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Eine Frau verschwindet spurlos. Viel zu spät meldet ihr Bruder sie als vermisst. Tauchte die Frau bei ihrer großen Liebe in Italien unter? Oder wurde sie das Opfer eines Gewaltverbrechens? Kommissarin Olga Oleg bittet ihren Kollegen Hurlebaus um Hilfe, der unmittelbar darauf selbst nur knapp einen Anschlag überlebt. Die Ermittlungen führen die Kommissare von den Stammgästen des „Sonnenstüble“ über die Selbsthilfe Neurodiversität und familiäre Abgründe bis hin zur Mafia. Erst das rote Kleid der Verschwundenen liefert schließlich die entscheidende Spur.
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Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jochen Bender
forschte als Psychologe bei den Kriminalisten, arbeitete im Knast und unterstützte die Polizei bei Amok-Übungen. Seit fünfundzwanzig Jahren erlebt er als Psychologe Schule in all ihren Facetten. Sein breiter Erfahrungsschatz findet immer wieder den Weg in seine Krimis. Schreiben ist sein Weg, sich kreativ mit der Welt in all ihren Facetten auseinanderzusetzen. Seine Markenzeichen sind spannende Unterhaltung, ausgereifte Charaktere, ein flüssiger Schreibstil und kunstvoll ineinander verflochtene Erzählstränge.
Jochen Bender
Kriminalroman
Oertel+Spörer
Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2025Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: © ChatGPTGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Bernd WeilerKorrektorat: Sabine Tochtermann Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-96555-217-3
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Durch das Fenster beobachtete er, wie sie in ihrem Schlafzimmer die Schranktür öffnete. Seine Erregung wuchs, stieg steil an, als sie sich tatsächlich entkleidete. Erregt rieb er durch den dünnen Stoff der Hose an seinem Schwanz. Gebannt betrachtete er sie in Unterwäsche. Später würde er diesen Film immer wieder ablaufen lassen und sich sich dabei selbst befriedigen.
Sie bückte sich zu einer teuer aussehenden Papiertüte, zog ein Kleidungsstück heraus. Er sah, wie sie den roten Stoff in der Hand hielt und ihn kritisch musterte. Bisher hatte er sie noch nie in Rot gesehen. Sie bevorzugte Schwarz und alle Schattierungen von Grau. Die Vorstellung, dass sie gleich das rote Teil anziehen würde, steigerte seine Erregung weiter. Er nahm einen letzten, tiefen Zug, warf die Kippe dann achtlos in die Dachrinne.
Jetzt zog sie sich den roten Stoff über den Kopf. Ein Kleid! Er schluckte nervös. Seit wann trug sie Kleider? Er hatte sie noch nie in so einem femininen Kleidungsstück gesehen! Was war los mit ihr?
Sie zupfte das Kleid zurecht, drehte sich dabei langsam hin und her und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Er schluckte schwer. Galt ihr Tun ihm? Wusste sie, dass er sie heimlich beobachtete? Spielte sie soeben mit seinem heimlichen Begehren? Seine Erregung steigerte sich weiter und ebbte dann abrupt ab.
Was, wenn das rote Kleid nicht für ihn gedacht war? Wenn sie sich verliebt hatte und es anzog, um einem anderen Mann zu gefallen?
Olga schlüpfte in ihre leichte Stoffjacke und griff nach ihrer Handtasche, um sich in den wohlverdienten Feierabend zu verabschieden, als ihr Telefon klingelte. Die Kriminalkommissarin zauderte, legte dann seufzend ihre Tasche zurück und nahm wieder hinter ihren Schreibtisch Platz. Das Display zeigte einen Anruf von der Zentrale an.
»Oleg.«
»Ah, es ist also doch noch jemand von der Vermisstenstelle im Haus! Gott sei Dank. Ich habe hier einen Mann in der Leitung, der seine Schwester als vermisst melden möchte!«
»Dann soll er …«
Ein Knacken kündete vom Wechsel der Verbindung. Schwerer Atem war zu hören. Olga verfluchte innerlich den Kollegen aus der Zentrale, der einfach aufgelegt hatte.
»Kripo Stuttgart, Kommissarin Oleg, was kann ich für Sie tun?«
»Sind Sie für die Suche nach vermissten Personen zuständig?«
»Ja, das bin ich.«
»Endlich! Ich möchte meine Schwester Katharina als vermisst melden!«
»Dann kommen Sie bitte morgen persönlich hier vorbei! Wir …«
»Das mache ich gerne! Allerdings will ich dann von Ihnen nicht zu hören bekommen, dass es noch zu früh für eine Vermisstenanzeige ist! Ersparen Sie mir dann bitte das Gerede, meine Schwester sei eine erwachsene Frau und könne machen, was sie wolle! Für so ein Blabla fahre ich nicht extra von Hamburg nach Stuttgart!«
»Ob Sie das Risiko auf sich nehmen wollen, müssen Sie schon selbst entscheiden! Wir haben unsere Gründe …«
»Dann hören Sie sich die Sache bitte kurz an und sagen mir anschließend, ob sich die weite Fahrt lohnt!«
Olga verfluchte sich dafür, das Gespräch angenommen zu haben.
»Okay! Aber fassen Sie sich kurz! Wie lange vermissen Sie Ihre Schwester schon?«
»Seit einem Vierteljahr! Auf den Tag genau vor drei Monaten erhielt ich das letzte Lebenszeichen von ihr, seither nichts mehr! Dabei haben wir uns bis dahin mehrmals wöchentlich kurze Nachrichten geschrieben und beinahe jede Woche zusätzlich noch telefoniert!«
»Wie sah denn das letzte Lebenszeichen aus?«
Er zögerte, sie hörte seinen schweren Atem.
