Der Glanz der Dunkelheit - Mary E. Pearson - E-Book

Der Glanz der Dunkelheit E-Book

Mary E. Pearson

4,5

Beschreibung

Lia hat sich entschieden. Statt die Königin an Rafes Seite zu werden, kehrt sie nach Morrighan zurück. Sie muss ihrem Heimatland beistehen, auch wenn das bedeutet, dass sie in die Schlacht ziehen wird. Während sie einer ungewissen Zukunft entgegenreitet, quälen sie viele Fragen. Kann sie den Königreichen Morrighan, Venda und Dalbreck endlich Frieden bringen? Wie soll sie im Kampf gegen den Komizar von Venda bestehen? Und wird es für sie und Rafe eine Zukunft geben?

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Gaudrels Vermächtnis

Kapitel 1

Kapitel 2 – Rafe

Kapitel 3 – Kaden

Kapitel 4

Kapitel 5 – Pauline

Kapitel 6

Morrighans Verlorene Worte

Kapitel 7 – Rafe

Kapitel 8 – Pauline

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11 – Kaden

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14 – Pauline

Morrighans Verlorene Worte

Kapitel 15 – Rafe

Kapitel 16

Kapitel 17 – Kaden

Kapitel 18

Kapitel 19

Venda Lied

Kapitel 20 – Rafe

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23 – Rafe

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26 – Pauline

Kapitel 27

Morrighans Verlorene Worte

Kapitel 28 – Rafe

Kapitel 29 – Kaden

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33 – Rafe

Kapitel 34 – Pauline

Kapitel 35

Kapitel 36 – Kaden

Kapitel 37

Buch des Heiligen Textes von Morrighan

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40 – Rafe

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44 – Kaden

Kapitel 45 – Rafe

Venda Lied

Kapitel 46

Lia

Kaden

Rafe

Lia

Kaden

Rafe

Lia

Kaden

Rafe

Lia

Kaden

Rafe

Lia

Rafe

Lia

Kapitel 47

Pauline

Kaden

Rafe

Lia

Gaudrels Vermächtnis

Kapitel 48 – Rafe

Jezelias Lied

Kapitel 49

Danksagung

Karte

Über das Buch

Siehst du die schöne Seite der Dunkelheit? Sie fühlt sich an wie der Kuss eines Schatten. Sie ist eine Berührung, so sanft wie Mondlicht. Sei ganz still, dann fühlst du ihn auch – den Glanz der Dunkelheit. Lias Zukunft könnte so einfach sein. Rafe wünscht sich nichts mehr, als sie zur Königin an seiner Seite zu machen. Doch Lia spürt, dass andere Aufgaben auf sie warten. Sie muss ihrem Heimatland zu Hilfe eilen. Für Morrighan würde sie notfalls auch in die Schlacht ziehen. Während sie Rafe schweren Herzens zurücklässt und einer ungewissen Zukunft entgegenreitet, quälen sie viele Fragen. Kann sie es schaffen, den drei Königreichen Morrighan, Venda und Dalbreck endlich Frieden zu bringen? Wie soll sie im Kampf gegen ihren Gegenspieler, den Komizar von Venda, bestehen? Und wird es für Rafe und sie eine Zukunft geben? Das große Finale der erfolgreichen Saga von Mary E. Pearson.

Über die Autorin

Mary E. Pearson hat bereits verschiedene Jugendbücher geschrieben. Der Kuss der Lüge, Auftaktband der Chroniken der Verbliebenen, ist der erste ihrer Titel, der auf Deutsch erscheint. In den USA hat sie damit in Bloggerkreisen geradezu einen Hype ausgelöst. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in Kalifornien.

MARY E. PEARSON

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Imgrund

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischsprachigen Originalausgabe:»The Beauty of Darkness« Teil II

Für die Originalausgabe:Copyright © 2016 by Mary E. PearsonMap Copyright © 2016 by Keith Thompson

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Julia Przeplaska, IngolstadtUmschlaggestaltung: Kirstin Osenau nach einem Entwurf von Jeannine Schmelzer unter Verwendung eines Umschlagdesigns by Rich Deas; © 2016 by Jonathan BarkatUmschlagmotive: © shutterstock: Nejron Photo | Alessandro Guerriero | Luis Louro und © CanStockPhotoE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-5701-1

luebbe.delesejury.de

Für Ava, Emily und Leah und die Sterne, die ihr berühren werdet

Gaudrels Vermächtnis

Erzähl eine Geschichte, Gaudrel.Erzähl eine Geschichte, um sie zu beruhigen.

Der Stamm hält Wache, mit schweren Stöcken als einziger Schutz gegen die Plünderer.Ich höre den Starken rufen. Er will die Kleine.Die Kinder weinen und wimmern.

Still!

Kommt zusammen, Kinder.

Hört zu.

Es war einmal ein großer Drache,

Er fauchte und spie Feuer, aber da war auch eine Prinzessin,

Eine Prinzessin wie jede von euch, und sie war stärker,

damals, vor all dieser Zeit …

Damals.Ein Schritt. Ein Tag. Noch eine dunkle Nacht. Und eine Reise, die uns dorthin führen wird.Das ist meine Hoffnung, und ich versuche, sie zu der ihren zu machen, denn das ist alles, was ich ihnen geben kann.

Gaudrels Vermächtnis

Kapitel 1

SCHATTEN TANZTEN über den Weg wie Gespenster, die uns warnen und verjagen wollten. Ich sah in die Bäume hinauf, die uns umringten und deren schwere Äste sich im Wind wiegten, und ich lauschte dem Flüstern der Brise, die durch ihre belaubten Finger fuhr. Ein Zischen.

Doch nichts konnte uns nun noch aufhalten.

Wir waren auf einem Nebenpfad nach Terravin gelangt und hatten die obere Straße gewählt, die zu Berdis Schenke führte. Da Terravin auf dem Weg nach Civica lag, hatten wir beschlossen, dort einen Halt einzulegen. Endlich würden wir ein Bad nehmen und unsere Kleider waschen können; sie stanken nach Rauch, Schweiß und wochenlangem Unterwegssein. Selbst der kleinste Hauch Körpergeruch könnte Aufmerksamkeit erregen, und das konnten wir nicht brauchen.

Doch was noch wichtiger war: Ich schuldete Pauline und den anderen einen Besuch, um sie nach all den Monaten wissen zu lassen, dass es mir gut ging. Auch hatten sie vielleicht Neuigkeiten zu berichten, die nützlich waren – vor allem Gwyneth mit ihrem Netzwerk aus fragwürdigen Kontakten.

Kaden zügelte sein Pferd. »Vielleicht sollte ich mich zurückfallen lassen?«

Ich sah ihn verwirrt an. »Warum jetzt noch? Wir sind fast da.«

Er rutschte unbehaglich auf seinem Sattel herum. »Damit du Pauline sagen kannst, dass ich mitgekommen bin. Du weißt schon – damit sie vorbereitet ist.«

Zum ersten Mal meinte ich, so etwas wie Furcht in Kadens Gesicht zu entdecken. Ich lenkte mein Pferd näher zu ihm. »Hast du etwa Angst vor Pauline?«

Er runzelte die Stirn. »Ja.«

Ich saß verblüfft da und wusste nicht, was ich auf sein Eingeständnis erwidern sollte.

»Lia, sie weiß jetzt, dass ich Vendaner bin, und mit den letzten Worten, die ich zu ihr gesagt habe, habe ich ihr den Tod angedroht – und dir auch. Das hat sie bestimmt nicht vergessen.«

»Kaden, du hast auch Rafe bedroht. Aber vor ihm hast du keine Angst.«

Er sah weg. »Das ist etwas anderes. Rafe konnte ich noch nie leiden und er mich genauso wenig. Pauline dagegen ist unschuldig und …« Er unterbrach sich kopfschüttelnd.

Ja, sie war unschuldig. Und früher hatte sie große Stücke auf ihn gehalten. Ich hatte die Freundlichkeiten gesehen, welche die beiden ausgetauscht hatten, und wie leicht sie ins Gespräch gekommen waren. Zu erleben, wie sich ihre einstige Wertschätzung für ihn in Hass verkehrte, war vielleicht der Tropfen, der für Kaden das Fass zum Überlaufen brachte. Das hatte er bereits bei Natiya durchgemacht, die ihm gegenüber noch immer reserviert, wenn auch inzwischen wieder höflich war. Sie würde niemals den Überfall der Vendaner auf ihr Lager vergessen, und auch nicht, dass er einer von ihnen war. Es sah so aus, als wäre Kaden in derselben Lage wie ich – es gab nur eine Handvoll Menschen auf dem Kontinent, die ihn nicht tot sehen wollten. Ich erinnerte mich an das Entsetzen in Paulines Augen, als Kaden uns ins Gebüsch gezerrt hatte, und dann an ihr Flehen, uns gehen zu lassen. Nein, sie hatte das wohl kaum vergessen, aber ich betete, dass das Entsetzen jenes Tages in all den langen Monaten nicht zu Hass herangewachsen war.

