam ihn Übelkeit. Er sputete in Richtung Toilette und kotzte sich dort die Seele aus dem Leib. Er hatte es nicht mehr geschafft, die Tür hinter sich zu schließen. Erneut tauchte der Kontrolletti hinter ihm auf.

»Sie sind ja immer noch hier! Jetzt aber schleunigst raus mit Ihnen, sonst fahren Sie mit in den Abstellbahnhof! Wo ist Ihr Kumpel? Ist der wenigstens schon draußen?«

Alessandro wischte sich die Kotze ab.

»Ist nicht mein Kumpel, ich kenne den Typ nicht.«

»Jedenfalls haben Sie hier nichts mehr zu suchen! Unser Zug muss das Gleis freimachen.«

Alessandro antwortete nicht. Beim Händewaschen sah er sein Gesicht im Spiegel. Er sah bleich und übernächtigt aus. Was zum Teufel war heute Nacht passiert? Hatte er doch noch gesoffen und wusste es nur nicht mehr? Bisher hatte er einen nächtlichen Filmriss für ein Märchen gehalten.

Er stolperte zurück zum Schlafabteil. Der Kontrolletti stand dort, kickte mit seinem schwarzen Lederschuh dem auf dem Boden liegenden Mann mehrmals leicht gegen das Bein. Der Typ war ein echtes Arschloch.

»Aufwachen, wir sind da!«

»Darf ich mal?«

Alessandro quetschte sich an dem unsympathischen Bahnbediensteten vorbei und griff nach seinem Koffer. Dabei fiel sein Blick auf seinem Mitreisenden, dessen Mund offenstand und dessen Haut unnatürlich blass war. In diesem Moment erkannte Alessandro, dass der Mann tot war, gestorben, während er keinen Meter von ihm entfernt geschlafen hatte. Entsetzen packte ihn. Eine neue Welle von Übelkeit stieg in ihm auf. Er verspürte den Impuls den Kontrolletti anzuschreien und ihn aufzufordern einen Arzt zu holen. Aber er ließ es sein. Wahrscheinlich käme die Polizei gleich mit, wäre womöglich noch vor dem Arzt da. Dann würde er als Zeuge befragt oder gar als Verdächtiger verhört werden. Das konnte er sich nicht erlauben. Also machte er sich stattdessen eilig davon.