»Nun?«
Der Anrufer seufzte schwer.
»Also gut, Katharina schrieb, ich solle sie nicht verurteilen, aber sie habe endlich die Liebe ihres Lebens gefunden und folge ihr nach Italien.«
Zur selben Stunde wartete Olgas Kollege Jens Hurlebaus in der JVA Stammheim darauf, dass man ihm den Gefangenen Winter brachte. Just in diesem Moment öffnete sich die Metalltür. Ein untersetzter, schnauzbärtiger Justizbeamter brachte den U-Häftling in den Besuchsraum. Hurlebaus nickte dem Beamten zu und kniff seine Augen zusammen, um seinen auf der Uniformjacke aufgestickten Namen zu lesen, ehe er den Häftling begrüßte.
»Hallo Herr Winter, setzen Sie sich doch!«
Der Kommissar wies auf den Stuhl ihm gegenüber, während der Beamte C. Maier den Raum wieder verließ.
»Kommissar Hurlebaus? Was wollen Sie denn noch von mir? Ich dachte, die Ermittlungen seien abgeschlossen!«
»Abgeschlossen?«
Der Kommissar schüttelte langsam den Kopf.
»Macht es Ihnen denn überhaupt nichts aus, wegen zwei Morden angeklagt zu sein? Den zweiten haben Sie doch weder begangen, noch in Auftrag gegeben!«
Winter wandte seinen Kopf ab. Mit trübem Blick starrte er durchs vergitterte Fenster nach draußen. Leise grummelte er vor sich hin. Der Kommissar wartete geduldig. Schließlich wandte der Gefangene sich ihm wieder zu.
»Ob ich wegen einem oder wegen zwei Morden verurteilt werde, macht keinen Unterschied. So oder so werde ich bei meiner Entlassung ein alter Mann sein.«
»Falls Sie Ihre Entlassung erleben!«
Hurlebaus beugte sich vor, stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und musterte sein Gegenüber eindringlich.
»Trauen Sie sich denn, hier drinnen einen Tee zu trinken? Oder überhaupt etwas anderes, als Wasser direkt aus dem Hahn, zu trinken?«
Sein Gegenüber zuckte sichtlich zusammen. Er schien nachzudenken. Mit gerunzelten Augenbrauen starrte er zurück.
»Warum sollte ich hier nichts trinken? Was sollte mir hier passieren?«
Fragend sah er seinen Besucher an, der sich mit seiner Antwort Zeit ließ.
»Wollen Sie jetzt behaupten, Sie wüssten weder, dass Herr Hohler hier in Stammheim starb, noch, dass er durch eine Überdosis Ketamin in seinem Tee vergiftet wurde?«
Hurlebaus schnaubte laut.
»Wenn dem tatsächlich so ist, zeigt es doch überdeutlich, dass Sie nicht der Pate sind, für den die Staatsanwaltschaft Sie hält!«
Winter schluckte schwer, antwortete jedoch nicht. Also fuhr Hurlebaus fort:
»Vielleicht hat ja der vor der Tür wartende Vollzugsbeamte Maier dem Gefangenen Hohler das tödliche Ketamin in den Tee geschmuggelt?«
Der Kommissar erhob sich.
»Und selbst wenn!«, entgegnete Winter, »warum sollte der Maier es bei mir ebenfalls machen?«
»Natürlich, um seinen Auftraggeber zu schützen! Der Pate wird um jeden Preis verhindern wollen, dass Sie uns seinen Namen nennen!«
»Das mag ja sein. Aber wer auch immer den Herrn Hohler vergiftet hat, wäre doch extrem dumm, mich ebenfalls zu vergiften!«
Hurlebaus grinste. Also hatte Winter durchaus bereits diese Möglichkeit und sein damit verbundenes Risiko durchdacht.
Es existierte eine Liste mit den Namen aller Beamter und Häftlinge, die theoretisch die Möglichkeit besessen hatten, das Ketamin in Herrn Hohlers Tee zu geben. Diese Liste war leider so umfangreich, dass die Staatsanwaltschaft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bisher darauf verzichtet hatte, alle auf der Liste stehenden Beamten gründlich zu durchleuchten. Ein solches Vorgehen bei über einem Dutzend Beamten würde erheblichen Unmut unter den Mitarbeitern erzeugen.
Herr Winter war in einem anderen Bereich der JVA untergebracht, als der dort vergiftete Herr Hohler. Im Fall der Fälle würde das einen Häftling als Täter ausschließen. Und es würde nur sehr wenige Beamte geben, die bei beiden Taten in den jeweiligen Bereichen Dienst gehabt hatten.
»Wer auch immer Herrn Hohler vergiftete, wurde spätestens dadurch so erpressbar, dass er auf sein persönliches Risiko keine Rücksicht mehr nehmen kann! Ich empfehle Ihnen daher dringend, mir den Namen des Paten zu nennen!«
Winter lehnte sich zurück und grinste spöttisch.
»Vielleicht ist die Sache ja viel komplexer, als Sie es sich vorstellen? Vielleicht gibt es ja gar keinen Paten?«
Nicht weit entfernt stieg just in diesem Moment Kommissarin Oleg am Wilhelm-Geiger-Platz aus der U-Bahn. Ihr Smartphone lotste sie in eine kleine Seitenstraße. Vor einem heruntergekommenen Häuschen in Klinkerbauweise blieb sie stehen. Über der Tür hing an einer schweren, gusseisernen Halterung eine strahlende Sonne. Ein Schild wies darauf hin, dass sich hinter der Tür die Gaststätte Sonnenstüble befand.
