Der Traum von Freiheit - Fenja Lüders - E-Book
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Der Traum von Freiheit E-Book

Fenja Lüders

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Beschreibung

Hamburg Ende der 30er Jahre. Hakenkreuzfahnen wehen über der Hansestadt. Mina ist als erste Frau an der Kaffeebörse zugelassen worden, die Geschäfte laufen gut. Doch heimlich hilft sie ihrem Jugendfreund Edo, flüchtige Juden außer Landes zu bringen. Dabei bringt sie nicht nur die Firma, sondern auch sich selbst in große Gefahr.

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EPUB
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Seitenzahl: 556

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungEINSZWEIDREIVIERFÜNFSECHSSIEBENACHTNEUNZEHNELFZWÖLFDREIZEHNVIERZEHNFÜNFZEHNSECHZEHNSIEBZEHNEPILOG

Über dieses Buch

Hamburg Anfang der 1940er: Hakenkreuzfahnen wehen über der Hansestadt. Die Lage für die Familie Deharde spitzt sich so zu, dass Mina daran denkt, ihre Lieben außer Landes zu bringen. Doch dann braucht Edo ihre Hilfe, um eine Gruppe Flüchtiger zu verstecken, und sie packt mit an, ohne Rücksicht auf die Folgen für das Kontor. Selbst als beim Bombenangriff 43 das Haus in Flammen aufgeht und Mina in den Keller ziehen muss, macht sie weiter. Bis sie sich und andere in große Gefahr bringt …

Über die Autorin

Fenja Lüders, Jahrgang 1961, ist eine waschechte Friesin. Als Jüngste von vier Geschwistern wuchs sie auf einem Bauernhof direkt an der Nordseeküste auf. Für ihr Studium der Geschichte und Politik zog sie nach Oldenburg, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Neben dem Schreiben ist klassische Musik ihre große Leidenschaft.

F  E  N  J  A

L  Ü  D  E  R  S

Der

Traum

von

Freiheit

S P E I C H E R S T A D T - S A G A

Roman

L Ü B B E

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anna Hahn, Trier

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock: Olga_C | Andrekart Photography | powell’sPoint; © Richard Jenkins Photography, London

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-8160-3

luebbe.de

lesejury.de

Für meine Eltern Reinhard und Elfriede – in liebevoller Erinnerung

EINS

Hamburg, 1925

Die Feder des Füllhalters gab ein leises kratzendes Geräusch von sich, während Mina sie über das Papier gleiten ließ. Zeile um Zeile schrieb sie, bis die Seite gefüllt war, dann befeuchtete sie ihren Zeigefinger an der Unterlippe und blätterte um. Wie immer, wenn die Seiten des Einschreibebuches leer vor ihr lagen, hielt sie kurz inne. Sie schaute hoch zu den Porträts ihres Großvaters und Vaters, die an der gegenüberliegenden Wand hingen, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Es geht bergauf, Papa«, murmelte sie. »Endlich kommt das Geschäft wieder richtig ins Laufen. Es ist schon beinahe so wie vor dem Krieg.«

Mina steckte die Kappe auf den Füllfederhalter und legte ihn neben das in dunkles Leder gebundene Buch, das sie in der Schublade ihres Schreibtisches aufbewahrte.

Sie hatte mit dem Tagebuchschreiben angefangen, als sie vor zwölf Jahren die Leitung von Kopmann & Deharde, einer der führenden Kaffeeimportfirmen in der Hamburger Speicherstadt, übernommen hatte. An ihrem ersten Tag als Chefin hatte sie in der Schublade des Schreibtisches, an dem zuvor ihr Vater gesessen hatte, sein Tagebuch gefunden, in dem er wichtige Handelsabschlüsse und denkwürdige Ereignisse festgehalten hatte. Zuerst hatte sie sein Buch weitergeführt – zum Teil aus Respekt vor seinen Angewohnheiten, die sie beibehalten wollte, zum Teil aber auch aus dem Gefühl heraus, ihm beim Schreiben besonders nahe zu sein. Manchmal so nahe, dass sie beim Formulieren und Aufschreiben ihrer Gedanken, Sorgen und Ängste seine beruhigende Stimme in ihrem Inneren zu hören glaubte, die ihr gute Ratschläge gab und Trost spendete.

Inzwischen bewahrte sie zwei von ihr gefüllte Einschreibebücher in der Schreibtischschublade auf, wobei sich ganz zuunterst das alte Tagebuch ihres Vaters befand, das sie hütete wie einen Schatz. Das Buch, was jetzt aufgeschlagen vor Mina auf der abgewetzten Tischplatte lag, war bereits das dritte, und auch das war wieder so gut wie voll. Dabei schrieb sie nur darin, wenn sie allein in ihrem Büro war, und das kam kaum noch vor, seit Edos Schreibtisch ebenfalls im Chefzimmer stand.

Bestimmt war er der einzige Bürovorsteher eines Hamburger Speicherstadtkontors, der seinen Schreibtisch neben dem des Chefs hatte, aber ihre Beziehung war eben auch etwas ganz Besonderes. Sie kannte ihn schon, seit sie ein Kind war und er seine Lehre im Kontor angetreten hatte. Sie hatten sich verliebt, und als er nach Amerika gehen wollte, war sie bereit gewesen, ihm dorthin zu folgen. Doch dazu war es nicht gekommen. Ihr Vater war krank geworden, und sie hatte sich entschlossen zu bleiben, um die Firma in der Familie halten zu können. Aus diesem Grund hatte sie Frederik Lohmeyer geheiratet, der das Kontor an der Kaffeebörse vertreten sollte, zu der Frauen damals keinen Zugang hatten. Es war eine reine Zweckehe gewesen, in der Liebe keine Rolle gespielt hatte.

Dann war der Krieg ausgebrochen, und Frederik war gleich zu Beginn als Offizier der Reserve eingerückt. Mina führte die Firma in den Kriegsjahren allein. So viele der anderen Kaffeeimportfirmen waren in diesen unsicheren Zeiten in Konkurs gegangen, aber durch ihren zähen Einsatz hatte Mina es geschafft, Kopmann & Deharde am Laufen zu halten.

Mina blätterte die bereits beschriebenen Seiten des Buches zurück zum Anfang.

Hier waren die ersten Geschäftsabschlüsse mit ihrem Schwiegervater Paul aufgeführt, der eine Kaffeeplantage in Guatemala besaß und der ihr damals Rohkaffeebohnen geliefert hatte – und es immer noch tat. Ihr Blick fiel auf einen Eintrag darunter aus dem Jahr 1919. Heiko sagt, er hat Edo in einem Sanatorium hier in Hamburg gefunden. Wie soll das möglich sein?

Sie erinnerte sich an das anfängliche Gefühl des Zweifels, das in Gewissheit umgeschlagen war, als sie in dem traumatisierten Kriegsversehrten, der teilnahmslos im Garten des Sanatoriums gesessen hatte, ihren früheren Verlobten Edo erkannt hatte. Er war in den letzten Kriegstagen schwer verletzt worden, hatte ein Auge verloren und war auf dem anderen zeitweilig erblindet.

Heiko hatte Mina überzeugt, Edo aus dem Sanatorium zu holen, und so hatte sie an das mildtätige Herz ihrer Großmutter appelliert, die dem Haushalt vorstand, diesen armen Kriegsheimkehrer in der Villa aufzunehmen. Edo war in der kleinen Kutscherwohnung über der Garage untergebracht worden. Es hatte Wochen gedauert, bis er sich ein bisschen erholt hatte und seine Sehkraft allmählich zurückgekehrt war.

