Der Glanz der neuen Zeit - Fenja Lüders - E-Book
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Der Glanz der neuen Zeit E-Book

Fenja Lüders

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Beschreibung

Hamburg in den 20er Jahren. Kaffeeimportfirma Kopmann und Deharde hat den Weltkrieg und die Inflation überstanden, wenn auch angeschlagen. Dass Mina sich nach Frederiks Rückkehr wieder aus dem Geschäft zurückziehen musste, gefällt ihr gar nicht. Zumal sie feststellt, dass Frederik spielt und Schulden macht. So beginnt Mina in aller Heimlichkeit, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen.


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Seitenzahl: 476

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungEINSZWEIDREIVIERFÜNFSECHSSIEBENACHTNEUNZEHNELFZWÖLFDREIZEHNVIERZEHNFÜNFZEHN

Über dieses Buch

Hamburg in den 20er Jahren. Kaffeeimportfirma Kopmann und Deharde hat den Weltkrieg und die Inflation überstanden, wenn auch angeschlagen. Dass Mina sich nach Frederiks Rückkehr wieder aus dem Geschäft zurückziehen musste, gefällt ihr gar nicht. Zumal sie feststellt, dass Frederik spielt und Schulden macht. So beginnt Mina in aller Heimlichkeit, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen.

Über die Autorin

Fenja Lüders, Jahrgang 1961, ist eine waschechte Friesin. Als Jüngste von vier Geschwistern wuchs sie auf einem Bauernhof direkt an der Nordseeküste auf. Für ihr Studium der Geschichte und Politik zog sie nach Oldenburg, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Neben dem Schreiben ist klassische Musik ihre große Leidenschaft.

F  E  N  J  A

L  Ü  D  E  R  S

Der

Glanz

der neuen

Zeit

S P E I C H E R S T A D T - S A G A

Roman

L Ü B B E

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anna Hahn, Trier

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock: Olga_C | Andrekart Photography | powell’sPoint | wernermuellerschell | Nanisimova | lafoto | Ruth Swan; © Richard Jenkins Photography, London

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-8159-7

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für meinen Bruder Reinhard, in liebevoller Erinnerung

EINS

Hamburg, Sommer 1919

»Ich begreife dich einfach nicht, Kind. Dass du ins Kontor fährst, ist doch völlig überflüssig.«

Großmutter Hiltrud musterte Mina von oben bis unten und schüttelte missbilligend den Kopf, ehe sie sich eine Scheibe von Frau Kruses frisch gebackenem Graubrot aus dem Korb nahm und es auf ihren Frühstücksteller legte. »Ich verstehe ja, dass du während des Krieges gearbeitet hast, auch wenn ich nie begeistert davon war, aber inzwischen ist Frieden, und es ist nur noch eine Sache von Tagen oder wenigen Wochen, bis dein Mann nach Hause kommt. Dann wird er doch die Leitung der Firma übernehmen. Dein Platz ist hier zu Hause, Wilhelmina. Du bist jetzt Mutter, aber du benimmst dich wie ein gewöhnliches Bürofräulein.«

Seufzend griff die alte Frau nach dem Rübensirup in einem edlen Konfitürenglas aus Bleikristall und tauchte mit angewiderter Miene ihr Messer in die zähflüssige dunkelbraune Masse.

Mina antwortete nicht. Sie presste kurz die Lippen zusammen und zählte in Gedanken bis zehn, um ihren aufwallenden Ärger in den Griff zu bekommen.

Jeden Montag war es das gleiche Theater. Sobald Mina in ihrer Bürokleidung – einem knöchellangen dunkelblauen Rock und einer hochgeschlossenen weißen Bluse – am Frühstückstisch erschien, machte Großmutter ihr Vorwürfe, weil sie daran festhielt, wenigstens für ein paar Stunden ins Kontor der Firma Kopmann & Deharde in die Speicherstadt zu fahren, um nach dem Rechten zu sehen, auch wenn außer ihr niemand dort war.

Gleich würde sicher wieder die Frage kommen, warum Mina denn nicht einfach das Kontor schließen könne, sie habe ja sogar schon dem einzigen noch verbliebenen Mitarbeiter, dem alten Herrn Becker, kündigen müssen, weil es keine Arbeit für ihn gab. Wenn sie sich richtig in Rage redete, würde Großmutters Litanei in dem Vorwurf gipfeln, ihre Freundinnen und die Nachbarn aus der Heilwigstraße, die zur ehrwürdigen Hamburger Kaufmannschaft gehörten, hätten Hiltrud Kopmann bereits auf Minas seltsames Verhalten angesprochen. Man munkele, dass Mina die Erziehung ihrer Tochter Ella wohl lieber dem Kindermädchen überlassen würde.

Etwas zu erwidern wäre zwecklos, das wusste Mina aus leidvoller Erfahrung. Großmutter hörte nur das, was sie hören wollte, und war Vernunftgründen gegenüber unempfänglich. Alles, was Mina erreichen würde, wäre, dass Hiltrud ihre schlechte Laune an den Enkeltöchtern und Hausangestellten ausließ.

Vorsichtig warf Mina ihrer Großmutter einen Seitenblick zu, doch die war damit beschäftigt, den zähen Rübensirup auf ihr Brot zu streichen und dabei leise Verwünschungen zu murmeln. »Wenn man wenigstens wieder einmal vernünftige Konfitüre oder Honig bekommen könnte! Dieses Rübenzeug ist einfach fürchterlich.«

»Also ich esse es eigentlich ganz gern«, ließ sich Minas jüngere Schwester Agnes vernehmen, die Mina gegenübersaß und gerade herzhaft in ihre Brotscheibe biss. »Ist nicht so klebrig süß wie Honig oder Marmelade«, fügte sie mit vollem Mund hinzu und zwinkerte Mina lächelnd zu.

»Gott, Agnes!« Mit einem entrüsteten Schnalzen runzelte Hiltrud die Stirn. »Du bist doch kein Kind mehr und solltest wissen, wie man sich als junge Dame bei Tisch benimmt. Sitz bitte gerade.«

Agnes, die vor ein paar Wochen neunzehn Jahre alt geworden war, richtete sich kerzengerade auf, ohne sich am Stuhl anzulehnen. Sie schob sich den letzten Bissen ihres Brotes in den Mund, griff nach der Serviette und tupfte sich damit übertrieben geziert die Mundwinkel ab, ehe sie sich wieder ihrer Großmutter zuwandte und ihr ein strahlendes Lächeln zuwarf. »So besser, Euer Majestät?«, fragte sie unschuldig und legte dabei den Kopf ein wenig schief.

Großmutter schien gegen ihren Willen lachen zu müssen und winkte ab. Sie konnte Agnes einfach nicht böse sein, egal was sie anstellte. Jeder mochte das bildhübsche brünette Mädchen mit den grünen Augen, aus denen ihr Humor und ihre Intelligenz hervorblitzten, aber ihr Verhältnis zu Großmutter Hiltrud war besonders eng. Mina mutmaßte, es lag daran, dass Agnes ihrer Mutter Elise so ähnlich war und Hiltrud sehr an die früh verstorbene Tochter erinnerte. Mina hingegen kam sehr nach ihrem Vater Karl. Sie hatte seine blauen Augen und sein lockiges blondes Haar geerbt, das so störrisch war, dass es sich weigerte, sich zu einer der üblichen voluminösen Frisuren hochstecken zu lassen. Zudem hatte Mina Karls hochgewachsene, kräftige Statur und überragte ihre Schwester beinahe um Haupteslänge.

Es hatte Zeiten gegeben, da war Mina auf Agnes neidisch, ja sogar eifersüchtig gewesen, aber inzwischen betrachtete sie sie als Freundin und Verbündete, und die beiden kamen gut miteinander aus.

»Ich habe übrigens mit Mina besprochen, dass ich sie künftig öfter in die Speicherstadt begleite und ihr bei der Arbeit im Kontor ein bisschen zur Hand gehe«, verkündete Agnes. »Ich habe doch im Moment nichts weiter zu tun, und ich weiß ja, wie sehr du den Gedanken hasst, dass Mina ganz allein im Auto in die Hafengegend fährt.« Sie griff nach der Kaffeekanne, die neben ihr auf dem Tisch stand. »Darf ich dir nachschenken, Großmutter?«

Mina warf ihrer Schwester einen verblüfften Blick zu. Kein Wort davon war wahr. Agnes hatte noch nie auch nur den Hauch von Interesse für die Arbeit im Kontor gezeigt, geschweige denn Mina gefragt, ob sie sie begleiten könne. Aber an Hiltruds erleichtertem Gesichtsausdruck sah sie, dass Minas Fahrten in die Speicherstadt wohl schon des Öfteren Gesprächsthema gewesen waren.