Olga wollte eben eintreten, als ein unauffälliges Hinweisschild sie innehalten ließ. Ein Raucherlokal? Sie schnappte nach Luft. Warum tat sie sich das hier freiwillig an? Sie hatte Feierabend! Die Zeit für die Nachforschungen hier würde sie nicht aufschreiben!
Erneut holte sie tief Luft, gab sich dann einen Ruck und drückte die Tür auf. Dichter Qualm sowie der Gestank nach Zigaretten und Männerschweiß schlugen ihr entgegen. Ihren Ekel niederkämpfend trat die Kommissarin ein.
Der Gastraum war winzig. Gefühlt die Hälfte des knappen Platzes nahm eine in den Raum ragende Theke ein, um die herum man an drei Seiten sitzen konnte. Fast alle Plätze an der Theke und den wenigen Tischen waren besetzt. Die Augen aller Anwesenden starrten sie an und vermittelten ihr deutlich, hier ein Fremdkörper, ein Eindringling zu sein. Was zum Teufel war das hier? So eine Art privater Club?
»Welch unerwarteter Glanz an diesem trüben Ort! Treten Sie doch bitte näher, schöne Dame und nehmen Sie Platz!«
Ein Mann mit einem imponierenden, grauschwarzen Bart lächelte ihr mit strahlenden Augen entgegen. Seine Hand wies einladend auf den leeren Barhocker neben sich. Olga verspürte den Impuls, sich umzudrehen und das Establishment wortlos wieder zu verlassen. Mühsam rang sie ihn nieder und sich ein schmales Lächeln ab.
»Danke.«
Sie tat die wenigen, hierfür notwendigen, Schritte und setzte sich auf den angebotenen Barhocker.
»Was führt eine attraktive Dame wie Sie in unsere düstere Spelunke?«
»Der Hunger.«
»Dann sind Sie hier genau richtig! Die Auswahl ist zwar bescheiden, um ehrlich zu sein, nicht vorhanden, da es jeden Abend nur ein einziges Gericht gibt. Aber jenes ist stets vorzüglich!«
»So? Was steht heute auf der Karte?«
»Fleischküchle mit Kartoffelsalat und Gemüse!«, dröhnte der Gast auf ihrer anderen Seite mit wohltönendem Bariton.
Olga wandte sich ihm zu. Sein Mondgesicht wirkte gutmütig, mit den grau-rötlichen Bartstoppeln aber auch reichlich ungepflegt. Breit lächelnd fuhr er fort:
»Selbstverständlich wird alles frisch aus besten Zutaten zubereitet! Das Gemüse wird nur schonend gegart und in bissfestem Zustand serviert! Gestatten, ich bin das Schätzle!«
»Schätzle?«
Sie runzelte ihre Stirn. Was sollte diese plumpe, überdirekte Anmache?
»Das ist sein Nachname …«, tönte es vom Bärtigen hinter ihr, »… den er bei jeder passenden und erst recht, bei jeder unpassenden, Gelegenheit laut blökt. Sie können ihn auch einfach Stefan nennen. Wir sind hier alle per Du. Darf ich die Dame als Dank für die Freude, die mir Ihre Anwesenheit bereitet, zum Essen einladen?«
Olga zögerte. Während seiner Worte hatte sie sich ihm wieder zugewandt. Sie mochte den Schalk in seinen Augen ebenso wie seine leicht überdrehte Art und seine auffallend schräge Sprache, wollte aber keinesfalls falsche Hoffnungen schüren.
»Selbstverständlich ist meine Einladung mit keinerlei weiteren Erwartungen, als der eines netten Plausches während unseres gemeinsamen Mahles, verbunden!«
Jetzt lächelte Olga breit.
»Dann nimmt die Dame Ihre Einladung dankend an.«
Ein warmes Kribbeln durchströmte angenehm ihren Körper. Unter Umständen wäre sie nicht einmal abgeneigt, weiteren Erwartungen von ihm zu entsprechen. Ein Eingeständnis, das sie angesichts des hier versammelten Haufens überraschte. Im nächsten Augenblick zuckte sie heftig zusammen, als Ihr Galan laut:
»Konsta! Mach bitte eins mehr!«, in Richtung einer offenstehenden Tür hinter der Theke brüllte.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Platz hinter der Theke verwaist war.
»Mit einem Getränk müssen Sie noch ein bisschen warten, Konstantin ist gerade am Kochen.«
Dankbar griff die Ermittlerin die Vorlage ihres Nebenmanns auf.
»Schmeißt dieser Konstantin den Laden hier ganz alleine?«
Sein Gesichtsausdruck änderte sich, der Glanz seiner Augen verblassten.
»Bis Kathi zurückkommt, bleibt Konsta leider nichts anderes übrig.«
»Kathi?«
Er seufzte, sah nachdenklich auf sie hinab.
»Bei Kathi handelt es sich um die Wirtin! Ihr gehört der Laden hier. Langsam zweifle ich daran, dass sie jemals zurückkommen wird.«
»Wo ist sie denn? In der Klinik? Hat sie Krebs?«
»Nein.« Bedächtig schüttelte er sein Haupt. »Krebs hat sie keinen.«
»Nicht? Wo ist sie dann?«
»Im Land, wo die Zitronen blühen … der Liebe wegen …«
Er verstummte, sein Blick driftete, als könne er sie dort sehen, in die Ferne. War er etwa in die verschwundene Wirtin verliebt? Unerwartete Eifersucht versetzte ihr einen leichten Stich. Nichtsdestotrotz setzte sie ein Lächeln auf.