Frederik war damals noch bei der Truppe in Berlin gewesen, doch dann war er überraschend wieder zurückgekommen und hatte sofort alles darangesetzt, die Firma in die Finger zu bekommen. Es wurde immer offensichtlicher, dass er dringend Geld brauchte, weil er sich auf illegale Geschäfte eingelassen hatte. Mina war gezwungen gewesen, einen klaren Schlussstrich unter ihre Ehe zu ziehen.

Zunächst hatte Mina sich von Edo ferngehalten, aber nachdem immer klarer wurde, dass ihre Ehe am Ende war und sie Hilfe im Kontor benötigte, hatte sie Edo zögernd gebeten, ihr mit seiner Erfahrung zur Seite zu stehen, und er hatte zugestimmt. So waren sie sich wieder nähergekommen, und ihre alte Liebe war neu entflammt.

Nein, dachte Mina. So einfach war es nicht. Das, was sie jetzt verband, war viel tiefer als die jugendliche Verliebtheit, die sie vor dem Krieg füreinander empfunden hatten, und ging weit darüber hinaus. Edo war nicht nur ihr Geliebter und der Vater ihrer jüngeren Tochter Amelie, er war zugleich auch ihr engster Freund und wichtigster Mitarbeiter. Sie führten die Firma, für die sie ihre Verlobung damals aufgegeben hatte, gemeinsam und auf Augenhöhe.

Mit einem liebevollen Lächeln sah sie zu seinem Schreibtisch hinüber. Heute war Edo nicht im Kontor. Seit seiner Kriegsverletzung hatte er immer wieder mit Kopfschmerzen zu kämpfen, aber in letzter Zeit war es schlimmer geworden. Zuerst hatte er seine Schmerzen verborgen, dann Mina gegenüber heruntergespielt. Erst auf ihr vehementes Drängen hin hatte er widerwillig zugestimmt, endlich einen Arzt aufzusuchen. Sie warf einen Blick auf die altertümliche Messinguhr, die an der Wand über Edos Schreibtisch hing. Edo war schon seit drei Stunden weg. Hoffentlich hatte der Arzt nichts Ernsthaftes gefunden.

Es klopfte an der Tür, und Mina schrak aus ihren Gedanken hoch. Eilig klappte sie das Tagebuch zu und legte es in die Schublade des Schreibtisches zurück, ehe sie »Herein!« rief.

Die schwere Eichentür öffnete sich, und ihre Schwester Agnes trat ein. Sie hielt einen Stapel Briefe in der Hand.

»Der Postbote war da«, sagte sie lächelnd. »Und er hat eine Menge Arbeit für dich mitgebracht.«

»Wie schön! Endlich wieder was zu tun.« Mina verdrehte die Augen, streckte die Hand aus und nahm die Post entgegen.

»Nun komm schon, du blühst doch auf, wenn du nicht mehr weißt, wo dir der Kopf steht«, sagte Agnes grinsend.

Mina lächelte zurück. »Das ist auch wieder wahr«, sagte sie. »Du kennst mich einfach zu gut.«

»Schon mein ganzes Leben lang«, erwiderte Agnes mit einem Zwinkern.

Sie drehte sich um und ging zur Tür. »Du denkst doch daran, dass ich heute Nachmittag nicht im Kontor bin, nicht wahr? Anton und ich wollen uns ein Haus ansehen.«

»Ach stimmt, das war ja heute.« Mina warf einen Blick auf den Kalender, der auf ihrem Schreibtisch lag. »Für heute Nachmittag sind nur zwei Kaffeemakler eingetragen. Damit werden wir leicht ohne dich fertig. Sobald Edo wieder da ist, kannst du gern aufbrechen.«

»Prima! Drück mir die Daumen, dass dieses Haus endlich das richtige für uns ist.«

Mina hob beide Fäuste in die Höhe.

Agnes lachte, dann verließ sie das Chefbüro.

Es war wirklich höchste Zeit, dass Agnes und ihr Mann Anton eine angemessene Unterkunft fanden. Direkt nach ihrer Heirat vor drei Monaten war Agnes zu Anton in dessen kleine Mansardenwohnung in Winterhude gezogen. Es war eine sehr hübsche Wohnung, wie Mina ihr bestätigte, als sie ihrer Schwester und ihrem frischgebackenen Schwager zum ersten Mal einen Besuch abstattete – hell, modern und zweckmäßig eingerichtet –, aber eben nur mit drei kleinen Räumen und ohne Platz für ein Dienstmädchen.

Großmutter Hiltrud hatte sich bisher strikt geweigert, Agnes dort zu besuchen. Sie war von vornherein gegen die Ehe mit Anton gewesen. Wäre es nach ihr gegangen, dann hätte ihre Lieblingsenkelin einen Kaufmannssohn heiraten sollen, wie es seit jeher Tradition in der Familie gewesen war, nicht so einen dahergelaufenen Musiker wie diesen Herrn Rose, der sein Geld damit verdiente, im Orchester der Oper und auf Tanzveranstaltungen Geige zu spielen. Ihr tiefsitzendes Vorurteil gegen Juden tat ein Übriges, Agnes’ Verlobten abzulehnen.

Hiltrud versuchte alles, um Agnes von ihren Hochzeitsplänen abzubringen. Sie stritt mit ihr, jammerte und klagte, weinte in ihr spitzenbesetztes Taschentuch, drohte damit, Agnes zu enterben – alles vergeblich. Erst als Agnes ihr das Aufgebot unter die Nase hielt und ihr sagte, Großmutter solle sich überlegen, ob sie bei der Hochzeit dabei sein wolle oder nicht, stattfinden werde sie in jedem Fall, gab Hiltrud nach. Es war nur eine kleine Feier geplant, denn die beiden wurden wegen ihres unterschiedlichen Glaubens nur standesamtlich getraut, doch Mina hielt das Versprechen, das sie sich selbst bei ihrer eigenen, sehr schlichten Hochzeit gegeben hatte. Damals hatte sie sich geschworen, Agnes solle eine so wunderbare Hochzeit feiern können, wie die Schwestern es sich als Kinder erträumt hatten, mit einem prächtigen Hochzeitskleid, Blumen, einem festlichen Essen für alle Freunde und viel Tanz und Musik.

Mina lächelte bei der Erinnerung an das überraschte Gesicht ihrer Schwester, als diese nach der Trauung am Arm ihres Mannes die Empfangshalle der Villa betreten hatte, wo all ihre Freunde schon auf sie warteten, um ihnen Glück zu wünschen und mit ihnen zu feiern. Es war ein sehr schönes, ausgelassenes Fest gewesen.

Nachdem das junge Paar von der Hochzeitsreise zurückgekommen war, hatte Agnes verkündet, dass sich außer ihrem Wohnsitz nichts an ihrem Leben ändern würde. Sie würde weiterhin im Kontor arbeiten, wie sie es bislang auch getan hatte und wie Mina es tat. Anton sei nicht nur damit einverstanden, er habe sie sogar in ihrem Entschluss bestärkt.

Ihre Großmutter war außer sich gewesen, und zum ersten Mal hatte es ernsthaft Streit zwischen Hiltrud und Agnes gegeben. Dass Mina sich nicht an die ungeschriebenen Regeln und Gesetze der besseren Gesellschaft hielt, damit hatte Hiltrud sich inzwischen gezwungenermaßen arrangiert, immerhin leitete sie die Firma Kopmann & Deharde. Aber dass Agnes jetzt in ihre Fußstapfen treten wollte, statt das behütete Leben einer Hausherrin zu führen, die ihrem Gatten ein schönes Heim schafft, das ging ihrer Großmutter entschieden zu weit.