Kaden setzte seine Feldflasche an und trank den letzten Schluck. »Ich will einfach nur keine Szene in der Schenke riskieren, wenn sie mich sieht«, fügte er hinzu.

Doch es war mehr als nur Bedenken wegen eines Tumults, und wir beide wussten das. Seltsam, dass ihn die bloße Vorstellung von der Begegnung mit einem so harmlosen Menschen wie Pauline aus der Fassung brachte.

»Wir gehen durch die Küchentür hinein«, sagte ich, um ihn zu beruhigen. »Pauline ist vernünftig. Sie wird es verstehen, wenn ich es ihr erkläre. Bis dahin werde ich mich zwischen dir, ihr und den Küchenmessern platzieren.« Ich machte diesen Scherz, um ihn aufzuheitern, aber er lächelte nicht.

Natiya schloss zu mir auf. »Und was ist mit mir?«, fragte sie. »Soll ich dir helfen, den ängstlichen Attentäter zu beschützen?« Sie sagte es so laut, dass auch Kaden es hörte, und ihre Augen funkelten vor Schadenfreude. Kaden warf ihr einen warnenden Blick zu, sie möge gut achtgeben, wie weit sie es trieb.

Mein Herz pochte heftig vor Vorfreude, aber sobald die Schenke in Sicht kam, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Angst breitete sich wie ein Buschfeuer unter uns dreien aus. Selbst Natiya spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, obwohl sie noch nie hier gewesen war.

»Was ist los?«, fragte sie.

Es war so leer. Still.

Vor dem Haus waren keine Pferde angebunden. Weder Gelächter noch Gespräche drangen aus dem Schankraum. Es gab keine Gäste, und dabei war es Essenszeit. Unheilvolles Schweigen hüllte die Schenke ein wie ein Leichentuch.

Ich sprang vom Pferd und lief die Stufen zum Eingang hinauf. Kaden war dicht hinter mir und rief, ich solle stehen bleiben, wir müssten vorsichtig sein. Ich stieß die Tür auf – nur um sämtliche Stühle fein säuberlich auf den Tischen aufgestapelt zu sehen.

»Pauline! Berdi! Gwyneth!« Ich durchquerte den Speisesaal mit großen Schritten und öffnete die Küchentür so heftig, dass sie gegen die Wand knallte.

Ich erstarrte. Enzo stand am Hackklotz, ein Beil in der Hand. Ihm stand der Mund so weit offen wie dem Fisch, dem er gerade den Kopf abschlagen wollte.

»Was ist hier los?«, fragte ich. »Wo sind alle?«

Enzo blinzelte und fasste mich ins Auge. »Was machst du hier?«

Kaden zog seinen Dolch. »Leg das Beil hin, Enzo.«

Enzo sah auf das Beil hinunter, das er noch immer in der Hand hielt, zunächst überrascht, dann entsetzt, es dort zu entdecken. Er ließ es fallen, sodass es klirrend auf den Hackklotz traf.

»Wo sind alle?«, fragte ich wieder, diesmal mit drohendem Unterton.

»Weg«, antwortete er und winkte Kaden und mich mit zitternder Hand an den Küchentisch, um es uns zu erklären. »Bitte«, fügte er hinzu, als wir uns nicht rührten.

Wir zogen Stühle heran und setzten uns. Kaden hielt seinen Dolch weiterhin gezückt. Aber als Enzo mit seinen Ausführungen fertig war, stützte ich den Kopf in die Hände und konnte nur noch auf den Holztisch starren, an dem ich so viele Mahlzeiten mit Pauline zusammen eingenommen hatte. Sie war vor Wochen aufgebrochen, um mir zu helfen. Genau wie die anderen. Ich konnte das Ächzen in meiner Kehle nicht zurückhalten. Sie hielten sich im Herzen Civicas auf. Blanke Angst packte mich.

Kaden legte mir die Hand auf den Rücken. »Gwyneth ist bei ihr. Das ist doch schon etwas.«

»Und Berdi«, ergänzte Enzo. Aber beides schien meine Befürchtungen nur zu bestätigen. Pauline war gutgläubig – und wurde wie ich gesucht. Sie konnte bereits verhaftet sein. Oder Schlimmeres.

»Wir müssen zu ihnen«, beschloss ich. »Morgen.« Kein Ausruhen.

»Es geht ihnen gut«, sagte Enzo. »Berdi hat es mir versprochen.«

Ich sah zu Enzo auf. Ich erkannte in ihm kaum noch den trägen Jungen wieder, bei dem man sich nicht einmal darauf verlassen konnte, dass er zur Arbeit erscheinen würde. Sein Gesicht war ernst – ein Ausdruck, den ich noch nie an ihm gesehen hatte.

»Und Berdi hat dir solange die Schenke übertragen?«

Er strich sich eine fettige Strähne aus dem Gesicht und schlug den Blick nieder. Ich hatte mich nicht bemüht, mein Misstrauen zu verbergen. Röte überzog seine Schläfen. »Ich weiß, was du denkst, und ich kann es dir nicht einmal übel nehmen. Aber ja, das hat Berdi getan – mir die Verantwortung übertragen, die Schlüssel und alles andere.« Er rasselte mit dem Schlüsselring, der an seinem Gürtel hing, und ich sah so etwas wie Stolz in seinen Augen. »Wirklich. Sie sagte, es sei längst überfällig, dass ich mich mal zusammenreiße.« Er zuckte und zerknüllte die Schürze zwischen den Händen. »Dieser andere Kerl hätte mich umbringen können. Das hätte er auch fast getan. Er hat mich gehört und …«

Er schluckte, sodass der Adamsapfel in seiner dürren Kehle hüpfte. Er starrte auf meinen Hals. »Es tut mir leid. Ich war’s, der dem Kopfgeldjäger gesagt hat, dass du die obere Straße genommen hast. Ich wusste, dass er nichts Gutes im Schilde führte, aber ich hatte nur Augen für die Münzen in seiner Hand.«

Kaden beugte sich vor. »Du?«

Ich schob Kaden zurück. »Welcher andere Kerl?«, fragte ich.

»Dieser Landarbeiter, der hier abgestiegen war. Er hat mir aufgelauert und gedroht, mir die Zunge abzuschneiden, wenn ich noch einmal jemandem deinen Namen nennen würde. Sagte, er würde sie mir zusammen mit den Münzen in den Rachen stopfen. Ich dachte wirklich, er würde es tun. Ich dachte, wie nah ich …« Er schluckte wieder. »Ich wusste, dass ich nicht mehr viele Gelegenheiten bekommen würde. Das Letzte, was Berdi zu mir gesagt hat, bevor sie weggingen, war, dass sie etwas Gutes in mir sieht und dass ich es endlich auch finden müsste. Ich versuche, mich zu bessern.« Er rieb sich über die Schläfe; seine Hand zitterte immer noch. »Natürlich mache ich das alles nicht halb so gut wie Berdi. Alles, was ich schaffe, ist, die Zimmer der Gäste sauber zu halten, morgens Haferbrei zu kochen und abends Eintopf.« Er deutete auf die Wand am anderen Ende der Küche. »Sie hat mir Anweisungen dagelassen. Für alles.« Wenigstens ein halbes Dutzend Zettel waren an die Wand geheftet. »Ich kann nicht allein Abendessen für den ganzen Schankraum kochen. Aber vielleicht … wenn ich jemanden einstelle.«

Natiya kam in die Küche, das Schwert an der Hüfte, einen Dolch in der Hand; sie stolzierte steif einher, was sonst gar nicht ihre Art war. Sie lehnte sich an die Wand. Enzo warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts. Wir waren wieder da, wo wir angefangen hatten, und ich sah die Sorge in seinen Augen. Er wusste, dass wir ihn als potenzielle Bedrohung betrachteten.

»Du weißt also, wer ich in Wahrheit bin?«, fragte ich.

Flüchtig sah ich ihm an, dass er es abstreiten wollte, aber er schüttelte es ab und nickte. »Berdi hat es mir nicht verraten, aber ich habe von der Prinzessin gehört, die gesucht wird.«

»Und was genau hast du gehört?«, fragte Kaden.