»Aber das klingt doch wunderschön! Oder etwa nicht? Gönnen Sie der Frau doch ihr Liebesglück!«
Der Bärtige wandte sich ihr wieder zu, fokussierte auf ihr Gesicht und musterte sie nachdenklich.
»Was ist? Habe ich etwas falsches gesagt?«, fragte Olga.
»Nein, das ist es nicht! Sie trifft keine Schuld!«
Er legte kurz seine Hand auf ihre, zog sie aber sofort wieder zurück.
»Was ist es dann?«
In diesem Moment stürmte ein hagerer Mann, vier üppig beladene Teller auf Armen und Händen balancierend, aus der Küche. Zackig verteilte er jene an vier an der Theke sitzende Gäste. Als er sich wieder in Richtung Küche wandte, hielt sein Blick einen Moment bei Olga inne. Knapp nickte er ihr zu. Sie registrierte dunkle, nahezu schwarze Augen und dicke, schwarze Bartstoppeln in seinem von tiefen Furchen durchzogenen Gesicht. Dann war der Typ fast wie ein Geist auch schon wieder in der Küche verschwunden. Olga wollte eben ihren Nachbarn nach ihm fragen, als der Koch mit vier weiteren Tellern auch schon wieder auftauchte. Ein Teller landete vor ihr. Das Essen darauf sah nicht nur appetitlich aus, sondern duftete auch himmlisch. Olga merkte in diesem Moment deutlich, dass sie einmal mehr nicht zu Mittag gegessen hatte.
»Guten Appetit, lassen Sie es sich schmecken!«, brummelte ihr Nebenmann und schob ihr einen Bierkrug zu, aus dem mit roten Papierservietten umwickeltes Besteck ragte. Olga zog ein Set heraus und schob den Bierkrug dann in Richtung ihres anderen Nebenmanns weiter.
»Danke, den wünsche ich Ihnen ebenfalls!«
Sie wickelte Messer und Gabel aus, löste ein Stück Fleisch vom Küchle und schob es ihn ihren Mund. Himmlisch! Der Koch verstand definitiv sein Handwerk, und das nicht nur in geschmacklicher Hinsicht. Unglaublich effizient hatte er innerhalb weniger Minuten die rund zwanzig anwesenden Gäste mit Essen versorgt. Jetzt stand er vor ihr, ein frisches Glas in der Hand und sah sie fragend an.
»Bier?«
»Danke, gerne!«
Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, perlte die goldgelbe Flüssigkeit aus dem Zapfhahn in das Glas. Keine Minute später stand das Bier mit perfekter Krone vor ihr.
»Prost!«
Der Galan zu ihrer Linken hob sein Glas. Olga griff sich ihres und prostete ihm zu.
»Ich bin der Bert, wie heißt du?«
»Olga.«
»Schön, Olga, ich hoffe, das Essen schmeckt dir!«
»Du hast nicht übertrieben, es ist vorzüglich!«
»Gib zu, du bist doch nicht zufällig hier!«
Sie zuckte innerlich zusammen. Hatte er sie als Polizistin erkannt?
»Bist du auch eine Diverse?«, fuhr er fort.
»Wie bitte?«, entgegnete sie verblüfft.
Was war das hier? Wie waren die Typen denn drauf? Spielte er auf ihre sexuelle Orientierung an? Oder schlicht darauf, dass sie aus Russland stammte?
»Ich meine natürlich, eine Neurodiverse!«
»Ach so!«, entgegnete sie erleichtert.
Das klang zumindest nicht sexuell. Oder doch? Sie hatte keine Ahnung, was das sein sollte.
»Entschuldige, ich sollte dich nicht so bedrängen! Aber gib zu, so gutes Essen hast du hier nicht erwartet!«
»Stimmt!«
Olga nickte. Beide aßen schweigend weiter. Als ihr Teller zur Hälfte geleert war, fragte sie:
»Verrätst du mir noch, was dich in Hinblick auf die Wirtin umtreibt?«
Er holte tief Luft, seufzte und antwortete:
»Ich glaube so langsam nicht mehr daran, dass Kathi in Italien ist. Und ich bezweifle stark, dass ausgerechnet die Liebe sie daran hindert, zu uns zurückzukehren.«
Kommissar Jens Hurlebaus stand für seine Verhältnisse spät auf. Schlecht gelaunt schlurfte er in die Küche, um sich sein Frühstück zuzubereiten. Am Vorabend war es ihm nicht gelungen, dem Untersuchungshäftling Winter einen Namen zu entlocken. Egal, er würde an ihm dranbleiben, bis er den Namen preisgab!
Seine schlechte Laune hing weniger mit diesem Misserfolg zusammen. Ab heute hatte Hurlebaus frei, und zwar nicht wie sonst ein Wochenende, sondern fast einen ganzen Monat. Dieser sich vor ihm ausbreitende Ozean an Zeit ohne Verpflichtungen und ohne Termine bereitete ihm Unbehagen, wenn nicht gar Angst. Was zum Teufel sollte er an diesen vielen, leeren Tagen mit sich anfangen?
Wobei, so ganz ohne Verpflichtungen war er keineswegs. Aber die eine, unmittelbar vor ihm liegende Verpflichtung bereitete ihm noch größeres Unbehagen, als seine viele freie Zeit. Er schluckte schwer, ließ den Blick durch das Chaos in seinem Wohnzimmer schweifen. An den sorgfältig an die Wand gelehnten Kartonscheiben, die sich mit wenigen Handgriffen in Umzugskartons verwandeln ließen, blieb er hängen. Die hatte ihm seine Tochter Lena gestern spät am Abend vorbeigebracht.