»Sie beruhigt sich schon wieder«, sagte Agnes leichthin. »Du wirst sehen, spätestens zu Weihnachten hat sie sich an den Gedanken gewöhnt.«

Anton und Agnes hatten im Mai geheiratet, jetzt war Mitte August, aber bislang war Hiltruds Empörung über das Missverhalten ihrer Enkelin nicht kleiner geworden.

Vielleicht wenn Agnes und Anton ein eigenes Haus beziehen, das groß genug ist, ein Dienstmädchen einzustellen, dachte Mina. Die schlimmste Erniedrigung für ihre Großmutter war, dass Agnes die Hausarbeit momentan notgedrungen selbst erledigte und daran offenbar auch noch Spaß hatte.

Seufzend griff Mina nach dem Stapel Briefumschlägen, die Agnes gebracht hatte, und blätterte sie durch, wobei sie die Absender las.

»Rechnung, Rechnung, Auftrag, Angebot, Bestellung, Rechnung …«, murmelte sie und sortierte dabei die Umschläge in kleinen Stapeln vor sich. Auf einmal stockte ihre Hand, als sie einen Brief mit einem ihr unbekannten Absender in den Fingern hielt. Er kam von einem New Yorker Anwaltsbüro.

Mina runzelte die Stirn und drehte den Brief um. Er war an Edward Becker oder Edo Blumenthal persönlich gerichtet.

Edo hatte noch nie Post aus Amerika bekommen, seit er wieder im Kontor arbeitete. Was mochte der Anwalt wohl von ihm wollen? Vielleicht hing der Brief mit der Zeit vor dem Krieg zusammen, die er in Amerika verbracht hatte und über die er nie sprach.

Einen Augenblick lang war sie ernsthaft versucht, den Brief zu öffnen. Sie könnte behaupten, es sei ein Versehen gewesen, der Brief habe zwischen den anderen gelegen und sie habe nicht bemerkt, dass er an Edo gerichtet war. Doch nachdem sie den Umschlag eine gefühlte Ewigkeit angestarrt hatte, legte sie ihn entschlossen ganz an den Rand der Schreibtischplatte. Sosehr sie sich auch wünschte, zu wissen, was der Brief enthielt, er war es nicht wert, Edo anzulügen.

Sie nahm den Brieföffner, schlitzte den ersten Umschlag der Briefe auf dem Rechnungsstapel auf, faltete das Papier auseinander und begann zu arbeiten.

Mina war gerade mit den Bankanweisungen fertig und hatte sich den Bestellungen zugewandt, da öffnete sich die Tür des Büros ohne ein Klopfen, und Edo trat ein. Er lächelte ihr zu, und Mina musste sich wie so oft eingestehen, dass er trotz der Narben, die seine linke Gesichtshälfte wie ein weißes Netz überzogen, und trotz der Augenklappe noch immer ein gut aussehender Mann war. Er war hochgewachsen und sehr schlank, was ihn noch größer wirken ließ. Das dunkelbraune, wellige Haar trug er länger, als es modern war, und frisierte es so, dass es einen Teil der Narben bedeckte, die bis in die Stirn reichten. Das gab seinem Gesicht etwas Verwegenes. Wenn sein bester Freund und Ziehbruder Heiko aussah wie ein Wikingerfürst, so glich Edo eher dem romantischen Idealbild eines Piraten. Jedenfalls solange er nicht den in der Speicherstadt üblichen Bowlerhut trug.

»Das hat aber lange gedauert«, sagte Mina ebenso lächelnd. »Hat der Arzt so viele Untersuchungen mit dir gemacht?«

»Nein«, erwiderte Edo. »Ich musste nur ewig warten, bis ich dran war.« Er ging zu ihrem Stuhl, beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Wange. »Habe ich etwas verpasst?«

»Nein. Ein ruhiger Vormittag ohne Vorkommnisse. Die zwei Makler mit den Proben aus Brasilien und Kolumbien, die du sehen wolltest, kommen erst heute Nachmittag.« Mina sah ihm prüfend ins Gesicht. »Was hat der Arzt gesagt?«

Edo zuckte mit den Achseln und setzte sich auf die Kante des Schreibtisches. »Was soll er schon sagen? Das Übliche, was er immer sagt. Dass es immer wieder zu diesen Schüben von Kopfschmerzen kommen kann und dass ich mich doch langsam daran gewöhnt haben sollte, dass meine Hände zittern. Er hat gut reden!«

Mina nahm seine Hand und hielt sie in ihrer fest. Sie konnte das Zittern in ihrer Handfläche fühlen. »Du musst Geduld haben. Es geht dir doch schon so viel besser.«

Ein schmales Lächeln flog über sein Gesicht, aber es erreichte seine braunen Augen nicht. »Das sagt mein Arzt auch immer.«

Mina lachte leise. »Dann muss es ja stimmen.« Sie ließ seine Hand los und lehnte sich zurück. »Und was wird der Arzt jetzt wegen deiner Kopfschmerzen unternehmen?«

»Ach, was soll er denn tun? Er hat gesagt, wenn es unerträglich wird, soll ich mehr von den Morphiumtropfen nehmen. Mehr fällt ihm nicht ein, schätze ich.«

»Du musst dir mehr Ruhe gönnen, Edo. Nicht so viel arbeiten, dir nicht so viele Sorgen um alles machen«, sagte Mina. »Ich bin zwar kein Arzt, aber mir ist aufgefallen, dass es schlimmer wird, wenn du dich zu sehr anstrengst.« Sie sah forschend zu ihm hoch. »Ich habe doch recht, oder?«

»Du kennst mich einfach zu gut.« Er lächelte ihr zu, und diesmal strahlte sein verbliebenes Auge auf. »Bist du schon bei den neuen Bestellungen?«

»Gerade angefangen«, erwiderte Mina.

»Dann gib mir die Rechnungen. Ich mache die Bankanweisungen fertig.« Er streckte die Hand nach dem Stapel mit Papieren aus und stand auf.

»Da ist übrigens ein Brief für dich gekommen«, sagte Mina beiläufig und deutete auf den Umschlag, der noch ungeöffnet auf dem Schreibtisch lag.

»Für mich?«, fragte er erstaunt.

Mina nickte nur, beobachtete aber aus den Augenwinkeln, wie er danach griff und beim Anblick des Absenders die Stirn runzelte. Er nahm ihren Brieföffner, schlitzte den Umschlag auf und faltete den Briefbogen auseinander. Ihr entging nicht, wie blass er wurde, als er zu lesen begann.

»Etwas Wichtiges?«, fragte sie so leichthin, wie sie konnte. Edo reagierte nicht, sondern ging zu seinem Schreibtisch hinüber und setzte sich wortlos. Er las angestrengt weiter, drehte das Blatt um und ließ es schließlich sinken. Langsam nahm er seine Brille ab und rieb sich das Auge.

»Was ist denn los?«, fragte Mina besorgt. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Hm?« Edo hob den Kopf und blickte sie an. »Ein Gespenst? Ja, so könnte man es nennen. Nur dass ich das Gespenst bin.« Er lachte bitter. »Sie haben mich gefunden. Nach all den Jahren haben sie mich tatsächlich gefunden.«

Es war so still im Raum, dass das Ticken der Messinguhr über Edos Schreibtisch deutlich zu hören war. Mina wartete ab, ob Edo weitersprechen würde, doch er schien in Gedanken ganz weit weg zu sein.

Schließlich, als die Stille in ihren Ohren zu dröhnen begann, stand sie auf und ging zu ihm. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und strich mit dem Daumen über den glatten Stoff seines schwarzen Anzugs.