»Jeder darf sie töten, der sie zu Gesicht bekommt, und er erhält eine Belohnung dafür. Und man wird ihm keine Fragen stellen.«

Kaden zischte und stieß sich vom Tisch ab.

»Aber ich werde niemandem etwas sagen!«, fügte Enzo hastig hinzu. »Ich verspreche es. Ich weiß es schon lange und hätte jede Menge Gelegenheiten gehabt, es dem Richter zu sagen. Er ist zweimal hierhergekommen, weil er wissen wollte, was mit Gwyneth passiert ist, aber ich habe nie ein Sterbenswörtchen gesagt.«

Kaden stand auf und fuhr mit dem Finger über die stumpfe Seite seines Dolchs. Er drehte und wendete ihn, sodass sich das Laternenlicht darin fing, dann blickte er zu Enzo. »Selbst wenn der Richter dir eine Handvoll Münzen dafür bietet?«

Enzo starrte auf den Dolch. Auf seiner Oberlippe perlte Schweiß, und seine Hände zitterten wieder stärker, doch er reckte ungewohnt todesmutig das Kinn. »Das hat er schon getan. Es hat nichts an meiner Antwort geändert. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht wüsste, wohin Gwyneth verschwunden ist.«

»Lia? Hast du einen Augenblick?« Kaden wies mit dem Kopf Richtung Gastraum. Wir ließen Natiya als Wache bei Enzo.

»Ich traue ihm nicht«, flüsterte Kaden. »Er ist ein schmieriger kleiner Betrüger, der dich schon einmal für Geld verraten hat. Er wird es wieder tun, sobald wir draußen sind, wenn wir ihn nicht zum Schweigen bringen.«

»Du meinst, ihn umbringen?«

Er antwortete mir mit einem festen Blick.

Ich schüttelte den Kopf. »Er hätte uns nicht sagen müssen, dass er es war, der dem Kopfgeldjäger geholfen hat. Menschen können sich ändern.«

»Niemand ändert sich so schnell, und er ist der Einzige in Morrighan, der weiß, dass wir hier sind. Dabei sollte es auch bleiben.«

Ich ging auf und ab, während ich versuchte, es zu durchdenken. Enzo war ein Risiko, keine Frage, und er hatte seine Unzuverlässigkeit, wenn nicht gar Gier bereits unter Beweis gestellt. Aber Berdi hatte ihm ihr Lebenswerk anvertraut. Und Menschen konnten sich ändern. Ich hatte mich geändert. Kaden hatte es getan.

Und um der Götter willen, Enzo kochte Eintopf. Eintopf! Außerdem wartete im Spülbecken kein schmutziges Geschirr vergeblich darauf, abgewaschen zu werden. Ich wandte mein Gesicht Kaden zu. »Berdi vertraut Enzo. Ich denke, wir sollten das auch tun. Er macht den Eindruck, als hätte ihn die Drohung des Landarbeiters geläutert. Wenn du seine Erinnerung daran ein bisschen auffrischen und mit deinem Dolch herumfuchteln willst, dann tu das.«

Er sah mich an, noch immer wenig überzeugt. Dann endlich stieß er einen langen Seufzer aus. »Ich werde nicht nur damit herumfuchteln, wenn er einen von uns auch nur schief anschaut.«

Wir kehrten in die Küche zurück und trafen Vorbereitungen für die Übernachtung. Natiya und ich wuschen unsere Kleider und hängten sie in der warmen Küche auf, da wir nicht viel Zeit hatten. Wir suchten in der Hütte, in der ich mit Pauline gewohnt hatte, nach unauffälliger Kleidung und förderten zwei weite Arbeitskleider und einige Schals zutage. Ich entdeckte auch Paulines weißen Trauerschal. Natiya würde ihr Gesicht nicht verbergen müssen, solange wir in Morrighan waren, aber ich schon, und nichts würde Argwohn leichter entkräften als der Respekt vor einer trauernden Witwe. Kaden kümmerte sich um die Pferde, und dann plünderten wir Berdis Vorratskammer, um Proviant für die Reise zu horten. Von jetzt an würde es keine Lagerfeuer mehr geben, an denen wir kochen konnten. Als Enzo uns beim Packen half, hörte ich überrascht einen Esel rufen.

»Das ist Otto«, sagte er kopfschüttelnd. »Er vermisst die beiden anderen.«

»Otto ist noch hier?« Ich hüllte mich in den Witwenschal, für den Fall, dass Gäste in der Nähe waren, und lief hinaus zur Koppel.

Ich liebkoste Otto, kraulte seine Ohren und hörte mir all seine Beschwerden an, und jeder seiner schrägen Töne war wie Musik in meinen Ohren. Es erinnerte mich an jenen Tag, an dem Pauline und ich in Terravin angekommen und auf unseren Eseln die Hauptstraße entlanggeritten waren. Wir hatten geglaubt, unser neues Leben hier würde ewig währen. Otto stupste mich mit seiner weichen Schnauze an, und ich musste daran denken, wie einsam er sich ohne seine Kameraden fühlen musste.

»Ich weiß«, sagte ich leise. »Nove und Dieci kommen bald zurück. Versprochen.« Aber ich wusste, dass es ein leeres Versprechen und nur dahergesagt war …

Rafes Worte schnürten mir die Kehle zu wie eine Angelleine, die mich unter Wasser zog, wo ich nicht atmen konnte. Ich habe damals gesagt, was du hören wolltest. Ich wollte dir Hoffnung geben.

Das stieß mir immer noch bitter auf, und ich wandte mich von Otto ab. Rafe hatte mir falsche Hoffnungen gemacht und meine Zeit verschwendet. Ich ging in die Scheune und fasste die Leiter ins Auge, die auf den Scheunenboden führte; dann kletterte ich schließlich hinauf. Es war halbdunkel dort oben, nur ein paar verirrte Sonnenstrahlen stahlen sich durch die Dachsparren. Noch immer lagen zwei Matratzen auf dem Boden; sie waren nach unserem übereilten Aufbruch nie weggeräumt worden. Ein vergessenes Hemd hing über der Rückenlehne eines Stuhls. Ein verstaubter Wasserkrug stand auf dem Tisch in der Ecke. Am anderen Ende waren Kisten aufgestapelt – und ein leerer Futtertrog. Mein Herz hämmerte, als ich darauf zuging. Schau nicht hin, Lia. Lass es gut sein. Es interessiert dich nicht. Aber ich konnte es mir doch nicht verkneifen.

Ich rückte den Futtertrog ein Stück nach vorn, sodass ich einen Blick dahinter werfen konnte. Da war er, genau wie er gesagt hatte: ein Haufen schmutziger weißer Stoff. Meine Zunge wurde pelzig, und da war ein schaler Geschmack in meinem Mund; plötzlich war es so stickig im Raum, ich konnte kaum atmen. Ich griff nach unten und holte den Stoff aus seinem Versteck. Strohhalme regneten zu Boden. Das Kleid war an mehreren Stellen zerrissen, der Saum war schlammverkrustet. Ziegelrotes Blut befleckte den Stoff. Sein Blut. So hatte er sich die Risse an den Händen zugezogen: als er es aus dem dornigen Gebüsch holte, in das ich es geworfen hatte. Vielleicht hat mich das Kleid aber auch ins Grübeln über das Mädchen gebracht, das es getragen hat. Dasselbe Kleid, das ich mir so hasserfüllt vom Leib gerissen und weggeworfen hatte. Meine Knie versagten mir den Dienst, und ich fiel zu Boden. Ich hielt mir das Kleid vors Gesicht und versuchte, nicht an Rafe zu denken, aber ich sah nur ihn, wie er es aus dem Gebüsch zerrte, in seine Tasche stopfte und über mich nachdachte, so wie ich über ihn nachgedacht hatte. Aber ich hatte nur falsche Dinge gedacht.

Ich hatte ihn mir als feiges Vatersöhnchen vorgestellt. Nicht als …

»Lia? Alles in Ordnung?«

Ich sah auf. Kaden stand oben auf der Leiter.

Ich erhob mich und warf das Kleid wieder hinter den Futtertrog. »Ja, mir geht’s gut«, erwiderte ich, noch immer mit dem Rücken zu ihm.

»Ich habe etwas gehört. Hast du …«

Ich wischte mir über die Wangen und fuhr mit den Händen über das Vorderteil meines Hemdes, bevor ich mich zu ihm umdrehte. »Gehustet. Hier oben gibt’s ziemlich viel Staub.«

Er kam herüber, wobei der Boden unter seinen Schritten ächzte, und sah auf mich herunter. Sein Daumen strich über meine feuchten Augen.