Seit über zehn Jahren wohnte er hier. Hatte er sich hier je wohl gefühlt? Er wusste es nicht, dachte er doch üblicherweise nicht in solchen Kategorien. Jedenfalls behagte ihm der bevorstehende Umzug überhaupt nicht. Das lag teilweise sicherlich daran, dass die Initiative dazu nicht von ihm ausgegangen war.
Aber jammern half nichts! Seine Bude war gekündigt, die neue Wohnung gemietet. Also blieb ihm nichts Anderes übrig, als die blöden Kartons zu packen! In diesem Moment klingelte sein Handy. Froh über die willkommene Störung, griff er nach ihm. Das Display zeigte seine Kollegin Olga Oleg an, mit der er im Fall der verschwundenen Dreizehnjährigen gut zusammengearbeitet hatte.
»Olga! Schön, dass du dich bei mir meldest!«
»Hallo Jens! Ich habe gehört, dass du gerade länger frei hast. Störe ich dich auch nicht?«
»Nein, im Gegenteil! Ich bin froh über die Ablenkung.«
»Ich rufe aber dienstlich an. Also, so halb zumindest …«
Sie brach ab.
»Kein Problem! Wirklich nicht! Was kann ich für dich tun?«
»Ich würde gerne deine Meinung zu einem meiner Fälle hören.«
»Okay. Schieß los!«
»Bist du zu Hause?«
»Ja.«
»Ich bin gerade bei dir ums Eck. Wenn du Zeit hast, komme ich kurz vorbei. Von Angesicht zu Angesicht redet es sich leichter.«
»Okay, ich werfe gleich die Kaffeemaschine an. Für dich auch einen Cappuccino?«
»Gerne.«
Hurlebaus entlockte seiner alten Siebträgermaschine gerade die zweite Tasse, als es auch schon klingelte. Olga musste bei ihrem Anruf fast vor seinem Haus gestanden haben. Er betätigte den Summer, öffnete seine Wohnungstür einen Spalt und kehrte zurück in seine Küche, um die zuvor geschäumte Milch auf die beiden Tassen zu verteilen. Während er im Schrank nach Keksen kramte, hörte er, wie seine Wohnungstür ins Schloss fiel.
Erst in diesem Moment fragte er sich, ob es überhaupt Olga war, der er, ohne nachzufragen, beide Türen geöffnet hatte. Wie dumm von ihm, hatte ihm doch mehr als ein Krimineller Rache geschworen! Adrenalin schoss durch seinen Körper. Seine Pistole befand sich korrekt gesichert im Waffensafe des Schlafzimmers. Also zog er die Schublade auf und griff nach dem scharfen Messer mit der stabilen, spitz zulaufenden Klinge.
»Ziehst du etwa um?«, tönte Olgas Stimme aus dem Flur.
Erleichtert ließ er das Messer los und schloss die Lade wieder. Schnell stellte er die Tassen und Kekse auf ein kleines, rundes Tablett und verließ mit diesem die Küche.
»Ja. Sollen wir uns ins Wohnzimmer setzen?«
»Wohin ziehst du?«
»Auf den Hallschlag, ins Römerkastell.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihn an.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du jemals vom Wasen wegziehst.«
Sie folgte ihm und nahm in seinem bordeauxroten Ledersessel Platz, während er sich ihr gegenüber aufs Sofa setzte.
»Ehrlich gesagt, verlasse ich meine Bude nicht ganz freiwillig. Als du anriefst, bereute ich die Entscheidung gerade ziemlich!«
»Wer zwingt dich denn, hier fortzuziehen?«
»Zwingen tut mich natürlich niemand. Lena zieht auf dem Hallschlag in ein Reihenhäuschen, um eine Familie zu gründen. Sie will mich in der direkten Nachbarschaft haben.«
»Du wirst Opa?«
Ungläubig sah sie ihn an, während er das Gesicht verzog, als hätte er versehentlich Schlehen genascht.
»Ganz so weit ist es noch nicht! Das kann dauern! Aber genug von meinem Privatleben, was führt dich zu mir?«
Olga lächelte verständnisvoll.
»Du wirst bestimmt ein toller Opa!«
Hurlebaus verdrehte demonstrativ seine Augen.
»Aber genug, ich bin nicht gekommen, um dich zu ärgern. Kennst du das Sonnenstüble in Feuerbach?«
»Nein. Sollte ich?«
»Keineswegs, es hätte mich eher gewundert! Es handelt sich um eine winzige Raucherkneipe in einer kleinen Nebenstraße. Vermutlich verkehren dort kaum mehr als zwanzig Personen regelmäßig, die dafür täglich von der Öffnung um siebzehn Uhr, bis zur Schließung gegen dreiundzwanzig Uhr. Für die ist es ihr Wohnzimmer, zumindest von Mittwoch bis Sonntag, weil Montag und Dienstag ist das Sonnenstüble geschlossen.«
»Klingt, als würden da hauptsächlich Alkoholiker und schwierige Gestalten verkehren.«
»So schlimm sind die Gäste auch wieder nicht, eigentlich sogar ganz sympathisch, zumindest einige von ihnen.«
»Woher weißt du das?«
Mit gerunzelter Stirn sah er Olga an, die daraufhin tatsächlich errötete.
»Du warst dort!« Hurlebaus grinste. »Olga, allein unter zwanzig Kerlen!«
»Es war rein dienstlich!«
»Soso!« Sein Grinsen verbreiterte sich. »Dann glaube ich das mal. Warum erzählst du mir das alles?«
»Die Wirtin des Sonnenstüble ist spurlos verschwunden! Nicht erst seit gestern, sondern seit drei Monaten! Mich interessiert deine ehrliche Einschätzung, ob die Frau von sich aus verschwunden ist, oder …«
Olga brach ab, holte tief Luft und starrte aus dem Fenster über den Wasen hinweg auf die Hügel des Stuttgarter Ostens.