Sie wartete ab, bis Agnes Hiltruds Kaffeetasse gefüllt hatte. »Ich hoffe, du bist einverstanden, dass Agnes mit mir fährt«, sagte Mina dann. »Sie wäre mir wirklich eine große Hilfe, und ich würde mich sehr freuen, Gesellschaft zu haben.«

Hiltruds zweifelnder Blick ging zwischen den beiden Enkeltöchtern hin und her. »Also ich weiß nicht recht …«

»Ich verspreche, ich passe gut auf sie auf«, fügte Mina hastig hinzu.

»Wir passen gegenseitig gut auf uns auf«, ergänzte Agnes. »Ach, komm schon, Großmutter, gib dir einen Ruck und sag Ja. Außerdem ist es ja nicht für lange. Nur bis Frederik wieder da ist. Und du hast selbst gesagt, dass das nur noch ein paar Wochen dauern kann.«

›Bis Frederik wieder da ist …‹ Der Satz klang unheilvoll in Minas Ohren nach. Ihre Miene verdüsterte sich für einen Moment. Frederik Lohmeyer. Ihr Ehemann …

Sie hatte Frederik kurz vor dem Krieg geheiratet, als ihr Vater Karl im Sterben gelegen hatte. Die Ehe war sein Wunsch gewesen, und Mina hatte nach langem Zögern eingewilligt. Vater hatte gehofft, auf diese Weise die Firma in der Familie halten zu können, auch wenn Mina und er beide gewusst hatten, dass Frederik jeglicher Sinn für den Kaffeehandel fehlte. Aber dafür war ja Mina da. Sie hatte im Hintergrund die Fäden in der Hand gehalten, und Frederik hatte die Firma Kopmann & Deharde nach außen vertreten, besonders aber an der Kaffeebörse, wo die Anwesenheit von Frauen nicht erlaubt war. Für ein paar Monate war auch alles gut gegangen. Sie hatten gute Umsätze und noch mehr Gewinn gemacht, und beide Seiten hatten begonnen, sich in die Bedingungen ihres Ehevertrages einzufinden. Frederik spielte den perfekten Ehemann, wenn er Publikum hatte, und blieb auf Distanz zu ihr, sobald sie allein waren. Immer häufiger ging er abends allein aus und traf sich mit Freunden, wie er sagte. Dann kam er so spät zurück, dass Mina längst schlafen gegangen war. Nach ein paar Monaten schlug er vor, eines der Gästezimmer als sein Schlafzimmer einzurichten, damit er sie nicht aufweckte, wenn er nach Hause kam. Mina war es ganz recht, in Ruhe gelassen zu werden, auch wenn sie wusste, dass sie über kurz oder lang für einen Erben sorgen mussten, aber sie sagte sich, dafür sei später noch Zeit. Zuerst müssten sich die Mitglieder des Vereins der Kaffeehändler daran gewöhnen, eine Frau in ihren Reihen zu haben, ehe sie daran denken konnte, für eine Weile ihren Schreibtisch zu verlassen.

Dann jedoch, im August 1914, war der Krieg ausgebrochen. Noch am selben Tag, als Frederik am Frühstückstisch die Rede des Kaisers aus der Zeitung vorgelesen hatte, in der der Monarch sein Volk zu den Waffen rief, hatte er ein Telegramm an seine alte Einheit geschickt und sich freiwillig zum Dienst zurückgemeldet. Am nächsten Tag hatte Mina ihn zum Kaiserbahnhof gefahren, wo er sich am Bahnsteig von ihr verabschiedet hatte. Es sei ja nur für ein paar Wochen, dann sei der Krieg vorüber, hatte er gesagt. Spätestens zu Weihnachten hätten sie die Franzosen und die Russen besiegt, das sei so sicher wie das Amen in der Kirche.

Mina hatte genickt, hatte ihn gebeten, heil zurückzukommen, und ihm alles Gute gewünscht. Und weil auf einmal die Zeit zusammengeschmolzen war und sie sich wieder an jenen grauen Novembertag zurückversetzt gefühlt hatte, als sie von Edo Abschied genommen hatte, waren ihr die Tränen gekommen, obwohl sie doch gar nicht hatte weinen wollen. Da hatte Frederik sie in den Arm genommen und sie auf die Stirn geküsst. »Nicht traurig sein, Mina«, hatte er leise gesagt. »Bald bin ich wieder da, und alles wird gut werden.«

Von wegen, dachte Mina bitter. Gar nichts ist gut geworden.

Die helle Stimme ihrer Schwester holte sie in die Gegenwart zurück. »Wie bitte?«, fragte sie.

»Ich habe dich gefragt, ob du auch noch etwas möchtest.« Agnes hielt die Kanne in die Höhe und schwenkte sie ein wenig. »Eine Tasse sollte noch darin sein.«

Mina zwang sich ein Lächeln ab. »Gern!« Sie hielt Agnes ihre Kaffeetasse entgegen und sah zu, wie diese schwungvoll den Rest aus der Kanne einschenkte.

»Soll ich noch einmal Kaffee nachkochen lassen?«, fragte Agnes.

»Nein, besser nicht«, erwiderte Mina. »Wir werden unseren Kaffeeverbrauch sowieso in Zukunft sehr einschränken müssen. Als ich gestern in der Küche war, um Bohnen zu rösten, habe ich gesehen, dass der letzte Sack so gut wie leer ist.«

»Dann musst du wohl noch einen aus dem Lager mitbringen, Kind.« Hiltrud runzelte die Stirn und drückte das Kinn gegen ihren Kragen, wie sie es immer tat, wenn sie verärgert war. Und sie war oft verärgert.

»Wenn noch welcher dort wäre, würde ich das gern tun«, sagte Mina niedergeschlagen. »Aber ich habe sogar schon sämtliche Proben, die noch im Kontor waren, mitgebracht. Tut mir sehr leid, aber wir haben nichts mehr.«

»In was für Zeiten wir leben, es ist nicht zu fassen.« Hiltrud schüttelte entgeistert den Kopf. »Eine Kaffeeimportfirma, die nicht mal mehr über eine einzige Bohne Kaffee verfügt? Gut, dass dein Großvater das nicht mehr erleben muss.«

»Oder Vater …«, setzte Mina leise hinzu. »Aber derzeit ist einfach nicht an Kaffee heranzukommen.«

»Ich verstehe das nicht.« Agnes sah Mina fragend an. »Jetzt, wo der Krieg vorbei ist, ist doch auch die Seeblockade der Engländer vorbei.«

»Das schon, aber mit dem Friedensvertrag sind so gut wie alle deutschen Handelsschiffe an die Siegermächte gegangen, und die wenigen, die Hamburg im Moment anlaufen, haben wichtigere Güter an Bord als ausgerechnet Kaffee. Kaffee ist nun einmal Luxusware.«

»Wenn es so ist, begreife ich erst recht nicht, warum du darauf bestehst, jeden Tag ins Kontor zu fahren, Wilhelmina«, rief Hiltrud. »Das ist doch Zeitverschwendung, wenn es ohnehin nichts zum Handeln gibt.«

Wieder zwang sich Mina, ruhig zu bleiben. Sie atmete tief ein, um nicht die Fassung zu verlieren. »Nein, ich halte es nicht für Zeitverschwendung. Ganz im Gegenteil! So zeige ich, dass Kopmann & Deharde noch da ist und zur Verfügung steht, sobald wieder Kaffee am Markt angeboten wird oder die Börse öffnet. Ich hoffe nur, dass unsere Finanzen so lange durchhalten«, fügte sie leiser hinzu.

»Da besteht ja nun wahrhaftig kein Grund zur Sorge.« Hiltrud nahm die Serviette vom Schoß und legte sie neben ihren Teller. »Die Villa ist unbelastet, und dein Großvater hat immer dafür gesorgt, dass genügend …«

»Der Krieg hat uns eine ziemliche Durststrecke beschert«, sagte Mina finster. »Und die Apanage für Frederik hat ein Übriges getan.«

»Die wirst du doch hoffentlich nicht weiterbezahlt haben? Er war in den letzten fünf Jahren immer nur für ein paar Tage auf Fronturlaub hier und hat außerdem die ganze Zeit sein Majorsgehalt bezogen.«

Mina zuckte mit den Schultern. »Was wäre mir denn anderes übrig geblieben? Die Summe ist vertraglich zugesichert.«

»Apanage?«, fragte Agnes verständnislos. »Was denn für eine Apanage?«

Mina warf ihr einen warnenden Blick zu. »Später!«, formte sie lautlos mit den Lippen. Agnes schien sie verstanden zu haben und nickte nur.