»Es ist nur der Staub«, bekräftigte ich.

Er nickte, schlang seine Arme um mich und hielt mich fest. »Sicher. Staub.« Ich lehnte mich an ihn. Er streichelte mein Haar, und ich spürte den Schmerz in seiner Brust so stark wie meinen eigenen.

*

Es war schon spät. Natiya lag bereits in der Hütte im Bett, Enzo schlief in Berdis Zimmer. Kaden und ich saßen in der Küche, und ich löcherte ihn mit Fragen nach jeder Einzelheit, die er über die Pläne des Komizars wusste. Doch ich spürte, dass er mit den Gedanken woanders war. Ich war ihm dankbar, dass er es nicht angesprochen hatte, aber ich wusste, dass unsere Begegnung in der Scheune auf ihm lastete. Es war nur ein flüchtiger, erschöpfter Augenblick gewesen, in dem er mich auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Das war alles. Nach einem Teller Fischsuppe, die überraschenderweise fast so gut wie die von Berdi war, fühlte ich mich gestärkt und bereit weiterzumachen.

Nun ließ Kaden geduldig all die Fragen über sich ergehen, die ich ihm doch schon gestellt hatte. Seine Antworten waren dieselben. Er wusste nur vom Kanzler. Vielleicht waren er und der Königliche Gelehrte die einzigen Verräter im Rat. Aber war das möglich?

Meine Beziehungen zu sämtlichen Ratsmitgliedern konnte man bestenfalls schwierig nennen, vielleicht mit Ausnahme des Vizeregenten und des Jagdführers. Diese beiden hatten normalerweise ein Lächeln und ein nettes Wort anstelle eines ablehnenden Blicks für mich übrig gehabt. Aber das Amt des Jagdführers im Rat war hauptsächlich zeremonieller Natur, ein Relikt aus früheren Zeiten, als das Bestücken der Vorratskammer noch die vordringliche Pflicht des Rats gewesen war. Meistens wohnte er den Ratsversammlungen nicht einmal bei. Der Königlichen Ersten Tochter stand ebenfalls ein Sitz zu, doch meine Mutter, die ja auch eine Erste Tochter war, hatte man selten an den Ratstisch gebeten.

Meine Gedanken wanderten zurück zum Vizeregenten. »Pauline wird als Erstes zu ihm gehen«, erläuterte ich Kaden. »Er war der Einzige im Rat, der immer ein offenes Ohr für mich hatte.« Ich kaute auf meinen Fingerknöcheln herum. Häufige Reisen in andere Königreiche gehörten zu den Aufgaben des Vizeregenten, und ich machte mir Sorgen, dass er auch jetzt unterwegs sein könnte. Wenn das der Fall war, würde Pauline stattdessen zu meinem Vater gehen, ohne seine Reizbarkeit richtig einschätzen zu können.

Kaden reagierte auf nichts, was ich sagte, und starrte nur leer durch den Raum. Plötzlich stand er auf und durchwühlte unsere Vorräte. »Ich muss los. Es ist nicht weit von hier. Nur eine Stunde westlich von Luiseveque im Bezirk Düerr. Wir werden dadurch keine Zeit verlieren.« Er benannte einen Treffpunkt nördlich von hier, an dem er Natiya und mich morgen erwarten würde, und riet mir, einen Weg durch den Wald zu wählen. »Niemand wird euch sehen. Das ist sicherer für euch.«

»Du willst jetzt weg?« Auch ich erhob mich und nahm ihm einen Sack Dörrfleisch aus der Hand. »Du kannst doch nicht nachts reiten.«

»Enzo schläft. Es ist die beste Zeit, ihm zu vertrauen.«

»Du musst dich auch ausruhen, Kaden. Was …«

»Ich werde mich ausruhen, wenn ich dort bin.« Er nahm mir das Dörrfleisch wieder weg und begann, seine Tasche neu zu packen.

Mein Herz klopfte schneller. Das sah Kaden gar nicht ähnlich. »Was gibt es denn so Dringendes in Düerr zu erledigen?«

»Ich muss etwas aus der Welt schaffen, ein für alle Mal.« Die Muskeln an seinem Hals waren gestraffte Seile, er mied meinen Blick. Und da wusste ich es.

»Dein Vater«, sagte ich. »Er ist der Lord von Düerr, oder?«

Er nickte.

Ich trat beiseite, während ich versuchte, mir die Bezirkslords ins Gedächtnis zu rufen. In Morrighan gab es vierundzwanzig von ihnen; die Namen der meisten kannte ich nicht – vor allem nicht die der Lords hier in den südlichen Bezirken –, aber ich wusste, dass dieser Lord vermutlich nicht mehr lange zu leben hatte.

Ich setzte mich auf einen Hocker in der Ecke; es war derselbe, auf dem Berdi damals meinen Hals versorgt hatte. »Wirst du ihn töten?«, fragte ich.

Kaden antwortete nicht sofort. Schließlich zog er einen Stuhl zu sich und setzte sich verkehrt herum darauf. »Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich wollte nur das Grab meiner Mutter besuchen. Sehen, wo ich früher gelebt habe, den letzten Ort, an dem …« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es einfach nicht auf sich beruhen lassen, Lia. Ich muss ihn wenigstens dieses eine Mal noch treffen. All das ist für mich nicht abgeschlossen, und vielleicht ist dies die letzte Gelegenheit, es zu ändern. Ich kann nicht wissen, was ich tun werde, bevor ich ihn sehe.«

Ich versuchte erst gar nicht, es ihm auszureden. Ich brachte keinerlei Mitgefühl für diesen Lord auf, der seinen kleinen Sohn ausgepeitscht und dann wie eine wertlose Ware an Fremde verschachert hatte. Mancher Verrat ging zu weit, als dass er je vergeben werden konnte.

»Sei vorsichtig«, sagte ich.

Er drückte meine Hand, und der Sturm in seinen Augen tobte noch heftiger. »Morgen«, erwiderte er. »Ich werde da sein. Versprochen.«

Er stand auf und wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal an der Küchentür stehen.

»Was ist?«, wollte ich wissen.

Er drehte sich zu mir um. »Da gibt es noch etwas, was nicht abgeschlossen ist. Ich muss es wissen. Liebst du ihn noch?«

Seine Frage traf mich – ich hatte sie nicht erwartet, obwohl ich das hätte tun sollen. Ich sah sie in seinen Augen; jedes einzelne Mal, wenn sein Blick auf mir ruhte. Als er mich auf dem Scheunenboden umarmte, wusste er, dass ich keinen Staub in die Augen bekommen hatte. Unfähig, ihm ins Gesicht zu schauen, erhob ich mich und ging zum Arbeitstisch, um nicht vorhandene Krümel wegzuwischen.

Ich hatte ja nicht einmal mir selbst gestattet, darüber nachzudenken. Liebe. Sie fühlte sich dumm und selbstvergessen an angesichts all dessen, was gerade geschah. Spielte sie wirklich eine Rolle? Mir fiel Gwyneths bitteres Lachen ein, als ich gesagt hatte, ich wünschte mir eine Liebesheirat. Sie wusste schon, was ich noch nicht begriffen hatte. Es ging nie gut aus, für niemanden. Nicht für Pauline und Mikael. Walther und Greta. Sogar Venda bewies das: Sie war mit einem Mann davongeritten, der sie am Ende tötete. Ich dachte an das Mädchen Morrighan, das man aus seinem Stamm entführt und für einen Sack voll Getreide als Braut an Aldrid den Plünderer verkauft hatte. Irgendwie hatten sie gemeinsam ein großes Königreich errichtet, aber bestimmt nicht auf dem Fundament der Liebe.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht mal mehr sicher, was Liebe überhaupt ist.«

»Aber ist es nicht anders zwischen uns als zwischen dir und …« Er ließ die Frage unvollendet, als würde es ihm zu sehr wehtun, Rafes Namen auszusprechen.