»… ob jemand sie für immer verschwinden ließ?«, beendete er ihren Satz.
Hurlebaus sah sie fragend an. Ihr Blick kehrte zurück. Sie nickte knapp.
»Exakt! Ihrem Bruder, anscheinend der einzige Mensch, dem sie wirklich nahestand und mit dem sie regelmäßigen Kontakt pflegte, sandte sie eine Nachricht. Sie lautet, er solle sie nicht verurteilen, der Liebe wegen gehe sie nach Italien.«
»Und dieser Bruder hat sie jetzt bei dir als vermisst gemeldet?«
»Noch nicht, er wohnt in Hamburg, sitzt aber in diesem Moment im Zug nach Stuttgart.«
Hurlebaus seufzte innerlich. Das war typisch für Olga. Bundesweit wurden täglich rund dreihundert Menschen bei der Polizei als vermisst gemeldet. Die Kollegen taten meist nicht mehr, als die Meldung aufzunehmen und ins Inpol-System einzutragen. Falls sie das überhaupt taten und die Angehörigen stattdessen nicht einfach abwimmelten oder ihre handschriftlichen Notizen in eine Schublade versenkten. Schließlich tauchte rund die Hälfte der Vermissten innerhalb von drei Tagen wieder auf.
Olga war nicht so. Sie litt mit den Angehörigen und tat ihr Bestes, deren Sorgen ernst zu nehmen. Allerdings schlugen bei ihr üblicherweise auch nicht die einfachen Fälle auf. Immerhin war sie bei der Kripo und keine einfache Beamtin eines Stadtteil-Reviers.
»Wie ich dich kenne, hast du dich bereits in das Leben der vermissten Wirtin hineinversetzt?«
Olga nickte.
»Frau Krogmann hatte eine schwierige Kindheit, scheiterte bei mehreren Anläufen zu studieren, arbeitete daraufhin mehrere Jahre in der Entwicklungshilfe und fand schließlich ihre Aufgabe im Sonnenstüble.
Für die Männer dort ist sie Mutter- oder Gattinnen-Ersatz, Sozialarbeiterin und Kummerkasten in einem. Alle dort lieben und vermissen sie. Sie wusste offensichtlich die Kerle zu nehmen, konnte aufkommende Konflikte zwischen ihnen meist im Keim ersticken. Jetzt fliegen öfters mal die Fäuste. Seit sie weg ist, müssen unsere Kollegen vor Ort regelmäßig eingreifen.
Frau Krogmann ging in ihren Rollen als Wirtin und Mutter auf. Ich kann nicht glauben, dass sie ihre Gäste einfach so, von einem auf den anderen Tag, im Stich ließ. Außerdem: Ist eine frische Liebe ein Grund dafür, sich drei Monate nicht mehr beim Bruder zu melden? Zumal sie mit ihm bis dahin beinahe täglich schrieb und mindestens einmal wöchentlich telefonierte?«
»Kommt auf die Art der Beziehung zwischen den beiden an!«
»Wie meinst du das?«
»Wie wohl!«
Er verdrehte kurz die Augen. Sie schluckte.
»Inzest? Ist es das, woran du denkst?«
»Ich denke an gar nichts! Aber falls die Bruderliebe keine reine Bruderliebe war, hatte sie vielleicht einen guten Grund, den Kontakt abzubrechen!«
»Okay, das behalte ich im Blick!«
»Falls sie nicht abgetaucht ist: Was ist deiner Meinung nach passiert? Ein Femizid?«
Seine Vermutung bezog sich darauf, dass jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Mann oder einem anderen Angehörigen ermordet wurde.
»Offiziell hatte Frau Krogmann nie eine Liebesbeziehung.«
»Keine, außer ihrem Bruder?«
Jetzt war sie es, die ihre Augen verdrehte.
»Gerade hast du gesagt, in ihrer Kneipe hätten zwanzig Kerle sie geliebt!«, fuhr er fort.
»Aber nicht so!« Olga schnaubte. »Die Herren beäugten einander eifersüchtig und achteten peinlich genau darauf, dass keiner von ihnen bevorzugt wurde. Bert meinte, dass Miteinander habe etwas von einem Bauerntheaterstück auf einer Provinzbühne gehabt, ohne den geringsten Hauch Erotik!«
»Bert?«
Erstaunt registrierte er, dass seine Kollegin errötete.
»Ähm, ich meine Herrn Hellweg, einen der Stammgäste des Sonnenstüble, der mir ausführlich alles erklärte.«
Hurlebaus grinste.
»Bert klingt aber nicht nach irgendeinem Zeugen, sondern eher ziemlich vertraut.«
»Hey, du Arsch! …« Sie beugte sich rasch vor und boxte in Richtung seines Oberschenkels, was er zuließ. »… Okay, es stimmt, ich finde Herrn Hellweg sympathisch! Er ist sehr gebildet und äußerst charmant. Kein Wunder, stand er doch als Theater-Schauspieler schon auf etlichen europäischen Bühnen!«
»Echt?« Hurlebaus beugte sich interessiert vor. »Und so einer hängt in einer Spelunke wie dem Sonnenstüble ab?«
»Warum nicht? Es ist schwer zu beschreiben …, die Gäste sind allesamt mehr oder weniger verwahrlost … Sie machen keinen guten ersten Eindruck. Aber insgesamt ist es eine durchaus liebenswerte Truppe, deren Zentrum und Herz die verschwundene Frau Krogmann darstellte. Jetzt wird sie von allen schmerzlich vermisst.