Mina sah auf ihre Armbanduhr und erhob sich hastig. »Schon acht Uhr vorbei. Wenn ich pünktlich um neun Uhr im Kontor sein will, um den Postboten abzupassen, muss ich mich jetzt auf den Weg machen. Ich habe gestern ein paar Briefe geschrieben, die er gleich mitnehmen soll. Bist du fertig, Agnes?«

Die Angesprochene erhob sich ebenfalls. »Fertig und abmarschbereit.« Damit trat sie auf Großmutter Hiltrud zu, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. »Bis heute Mittag!«, sagte sie. »Wir sind pünktlich wieder hier, dafür sorge ich schon.«

Auch Mina verabschiedete sich von ihrer Großmutter mit einem Kuss auf die Wange und beeilte sich dann, das Esszimmer zu verlassen, ehe die alte Frau protestieren konnte.

»Das ging besser, als ich geglaubt habe«, sagte Agnes mit gedämpfter Stimme, nachdem Mina die Tür zum Esszimmer hinter sich geschlossen hatte. »Sie hat es anstandslos geschluckt.«

»Wie bist du denn überhaupt auf die Idee gekommen?«, fragte Mina, während sie neben Agnes zur Garderobe ging und ihren Mantel vom Kleiderbügel nahm.

»Keine Ahnung«, erwiderte Agnes achselzuckend. »Vielleicht war es so etwas wie ein Geistesblitz. Großmutter jammert jeden Morgen, dass sie sich Sorgen macht, wenn du mutterseelenallein unterwegs bist. ›Was, wenn wieder Plünderer durch die Straßen ziehen oder es einen Matrosenaufstand gibt?‹, sagt sie dann immer. Du weißt ja, wie sie ist.«

»Die Unruhen sind über ein halbes Jahr her und sind nicht einmal bis in die Speicherstadt gekommen. Dort ist es immer sicher gewesen.«

»Aber es hat Großmutter einen Heidenschrecken eingejagt.« Agnes schlüpfte in ihren Mantel und griff nach ihrem Hut. »Sie kann sich einfach nicht mit der neuen Situation abfinden. Dass wir keinen Kaiser mehr haben und die Sozialisten in der Bürgerschaft sitzen, will ihr immer noch nicht in den Kopf. Für sie bedeutet das den Untergang der Welt. Dabei ist es doch spannend, finde ich.« Sie drehte sich zu Mina um und breitete die Arme aus, während sie sich einmal um die eigene Achse drehte. »Nimmst du mich so mit oder bin ich zu fein für die Speicherstadt?«

Unter dem geöffneten Mantel trug sie einen knöchellangen, schmalen Rock aus dünner karierter Kammwolle und eine weiße Rüschenbluse. Einen Moment lang war Mina versucht, sie darauf hinzuweisen, dass sie viel zu elegant gekleidet war, doch dann lächelte sie. »Genau richtig.«

»Mama!«

Von oben erscholl eine helle Kinderstimme, und Mina wandte sich um. Am Kopf der Treppe stand Fräulein Brinkmann, die schon Minas und Agnes’ Erzieherin gewesen war. Sie trug Minas Tochter Ella auf dem Arm, die nun die dicken Ärmchen nach ihrer Mutter ausstreckte. Ella war jetzt zwanzig Monate alt und ein aufgewecktes Kind mit einem ausgeprägten Willen, den sie schon gut durchzusetzen wusste. »Genau wie du früher«, wurde Großmutter Hiltrud nicht müde zu sagen, wenn Ella sich nicht auf den Schoß der alten Dame setzen wollte, bockig mit dem kleinen Fuß aufstampfte und den blonden Lockenschopf schüttelte.

»Siehst du? Ich habe dir doch gesagt, dass Mama noch da ist. Jetzt kannst du ihr Auf Wiedersehen sagen, und dann frühstücken wir bei Frau Kruse in der Küche«, sagte Fräulein Brinkmann zu dem Mädchen, während sie die Treppe hinunterkam. Als sie das Kind auf dem Boden absetzte, lief die Kleine strahlend auf ihre Mutter zu, die in die Hocke gegangen war und lächelnd die Arme ausbreitete.

»Mama. Arbeit«, stellte Ella mit wichtiger Miene fest. »Auto fahren.«

»Ja, genau.« Mina drückte den kleinen Körper an sich und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange. »Ich fahre jetzt mit dem Auto zur Arbeit. Aber bald komme ich zurück, und dann gehen wir spazieren.«

»Jetzt spazieren.« Ellas Gesicht verdunkelte sich, und sie löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter.

»Nein, mein Schatz, wenn ich wieder zurück bin.«

»Tante Aggi spazieren?« Die Kleine wandte sich zu Agnes um und strahlte sie an.

»Tante Agnes kommt mit mir. Sie arbeitet heute auch. Du bleibst bei Fräulein Brinkmann und gehst jetzt frühstücken. Wir sehen uns etwas später.«

Fräulein Brinkmann schaute Agnes fragend an. »Du fährst mit ins Kontor?«

Agnes nickte. »Stellen Sie sich vor, ich geselle mich auch zur arbeitenden Bevölkerung. Aber jetzt sollten wir wirklich losfahren, Mina, bevor Großmutter es sich anders überlegt und es doch noch verbietet.«

Fräulein Brinkmann unterdrückte ein Lächeln. »Das wäre durchaus möglich.« Sie beugte sich ein wenig hinunter und streckte Ella ihre Rechte entgegen, die das Kind gehorsam ergriff. »Na komm, Ella, wir gehen jetzt in die Küche. Frau Kruse hat bestimmt eine Milch für dich. Bis später, Mädchen!« Sie winkte Mina und Agnes zu und ging langsam mit Ella an der Hand in Richtung des Wirtschaftstraktes.

»Und wenn wir achtzig Jahre alt sind und schon eine Schar von Enkeln haben, wird sie wahrscheinlich nicht damit aufhören, uns ›Mädchen‹ zu nennen.« Mina lachte kopfschüttelnd, öffnete die Haustür für ihre Schwester und trat dann selbst ins Freie.

Es war ein strahlender Sommermorgen, und der Wind blies ein paar träge Schäfchenwolken über die Bäume im Garten.

»Eigentlich ist es viel zu schön, um in die Speicherstadt zu fahren und im düsteren Kontor zu sitzen.« Agnes hielt für einen Moment lächelnd das Gesicht in die Sonne. »Wir sollten stattdessen zum Jungfernstieg fahren und flanieren gehen.«

»So weit kommt es noch!« Mina lachte. »Ab ins Auto mit dir!«

Als Mina auf die schwarze Limousine vor der Garage zuschritt, die früher ihr Vater gefahren hatte, zog Agnes eine Grimasse. »Wir könnten doch wenigstens das Cabriolet nehmen.«

»Den Teufel werde ich«, sagte Mina. »Das ist Frederiks Wagen, und den rühre ich nicht an.« Sie öffnete die Fahrertür der Limousine und setzte sich hinter das Steuer. »Außerdem ist das Cabrio so lange nicht gefahren worden, dass ich arge Zweifel habe, ob es überhaupt anspringen würde«, fügte sie hinzu, als Agnes neben ihr saß.

Mina startete den Motor, wendete den Wagen auf dem Vorplatz der Villa und bog dann in die Heilwigstraße ein.

»Glaubst du, Frederik hätte was dagegen, wenn du sein Automobil benutzt?«, fragte Agnes. »Immerhin hat er dir doch selbst das Fahren beigebracht und auch seine Zustimmung gegeben, dass du den Führerschein machst.«

»Schon, aber ich glaube, das war pure Bequemlichkeit. So brauchte er mich nicht mehr ständig in der Gegend herumkutschieren, und wir mussten außerdem keinen Fahrer einstellen.«

»Ach, ist Frederik so geizig?«

Mina warf ihrer Schwester einen schnellen Seitenblick zu und lächelte. »Er nicht. Aber ich.«

Agnes lachte. »Papa hätte gesagt: ›Das ist kein Geiz, das ist Geschäftssinn.‹«

Mina nickte wehmütig. Agnes konnte den Tonfall ihres Vaters nachahmen wie keine Zweite. Immer noch gab es Mina einen Stich, wenn jemand von ihm sprach, auch wenn er schon seit sechs Jahren nicht mehr bei ihnen war. Sie sah ihn deutlich vor sich, seine hochgewachsene, massige Gestalt, den schlohweißen Haarschopf, seine blauen Augen, aus denen der Schalk blitzte, wenn er in dröhnendes Lachen ausbrach. Und sie hörte die Wärme in seiner Stimme, wenn er sie »sein Wunschmädchen« genannt hatte.