»Doch, es ist anders zwischen uns«, entgegnete ich ruhig. Ich suchte seinen Blick. »Das war es immer, Kaden, und wenn du ehrlich zu dir bist, dann hast auch du das schon immergewusst. Von Anfang an hast du gesagt, dass Venda an erster Stelle kommt. Ich kann mir nicht genau erklären, wie es gekommen ist, dass sich unsere Leben miteinander verflochten haben, aber es ist nun einmal so – und jetzt machen wir uns beide etwas aus Venda und Morrighan und wollen ihnen das Schicksal ersparen, das der Komizar ihnen zugedacht hat. Vielleicht ist es das, was uns zusammengebracht hat. Schmälere nicht das Band, das uns verbindet. Große Reiche wurden schon auf viel weniger gegründet.«

Er sah mich mit rastlosem Blick an. »Was war das, was du auf dem Weg hierher in den Staub gezeichnet hast?«

»Das waren Worte, Kaden. Nur verlorene, ungesagte Worte, die so etwas wie ein Lebewohl bedeuteten.«

Er holte tief Luft. »Ich versuche, da durchzukommen, Lia.«

»Ich weiß. Ich auch.«

Sein Blick ruhte weiter auf mir. Dann nickte er und ging. Von der Tür aus sah ich zu, wie er davonritt und die mondlose Nacht ihn binnen Sekunden verschluckte. Mir tat weh, dass ich ihm nicht geben konnte, was er sich so sehr wünschte.

Ich kehrte in die Küche zurück und blies die Laterne aus, aber ich konnte diesen Tag noch nicht loslassen. Ich lehnte mich gegen die Wand, die mit Zetteln bedeckt war – Listen, die versuchten, das Leben festzuhalten, für das Berdi vor Jahrzehnten ein anderes hatte ziehen lassen.

Bereust du es, nicht gegangen zu sein?

Ich kann jetzt nicht mehr über solche Dinge nachdenken. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich habe getan, was ich damals tun musste.

Ich drückte die Hände an die kühle Wand hinter mir.

Was geschehen war, war geschehen.

Ich konnte nicht weiter darüber nachgrübeln.

*

Früh am nächsten Morgen plünderte ich Berdis Schrank, doch ich fand nur einen Teil dessen, was ich brauchte.

»Natiya, bist du gut im Umgang mit Nadel und Faden?«

»Sehr gut«, antwortete sie.

Das hatte ich vermutet. Einen Saum aufzureißen, ein Messer in einem Mantel zu verstecken und alles dann in einigen wenigen kostbaren Sekunden wieder zusammenzunähen hatte noch nie zu meinen Fertigkeiten gehört – sehr zum Kummer meiner Tante Cloris.

Ich bat Enzo um Geld. Das Geld, das Rafe mir gegeben hatte, hatte ich in Turquoi Tra für Boten ausgegeben. Enzo zögerte nicht und zog einen Beutel aus dem Kartoffelfass in der Vorratskammer. Er warf ihn mir zu. Es war nicht viel, aber ich nahm es erleichtert an, steckte es ein und nickte zum Dank. »Ich werde Berdi sagen, wie gut du deine Sache hier machst. Sie wird sehr zufrieden sein.«

»Du wolltest überrascht sagen«, entgegnete er verlegen.

Ich konnte es nicht abstreiten und zuckte die Achseln. »Das auch. Und denk daran, Enzo: Du hast mich nie gesehen.«

Er nickte. Verstehen lag in seinem Blick, und ich staunte wieder über seine Verwandlung. Rafes Drohungen hatten ohne jeden Zweifel Eindruck auf ihn gemacht, aber ich war mir sicher, dass es die Magie von Berdis Vertrauen war, die ihn verändert hatte. Jetzt musste ich nur noch beten, dass diese Veränderung von Dauer war.

Wir stahlen uns davon, so lautlos wie die Nacht, um nur ja keine Gäste aufzuwecken.

*

Die Verkäuferin im Laden freute sich sehr, uns zu sehen. Wir waren die ersten Kunden an diesem Tag – und die einzigen. Ich sah sie blinzelnd durch den durchsichtigen weißen Schleier spähen, der mein Gesicht bedeckte. Ich fragte, ob sie rote Atlasseide habe, und sie versuchte erst gar nicht, ihre Überraschung zu verbergen. Die meisten Witwen hätten nach tristeren, gediegeneren Stoffen gefragt.

Natiya überraschte mich mit ihrer raschen Erklärung. »Meine Tante wünscht, zu Ehren ihres verblichenen Ehemanns einen Wandteppich anfertigen zu lassen. Rot war seine Lieblingsfarbe.«

Ich schluchzte kurz auf und nickte zur Bekräftigung.

Binnen Minuten standen wir wieder auf der Straße, mit einem Meter Extrastoff, den die mitfühlende Verkäuferin uns geschenkt hatte.

Wir hatten noch eine Station vor uns, doch was ich dort brauchte, ließ sich nicht mit der üblichen Währung bezahlen. Ich hoffte nur, dass ich die Währung, die ich benötigte, parat hatte.

Kapitel 2 – Rafe

Rafe

MEINE VERWANDLUNG vom Soldaten zum König war sehr plötzlich vonstattengegangen, und nun hatte es den Anschein, als wollte jeder Freiherr in der Versammlung sein Stück vom Kuchen abbekommen. Ich wusste, dass sie mit ihrem Maulheldentum mein Ohr und meine Aufmerksamkeit erringen wollten, und ich spielte mit. Die acht Ratsmitglieder waren am forderndsten, aber sie hatten auch am engsten mit meinem Vater zusammengearbeitet.

Natürlich hieß man mich willkommen, aber jedes Mal verbarg sich darin auch ein Vorwurf – Wo wart Ihr? – und eine Warnung: Die Unruhen haben sich weit ausgebreitet. Es wird Zeit brauchen, bis all das heilt.

Der Königliche Leibarzt überbrachte mir die schmerzlichste Nachricht. Eure Eltern haben auf dem Sterbebett nach Euch gefragt. Ich habe ihnen versprochen, dass Ihr auf dem Weg zu ihnen seid. Ich war offensichtlich nicht der Einzige, der falsche Hoffnungen geweckt und nützliche Lügen in den Mund genommen hatte, aber es blieb keine Zeit, mich meinen Gewissensbissen zu widmen.

Wenn ich nicht in jeweils gesonderten Sitzungen mit der Versammlung, dem Rat oder den Generälen tagte, saß ich mit ihnen allen auf einmal zusammen. General Draeger ergriff häufig das Wort, und da er der amtierende General der Hauptstadt war, hatte seine Stimme Gewicht. Er tat stets seine Meinung kund – als Botschaft an mich und jeden anderen, dass er die Dinge sehr genau im Auge behielt. Er war ruhig und entschlossen. Er würde mich für meine Abwesenheit bezahlen lassen.

Sie alle verspürten das Bedürfnis, diesen unerfahrenen König auf die Probe zu stellen, aber wie Sven mir geraten hatte, hörte ich zu, wog ab und handelte dann. Ich wollte mich nicht drängen lassen. Es war ein komplizierter Tanz, ein Geben und Nehmen, und wenn sie zu weit gingen, fuhr ich ihnen über den Mund. Ich fühlte mich an meinen Tanz mit Lia erinnert, als sie keinen Schritt zurück hatte machen wollen; sie hatte mit dem Fuß aufgestampft und war keinen Zoll gewichen.

Damals war mir aufgegangen, dass sie sich nicht weiter drängen lassen würde. Dass ich sie verlieren würde. Nein, Rafe, das hast du schon. Du hast sie verloren. Sie ist für immer fort. Es ist am besten so, rief ich mir in Erinnerung. Ich hatte ein aufgewühltes Königreich zu regieren, das meine ungeteilte Aufmerksamkeit forderte.

Als die Generäle sich gegen meinen ersten Befehl als König sperrten, behauptete ich mich und ließ sie wissen, dass diese Entscheidung nicht verhandelbar war. Ich ließ Verstärkung zu allen nördlichen Vorposten und all den schutzlosen Städten dazwischen schicken und die Truppen der südlichen Stützpunkte auf die östlichen und westlichen Grenzen verteilen. Es gärte im Reich, doch bis wir nicht das gesamte Ausmaß all dessen kannten, war dies eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Die Freiherren protestierten, dass zu wenige Schutztruppen in der Hauptstadt verbleiben würden.

»Aber zuerst müssen die Angreifer über die Grenze kommen«, entgegnete ich.

»Unsere Grenzen sind dank der Weitsicht Eures Vaters und seiner Ratgeber bereits gut abgesichert«, widersprach General Draeger. »Wollt Ihr nur aufgrund der Behauptungen eines einzigen unglaubwürdigen Mädchens das Königreich noch mehr zerrütten?«

Im Raum wurde es sofort mucksmäuschenstill. Das Wort unglaubwürdig kam dem General mit hundert Anspielungen über die Zunge. Gerüchte und Fragen über meine Beziehung zur Prinzessin hatten wie ein Flächenbrand in der Versammlung gewütet. Zweifellos wussten sie auch von unserer bitteren Trennung. Nun wagte es zum ersten Mal jemand, die Sprache auf sie zu bringen. Ein einziges Mädchen? Als wäre sie ein Niemand. Ohne Bedeutung und austauschbar. Es war ein weiterer Fehdehandschuh, der mir vor die Füße geworfen wurde. Eine Prüfung meiner Loyalität. Vielleicht lachten sie insgeheim darüber, dass ich sie meinen Truppen als meine künftige Königin präsentiert hatte. Während ich in diese Gesichter starrte, alle Blicke auf mich gerichtet, sah ich mich plötzlich durch Lias Augen, als ich etwas infrage gestellt hatte, an das sie so verzweifelt glaubte. Ich sah mich selbst als einen von ihnen. Rafe, hast du noch nie so ein tiefes Bauchgefühl gehabt?