Deshalb erkenne ich aus ihrer Perspektive keinen Grund, spurlos unterzutauchen. Daher mache ich mir Sorgen um sie, fürchte, dass sie zum einen Prozent der Vermissten gehört, die Opfer einer Gewalttat wurden! Kannst du das nachvollziehen?«
»Durchaus! Aber aus deiner Beschreibung ihres Lebens ist für mich kein Motiv für eine solche erkennbar. Sie könnte natürlich das Zufallsopfer eines Psychopathen geworden sein, dagegen spricht allerdings …«
»Die Abschiedsbotschaft an ihren Bruder!«
»Genau!« Hurlebaus nickte. »Das spricht dafür, dass sie entweder doch freiwillig untertauchte, oder dass jemand aus ihrem persönlichen Umfeld, der um ihren engen Kontakt zu ihrem Bruder wusste, absichtlich eine falsche Fährte legte.«
»Das hilft mir jetzt leider gar nicht!« Olga seufzte. »Wie soll ich ohne das geringste Indiz für eine Gewalttat, nicht einmal ein schlüssiges Motiv für eine solche, den Staatsanwalt davon überzeugen, Ermittlungen einzuleiten?«
»Wenn Frau Krogmanns vordergründig sichtbares Dasein kein Motiv hergibt, muss sie noch ein zweites, verstecktes Leben geführt haben. Dort findest du vielleicht auch das Motiv für ihr Verschwinden.«
Drei Stunden später stand Olga in Feuerbach in der Wohnung der vermissten Wirtin und dachte an Hurlebaus Worte, vom geheimen Leben der Verschwundenen. Im Erdgeschoss des kleinen, schäbigen Ziegelbaus befand sich das Sonnenstüble, die Etage darüber bestand aus der Dreizimmerwohnung der Wirtin. Die alten Dielenböden waren abgeschliffen und geölt, an den Wänden war teilweise das historische Mauerwerk freigelegt worden, teils war darauf schlichter, weißer Putz aufgebracht. Wenige, aber hübsche und hochwertige Möbel verteilten sich auf die drei Räume und die Küche. Die Wohnung passte für Olga zu einer Designerin oder Architektin. Zur schäbigen Kneipe im Stockwerk darunter stellte sie hingegen einen krassen Kontrast dar. Wie passte beides zusammen?
Am meisten überraschte die Ermittlerin das dritte Zimmer, das als eine Art Arbeitszimmer diente. Ein Tischchen, bereits auf den ersten Blick eine teure Antiquität, erlaubte den Blick aus dem Fenster auf die Straße vor dem Haus. Auf ihm befand sich nichts, außer einem schlanken, eleganten Notebook. Auf dem dunklen Dielenboden saß ein gelborangener Buddha aus Ton und verbreitete mit seinem seligen Lächeln gute Laune. Die linke Wand wurde komplett von einem raumhohen Regal eingenommen, in dem sich dicht an dicht Bücher drängten. Jene irritierten die Kommissarin am stärksten, handelte es sich doch durchgehend um anspruchsvolle, meist gar wissenschaftliche Werke. Olgas Weltbild war erschüttert. Las die Wirtin einer schäbigen Eckkneipe tatsächlich solche Schmöker?
»Beeindruckt Sie die Literaturauswahl meiner Schwester?«
Herr Krogmann trat neben sie. Der Bruder besaß einen Wohnungsschlüssel und hatte Olga eindringlich darum gebeten, sich die Wohnung seiner vermissten Schwester anzuschauen. Da sie nicht wusste, ob sie je eine richterliche Erlaubnis hierzu erhielt, hatte sie die Chance ohne Zögern ergriffen.
»Durchaus! So ein Bücherregal würde ich eher bei einer Wissenschaftlerin erwarten.«
Er lächelte schmerzlich.
»Nun, meine Schwester besaß durchaus das Potenzial für eine wissenschaftliche Karriere.«
»Wie meinen Sie das?«
Mit gerunzelter Stirn wandte Olga sich ihm zu und sah ihn fragend an.
»Katharina ist hochbegabt, gehört mithin zu den intelligentesten zwei Prozent der Bevölkerung. Hätte man dies rechtzeitig erkannt und sie entsprechend gefördert, wären ihr alle Türen offen gestanden. Leider haben unsere Eltern diesbezüglich, und nicht nur diesbezüglich, völlig versagt! Und ihre Schule ebenso, obwohl es sich um eine teure Privatschule handelte!«
»Ich verstehe nicht …«
»Meine Schwester war eine sogenannte Underachieverin! Trotz ihres exzellenten Leistungspotenzials erbrachte sie in der Schule nur schlechte Leistungen. Meine Eltern dachten erst, sie wäre einfach nur faul, beschimpften und bestraften Katharina sinnlos. Als dies nichts fruchtete, wurde sie von ihnen schließlich als strohdumm angesehen. Dabei langweilte der verknöcherte Unterricht in der elitären Privatschule Katharina schlicht. Und ihre ADHS stand ihr auch im Weg.«
»Aber, haben Sie mir nicht gestern am Telefon erzählt, Ihre Schwester habe studiert?«
Er seufzte schwer, nickte langsam. Düster starrte er vor sich hin. Schließlich blinzelte er, ein Ruck ging durch seinen Körper. Er wandte sich der Kommissarin wieder zu.