»Ja, ich vermisse ihn auch …«, sagte Agnes leise, als könnte sie Minas Gedanken lesen. »Vielleicht nicht so sehr wie du, weil ihr euch so ähnlich wart, aber mir fehlt er auch furchtbar.«

Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, griff Mina nach der Hand ihrer Schwester und drückte sie. »Das weiß ich doch«, sagte sie.

Für eine Weile schwiegen die beiden Schwestern. Erst als sie auf die Altstadt zufuhren, räusperte sich Agnes und drehte sich zu Mina. »Darf ich dich mal etwas fragen?«

»Natürlich. Was gibt es denn?«

»Was geht da eigentlich zwischen Frederik und dir vor sich? Warum kommt er nicht endlich nach Hamburg zurück?«

Mina warf ihrer Schwester einen kurzen Blick zu, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Verkehr auf der Straße zuwandte. »Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, sagte sie fest. »Hat Großmutter etwa …?«

»Nein. Sie hat nichts mit meiner Frage zu tun«, beeilte sich Agnes zu versichern. »Sie wundert sich zwar gelegentlich darüber, dass er im Krieg so selten auf Urlaub zu Hause war und noch nicht vom Regiment zurück ist, aber sie erklärt es sich damit, dass er als Major wohl immer noch im Stab gebraucht wird und deshalb unabkömmlich ist.«

»Siehst du, da hast du doch deine Antwort.« Minas Hände umschlossen das Lenkrad so fest, dass die Knöchel hervortraten. »Mehr kann ich dazu auch nicht sagen.«

»Wirklich nicht?«

Mina glaubte Agnes’ durchdringenden Blick auf sich zu fühlen. »Nein, wirklich nicht«, sagte sie fest.

»Was schreibt er denn, wann er zurück nach Hause kommt?«

»Dass es noch dauern kann.«

»Aber wie lange denn?«

»Woher soll ich das wissen?« Die Reaktion war viel heftiger ausgefallen, als Mina beabsichtigt hatte. »Entschuldige, Agnes«, sagte sie leiser und seufzte. »Das ist ein … unerquickliches Thema.«

»Unerquicklich?«

Mina zog die Brauen zusammen. »Frederik schreibt nicht sehr oft. Höchstens hier und da mal eine Postkarte.«

»Und auf der ist nicht genug Platz, um auf Fragen zu antworten«, ergänzte Agnes. »Sehr praktisch.«

Mina hielt den Wagen an. Während sie wartete, dass das Pferdefuhrwerk vor ihr in eine Seitenstraße einbog, sah sie zu ihrer Schwester hinüber, die aus der Windschutzscheibe starrte und dabei nachdenklich auf ihrer Unterlippe kaute.

»Praktisch?«, fragte Mina.

Agnes zuckte mit den Schultern. »Wenn ich mich nicht erklären wollte, würde ich auch nur einen Gruß auf eine Postkarte schreiben.« Sie drehte sich zu Mina herum und sah ihr direkt in die Augen. »Du hast ihn doch gefragt, wann sein Dienst endet, oder?«

»Ich …«

Das Pferdefuhrwerk setzte sich in Bewegung und machte die Straße frei. Mina legte den Gang wieder ein und gab Gas, erleichtert darüber, ihrer Schwester auf diese Weise die Antwort schuldig bleiben zu können. Aber so leicht ließ sich Agnes nicht aus dem Konzept bringen. »Mina?«

»Ich habe ihm geschrieben, dass der Enkel von Onkel Henry vor ein paar Wochen zurückgekommen ist, der, der als Leutnant gedient hat. Und in dem Zusammenhang habe ich erwähnt, dass es dann ja wohl nicht mehr lange dauern könne, bis auch er entlassen wird.«

»Das war alles?«

»Ja, das war alles«, erwiderte Mina ärgerlich. Agnes’ Fragerei ging ihr inzwischen entschieden zu weit.

»Dann musst du dich nicht wundern. Frederik ist nicht der Typ Mann, bei dem man mit subtilen Hinweisen weiterkommt. Wenn du etwas Konkretes erfahren willst, musst du ihn schon ganz direkt danach fragen, sonst versteht er es nicht.«

Mina schnaubte. »Du scheinst dich ja gut mit Männern auszukennen.«

Zu Minas Überraschung lachte Agnes. »Allerdings, das tue ich. Du würdest staunen.«

»Lass das bloß nicht Großmutter hören, sonst ist es vorbei mit irgendwelchen Tanztees oder Sonntagsspaziergängen mit männlicher Begleitung an der Alster.«

»Oder dem Ruderclub.«

»Vor allem dem Ruderclub.« Mina nickte. »Eine junge Dame aus gutem Haus muss darauf achten, in welcher Gesellschaft sie gesehen wird«, sagte sie, presste ihr Kinn gegen ihren Hals und ahmte dabei den Tonfall von Großmutter Hiltrud nach, so gut sie konnte.

Beide lachten.

»Du verpetzt mich doch nicht, oder?«, fragte Agnes schließlich.

»Habe ich dich je verpetzt?«

»Zuletzt, als du vierzehn warst, glaube ich.«

»Siehst du? Und da habe ich dich bei Frau Kruse verpetzt, weil du an der Keksdose warst. Bei Großmutter noch nie.«

»Das stimmt allerdings.« Wieder lachte Agnes, dann wurde sie ernst. »Seit Vater damals krank wurde, haben wir gegen alle anderen zusammengehalten. Damals haben wir immer Kriegsrat in deinem Zimmer gehalten, weißt du noch?«

Mina nickte. Sie hatte das Bild deutlich vor Augen: sie beide auf dem Bett sitzend, wie sie beratschlagt hatten, was sie machen konnten, um zu verhindern, dass Mina zurück ins Pensionat geschickt wurde. Auf dem Kalender war es nur ein paar Jahre her, und doch schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, so viel war seither in der Welt und in ihrem Leben geschehen.

Agnes’ Stimme riss Mina aus ihren Erinnerungen. »Ist alles in Ordnung zwischen dir und Frederik?«, fragte sie unverblümt.

Zunächst war Mina zu verblüfft, um zu antworten. Mit einer solch direkten Frage hatte sie nicht gerechnet. Sie war versucht, eine Ausflucht zu bemühen, wie immer, wenn jemand sie nach ihrem Ehemann fragte. Doch dann besann sie sich anders.

Das hier war ihre Schwester. Ihre Verbündete. Neben ihrer besten Freundin Irma, mit der sie seit ihrer gemeinsamen Zeit im Pensionat eine enge Brieffreundschaft pflegte, der Mensch, der ihr am nächsten stand. Sie hatte es nicht verdient, angelogen zu werden.

»Nein.« Mina seufzte. »In Ordnung ist ganz und gar nichts zwischen uns. Das ist es nie gewesen, und ich fürchte, das wird es auch nie werden.«

»Aber ihr habt doch ein Kind zusammen.«

Mina bog in Richtung des Hafengeländes ab. »Hat Fräulein Brinkmann mit dir nicht das berüchtigte Gespräch von Frau zu Frau geführt? Ich war sechzehn, als sie mich beiseitegenommen hat, um mir zu erklären, was zwischen Mann und Frau stattfindet, damit …«

»Doch, natürlich weiß ich, was passieren muss, damit ein Kind auf die Welt kommt. Und glaub mir, ich bin ihr sehr dankbar für ihren Vortrag. Von den Mädchen meiner Abschlussklasse war ich wahrscheinlich die Einzige, die wusste, dass man vom Küssen nicht schwanger werden kann.« Agnes schüttelte den Kopf. »Aber Fräulein Brinkmann sprach auch davon, dass es Mann und Frau zusammenschweißt, wenn sie ein Kind haben.«

»Das mag sein, wenn Liebe mit im Spiel ist.«

»Und du liebst Frederik nicht? Nicht mal ein bisschen?«

Mina schwieg und ließ die Frage in der Luft hängen. Was hätte sie auch antworten sollen? Dass sie Frederik nur geheiratet hatte, damit die Firma nach Vaters Tod in der Familie blieb? Dass sie damals eigentlich einen anderen geliebt hatte, dem sie versprochen hatte, auf ihn zu warten? Dass sie dieses Versprechen gebrochen hatte? Dass kein Tag verging, an dem sie sich nicht wegen dieses Verhaltens schämte und sich fragte, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie sich für Edo entschieden hätte?