Ich wollte den Köder des Generals nicht schlucken und auf keinen Fall über Lia sprechen. »Meine Entscheidung beruht auf dem, was ich beobachtet habe, General Draeger, und auf nichts anderem. Es ist meine Pflicht, für die Sicherheit der Bürger von Dalbreck und die Befriedung des Reichs zu sorgen. Bis wir neue Informationen erhalten, erwarte ich, dass meine Befehle ausgeführt werden. Unverzüglich.«

Der General zuckte die Achseln, und die Versammlung nickte widerwillig. Ich fühlte, dass sie alle mehr von mir wollten – sie gierten danach, dass ich Lia vor ihnen allen als morrighesische Verschwörerin brandmarkte, der man nicht trauen durfte. Sie erwarteten, dass ich ganz und gar wieder einer der Ihren wurde.

In aller Eile fand die Krönung statt, und endlich konnte der Scheiterhaufen zur Verbrennung des Leichnams meines Vaters errichtet werden. Er war seit Wochen tot. Man hatte seinen Körper einbalsamiert und mit Binden umhüllt; aber bis ich wieder aufgetaucht war, hatte man seinen Tod geheim halten müssen und ihn nicht standesgemäß den Göttern übergeben können.

Als ich die Fackel hob, um den Scheiterhaufen anzuzünden, fühlte ich mich sonderbar klein und als hätte ich die Götter besser verstehen müssen. Als hätte ich besser zuhören müssen. Es war nicht Svens Stärke gewesen, mich in spirituellen Dingen zu unterweisen. Das meiste hatte Merrick bei meinen seltenen Besuchen in der Kanterei übernehmen müssen. Ich erinnerte mich an Lias Frage, welche Götter ich anbetete. Ich war verlegen, fand keine Worte. Sie hatten tatsächlich Namen? Und es gab vier von ihnen, zumindest laut der morrighesischen Tradition. Merrick hatte mir erzählt, dass drei davon gemeinsam auf dem himmlischen Thron saßen und vom Rücken wilder Bestien aus die Tore des Himmels bewachten – wenn sie nicht gerade Sterne auf die Erde herabschleuderten. Es ist das Werk der Götter, dass Dalbreck allen anderen überlegen ist. Wir sind die begünstigten Verbliebenen.

Ich beobachtete, wie die Flammen das Leichentuch meines Vaters erfassten, wie sie den Stoff verzehrten und die aufgestapelten Holzscheite zusammenfielen, um die nackte Wirklichkeit des Todes zu offenbaren. Die Flammen leckten höher und höher, während ein ehrwürdiger Soldat und König diese Welt verließ und eine andere betrat. Ein ganzes Königreich sah zu; mir ebenso wie der Verbrennung. Das Gewicht jedes Blicks lastete voller Erwartung auf mir. Ich musste ihnen allen ein Beispiel an Stärke sein, als Versicherung, dass das Leben weitergehen würde. Ich stand zwischen der hoch aufragenden Steinsäule des alten Soldaten Minnaub auf der einen Seite und seinem ebenfalls steinernen, sich aufbäumenden Schlachtross auf der anderen. Es waren nur zwei von einem Dutzend gemeißelter Mahnmale, die den Platz hüteten – Schildwachen einer ruhmreichen Geschichte und eines der vielen Wunder Dalbrecks, die ich Lia hatte zeigen wollen.

Wenn sie mitgekommen wäre.

Mein Gesicht wurde heiß von der Gluthitze, aber ich wich nicht zurück. Lia, fiel mir ein, hatte erzählt, dass Capseius der Gott der Beschwerden sei, derjenige, gegen den ich in Terravin frech die Faust erhoben hatte. Wahrscheinlich sah er jetzt auf mich herab und lachte. Die Flammen knisterten und prasselten und zischten dem Himmel ihre geheimen Botschaften zu. Schwarzer Rauch stieg auf und breitete sich über dem Platz aus. Anstatt Gebete für die Toten zu sprechen, fiel ich auf die Knie und sprach sie für die Lebenden, und ich hörte das keuchende Raunen um mich her. Man staunte über diesen Dalbrecker König, der auf die Knie fiel.

Die Bestattung lag noch keine drei Tage zurück, als die Würdenträger aus dem Rat, Freiherren und andere Adlige begannen, bei Hofe zu erscheinen – praktischerweise gleich mit ihren heiratsfähigen Töchtern im Schlepptau. Sie überbrachten nichtssagende Botschaften, die auch bis zur nächsten Versammlung hätten warten können. »Ihr erinnert Euch doch noch an meine Tochter, oder?«, fragten sie, und dann stellten sie sie mir vor und zählten unverblümt all ihre Tugenden auf. Gandry, der Erste Minister und engste Berater meines Vaters, sah, wie ich die Augen verdrehte, nachdem ein Freiherr mit seiner Tochter eben wieder gegangen war. Er ermahnte mich, ich müsse trotz allem ernsthaft über eine Heirat nachdenken – und zwar rasch. »Es würde helfen, die Zweifler zum Schweigen zu bringen und Eure Regentschaft zu stabilisieren.«

»Es gibt immer noch Zweifler?«

»Ihr wart monatelang fort, ohne ein Wort zu hinterlassen.«

Seltsamerweise waren meine Gewissensbisse wegen meiner Abwesenheit wie weggeblasen. Bedauern, ja, so konnte man es nennen. Bedauern darüber, dass ich nicht hier gewesen war, als meine Eltern gestorben waren, und dass ich ihnen Sorgen bereitet hatte. Aber ich hatte getan, was kein Dalbrecker König oder General jemals vor mir getan hatte – ich hatte vendischen Boden betreten und einige Wochen bei diesem Volk gelebt. Es hatte mir ein einzigartiges Verständnis für die Denkart und die Bedürfnisse der Vendaner beschert und dafür, was sie antrieb. Vielleicht spürte ich deshalb die Unterstützung der Soldaten, wenn nicht sogar der höheren Ränge bei Hofe. Ich hatte mit nur fünf Soldaten einen Einsatz durchgeführt, der Tausende ausgebremst hatte. Es fühlte sich notwendig an, nicht gewagt, aber nun war es etwas ganz anderes, dieses Gefühl für den Rat und die Versammlung in eine messbare Größe zu übersetzen, die sie verstehen und anerkennen würden.

Ich schloss das Bestandsbuch auf meinem Schreibtisch und rieb mir die Augen. Die Schatzkammer war so leer wie noch nie. Morgen würde ich mit meinem Handelsminister losreiten müssen, um unsere wichtigsten Kaufleute und Bauern zu treffen, den Handel anzukurbeln und den Staatssäckel wieder zu füllen. Ich starrte auf den Ledereinband des Bestandsbuchs. Da war noch etwas anderes, das mich umtrieb – oder vielleicht waren es auch viele Dinge, jedes davon so flüchtig, dass ich es nicht einmal benennen konnte; sie zogen und zerrten mich in verschiedene Richtungen.

Das Zimmer erschien mir auf einmal beengend, und ich schob den Stuhl zurück und ging auf die Veranda. Ich betrachtete diesen Raum noch immer als das Arbeitszimmer meines Vaters. Ich spürte seine Anwesenheit in jedem Winkel als Erinnerung an eine lange Lebens- und Herrschaftsspanne. Seit meinen Kindertagen hatte er hier Besucher empfangen. Mir fiel ein, wie er mich hineingerufen und mir mitgeteilt hatte, dass ich in Kürze unter Svens Fittichen leben würde. Ich war erst sieben Jahre alt gewesen und hatte kaum verstanden, was er sagte – ich wusste nur, dass ich es nicht wollte. Ich hatte Angst. Sven wurde eingeladen, damit ich ihn kennenlernen konnte: streng und beeindruckend und so ganz anders als mein Vater. Das Treffen beruhigte mich keineswegs, und ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Nun, nach all den Jahren, fragte ich mich, ob es meinem Vater vielleicht ähnlich gegangen war, während wir beide versucht hatten, stark für den anderen zu sein. Wie viele harte Entscheidungen hatte er fällen müssen, ohne dass ich je von ihnen erfahren hatte?