»Was ist denn los, Edo?«, fragte sie leise. »Was sind das für Leute, die dich suchen? Und warum bist du so besorgt darüber, dass sie dich gefunden haben?«

Edo drehte das Gesicht in ihre Richtung, schaute aber sofort wieder weg. Seine Hand, die deutlich mehr als üblich zitterte, griff erneut nach dem Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Willst du den Brief lesen?«, fragte er. »Er ist allerdings auf Englisch.«

»Dafür wird mein Englisch kaum ausreichen«, sagte sie. »Erzähl mir lieber, was drinsteht.«

Endlich sah er ihr in die Augen. »Das wird nicht so einfach, Mina. Es ist eine lange, unschöne Geschichte, und meine Rolle darin ist nichts, worauf ich stolz sein kann.«

»Das ist egal, Edo.« Sie zog sich den Stuhl heran, der vor ihrem Schreibtisch stand und auf dem normalerweise ihre Besucher Platz nahmen, setzte sich zu ihm und nahm seine Hände in ihre. »Erzähl einfach, und ich werde dir zuhören.«

»Der Brief ist von dem Anwaltsbüro, das früher schon meinen Vetter Robert vertreten hat. Du weißt doch, ich habe in Amerika eine Zeit lang als seine rechte Hand bei ihm im Geschäft gearbeitet und die Bücher für ihn geführt.«

Mina nickte nur.

»Ein paar Monate lief alles wunderbar in der Werkstatt. Wir hatten sehr viel zu tun und machten gute Gewinne, sodass Robert anfing, dieses Geld in andere Firmen zu investieren. Er beteiligte sich an einem Hotel und kaufte sich in einen Autohändler ein. Auch das schien erfolgreich zu sein. Das Geld floss ihm nur so zu. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass bei diesen Geschäften etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Mal fehlten größere Summen auf dem Geschäftskonto, dann wieder tauchten dort Gelder auf, die ich nicht zuordnen konnte. Irgendetwas war faul an Roberts Geschäften, und wenn ich sage faul, dann meine ich, es grenzte ans Kriminelle. Ich hatte keine Ahnung, woher diese Einzahlungen kamen, geschweige denn, wohin die Gelder ausgezahlt wurden. Eine gewisse Zeit habe ich versucht, mir selbst etwas vorzumachen. Ich habe mir eingeredet, Robert macht nichts Illegales. Er hat Familie – und Verantwortung seinen Mitarbeitern gegenüber. Also habe ich alles getan, um seine krummen Geschäfte zu vertuschen.«

»Du hast die Bilanzen gefälscht«, sagte Mina tonlos. Sie lehnte sich zurück und ließ dabei seine Hände los.

Edo schaute hoch, und sie sah den Schmerz, der in seinem Blick lag.

»Ja«, sagte er heiser. »Das habe ich.«

Die Ungeheuerlichkeit dieses Geständnisses machte sie sprachlos. Neben ihrem Vater war Edo für sie immer das Abbild eines ehrbaren Hamburger Kaufmanns gewesen. Ein Kaufmann stand stets zu seinem Wort, er sorgte für das Wohlergehen seiner Angestellten, er übervorteilte niemanden, und vor allem war er ehrlich und betrog nicht.

»Ich will das nicht beschönigen, aber vielleicht kann ich versuchen, es zu erklären«, fuhr Edo fort. »Du musst verstehen, in Amerika ist das Leben ganz anders als hier, Mina. Das Geschäft ist viel härter. Wenn du eine gute Geschäftsidee hast und ein Quäntchen Glück, dann kannst du sehr schnell sehr viel Geld machen, aber wenn du Pech hast, kannst du auch ebenso schnell ins Bodenlose abstürzen, und niemand wird dir auch nur eine Träne nachweinen. Es ist wie in einer Wolfsgrube. Die Starken fressen die Schwachen, und zu denen durfte ich nicht gehören.«

Er stockte kurz, ehe er weitersprach. »Ich hatte damals gerade erst geheiratet und hatte ein kleines Haus für uns gekauft, als die Unregelmäßigkeiten in Roberts Firma anfingen und ich damit begann, die Bilanzen zu schönen. Doch dann fehlte auf einmal so viel Geld, dass wir die Rechnungen und Löhne nicht mehr zahlen konnten und kurz vor dem Konkurs standen. Ich ging zu Robert nach Hause, um in Ruhe mit ihm zu reden. Ich wollte ihn fragen, wo das Geld geblieben war und wie er aus dem Schlamassel wieder herauszukommen gedachte, aber es gab keine Gelegenheit dazu. Der Salon war voller Leute, hauptsächlich wohl Gläubiger und Lieferanten, die auf ihr Geld warteten. Seine Frau saß schluchzend auf dem Sofa und klammerte sich an die Kinder. Als sie mich sah, zeigte sie mit ausgestrecktem Finger auf mich und schrie immerzu: ›Er war es, er ist schuld! Wir werden auf die Straße geworfen, und es ist seine Schuld.‹«

Mina schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Oh Gott, das muss furchtbar gewesen sein. Und was hast du dann gemacht?«

»Ich wollte mich rechtfertigen, wollte klarstellen, wie es wirklich war, aber Robert drehte mir das Wort im Munde um und machte mir vor seinem Publikum eine theaterreife Szene. Er habe mich in sein eigenes Haus aufgenommen, mich behandelt wie einen Bruder, und das sei jetzt der Dank dafür! Ich sei schuld an dem Konkurs der Firma, weil ich mit dem Geld der Firma spekuliert und in die eigene Tasche gewirtschaftet hätte. Ein Verbrecher sei ich! Ein nichtsnutziger, dreckiger Deutscher!«

Edo rieb sich die Stirn. »Ich war einfach fassungslos und wie vor den Kopf geschlagen. Ich habe mich weder gerechtfertigt noch gewehrt. Alles, was ich tun konnte, war, mich umzudrehen und zu gehen.«

Er blickte Mina in die Augen. »Verstehst du? Dass jemand so ohne jeden Skrupel die dreistesten Lügen in die Welt setzt, nur um die eigene Haut zu retten, das war etwas völlig Neues für mich. Innerlich habe ich mich trotz allem noch immer als Hamburger Kaufmann gesehen, die Prinzipien von Ehre und Anstand sind mir in diesem Kontor so lange vorgebetet worden, dass sie mir in Fleisch und Blut übergegangen sind. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass Robert, der für mich so etwas wie ein großer Bruder war, mich beschuldigte, ihn bestohlen zu haben.«

Der Schmerz über diese Enttäuschung spiegelte sich auch jetzt noch deutlich in Edos Gesicht wider.

»Hast du denn die Anschuldigungen nicht später aufklären können?«, fragte Mina.

»Ich hatte es vor, aber dazu kam es nicht mehr. Ich war gerade zu Hause angekommen und hatte begonnen, meiner Frau Ann zu erzählen, was passiert war, da klingelte es an der Tür, und zwei Polizisten fragten nach mir. Ich war im Wohnzimmer geblieben und hörte, wie Ann ihnen sagte, ich hätte das Haus am Morgen verlassen und sie wisse nicht, wann ich zurück sei. Sie glaubten ihr und zogen wieder ab. Eigentlich wollte ich zur Polizei gehen und Roberts Lüge aufklären, aber Ann beschwor mich, es nicht zu tun, sondern die Stadt sofort zu verlassen. Robert sei ein angesehener Geschäftsmann, meinte sie, ich dagegen ein Niemand, dem keiner glauben werde, zumal ich Deutscher sei. Zu diesem Zeitpunkt waren die Vereinigten Staaten zwar noch nicht in den Krieg eingetreten, aber die Stimmung im Land war schon gegen die Deutschen aufgeladen, und es hatte in Toledo bereits ein paar Übergriffe auf Deutsche und etliche eingeschlagene Fensterscheiben gegeben. Kein Wunder, dass Ann Angst hatte. Ich denke, sie hatte recht damit.« Edo holte tief Luft. »Ich ließ ihr so viel Geld da, wie ich erübrigen konnte, kaufte mir ein Zugticket nach New York und verließ unser Haus noch in derselben Stunde.«

Er schwieg mit gesenktem Kopf.