»Denken Sie, ihre schulische Vergangenheit spielt im Zusammenhang mit Katharinas Verschwinden eine Rolle?«
»Möglicherweise ja! Je besser ich Ihre Schwester kennenlerne, desto größer wird meine Chance, sie zu finden.«
»Also gut, dann erzähle ich Ihnen alles etwas ausführlicher. Wie gesagt, war die teure Privatschule die Hölle für sie. Unsere Eltern beschimpften Katharina als faul und dumm. Ich wusste als Einziger der Familie, dass das Quatsch ist und verteidigte sie. Auf mich hörte jedoch niemand. Aber seither pflegen wir ein enges Verhältnis zueinander.«
»Wie eng war ihr Verhältnis?«
»Wie meinen Sie das?«
Sichtlich irritiert sah er sie an.
»Sie sagten mir gestern am Telefon, Ihre Schwester habe nie eine Liebesbeziehung gehabt. Könnten Sie in den Augen ihrer Schwester so etwas wie … wie ein Partnerersatz gewesen sein?«
Sie beobachtete ihn genau. Er errötete und blinzelte mehrmals.
»Das glaube ich nicht! Es ist einfach so: Obwohl ich vier Jahre jünger bin und nicht halb so schlau wie sie, fühle ich mich seit meiner Kindheit verantwortlich für Katharina.«
»Wie gelangten Sie als Einziger in der Familie zu der Einschätzung, dass Ihre Schwester nicht dumm ist?«
»Weil sie schon als Dreizehnjährige wissenschaftliche Schmöker las – und nicht nur das, sie konnte auch noch super erklären, was darinstand!«
»Und das fiel außer Ihnen niemandem auf?«
»Doch, ein Lehrer erkannte es Jahre später ebenfalls. Als es in der Privatschule immer mehr eskalierte, steckten unsere Eltern sie schließlich in ein Internat. Aber von dort lief sie so lange weg, bis unsere Eltern ein Einsehen hatten und sie zurückkommen durfte. Sie wurde auf einem staatlichen Gymnasium angemeldet, das sie nach einem halben Jahr an eine Hauptschule weiterreichte. Ausgerechnet dort erkannte erstmals ein Lehrer ihr Potenzial und verhalf ihr zu einem Termin bei einer Schulpsychologin. Die stellte ihre Hochbegabung fest und überzeugte unsere Eltern davon, Katharina zur Externenprüfung fürs Abitur anzumelden.
Tatsächlich erarbeitete sie sich ohne Hilfe in kurzer Zeit das notwendige Wissen und legte ein Einserabitur ab. Danach erkannten unsere Eltern ihre Fehler und zeigten beinahe so etwas wie Reue. Aber das hielt nicht lange an.
Katharina begann Psychologie zu studieren, schmiss aber bald wieder hin und ging für eine kirchliche Organisation nach Südamerika. Auch dort hielt sie es nicht lange aus. Zurück in Hamburg nahm sie ein Jurastudium auf. Erneut hielt sie nicht lange durch.
So ging das einige Jahre hin und her. Dann starb unser Vater. Jedes von uns vier Kindern erbte etwas Geld. Katharina wollte ihr Erbe dazu verwenden, das Sonnenstüble hier zu erwerben. Ich hielt es für Quatsch, dass meine hochbegabte Schwester ihre Zukunft als Wirtin sah. Erfolglos versuchte ich, es ihr auszureden.
Damals engagierte sie sich stark in der ADHS-Selbsthilfe. Wir hatten seinerzeit nach wie vor ein enges Verhältnis. Deshalb schmerzte es mich jedes Mal, wenn sie sagte, nur ein paar Menschen aus der Selbsthilfe würden sie richtig verstehen. Der vorherige Wirt des Sonnenstüble hatte ebenfalls ADHS. Sie kannte ihn über die Selbsthilfe. Er selbst hatte das Haus samt Kneipe geerbt und zu einem Treffpunkt für besondere Menschen gemacht. Also für Menschen, mit denen sich die Gesellschaft schwertut.
Katharina widerlegte meine Befürchtungen. Erstaunlicherweise kam sie hier zurecht und fand so etwas wie ihren inneren Frieden.«
Olga musste an Bert denken. War er tatsächlich ein Schauspieler, der schon auf etlichen größeren Bühnen Europas gespielt hatte? Dann glich er irgendwie der Verschwundenen.
»Ist das Sonnenstüble immer noch ein Ort für besondere Menschen?«
»Ich denke schon!«, er zuckte mit den Schultern, »so genau weiß ich es allerdings nicht. Über die Kneipe haben wir so gut wie nie gesprochen.«
»Über welche Themen haben sie sich dann unterhalten?«
»Oh, über alles Mögliche! Katharinas Geist irrlichterte, wie Sie dem Regal hier entnehmen können, trotz ihrer Kneipe weiter durch die Welt. Sie konnte sich für vielerlei Themen aus Forschung und Kultur begeistern, erzählte mir dann am Telefon beinahe euphorisch davon, nur um eine Woche später nichts mehr davon wissen zu wollen. So ist sie eben!
Außerdem war … ist, sie nach wie vor in der Selbsthilfe aktiv. Sehen Sie, dieser Bereich des Regals widmet sich ausführlich dem Thema ADHS, oder Neurodiversität, wie sie ihre Besonderheiten seit etlichen Jahren lieber nennt.«
Hurlebaus hatte es tatsächlich geschafft, die Sachen aus seinem Wohnzimmer weitestgehend in Umzugskartons zu verstauen. Jetzt saß er mit einer Tasse Kaffee in der Küche und starrte auf den Bildschirm seines Notebooks. Dort hatte er die Verkaufsseite einer Auto-Börse geöffnet. Sollte er es wirklich tun? Brachte er es tatsächlich übers Herz, sich von seinem alten Daimler zu trennen?