»Da vorn ist die Zollstation. Hol schon mal deinen Ausweis aus der Tasche«, sagte Mina schließlich. Sie brachte den Wagen hinter dem einzigen Pferdefuhrwerk zum Stehen, das vor der geschlossenen Schranke darauf wartete, durchgelassen zu werden.

»Nicht viel los heute«, hörte sie Agnes sagen.

»Du glaubst nicht, wie viel ich darum geben würde, hier warten zu müssen.« Mina lächelte wehmütig. »Das würde bedeuten, dass es endlich wieder etwas zum Handeln gäbe.«

Sie sah zu, wie der Zöllner dem Kutscher die Papiere zurückgab und seinem Kollegen bedeutete, die Schranke zu öffnen und musste daran denken, wie hier vor dem Krieg häufig zehn, und mehr Pferdefuhrwerke Schlange gestanden hatten, um in die Speicherstadt zu gelangen, und hochbeladen mit Kaffeesäcken zurückgefahren waren.

Langsam ließ sie das Auto bis zur Schranke vorrollen und öffnete die Seitenscheibe, als der Zollbeamte herantrat und sich an den Schirm seiner Uniformmütze tippte.

»Moin, Frau Deharde«, sagte er freundlich. »Wen haben Sie uns denn heute mitgebracht?«

Mina kannte die meisten der Beamten, die ihren Dienst in den drei Zollstationen an den Zugängen zur Speicherstadt verrichteten, doch den alten Meier, der inzwischen kurz vor seiner Pension stand, am längsten und besten von allen.

»Guten Morgen, Herr Meier. Schönes Wetter haben wir heute, was?«, erwiderte sie. »Das ist meine Schwester Agnes, die mir von heute an im Kontor zur Hand gehen will. Ihre Ausweispapiere hat sie dabei, wenn Sie sie sehen möchten.« Mina griff nach dem Pass, den Agnes ihr entgegenstreckte, doch der Zollbeamte winkte ab.

»Wenn Sie sagen, dass das Ihre Schwester ist, wird es schon seine Richtigkeit haben.« Der alte Meier nickte Mina zu und gab seinem Kollegen ein Zeichen, den Schlagbaum zu öffnen, um den Wagen passieren zu lassen. »Einen schönen Tag und gute Geschäfte, Frau Deharde!« Er tippte sich erneut an die Mütze, dann winkte er Mina hindurch.

»Frau Deharde?«, fragte Agnes verwundert, als Mina das Fenster wieder geschlossen hatte.

»Der alte Meier kennt mich schon, seit ich als kleines Mädchen unseren Vater begleitet habe. Da gewöhnt man sich nicht so schnell um. Und wozu auch? Immerhin bin ich ja die Chefin von Kopmann & Deharde.«

Im Schritttempo ließ Mina das Auto über die Niederbaumbrücke rollen, um den Blick über den Zollkanal und das Kehrwiederfleet schweifen zu lassen, in denen in den letzten Monaten nur wenige Lastkähne der Ewerleute festgemacht hatten.

»Hier scheint aber doch ganz gut was los zu sein«, sagte Agnes.

»Von wegen. Früher war hier kaum ein Durchkommen, so viele Schuten lagen an den Speichern. Und jetzt? Die kannst du doch an einer Hand abzählen.« Mina seufzte. »Gut, dass Vater nicht mehr erleben muss, wie der Hafen im Krieg niedergegangen ist. Keine Ahnung, wie das noch weitergehen soll.«

Sie beschleunigte und bog in den Sandtorkai, wo sie den Wagen gegenüber von Nummer 36, in der sich das Kontor befand, vor einem der Hafenschuppen abstellte. Die Schwestern verließen den Wagen, überquerten die mit Kopfsteinen gepflasterte Straße und stiegen die Stufen zum Eingang hoch, neben dem das Emailleschild hing, auf dem in geschwungenen Buchstaben »Kopmann & Deharde, Caffee-Import und Export« zu lesen war. Während Mina den Schlüsselbund aus ihrer Handtasche kramte, blieb Agnes stehen und schaute nach oben.

»Zwei, drei, vier, fünf, sechs«, murmelte sie.

Mina sah verblüfft zu ihr hinüber. »Sechs?«

Agnes lächelte schief. »Vater hat mir weisgemacht, ich müsse immer die Stockwerke zählen, sonst würde der Speicher eines verlieren. Als kleines Mädchen habe ich das wirklich geglaubt und seither die Stockwerke immer gezählt, wenn ich mit ihm hier war. Das letzte Mal ist schon etliche Jahre her. Ich glaube, damals wohnten wir noch nicht einmal in der Villa bei Großmutter. Ich hätte ihn öfter begleiten sollen, so wie du.«

»Das hätte ihm sicher gefallen.« Mina griff nach Agnes’ Hand und drückte sie kurz. »Aber jetzt begleitest du ja mich. Na, dann komm mal rein in die gute Stube.«

Damit schob sie die schwarz gestrichene Eingangstür auf und betrat den dämmrigen Flur. Das Kontor befand sich eine halbe Treppe hinauf zur Linken im hochgelegenen Erdgeschoss des Gebäudes.

Früher, vor dem Krieg, hatte in dem Gebäude ein ständiges Kommen und Gehen geherrscht. Agenten und Makler hatten sich die Klinke in die Hand gegeben, hatten Kaffeeproben vorbeigebracht und mit Vater um Preise und Konditionen gefeilscht. Quartiersmänner in ihrer altertümlich wirkenden Tracht waren gekommen, um Lagerscheine und Lieferaufträge abzuholen, oder waren weiter nach oben zu den Lagerböden hinaufgestiegen. Andere Kaufleute hatten auf eine Tasse Kaffee oder einen Schnaps im Kontor vorbeigeschaut und den neuesten Tratsch ausgetauscht. Die Lehrlinge waren hin und her geflitzt, hatten Botengänge gemacht oder dicke Folianten geschleppt. Jetzt aber war alles still. Von den Lehrlingen und Arbeitern waren viele auf den Schlachtfeldern in Frankreich und Russland geblieben, und für die, die von der Front heimgekehrt waren, gab es im Moment keine Arbeit.

Mina steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und zog ein wenig an der Klinke, um die Tür zum Kontor zu öffnen. Noch immer hing der Duft von frisch geröstetem Kaffee in der Luft, obwohl sie schon seit Monaten keinen der Probeöfen mehr in Betrieb gehabt hatte. Sie bückte sich, um die drei Briefumschläge aufzuheben, die der Bote durch den Schlitz in der Tür geworfen hatte, und schüttelte enttäuscht den Kopf.

»Wieder nur Rechnungen …«, murmelte sie, nachdem sie die Umschläge umgedreht und die Absender gelesen hatte. Seufzend legte sie sie auf den verwaisten Schreibtisch des Bürovorstehers und ging zur Garderobe hinüber, um ihren Hut abzunehmen. »Jeden Morgen hoffe ich, dass endlich ein Angebot für eine Partie Kaffee in der Post ist, aber warum sollte es mir anders gehen als all den anderen Importeuren? Ich sollte es allmählich besser wissen.« Sie drehte sich zu Agnes um und zog in einer hilflosen Geste die Schultern hoch. »Vielleicht wäre es aus Kostengründen wirklich am vernünftigsten, das Kontor zu schließen, aber …«

»Das Kontor schließen?« Agnes schaute sie erschrocken an. »Vaters Kontor schließen? Aber das kannst du doch nicht tun!«

»Ich will es ja auch nicht. Aber welchen Sinn ergibt eine Kaffeeimportfirma, die keinen Kaffee importieren kann?«

Mina hatte ihren Mantel abgestreift und hängte ihn über einen der beiden Kleiderbügel. Den anderen gab sie an Agnes weiter, die ihrem Beispiel folgte. »Aber warum geht es denn nicht?«, fragte Agnes.