»Und dann?«, fragte Mina ungeduldig.

»Für ein paar Wochen blieb ich in New York. Ich wohnte in einer billigen Pension und gab mein ganzes Geld dafür aus, einen Pass mit einem neuen Namen zu bekommen.«

Mina nickte. »So wurdest du also zu Edward Becker.«

Ein schmales Lächeln umspielte seinen Mund einen Moment lang. »Nicht sehr einfallsreich, ich weiß, aber Becker ist nun einmal ein gängigerer Name als Blumenthal.« Edos Gesicht wurde wieder ernst. »Schließlich schrieb ich Ann einen Brief und fragte, ob ich zurückkommen könne, um Roberts Anschuldigung aus der Welt zu schaffen. Erst nach Wochen schrieb sie mir zurück, dass ich besser nicht wieder nach Toledo kommen solle. Robert habe sich nach dem Konkurs der Firma mit seiner Familie abgesetzt, es ginge das Gerücht um, er sei vor den Gläubigern in den Westen des Landes geflohen. Ann schrieb, die Polizei suche nach wie vor sowohl nach ihm wie auch nach mir. Ihr selbst gehe es gut, sie habe vor, wieder zu ihren Eltern zurückzuziehen, da sie das Haus habe verkaufen müssen. Das war das letzte Mal, dass ich von ihr gehört habe. Ich schrieb ihr noch eine Zeit lang jede Woche eine Nachricht, aber ich habe keine Antwort mehr von ihr erhalten.«

»Merkwürdig. Ob ihr etwas zugestoßen ist?«

»Ich weiß es nicht.« Edo zog in einer hilflosen Geste die Schultern hoch. »Vielleicht hat sie auch einfach nur jemand anderen kennengelernt.«

»Ihr wart verheiratet. Oder besser gesagt, ihr seid es genau genommen immer noch.« Mina holte tief Luft. »Und du bist nie auf die Idee gekommen, Nachforschungen anzustellen oder nach ihr zu suchen?«

Einen Augenblick wirkte Edo beschämt, zuckte dann jedoch mit den Achseln. »Das muss sich für dich unglaublich herzlos anhören, Mina, aber weißt du, unsere Ehe war mehr so etwas wie eine Zweckgemeinschaft, nicht die große Liebe. Wir beide hatten Vorteile dadurch, dass wir geheiratet haben. Ann konnte ihr Elternhaus mit dem tyrannischen Vater verlassen. Und ich? Ich hatte meine engstirnige kleine Rache an dir.«

Edo sah Mina in die Augen. »Es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber das ist die Wahrheit. Ich wollte dir damals durch die Hochzeit mit Ann heimzahlen, dass du in Hamburg geblieben bist und Frederik geheiratet hast.«

Sie hielt seinem Blick lange stand. In seinen von Narben durchzogenen Gesichtszügen lag kein Vorwurf, und seine Worte hatten wie eine nüchterne Feststellung geklungen. Mit seinem verbliebenen braunen Auge schaute er sie warm an.

Sie beugte sich vor, griff nach seiner Hand und hielt sie in ihrer fest. »Das Einzige, was zählt, sind die Gegenwart und die Zukunft, Edo. Und die gehören uns beiden.«

Er hob ihre Hand an sein Gesicht und schmiegte für eine Sekunde seine Wange daran. »Ich weiß. Und dafür bin ich dir dankbar.« Seine Lippen berührten ihre Finger. »Die Gegenwart und die Zukunft«, sagte er nachdenklich. »Ich hoffe nur, dass uns die Vergangenheit nicht einen Strich durch diese Rechnung macht.«

»Was befürchtest du?«, fragte sie. Sie spürte, wie seine Finger, die sie immer noch locker umfasst hielt, wieder zu zittern begannen. »Worum geht es in diesem Schreiben aus Amerika?«

Edo ließ ihre Hand los, um nach dem Brief zu greifen, der neben ihm auf dem Tisch lag, und den Inhalt noch einmal zu überfliegen.

»Wenn ich das richtig verstehe, wird Robert der Prozess gemacht, und ich soll als Zeuge auftreten«, sagte er müde. »Ich frage mich nur, warum man ihn nach zehn Jahren noch vor Gericht stellt.«

»Bist du dir denn sicher, dass es um den Konkurs der Firma in Toledo geht?«

»Nein, das geht aus dem Schreiben nicht hervor, aber was soll es sonst sein? Worüber sollte ich sonst Auskunft geben können?«

»Schick ein Telegramm an das Anwaltsbüro und frag nach, was sie von dir wollen«, sagte Mina. »Oder besser noch, schreib zurück, dass es sich um einen Irrtum handelt und du diesen Robert Blumenthal gar nicht kennst. Dieses Leben liegt weit hinter dir, Edo.«

Edo sah sie lange an, dann schüttelte er langsam, aber entschlossen den Kopf. »Nein, Mina«, sagte er fest. »Ich bin schon viel zu lange vor meiner Vergangenheit weggelaufen. Es wird Zeit, endlich damit aufzuhören. Ich werde nach Amerika fahren, meine Aussage machen und die Wahrheit darüber sagen, was damals vorgefallen ist.«

»Aber …«

Mina wollte ihm erklären, dass sie das für eine dumme Idee hielt, und überdies sei es völlig überflüssig. Sein Leben war hier, bei ihr. Was ging ihn denn jetzt noch dieser Vetter an, der da vor Gericht stand? Warum sollte Edo eine Schiffsreise von einer Woche auf sich nehmen, nur um eine Aussage zu machen und sich damit möglicherweise selbst zu belasten? Was, wenn er wegen der Fälschung der Bücher auch vor Gericht gestellt würde?

Doch dann sah sie Edos Gesicht und verstummte. Sie erkannte, wie ernst es ihm damit war. Diese Jahre in Amerika und seine darauffolgende Zeit an der Front waren etwas, worüber er bislang kaum gesprochen hatte, und wenn, dann nur in vagen Andeutungen. Was ihm damals zugestoßen war, hing wie ein undurchdringlicher Vorhang zwischen ihnen, an den sie nie zu rühren gewagt hatte, um Edo nicht noch weiter von sich zu entfernen.

Wenn er eine Möglichkeit sah, durch seine Aussage die Vorwürfe gegen ihn zu entkräftigen oder gar ganz aus der Welt zu schaffen, wer war sie, Mina, denn, ihm das ausreden zu wollen? Ihn aus falscher Sorge dazu bringen zu wollen, bei ihr in Hamburg zu bleiben, wäre zum einen selbstsüchtig, und sehr wahrscheinlich würde es zudem die Kluft zwischen ihnen nur breiter machen.

Mina liebte Edo viel zu sehr, als dass sie das ertragen könnte.

Sie holte abermals tief Luft und ließ sie langsam wieder durch die Nase entweichen, während sie Edo unverwandt anschaute. »Soll ich mit dir kommen?«, fragte sie leise.

Sein erstaunter Blick sagte ihr, dass er nicht mit ihrer Reaktion gerechnet hatte.

»Nein«, sagte er bestimmt. »Dafür besteht kein Grund. Es gibt in der Firma so viel zu tun in den nächsten Wochen, wenn die neue Ernte eintrifft, dass …«

»Lass es mich anders formulieren, Liebster«, unterbrach Mina ihn. »Darf ich mit dir kommen?«

Edo schwieg einen Moment. Sein Blick ruhte mit solcher Wärme und Liebe auf ihr, dass Minas Brust für ihr Herz zu eng zu werden schien.