Es kam selten vor, dass ich allein war. Jeden Abend reichten die Besprechungen bis ins Nachtmahl hinein. Ich kam mir weniger wie ein König denn wie ein geplagter Bauer vor, der versuchte, eine ausgebrochene Herde Schweine zurück in den Pferch zu treiben. Ich lehnte mich gegen die mächtige Steinbrüstung und spürte den kühlen Wind in meinem Haar. Die Nacht war frisch. Die beleuchteten Säulen des Minnaub strahlten in der Ferne, die Hauptstadt schlief, und tausend Sterne funkelten über dem dunklen Schattenriss der Stadt. Es war derselbe Ausblick, der sich auch meinem Vater unzählige Male dargeboten hatte, wenn er mit den Belangen des Hofs rang, aber seine Gedanken waren andere gewesen als meine.

Ist sie schon dort?

Ist sie in Sicherheit?

Und dann, völlig unerwartet: Hatte sie recht?

War es das, was fortgesetzt an mir nagte? In Marabella hatten Oberst Bodeen und die Hauptleute Lias Behauptungen angezweifelt. Mir selbst hatten sich in Venda keinerlei Hinweise auf eine gewaltige Armee offenbart, nicht bei meinen Ausflügen mit Calantha und Ulrix und auch nicht in all dem Palasttratsch im Sanctumsaal.

Aber ich hatte die fünfhundert Soldaten gesehen, die Lia in die Stadt eskortiert hatten. Schon allein das war erstaunlich und unerwartet gewesen – obwohl es gut möglich war, dass dies bereits die gesamte Armee gewesen war.

Und dann waren da noch die Zehntenzahlungen. Ich hatte die Statthalter murren hören, und doch lieferten sie immer noch. Nur aus Angst – oder weil sie sich eine Belohnung erhofften? Zweifellos wollten sie mehr und immer noch mehr; genau wie der Komizar. Ich hatte es in ihren Augen gesehen, als sie die Beutestücke begutachteten, die man den Dalbrecker Soldaten abgenommen hatte.

Zu guter Letzt fiel mir die Flasche mit der sonderbaren explosiven Flüssigkeit ein, die eine massive Eisenbrücke so schwer beschädigt hatte. Das passte nicht zum Bild einer armen Stadt. Einen Glückstreffer hatte Hague es genannt. Vielleicht. Doch es gab ein Dutzend Vielleichts, und kein einziges war überzeugend genug, um an das Unmögliche denken zu lassen – nämlich dass ein armes barbarisches Reich eine Armee ausgehoben haben könnte, die mächtig genug war, alle übrigen zu zermalmen. Allerdings hatte ich ohnehin bereits in der Versammlung die Grenzen des gesunden Menschenverstands ausgereizt, als ich Truppen zu den Außenposten entsandt hatte.

Ich hörte, wie sich die Tür zu meinem Besprechungszimmer öffnete und schloss, und dann, wie ein klirrendes Tablett auf meinem Schreibtisch abgestellt wurde. Sven wusste immer im Voraus, was ich brauchte. Ich dachte an all den Kummer, den ich ihm in unseren frühen gemeinsamen Jahren gemacht hatte. An all die Male, die ich ihm ans Schienbein getreten hatte und weggelaufen war. Er hatte mich dann einfach geschnappt und über die Schulter geworfen, und am Ende war ich unsanft in einem Wassertrog gelandet. Ich erziehe dich zu einem König, nicht zu einem Dummkopf, und jemanden zu treten, der dich in einem Wimpernschlag vernichten kann, ist der Gipfel der Dummheit. Ich wurde mehr als einmal nass. Seine Geduld war größer als meine.

Ich wandte den Blick nicht von der Stadt ab; die sieben blauen Kuppeln der Kanterei waren kaum noch zu sehen. Ein weiterer dumpfer Laut. Ein Stapel Papiere. Sven brachte mir jeden Abend einen Ablaufplan für den kommenden Tag.

»Morgen ist ein voller Tag«, sagte er.

Wie jeder andere Tag auch. Das war nichts Neues.

Er trat zu mir an die Brüstung und sah auf die schlafende Stadt. »Schön, nicht wahr?«

»Ja. Schön«, antwortete ich.

»Aber?«

»Kein Aber, Sven.« Ich wollte nicht wieder davon anfangen, von der Sorge, die ich nicht loswurde, von dem vagen Gefühl in meinem Bauch, dass etwas nicht stimmte.

»Ich fürchte, du wirst dir heute Abend Zeit für ein Treffen nehmen müssen, das nicht auf der Tagesordnung steht.«

»Verschieb es auf morgen. Es ist spät …«

»Merrick hat die Information, die du wolltest. Er wird in einer Stunde hier sein.«

*

Bevor Merrick sich setzte, bevor er auch nur den Raum betrat, wusste ich schon, was er sagen würde. Doch ich wollte den Dingen ihren Lauf lassen. Es ist wahr, Rafe. Jedes Wort ist wahr. Aber ich hegte noch Hoffnung auf eine List, einen gewaltigen Schwindel, den sich ein krankes Hirn in Morrighan ausgedacht hatte. Nach einigen Nettigkeiten und der Feststellung, wie überrascht Merrick vom Alter des Dokuments gewesen sei, zog er den abgewetzten Lederumschlag aus seinem Beutel und gab ihn mir zurück. Dann händigte er mir ein weiteres Papier aus, das mit seiner geschwungenen, vollkommenen Schrift bedeckt war. Die Übersetzung eines erfahrenen Gelehrten.

Merrick nahm ein kleines Glas Branntwein an, das Sven ihm hinhielt, und lehnte sich zurück. »Darf ich Euch fragen, woher Ihr das habt?«

»Es wurde aus einer morrighesischen Bibliothek gestohlen. Ist es echt?«

Er nickte. »Es ist das älteste Dokument, das ich je übersetzt habe. Mindestens ein paar tausend Jahre alt. Der Wortgebrauchähnelt dem von zwei datierten Dokumenten aus unseren Archiven – doch das Papier und die Tinte stammen fraglos aus einer anderen Zeit. Es ist in bemerkenswert gutem Zustand für sein Alter.«

Aber stand darin auch, was Lia behauptet hatte?

Ich las die Übersetzung laut vor. Bei jedem Wort, jedem Absatz hörte ich Lias Stimme, nicht meine eigene. Ich sah ihren besorgten Blick. Ich spürte ihre Hand, die hoffnungsvoll die meine drückte. Ich hörte das Gemurmel der Clans auf dem Platz, die ihr lauschten. Mein Mund war plötzlich trocken, als ich zu den letzten Versen kam, und ich unterbrach mich, um etwas von dem Wein zu trinken, den Sven mir eingeschenkt hatte.

Der Drache wird Ränke schmieden

Und seine vielen Gesichter zeigen,

Die Unterdrückten täuschen, die Bösen versammeln,

Mächtig sein wie ein Gott, nicht aufzuhalten,

Gnadenlos im Urteilen,

Eisern im Herrschen,

Er wird Träume stehlen

Und Hoffnung morden.

Bis eine kommt, die mächtiger ist,

Die eine, im Elend geboren,

Die eine, die schwach war,

Die eine, die gejagt wurde,

Die eine, gezeichnet von Klaue und Rebe,

Die eine, benannt im Geheimen,

Die eine namens Jezelia.

»Ein ungewöhnlicher Name«, stellte Merrick fest. »Und wenn ich mich recht entsinne, ist es auch der Name der Prinzessin.«

Ich sah von dem Blatt hoch und fragte mich, woher er das wusste.

»Die Heiratsdokumente«, erklärte er. »Ich habe sie gesehen. Ihr habt wahrscheinlich nie einen Blick darauf geworfen, oder?«

»Nein«, erwiderte ich ruhig. Ich hatte sie unterschrieben und dann schnell wieder vergessen, genau wie ich ihre Nachricht schnell wieder vergessen hatte. »Aber man hat mir gesagt, dass das nur das Gestammel einer Verrückten sei.«

Er schürzte die Lippen, als müsste er erst darüber nachdenken. »Könnte sein. Es ist natürlich rätselhaft und sonderbar, und es gibt wohl keine Möglichkeit, das sicher zu wissen. Aber es ist schon merkwürdig, dass eine Verrückte vor Tausenden von Jahren gewisse Dinge so genau beschreiben konnte. Die kurzen morrighesischen Mitteilungen, die dem Buch lose beilagen, bestätigen, dass es mehr als zehn Jahre nach Prinzessin Arabellas Geburt entdeckt wurde. Ein früher nomadischer Text aus den historischen Aufzeichnungen von Dalbreck ließ etwas Ähnliches vermuten und formulierte es fast identisch – dass aus den Ränken der Herrscher Hoffnung geboren würde. Ich dachte immer, dass damit Breck gemeint sei, aber vielleicht trifft das ja gar nicht zu.«

Sein ruhiger Blick verriet mehr als seine Worte. Er glaubte jede einzelne Silbe des Textes.