»Das ist ein bisschen kompliziert, aber ich versuche es mal einfach zu erklären«, sagte Mina. »Es ist immer wieder erstaunlich, wie angenehm kühl es in diesen Speicherhäusern bleibt, egal wie heiß es draußen ist. Das muss wohl an den dicken Backsteinwänden liegen. Im Sommer kühl und im Winter warm. Man braucht die Heizung kaum je anzudrehen.« Sie ging zum Fenster hinüber und legte die Hand kurz auf die Metallrippen des Heizkörpers, der vom zentralen Kesselhaus am Sandtorkai sein warmes Wasser erhalten würde, sollte sie das Ventil aufdrehen. »Während des Krieges gab es die Seeblockade der Engländer, und wir konnten keinen Kaffee aus den Ursprungsländern importieren«, fuhr sie fort. »Eine Weile kam noch Kaffee aus den neutralen Ländern, doch danach mussten wir mit dem Rohkaffee handeln, der noch in Hamburg in den Lagern war. Aber jetzt ist so gut wie nichts mehr da. Zusätzlich hat der Staat uns Kaufleuten eine Behörde vor die Nase gesetzt, die dafür sorgen sollte, dass die Lebensmittel, auch der Kaffee natürlich, gerecht verteilt werden. Zuerst musste die Armee versorgt werden, und nur, was übrig war, ging an die Bevölkerung. Dieser Rest wurde immer kleiner, und irgendwann gab es dann einfach nichts mehr.«

»Aber Kaffee wurde doch weiter angebaut, oder? Eigentlich müsste es doch inzwischen ein Überangebot an Kaffee auf dem Markt geben.« Agnes war neben sie getreten und schaute aus dem Fenster auf die Straße hinunter.

Mina sah ihre Schwester erstaunt an und lächelte dann. »Kluges Köpfchen!« sagte sie. »Es gab ein Überangebot, das ist richtig, aber die Kaffeeproduzenten mussten sich einen anderen Markt suchen, weil der Hamburger Hafen ja während des Krieges nichts abnehmen konnte. So ging der größte Teil des südamerikanischen Kaffees nach New York und wurde dort verkauft. Und das ist bis heute so geblieben. Hinzu kommt noch, dass die Schiffe der deutschen Handelsflotte im Friedensvertrag an die Sieger gefallen sind. Man müsste also ein ausländisches Schiff chartern, um eine Ladung Kaffee nach Hamburg zu bringen, und das geht leider nur mit Devisen, nicht mit Reichsmark.«

»Und Devisen besitzen wir nicht?«

»Dafür jedenfalls nicht genug. Und was wir haben, liegt in London und New York fest. Da ist kaum heranzukommen.«

Agnes zog die Stirn in nachdenkliche Falten. »Das ist Mist.«

Mina musste bei dem Gedanken daran, was Großmutter Hiltrud wohl sagen würde, wenn sie die wohlerzogene Agnes so fluchen hörte, ein Grinsen unterdrücken. »So könnte man es ausdrücken, ja. Riesenmist sogar!«

»Aber aufgeben und das Kontor schließen?«, fuhr Agnes fort. »Das ist keine Lösung. Das wäre, als würden wir die Flinte ins Korn werfen. Irgendetwas muss uns einfallen.«

»Ich habe mir schon das Hirn zermartert, aber bislang umsonst.«

»Da hast du ja auch noch nicht mit mir Kriegsrat gehalten. Manchmal braucht man jemanden, der nicht bis zum Hals in der Misere steckt, um einen frischen Blick auf die Dinge zu bekommen. Komm mit, Mina!«

Agnes griff nach Minas Hand und zog sie mit sich in das Chefzimmer. Mitten in dem lichtdurchfluteten Raum blieb sie stehen und ließ Minas Hand los. Langsam drehte sie sich um ihre eigene Achse und sah sich um. »Ich bin seit Jahren nicht mehr hier drin gewesen«, sagte sie. »Der Raum scheint mir kleiner und enger als früher.«

»Das liegt daran, dass du seitdem ein ganzes Stück gewachsen bist.« Mina lächelte. »Es ist immer noch alles genauso wie damals, als Vater hinter dem Schreibtisch saß.«

»Vaters Schreibtisch …« Agnes ging zum großen Nussbaumschreibtisch hinüber und fuhr mit den Fingern die geschnitzten Ornamente entlang, während sie ihn umrundete. Dann ließ sie sich auf dem lederbezogenen Stuhl nieder, auf dem der Chef der Firma zu sitzen pflegte. »An die Bilder erinnere ich mich«, sagte sie und deutete auf die Wand neben der Tür, wo nebeneinander die Porträts der Firmengründer Gerhard Kopmann und Karl Deharde hingen. »Vor dem Großvater habe ich immer etwas Angst gehabt.«

»Ja, ich auch.« Lachend nahm Mina auf dem Stuhl Platz, der für Besucher vor dem Schreibtisch stand. »Dabei war er eigentlich immer sehr freundlich zu uns Kindern. Hat uns Kandis und Bonbons zugesteckt, wenn Großmutter gerade nicht hingesehen hat.«

»Stimmt!« Agnes grinste. »Daran kann ich mich auch gut erinnern.« Sie lehnte sich zurück und sah ihrer Schwester offen in die Augen. »Aber zurück zum Geschäft. Wie können wir an Kaffee herankommen, wenn es in Hamburg nicht eine Bohne mehr zum Handeln gibt?«

»Genau das ist die Frage. Früher war es so, dass die Makler mit ihren Proben zu uns Importeuren kamen und den Kaffee anboten, den sie für die Produzenten verkaufen sollten. Aber was sollen sie tun, wenn sie keine Aufträge bekommen? Etliche der Maklerfirmen mussten bereits aufgeben und schließen.«

Agnes schien angestrengt nachzudenken. Eine Weile war es still, und Mina konnte das Ticken der Messinguhr hören, die an der Wand gegenüber dem Fenster hing. Schließlich klopfte Agnes mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. »Eigentlich ist es doch ganz einfach: Wenn der Kaffee nicht mehr bis nach Hamburg kommt, müssen wir ihn eben dort kaufen, wo er gehandelt wird. Du musst nach New York fahren!«

Mina starrte ihre Schwester entgeistert an. »Du spinnst doch, Agnes, das ist eine völlig verrückte Idee.«

»Aber wieso denn?«

Agnes’ entwaffnende Naivität brachte Mina für einen Moment aus dem Konzept. »Es geht nun einmal nicht. Ich kann nicht in New York an der Börse handeln. Es gibt Regeln, an die …«

»Was denn für Regeln?«, unterbrach Agnes sie stirnrunzelnd.

»Um an einer Börse Handel zu treiben, musst du zugelassen sein. Ich bin nicht einmal in Hamburg zugelassen, von New York mal ganz zu schweigen. Also müsste ich mir jemanden suchen, der in meinem Auftrag Kaffee kauft, und ich kenne keine Menschenseele in Amerika, die mir helfen könnte.«

In dem Moment, als sie das aussprach, wurde Mina bewusst, dass es eigentlich nicht der Wahrheit entsprach. Sie kannte jemanden in Amerika, und vielleicht wäre er sogar in der Lage, ihr zu helfen.

Für einen Augenblick hatte sie deutlich das schmale Gesicht von Edo Blumenthal vor Augen, wie es sich in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Sie sah ihn vor sich, wie er sie angesehen hatte, bevor er sie in den Arm genommen und sie geküsst hatte, als er nach Amerika aufgebrochen war. Eine Mischung aus Sehnsucht und Reue durchfuhr sie wie ein scharfer Schmerz. Auch wenn es nur wenige Jahre her war, es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit. Ein Ozean und ein Krieg lagen zwischen Edo und ihr, und Mina wusste, es gab nichts, was diese Kluft überwinden konnte.

Sie schüttelte den Kopf, um Edos Bild wieder loszuwerden. »Es wäre sinnlos, nach Amerika zu fahren, von den Kosten der Reise mal ganz abgesehen. Selbst wenn ich jemanden finden würde, der bereit wäre, für mich an der Börse Rohkaffee zu kaufen, woher soll ich wissen, dass er mich nicht übervorteilt? Ich spreche nicht gut genug Englisch. Außerdem, wie schon gesagt, ich könnte weder den Kaffee noch die Fracht nach Hamburg im Voraus bezahlen. Und niemand gewährt mir Kredit, bis ich den Kaffee weiterverkauft habe.«

»Ja, mag sein«, sagte Agnes gedankenverloren. Sie tippte mit den Fingern auf die Tischplatte, dann sprang sie auf, ging zum Fenster hinüber und blickte auf die Straße hinaus.

Gerade als Mina sich erhob, um die Rechnungen für die Kontormiete, Strom und Heizung aus dem Vorraum zu holen und die Bankanweisungen dafür zu schreiben, fuhr Agnes herum und strahlte sie triumphierend an. »Ich hab’s! Das ist die Lösung«, rief sie. »Es ist so einfach, dass ich mich frage, warum wir nicht gleich darauf gekommen sind. Die Lohmeyers werden uns Kaffee schicken!«

»Die Lohmeyers?«, fragte Mina verständnislos.