Er schüttelte langsam den Kopf. »Wie sehr ich dich liebe, Mina«, sagte er und nahm ihr Gesicht zärtlich in beide Hände. »Meine Mina. Niemand außer dir würde ein solches Angebot machen. Aber ich kann und werde es nicht annehmen, verstehst du das? Ich muss allein nach Amerika fahren, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Nur dann kann ich das endlich abschließen und vergessen. Und es wird mir leichterfallen, Hamburg zu verlassen, wenn ich meine Familie und alles, was mir wichtig ist, hier in deinen Händen lassen kann. Nur dann bin ich sicher, dass es noch unverändert ist, wenn ich zurückkomme.«

Edo zog sie in seine Arme und küsste sie. Mit äußerster Anstrengung widerstand Mina ihrem Wunsch, sich an ihm festzuklammern wie eine Ertrinkende. Wenn es so wichtig für ihn war, musste sie ihn gehen lassen, das wusste sie. Nur wenn er das Kapitel Amerika abschließen konnte, würde die Lücke zwischen ihnen kleiner werden.

Sie drängte die Tränen zurück, die in ihren Augen brannten, löste ihre Lippen von seinen und lächelte ihn an, während ihre Fingerspitzen über seine Wange strichen.

»Also gut, einverstanden. Wir buchen für das nächste Schiff nach New York eine Kabine für dich. Je eher du fährst, desto schneller bist du wieder hier«, sagte sie. »Du kommst doch zurück, versprichst du das? Wage es bloß nicht, mich mit der Arbeit ganz allein zu lassen, wenn die Ernte aus Guatemala ankommt.«

Es hatte wie ein Scherz klingen sollen, aber als sie Edos Blick sah, wusste sie, dass er nicht auf ihren scherzhaften Ton hereingefallen war.

»Natürlich komme ich zurück, Mina«, sagte er ernst. »Ich bin, so schnell ich kann, wieder da, du hast mein Wort darauf. Und eins solltest du wissen: Das Wort eines Hamburger Kaufmanns ist mehr wert als ein Eid vor Gericht.«

ZWEI

Edo bat Mina darum, niemandem etwas über den wahren Grund seiner Reise in die Vereinigten Staaten zu erzählen, und sie versprach es ihm auf Treue und Gewissen. Im Kontor und auch an der Kaffeebörse hieß es nur, Herr Becker werde nach New York reisen, um mit den dortigen Banken zu verhandeln. Auch wenn es ungewöhnlich war, dass ein Prokurist solche Aufgaben übernahm, so war es doch nichts noch nie Dagewesenes, und niemand fragte nach, nicht einmal Edos bester Freund und Ziehbruder Heiko Peters, der sich bloß ein wenig wunderte.

»Komisch, dass er persönlich hinfahren will und das nicht per Post oder Telefon regelt. Ich hatte immer den Eindruck, Edo würde sich eher den Fuß abhacken lassen, statt dieses Land noch einmal zu betreten«, brummte er bei einem seiner täglichen Besuche in Minas Büro. »Menschen ändern sich im Laufe der Jahre«, fügte er mit einem Achselzucken hinzu. »Manche weniger, andere mehr.«

Mina ließ es sich nicht nehmen, Edo persönlich zum Pier zu bringen, von wo aus das Passagierschiff nach New York ablegte, auch wenn er meinte, er könne sich ebenso gut ein Taxi nehmen.

Eine merkwürdige, nicht greifbare Angst flatterte in ihrem Magen, als sie an der Gangway zur ersten Klasse standen, um sich zu verabschieden. Sie wusste selbst nicht, was ihr solche Sorgen machte, aber all ihre Nerven waren angespannt, so als stünde irgendein Unglück bevor, von dem sie weder wusste, was es war, noch, wie man es verhindern könnte.

Vielleicht war es aber auch nur die Erinnerung an jenen Herbstmorgen vor etlichen Jahren, als sie an genau dieser Stelle schon einmal Abschied voneinander genommen hatten, weil Edo nach Amerika aufgebrochen und sie in Hamburg zurückgeblieben war. Sie hatte ihn danach fast sieben Jahre lang nicht mehr gesehen, bis Heiko seinen Bruder zufällig in einer Irrenanstalt gefunden hatte. Seit sie wieder zueinandergefunden hatten, waren Mina und Edo nicht einen Tag voneinander getrennt gewesen.

Vielleicht fällt mir dieser Abschied deshalb so schwer, dachte Mina. Nun komm schon, Mina, reiß dich zusammen!

Sie streckte das Kreuz durch und zwang sich zu einem Lächeln, während sie fürsorglich den obersten Knopf seines Mantels schloss. Ein ruppiger Wind wehte von der See her und brachte kalte Regentropfen mit sich. »Pass gut auf dich auf, Edo!«, sagte sie. »Nicht dass du dich übernimmst und in Amerika krank wirst und dortbleiben musst. Du wirst hier gebraucht!«

»Keine Sorge, Mina. Ich bin viel zäher, als ich aussehe.« Edo, der die Krempe seines dunklen Filzhutes wegen des Windes tief ins Gesicht gezogen hatte, zwinkerte ihr mit dem gesunden Auge zu. »Außerdem habe ich dir bestimmt schon hundert Mal gesagt, dass es nicht nötig ist, mich zu bemuttern.«

»Ich kann nun einmal nicht aus meiner Haut. Das Bemuttern kommt automatisch, wenn man Kinder hat oder sich Sorgen um jemanden macht.«

»Dazu besteht aber doch gar kein Grund. Ich bin ja nur ein paar Tage weg; in zwei, spätestens drei Wochen bin ich wieder zurück«, versicherte Edo. »Gib den Kindern jeden Abend ihren Gutenachtkuss von mir, und pass auf, dass Frau Kruse sie nicht heimlich mit Kuchen vollstopft.«

Mina musste lachen. »Wenn Lotte und Fräulein Brinkmann nicht aufpassen würden, dann könnte man Ella und Amelie allmählich kugeln.«

»Siehst du, jetzt lachst du endlich wieder.«

Edo griff nach Minas Schultern und zog sie an sich. »Es gibt keinen Grund zur Sorge, Mina«, wiederholte er mit warmer Stimme. »Wirklich nicht! Ich werde mich von vorn bis hinten bedienen lassen und meine Schiffspassage genießen wie eine Luxuskreuzfahrt. Nach meiner Ankunft fahre ich mit dem Zug nach Toledo, mache meine Aussage und komme postwendend zurück. Und garantiert bin ich lange vor den Briefen, die ich dir schreiben werde, wieder bei dir.«

Plötzlich war da ein dicker Kloß in Minas Hals, und sie musste zwinkern, um die Tränen zurückzudrängen. »Versprochen?«, fragte sie heiser.

»Mit Hamburger Kaufmannsehrenwort!« Edo küsste sie.

Alles wollte sie sich einprägen. Die Weichheit seiner Lippen, die auf ihren lagen, den Duft seines Bartöls, das sich mit dem Geruch von Kernseife und Rasierwasser mischte und so typisch für ihn war. Sie spürte das leichte Zittern seiner Finger, als er die Kontur ihres Gesichtes nachzeichnete. Und sie sah die kleinen Fältchen im Winkel seines rechten Auges, das dunkel und liebevoll auf ihr ruhte.

»Bis bald, meine Mina!«, sagte er und drückte einen Kuss auf ihre Hände, die er in seine genommen hatte.