Wie eine Warnung spürte ich einen Schlag, das Vibrieren, das sich durch die Knochen frisst, wenn ein Pferd auf einen zurast.

»Auf der nächsten Seite steht noch etwas.«

Ich sah auf die Papiere und legte das erste Blatt beiseite. Es gab noch zwei weitere Strophen.

Verraten von den Ihren,

Geschlagen und betrogen,

Wird sie die Frevler entlarven,

Denn der Drachen mit vielen Gesichtern

Kennt keine Grenzen.

Und auch wenn das Warten lange dauert,

Ist das Versprechen groß,

Dass die eine namens Jezelia kommt,

Deren Leben geopfert werden wird

Für die Hoffnung, eures zu retten.

Geopfert?

Das hatte Lia mir verschwiegen.

Hatte sie es die ganze Zeit gewusst?

Wut packte mich und gleich danach nagende Angst.

Es ist wahr, Rafe. Jedes Wort ist wahr.

Ich stand auf, durchmaß den Raum mit langen Schritten und kehrte wieder zurück. Ich umrundete mit klopfendem Herzen den Schreibtisch, während ich versuchte, hinter den Sinn all dessen zu kommen. Verraten von den Ihren? Geschlagen und betrogen? Geopfert?

Verdammt, Lia, verdammt!

Ich nahm die Tagesordnung für morgen und schleuderte sie durch die Luft. Blätter segelten zu Boden.

Merrick stand auf. »Eure Majestät, ich …«

Ich eilte an ihm vorbei. »Sven! Ich will morgen früh als Erstes General Draeger sehen!«

»Ich glaube, er hat schon …«

»Hier! Im Morgengrauen!«, brüllte ich.

Sven lächelte. »Ich werde dafür sorgen.«

Kapitel 3 – Kaden

Kaden

FRÜHER GING ICH IMMER mit meiner Mutter auf den Markt. Da wir isoliert auf dem Anwesen meines Vaters lebten, sah ich nicht viel von der Welt, und so war der Markt ein Ort der Wunder für mich. Wir fuhren im Wagen des Kochs mit, auf dieser Straße hier. Meine Mutter kaufte Nachschub für den Unterricht mit meinen Halbbrüdern – Papier, Bücher, Tinte und kleine Beutel mit kandierten Früchten als Belohnung für eine Woche fleißiges Lernen.

Außerdem erstand sie auch immer etwas nur für mich allein. Sonderbare kleine Geschenke, die mich faszinierten – billigen Plunder der Altvorderen, der keinen Sinn und Zweck mehr hatte, dünne, glänzende Scheiben, in denen sich die Sonne spiegelte, braune Münzen aus wertlosem Metall, ramponierte Verzierungen von ihren Fuhrwerken. Sie sagte, ich solle mir vorstellen, wozu sie einmal gut gewesen waren. Ich sammelte sie auf einem Regal in unserer Hütte wie sorgsam gehütete Schätze, die meine Fantasie beflügelten und mich an weit entfernte Orte trugen. Wie Gegenstände, die beim Bestaunen größer wurden und mir halfen, mir vorzustellen, wozu ich selbst einmal gut sein würde – bis sich eines Tages mein ältester Bruder in die Hütte schlich und mir alle stahl. Ich erwischte ihn dabei, wie er sie in den Brunnen warf. Er wollte, dass ich gar nichts hatte. Weniger, als ohnehin schon der Fall war.

Es war nicht das letzte Mal, dass ich weinte. Ein Jahr später starb meine Mutter.

Weniger war alles, was ich je besessen hatte oder gewesen war. Selbst jetzt. Ich war ein Nichts. Ein Soldat ohne Reich, ein Sohn ohne Familie. Ein Mann ohne …

Der Tag, an dem Lia und Rafe auseinandergegangen waren, ging mir im Kopf herum, wie schon so viele Male zuvor. Es kam mir vor, als würde irgendwo ein Steinchen fehlen, etwas, das ich nicht verstand. Als sie Rafe verlassen hatte, um mit uns zu reiten, war ihr Gesicht wie eine Maske aus Stein mit tausend winzigen Rissen gewesen, ein blickloses Starren mit geöffneten Lippen, erfroren, wie bei einer Statue. In den letzten Monaten hatte ich gedacht, dass Lia mich mit allen Gefühlen angesehen hatte, die ihre Augen auszudrücken fähig waren – Hass, Zärtlichkeit, Scham, Kummer, Rache und etwas, das, wie ich glaubte, Liebe sein könnte. Ich war überzeugt davon gewesen, dass ich Lia kannte, aber den Ausdruck in ihren Augen an jenem Tag, als sie von Rafe wegritt, hatte ich noch nie gesehen.

Doch, es ist anders zwischen uns. Das war es immer, Kaden, und wenn du ehrlich zu dir bist, dann hast auch du das schon immer gewusst …

Und jetzt machen wir uns beide etwas aus Venda und Morrighan … Schmälere nicht das Band, das uns verbindet. Große Reiche wurden schon auf viel weniger gegründet.

Vielleicht konnte mit Lia weniger mehr sein – und zu etwas Höherem führen, wie es sich meine Mutter immer für mich erhofft hatte.

Vielleicht konnte weniger genug sein.

*

Der Weg zum Herrenhaus war dichter bewachsen, als ich es in Erinnerung hatte. Äste hingen wie ein Baldachin auf den Weg herab. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich mich verirrt hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der große und mächtige Lord Roché am Ende dieses bescheidenen, abgelegenen Pfades lebte. Ich war nie hierher zurückgekehrt. Die Drohungen, die die Bettler mir als Kind gegenüber ausgestoßen hatten, waren tief in meinem Bewusstsein verankert: Er wird dich in einem Eimer ersäufen. Selbst als ich Attentäter wurde, der Einzige, den der Rest der Rahtan fürchtete, beschleunigte die Erinnerung an diese Drohung meinen Herzschlag. Das war bis heute so geblieben, und jede Narbe schmerzte erneut, als wäre ich wieder acht Jahre alt. Würde es etwas daran ändern, wenn ich ihn tötete? Ich hatte immer daran geglaubt. Vielleicht würde ich es heute herausfinden.

Und dann sah ich es – ein Blitzen von weißem Stein durch die Bäume. Nein, ich hatte den Weg nicht vergessen. Beim Näherkommen sah ich, dass das Anwesen verfallen war. Der einst grüne, kurz getrimmte Rasen war jetzt nur noch ein schmutziges Stoppelfeld, und die einst sorgfältig beschnittenen Büsche waren von Ranken überwuchert, die sie in ihrem Würgegriff erstickten. Das weitläufige Herrenhaus, das zurückgesetzt vom Pfad lag, wirkte verwahrlost und verlassen; doch ich entdeckte eine dünne Rauchsäule, die aus einem seiner fünf Kamine aufstieg. Irgendjemand war da.

Ich schlug einen Bogen, damit dieser Jemand mich nicht kommen sah, und ritt zuerst zu jener Hütte, in der ich mit meiner Mutter gelebt hatte. Früher war auch sie weiß gewesen, aber ein Großteil der Farbe war schon vor langer Zeit abgeblättert. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie nicht mehr bewohnt wurde. Dieselben Ranken, die die Büsche umklammerten, krochen hier über die Veranda und das vordere Fenster. Ich band mein Pferd fest, und die verzogene Tür gab unter dem Druck meiner Schulter nach. Als ich hineinging, kam mir der Raum kleiner vor, als ich ihn in Erinnerung hatte. Alle Möbel waren fort. Vermutlich waren auch sie an Bettler verkauft worden, entsorgt … wie ich. Die Hütte war nichts als eine verstaubte Hülle ohne jede Spur von meiner Mutter oder jenem vergangenen Leben, als mich noch jemand liebte. Ich sah mir die leere Feuerstelle an, den leeren Kaminsims darüber, den leeren Raum, in dem früher mein Bett stand – alles durchdringende Leere. Ich fuhr herum und ging nach draußen. Ich brauchte frische Luft.