»Ja, natürlich.« Agnes lief auf sie zu und zog sie auf die Füße. »Dein Schwiegervater und dein Schwager besitzen eine Kaffeeplantage in Guatemala. Frederik hat doch immer in höchsten Tönen davon geschwärmt, wie schön es dort ist und wie gut der Kaffee ist, den sie anbauen. Bester Arabica. Ich höre ihn noch reden. Und Blut ist bekanntlich dicker als Wasser. Lohmeyers sind bestimmt bereit, dich zu beliefern. Und sicher würden sie auch auf die Bezahlung warten, bis du den Kaffee hier verkauft hast.«

»Komm mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, Agnes.« Mina griff nach den Händen ihrer Schwester und hielt sie fest. »Ich kenne die Leute doch gar nicht, und es wäre unhöflich, ja geradezu dreist, sie um einen solchen Gefallen zu bitten.«

»Trotzdem sind sie deine Familie.« Agnes’ grüne Augen strahlten. »Und in der Familie hilft man sich nun einmal.«

»Genau genommen sind sie Frederiks Familie«, sagte Mina. »Und er scheint nicht besonders gut auf seinen Vater und seinen Bruder zu sprechen zu sein. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie von Ella wissen.«

»Was soll das heißen, du weißt nicht, ob sie von Ella wissen?« Ungläubig zog Agnes die Augenbrauen zusammen.

Mina war für einen Moment versucht, Agnes davon zu erzählen, warum das Verhältnis zwischen Frederik und seinem Vater so angespannt war. Als junger Mann hatte Frederik sich so tief verschuldet, dass sein Vater ihm sein komplettes Erbe hatte auszahlen müssen, um die Schulden zu begleichen. Danach hatte er Frederik genötigt, sich in Deutschland bei der Armee zu verpflichten. Was genau vorgefallen war, wusste Mina nicht, aber dass ihr Ehemann mit Geld nicht umgehen konnte, war ihr inzwischen nur zu schmerzlich klar geworden. Es war mehr als einmal vorgekommen, dass er sie um Geld gebeten hatte, um sein Konto auszugleichen, obwohl er als Major ein erkleckliches Sümmchen verdiente.

»Als Ella geboren wurde, hatte ich Frederik gebeten, seinem Vater zu schreiben, dass er eine Enkeltochter hat, aber ich habe meine Zweifel, ob er das getan hat. Wenn ich gefragt habe, ob er es erledigt hat, hat er sofort das Thema gewechselt. Zuletzt ist er richtig böse geworden.«

»Vielleicht solltest du deinem Schwiegervater schreiben, Mina.«

»Ich kann mich da doch unmöglich einmischen, Agnes.«

»Natürlich kannst du. Das musst du sogar. Der alte Herr ist Ellas Großvater. Sie hat nur noch diesen einen, und was auch immer zwischen ihm und Frederik vorgefallen ist, ist doch wahrhaftig nicht die Schuld der Kleinen.«

»Da hast du natürlich recht.« Mina seufzte. »Aber ob ein Brief reichen wird, das Verhältnis so weit zu kitten, dass Lohmeyers das Kontor mit Kaffee beliefern?«

Agnes umarmte ihre Schwester kurz und schob sie dann auf Armeslänge wieder von sich. »Wo ist denn dein unerschütterlicher Optimismus geblieben, Mina? Du bist es doch, die immer behauptet hat, dass man alles schaffen kann, wenn man wirklich will.«

»Ich habe so etwas gesagt? Das muss aber vor langer Zeit gewesen sein.« Mina zwinkerte ihrer Schwester zu.

Agnes lachte. »Ein paar Monate ist es bestimmt schon her, da hast du recht. Aber jetzt ist es an der Zeit, dich daran zu erinnern. Setz dich an deinen Schreibtisch und schreib deinem Schwiegervater einen Brief. Schildere ihm, wie schwierig unsere Lage ist, und bitte ihn um Hilfe.« Sie schnippte mit den Fingern der rechten Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf Minas Brust. »Oder besser noch, schlage ihm ein Geschäft vor, von dem ihr beide profitieren werdet. Er ist doch auch Kaufmann. Selbst wenn er vor Bettelbriefen aus der Familie die Augen verschließt, zu einem guten Geschäft wird er bestimmt nicht Nein sagen.« Sie tätschelte Mina aufmunternd den Arm. »Du machst das schon. Und ich werde mich in der Zwischenzeit damit amüsieren, im anderen Büro die Regale abzustauben. Wenn wir in Kürze wieder im Geschäft sind, soll niemand sagen können, bei Kopmann & Deharde sei in der schlechten Zeit der Schlendrian eingekehrt.«

ZWEI

Es war schon fast Mittag und damit Zeit, nach Hause zurückzufahren, als Agnes ihren Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Bist du endlich fertig mit dem Brief?«, fragte sie. »Die Regale nebenan sind jetzt alle picobello sauber.«

Mina legte den Federhalter auf den Schreibtisch und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Fertig schon. Zufrieden aber nicht.« Seufzend hob sie den beschriebenen Briefbogen hoch und überflog die Zeilen noch einmal. Dann reichte sie das Blatt an Agnes weiter. »Meinst du, man kann den Brief so absenden?«

Agnes nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz und begann zu lesen, während Mina an ihrem Gesicht zu erkennen versuchte, was ihre Schwester dachte. Schließlich reichte Agnes ihr den Briefbogen wieder zurück.

»Kurz, sachlich und ohne weinerliche Bettelei. Vielleicht ein klein bisschen zu geschäftsmäßig zwischen Familienmitgliedern, aber in der Quintessenz ein Brief von einem Erwachsenen an einen anderen. Natürlich kannst du den abschicken. Was hast du denn daran auszusetzen?«

Nachdenklich strich Mina mit der Hand über das Papier. »Ich habe bestimmt zehn Versuche verworfen, ehe ich einen halbwegs angemessenen Tonfall gefunden habe. Ich kenne den alten Lohmeyer ja nicht und habe keine Ahnung, was er von einer Schwiegertochter erwartet. Hinzu kommt, dass ich nicht über alle Einzelheiten Bescheid weiß, die zu dem Zerwürfnis zwischen ihm und Frederik geführt haben. Vielleicht denkt er, dass ich mich einmischen und den Friedensengel spielen will. Wer weiß, wie er das auffasst?«

»Ich glaube, du machst dir viel zu viele Gedanken, Mina.«

»Aber …«

»Nichts aber … Was soll denn schon passieren? Im schlimmsten Fall wird Frederiks Vater einfach nicht auf deinen Brief antworten. Ich glaube aber eher, dass er sich freut, von euch zu hören. Warum sollte er die Gelegenheit nicht ergreifen und Geschäfte mit Kopmann & Deharde machen wollen? Und selbst wenn daraus nichts wird, hast du die Gewissheit, dass du nichts unversucht gelassen hast. Beziehungen schaden doch nur dem, der keine hat.«

Mina seufzte und schob gedankenverloren den Brief mit dem Zeigefinger auf dem Tisch hin und her. »Trotzdem ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, mich in den Streit zwischen Frederik und seinem Vater einzumischen. Das sind Dinge, die vor meiner Zeit passiert sind und mich eigentlich nichts angehen.« Sie hob den Blick und sah Agnes direkt in die Augen. »Halte mich für verrückt, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich diesen Brief noch bitter bereuen werde. Es wäre klüger abzuwarten, bis Frederik zurück ist, und ihn den Brief schreiben zu lassen.«

»Unfug«, sagte Agnes entschieden. »Frederik würde nur versuchen, es dir auszureden, und ich glaube nicht, dass er eine andere Quelle an der Hand hat, von der du Kaffee beziehen kannst. Außerdem trägst du die Verantwortung für den Fortbestand der Firma. Wer sitzt hinter dem Schreibtisch des Chefs, du oder er?«

Mina grinste schief. »Das bin wohl ich.«

»Eben. Also schreib die Adresse auf einen Umschlag, und dann bringen wir den Brief zum Postamt, bevor du es dir anders überlegen kannst.«

Als die Schwestern die Kühle des Speicherhauses verließen und wieder auf die Straße traten, schlug ihnen die Sommerhitze entgegen, die von den Backsteinmauern gespeichert und abgestrahlt wurde. Das Licht der Mittagssonne spiegelte sich im Wasser des Hafenbeckens, so grell, dass Mina instinktiv die Augen zusammenkniff.