»Bis bald, Edo. Und wenn irgendetwas ist, schickst du mir sofort ein Telegramm, ja?«

Edo seufzte. »Ich wüsste zwar nicht, weswegen, aber ja. Falls etwas passiert, schicke ich dir natürlich ein Telegramm.«

Der uniformierte Steward an der Gangway räusperte sich vernehmlich.

»Es wird Zeit, sonst legt das Schiff noch ohne mich ab.« Edo umarmte Mina ein letztes Mal und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, ehe er sie losließ und mit großen Schritten die Gangway hinauflief. Oben angekommen blieb er stehen und winkte ihr zu. Dann wandte er sich um und verschwand im Inneren des Schiffes.

Edo war noch nie ein Freund langer und tränenreicher Abschiede gewesen. Vor allem wusste er, dass Mina es nicht gutheißen würde, wenn er sich noch länger in dem kalten Wind aufhielte.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie bei der Gruppe von Leuten stehen bleiben sollte, die mit Taschentüchern winkend darauf warteten, dass das Passagierschiff von den Schleppern in die Fahrrinne geschleppt wurde. Doch dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf und ging eilig durch den Regen zu ihrem Automobil zurück und setzte sich hinter das Steuer.

Am liebsten wäre sie jetzt nach Hause gefahren, hätte sich in ihrem Zimmer verkrochen oder sich zu Fräulein Brinkmann ins Kinderzimmer gesetzt und eine Weile mit ihren Töchtern gespielt, aber es war erst später Vormittag, und sie wusste, wie viel Arbeit noch auf ihrem Schreibtisch auf sie wartete. Sie seufzte resigniert, startete den Motor ihres Cabriolets und steuerte die Speicherstadt an. Der Wagen war erst vor einem Monat geliefert worden und ersetzte die in die Jahre gekommene Limousine, die ihr Vater noch vor dem Krieg gekauft hatte. Mina hatte lange gezögert, sich ein neues Automobil zuzulegen, aber die letzten zwei Jahre waren sehr erfolgreich gewesen, und von den Kaufleuten an der Kaffeebörse war sie als Einzige noch mit einem Vorkriegsmodell herumgefahren.

Sie stellte das dunkelblaue Mercedescabriolet vor den Warenschuppen am Sandtorkai ab und strich liebevoll mit den Fingern über den glänzenden Lack. Edo hatte die Farbe ausgesucht.

»Elegant, aber nicht aufdringlich«, hatte er gemeint. »Ganz so, wie man sich eine erfolgreiche Geschäftsfrau vorstellt. Das Auto sollte etwas über seinen Besitzer aussagen.«

Mina lächelte bei der Erinnerung daran und fühlte den scharfen Schmerz in ihrem Inneren, den sie von früher noch so gut kannte. Sie vermisste Edo schon jetzt, dabei war er doch kaum abgefahren. Wie sollte das nur in den nächsten zwei oder drei Wochen werden?

»Reiß dich zusammen, Mina. Haltung zeigen!«, murmelte sie. Sie straffte die Schultern und überquerte – eine Lücke zwischen den Lastwagen und Fuhrwerken nutzend – die Straße, die an den hochaufragenden Speichergebäuden entlangführte.

Neben dem Eingang zu Nummer 36 hingen einige Firmenschilder, eines davon war neu. Es war aus schwarz glänzendem Bakelit, auf dem in goldenen Lettern der Name Kopmann & Deharde – Caffee-Import und Export zu lesen stand. Mina hatte das alte Emailleschild, das an den Ecken zu rosten begonnen hatte, vor ein paar Monaten ersetzen lassen. Sie trat durch die schmucklose Tür und lief die Treppe zum Kontor hoch. Beim Näherkommen hörte sie leise Stimmen und Schreibmaschinengeklapper. Dann lachte jemand glucksend, und andere Stimmen fielen in das Gelächter ein.

Dieses Lachen hätte Mina überall erkannt: Ihre Freundin Irma Peters schien auf einen Sprung vorbeigekommen zu sein und unterhielt offenbar wieder mal das gesamte Kontor mit ihrem trockenen Humor.

Mina öffnete schwungvoll die Eichentür des Büros und trat ein. »Guten Morgen, zusammen!«, rief sie. Wie auf Kommando verstummte das Gelächter, die Angestellten drehten sich zu ihr und murmelten einen Gruß, ehe sie sich wieder der Arbeit zuwandten.

Beinahe wie damals, als Papa noch das Kontor geleitet hat, dachte Mina amüsiert. Wenn der Chef ins Büro kommt, sind auf einmal alle still.

»Guten Morgen, Mina!«, rief Irma strahlend. Sie erhob sich von dem Stuhl, den sie sich neben Agnes’ Schreibtisch gezogen hatte, kam auf Mina zu und deutete einen Kuss auf ihre Wange an. »Ich habe meine Brut für den Vormittag dem Mädchen aufs Auge gedrückt, um zwischendurch mal was anderes zu hören als das ewige Kindergezänk. Wer hat nur behauptet, es würde besser, wenn man zwei hat, weil die dann so schön miteinander spielen können?« Irma rollte theatralisch die Augen. »Nicht wenn man lauter rothaarige Sturköpfe in die Welt setzt, die sich prügeln wie die Hafenarbeiter.«

»Glaub nicht, dass meine Mädchen besser sind!«, erwiderte Mina lachend. »Die prügeln sich zwar nicht, aber sie piesacken sich, wo sie nur können. Schwestern eben!« Als sie Agnes’ entrüsteten Gesichtsausdruck sah, zwinkerte sie ihr zu. »Anwesende sind natürlich ausgenommen. Ist noch Kaffee da?«

»Ich habe vorhin eine Kanne für dich gemacht und warm gestellt«, sagte Agnes.

»Danke, das ist lieb von dir.« Mina wandte sich zu Irma. »Hast du Zeit für eine Tasse und einen Klönschnack?«

»Ich hatte gehofft, dass du das fragst. Ist der schon von der neuen Ernte deines Schwiegervaters?«

»Nein, die kommt erst in zwei oder drei Wochen. Bis dahin müssen wir uns mit dem Kaffee vom Vorjahr begnügen.«

Mina nahm ihren Hut ab, zog den Mantel aus und hängte beides an die Garderobe. »Habe ich was Wichtiges verpasst, meine Damen?«, fragte sie in die Runde ihrer Büroangestellten.

Es stimmte, es saßen ausschließlich Frauen im Vorraum des Kontors. An den beiden Schreibtischen unter den schmalen Fenstern saßen Fräulein Jansen und Fräulein Neumann an ihren Schreibmaschinen. Mina hatte sie im letzten Jahr eingestellt, als das Geschäft endlich wieder so gut lief, dass sie, Edo und Agnes nicht mehr allein mit der Arbeit fertig werden konnten. Erich, der junge Mann, der seit dem letzten Frühling seine Lehre bei Kopmann & Deharde absolvierte, war vermutlich gerade in der Speicherstadt unterwegs und neben Edo der einzige männliche Mitarbeiter des Kontors.

»Nein, alles ruhig an der Westfront!«, sagte Agnes und erhob sich von ihrem Schreibtisch, an dem schon früher der Platz des Bürovorstehers gewesen war. Sie nahm einen Stapel Briefumschläge, der vor ihr gelegen hatte, und reichte ihn an Mina weiter. »Der Postbote war eben da.«

»Danke, Agnes.« Mina nahm die Umschläge entgegen und blätterte sie flüchtig durch, konnte aber nichts Eiliges darunter entdecken. »Hast du viel zu tun oder leistest du Irma und mir Gesellschaft?«

»Gib mir fünf Minuten, dann komme ich dazu. Ich möchte nur noch schnell dieses Angebot fertig machen.«

»Fein, also bis gleich.«

Mina nickte ihr zu, ehe sie gefolgt von Irma ins Chefbüro hinüberging. Sie legte die Briefe auf den Schreibtisch und ging dann zum Vertiko, das neben der kleinen Sitzecke am Fenster stand, wo sie drei Kaffeetassen herausnahm, die sie auf dem runden Tischchen vor den Sesseln verteilte. Irma setzte sich auf ihren angestammten Platz unter dem Fenster und holte aus ihrer Handtasche eine kleine Tüte heraus.