»Puh! Was für eine Ofenglut!« Agnes fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Man sollte doch meinen, dass es am Wasser etwas kühler ist als in der Stadt, aber Pustekuchen.«

»Ach komm, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.« Mina zupfte sie am Ärmel. »Das Postamt ist am Kehrwieder. Bis dahin sind es nur ein paar Schritte.«

»Können wir nicht mit dem Auto hinfahren?« Agnes’ Blick wanderte sehnsüchtig zu der Limousine hinüber.

»Unfug. In der Speicherstadt geht man zu Fuß. So war es schon immer, und so wird es auch bleiben. Vielleicht solltest du dir morgen bequemere Schuhe anziehen, wenn du mich zur Arbeit begleiten willst.« Mina zwinkerte ihrer Schwester zu, ehe sie sie unterhakte und mit sich zog. Sie schritten den Sandtorkai entlang und bogen nach links in den Kehrwiedersteg ab, der in einer Brücke mit schmiedeeisernem Geländer über das Fleet führte und im Schatten der hohen Speichergebäude lag. Hier war es deutlich erträglicher. Mitten auf der Brücke blieb Mina stehen und sah über das Wasser in Richtung des großen Hafenbeckens. Unterhalb der Speicherhäuser hatten inzwischen doch ein paar Schuten festgemacht, die entladen wurden. Im fünften Stock eines der Häuser am Sandtorkai stand die Tür zum Speicherboden weit offen, und einige Arbeiter waren gerade dabei, eine Ladung Teepakete nach oben zu ziehen. Die Hieve bestand aus mindestens zwölf hölzernen Kisten, die sorgfältig auf einem Holzrahmen verschnürt waren, sich Stück für Stück nach oben bewegten und sich dabei langsam im Uhrzeigersinn um die eigene Achse drehten. An der offenen Speicherluke angekommen, griffen die Arbeiter danach und zogen sie ins Innere des Hauses. Dann beugte sich einer der Arbeiter vor, legte eine Hand an den Mund und rief etwas nach unten. Der Ewerführer auf der Schute winkte.

»Siehst du, Agnes, Tee wird schon wieder angeliefert«, sagte Mina, ohne den Blick von der Szene zu wenden. »Dann wird der Kaffee auch nicht mehr lange auf sich warten lassen.«

»Und wenn du jetzt den Brief zur Post bringst, ist Kopmann & Deharde bestimmt eine der ersten Firmen, die damit handeln kann.« Agnes drückte Minas Arm, an dem sie sich noch immer untergehakt hielt. »Nun komm schon.«

»Mina?«, sagte plötzlich eine dunkle Männerstimme hinter den beiden jungen Frauen. »Bist du das?«

Mina fuhr herum und sah direkt in die strahlend blauen Augen eines guten Freundes.

»Heiko!«

Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ihre Schwester neben ihr stand, oder darüber nachzudenken, ob jemand sie beobachten könnte, machte sie einen Schritt auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. »Mein Gott, Heiko! Ich bin so froh, dich zu sehen!«

Sie spürte, wie er sie kurz an sich drückte, ehe er sie auf Armeslänge von sich schob. »Mina Deharde«, sagte er grinsend. »Obwohl, Deharde ist es ja nicht mehr. Ich sollte mich inzwischen daran gewöhnt haben, dass du jetzt Lohmeyer heißt. Ich freue mich auch sehr, dich zu sehen.«

Der junge Mann zwinkerte ihr zu und grinste so breit, wie nur Heiko Peters es fertigbrachte. Er wirkte älter als früher, nicht mehr so jungenhaft. Sein feuerrotes Haar lugte statt unter seiner früher üblichen Schiffermütze jetzt unter einem Hut mit modischer Krempe hervor, und sein Vollbart war sorgfältig gestutzt und inzwischen von ein paar weißen Fäden durchzogen. Er schien schmaler als früher, weniger bullig und muskulös, aber vielleicht wirkte es auch nur deshalb so, weil ihm der dunkle Anzug, den er trug, an den Schultern ein bisschen zu weit war. Obwohl sie ihn um einige Zentimeter überragte, hatte Mina früher nie das Gefühl gehabt, größer als er zu sein, jetzt hingegen war der Unterschied deutlich zu spüren.

»Seit wann bist du wieder zurück?«, fragte sie.

»Vor vier Wochen als geheilt aus dem Hospital entlassen worden.« Heiko verzog das Gesicht und hielt seine linke Hand hoch, an der Ring- und kleiner Finger fehlten. »Was man so geheilt nennt. Die Finger sind weg, und ein Schrapnell sitzt noch im Unterschenkel. Aber wenigstens bin ich noch am Leben, was man von den Kameraden meines Zuges nicht behaupten kann. Die ganze Zeit ist es gut gegangen, und in der letzten Schlacht des vermaledeiten Krieges passiert so was.«

Beim Anblick seiner verstümmelten Hand brannte Minas Herz. Doch sie riss sich zusammen und sah ihm ins Gesicht. Sie kannte Heiko lang genug, um zu wissen, dass das Letzte, was er ertragen konnte, Mitleid war.

»Du bist schon vier Wochen wieder hier und hast dich nicht einmal bei mir im Kontor blicken lassen?«, fragte sie gespielt ärgerlich. »Du bist mir ja ein treuer Freund!«

»Tut mir leid, aber ich hatte eine Menge um die Ohren in der letzten Zeit.«

»Zu viel, um bei mir auf einen Muckefuck vorbeizukommen? Nanu? Hast du etwa eine neue Freundin, die dich in Beschlag genommen hat?«

Wurde er tatsächlich ein bisschen rot? »Ach was, Freundin«, brummte er. »Ich musste mich um die Nachfolge der Quartiermeisterei kümmern. Vielleicht hast du es ja nicht mitbekommen, aber mein Vater ist vor ein paar Wochen gestorben.«

Schlagartig wurde Mina ernst. »Nein, davon habe ich nichts gehört. Wie schrecklich, Heiko! Mein Beileid.« Sie streckte ihm ihre Rechte entgegen, die er ergriff und kurz hielt. Er hatte noch immer den festen, herausfordernden Griff von früher.

»Danke, Mina.« Er nickte ihr zu. »Mein alter Herr und ich haben uns zwar nicht immer verstanden, aber es war doch ein ziemlicher Schlag. Er hat Mutters Tod nie wirklich verwunden, und ich glaube, nachdem sie nicht mehr war, hat ihn der Lebensmut verlassen. Jetzt sitz ich jedenfalls allein in dem Haus. Ich werde es wohl verkaufen und mir eine kleine Junggesellenbude suchen.«

Agnes räusperte sich, und schlagartig wurde Mina bewusst, dass sie Heiko ja nicht kannte.

»Heiko, das ist meine Schwester Agnes, die mir künftig im Kontor zur Hand gehen will. Agnes, das ist Heiko Peters, ein sehr alter Freund von mir.«

Agnes lächelte und zog eine Augenbraue hoch. »Das war nicht zu übersehen.« Sie streckte Heiko die Hand entgegen. »Herr Peters, es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Fräulein Deharde«, grüßte Heiko höflich, wobei der Schalk in seinen Augen blitzte. Dann wandte er sich wieder Mina zu.

»Stell dir vor«, sagte er, »ich sitze jetzt in der Bürgerschaft.«

»Was?« Mina machte große Augen.

»Ja. Ich bin bei den Sozialdemokraten nachgerückt und soll mich in Zukunft um die Belange der Kriegsversehrten kümmern. Sie meinten, dafür sei ich geradezu ideal geeignet.« Er lachte.

Mina stimmte mit ein, aber sie fühlte, wie sich in ihrer Kehle ein dicker Kloß bildete. »Wenigstens nimmst du es mit Humor.«

»Was bleibt mir denn übrig?« Heiko zuckte mit den Achseln. »Auf dein Angebot, mal für einen ausgiebigen Klönschnack in deinem Kontor vorbeizuschauen, komme ich gern zurück, sobald ich etwas Zeit habe. Aber bitte keinen Muckefuck, das Zeug kann ich nicht ausstehen. Lass uns lieber Tee trinken, wenn du keinen Kaffee hast.«

»Daran arbeiten wir gerade.« Triumphierend hielt Agnes den Brief an Frederiks Vater in die Höhe. »Wenn sich alles nach Wunsch entwickelt, sollte Kopmann & Deharde in Kürze wieder über Rohkaffee verfügen.«

»Und Peters & Consorten hat reichlich Platz, um ihn unterzubringen.« Heiko lachte. »Aber mal im Ernst, wo soll der Kaffee denn herkommen?«

»Ich habe an meinen Schwiegervater in Guatemala geschrieben und hoffe, dass er an einem Handel mit uns interessiert ist.«