»Ich war so frei und habe ein paar Kekse mitgebracht. Den Kaffee können wir doch unmöglich trocken hinunterwürgen, wie meine Mutter immer sagt.«

Mina lachte, während sie die Kanne, die mitten auf dem Tisch stand, von dem Kaffeewärmer befreite und für Irma und sich selbst einschenkte. »Wie geht es ihr denn, hast du kürzlich etwas von ihr gehört?«

»Gut, denke ich. Ich habe letzte Woche mit ihr telefoniert. Da klang sie ganz munter.«

»Telefoniert?« Mina machte ein verwundertes Gesicht. »Nanu? Sie wollte doch nie ein Telefon haben.«

»Stimmt, aber ich konnte sie schließlich doch überreden. Ich habe einfach gesagt, stell dir vor, du wirst wieder einmal so krank wie im letzten Frühling, als du die Lungenentzündung hattest. Dann musst du nur anrufen, und ich steige in den nächsten Zug und komme zu dir, so schnell ich kann. Das hat sie anscheinend überzeugt.« Irma wählte eine schokoladenüberzogene Waffel aus und steckte sie in den Mund. »Hm!«, machte sie genüsslich. »Diese Dinger sind eine Sünde wert.«

»Das ist aber eine sehr kleine Sünde, deswegen musst du dir keine Sorgen um dein Seelenheil machen«, sagte Mina grinsend.

»Nein, um mein Seelenheil nicht, höchstens um meinen Hüftumfang«, gab Irma ebenso grinsend zurück. »Auf der anderen Seite, wenn der Bauch erst mal wächst, sind die Hüften sowieso kein Problem mehr.«

»Aber Irma!«, rief Mina erschrocken. Sie stellte die Tasse, die sie gerade zum Mund geführt hatte, auf den Tisch zurück, ohne getrunken zu haben. »Ich dachte …«

Irma zuckte mit den Schultern. »Ärzte wissen auch nicht alles!«, sagte sie mit einem Achselzucken. »Da haben sie zu mir gesagt, ich kann keine Kinder mehr bekommen, aber das war wohl ein Irrtum. Ich bin guter Hoffnung.«

»Sie haben nicht davon geredet, dass du keine Kinder mehr bekommen kannst, sondern dass du keine mehr bekommen solltest. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Beim letzten Mal wärst du fast gestorben, hast du das etwa vergessen?«

»Du übertreibst maßlos, Mina. Ich war nur ein wenig angeschlagen.«

»Unfug! Ich war doch dabei!«

Es war etwas über ein Jahr her, dass Irma nach zwei Tagen in den Wehen ein totes Kind geboren hatte und danach beinahe verblutet wäre. Es hatte Wochen gedauert, bis Irma sich von der schweren Geburt halbwegs erholt hatte. Jeden Tag hatte Mina sie besucht und versucht, sie etwas aufzumuntern. Eines Tages hatte sie den Arzt nach seinem Besuch abgepasst und ihn nach Irmas Zustand gefragt. Da der Doktor sie fälschlicherweise für Irmas Schwester hielt, hatte er bereitwillig Auskunft gegeben. Es habe eine Weile auf Messers Schneide gestanden, hatte er gesagt und mit unheilschwangerer Stimme hinzugefügt, Mina solle ihrer Schwester ins Gewissen reden, besser kein weiteres Kind mehr zu bekommen. Die nächste Geburt würde Irma höchstwahrscheinlich nicht überleben.

Aber Irma hatte nichts davon wissen wollen, als Mina sie darauf angesprochen hatte. Ihre beiden Jungs waren ihr ganzer Stolz, und sie liebte sie sehr, aber sie wünschte sich nun einmal sehnlichst noch eine Tochter.

»Söhne bekommt man für den Vater«, hatte sie gesagt. »Töchter gehören einem selbst. Das weißt du doch am besten, Mina! Es gibt keine engere Verbindung als die zwischen Mutter und Tochter. Sieh dir nur mal Ella und Amelie an, wie sehr die beiden an dir hängen!«

Mina war kein Gegenargument eingefallen, das Irma vom Gegenteil überzeugt hätte. Es stimmte ja. Besonders die kleine Amelie hing sehr an ihrer Mutter und genoss jede Sekunde, die sie zusammen verbrachten. Die Kleine saß auf ihrem Schoß, den Daumen im Mund, und ließ sich stundenlang von ihrer Mutter Märchen vorlesen, ohne sich zu rühren. Ella hingegen fühlte sich als Schulmädchen für so etwas schon viel zu groß. Allerdings platzte sie beinahe vor Stolz, wenn Mina sie gelegentlich mit ins Kontor nahm, so wie Minas Vater es früher mit seiner Ältesten getan hatte. Ella war ein selbstbewusstes kleines Ding mit einem wilden blonden Lockenkopf, strahlenden graublauen Augen und einem wachen Verstand. Und als Mina sie an den Kaffeeproben hatte schnuppern lassen, hatte sie am Aufblitzen in Ellas Augen gesehen, dass auch ihre Tochter das besaß, was ihr Vater als »Kaffee im Blut« bezeichnet hatte.

Es klopfte an der Tür, und Agnes betrat das Büro, ohne Minas Herein abzuwarten.

»Na, hat Irma dir schon die große Neuigkeit verraten?«, fragte Agnes. »Das ist doch eine tolle Nachricht, oder?«

Sie nahm sich einen Keks, lümmelte sich in einen der Sessel und schlug die Beine übereinander, während sie neugierig von einer zur anderen sah. »Nanu? Habt ihr zwei dicke Luft miteinander?«

Mina ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Schließlich seufzte sie. »Nein. Wir haben nicht gestritten.« Sie sah zu Irma hinüber. »Natürlich ist es eine schöne Nachricht, dass du wieder ein Kind bekommst, Irma. Glaub bitte nicht, dass ich mich nicht für dich freue, aber …« Sie brach ab.

»Aber?«, hakte Irma nach einem Moment der Stille nach.

»Ich habe eben Angst um dich.«

»Ach Unfug! Ich bin wieder völlig gesund, sagt mein Arzt.«

»So, sagt er das …« Mina zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe.

»Ja, genau das sagt er.« Irma stellte ihre Tasse mit so viel Schwung auf die Untertasse zurück, dass sie klapperte. »Ich habe mich von der Sache im letzten Jahr erholt, und ich freue mich auf dieses Kind. Diesmal ist alles anders, das spüre ich!« Sie beugte sich ein wenig vor und schaute ihrer Freundin eindringlich in die Augen. »Es geht mir wirklich gut, Mina. Ich habe überhaupt keine Beschwerden in dieser Schwangerschaft. Mir ist morgens nicht einmal übel. Vielleicht ist das ja ein Zeichen, dass es ein Mädchen wird, was meinst du?« Sie zwinkerte Mina lächelnd zu.

Mina nickte nur. Vielleicht war ihre Sorge um Irma wirklich unbegründet. Ihre Freundin sah aus wie das blühende Leben. Ihre Augen leuchteten, ihr dunkles Haar glänzte, und auf ihren Wangen lag ein rosiger Schimmer. Aber da war auch Minas Erinnerung, die sich über das Bild legte. Irma, die mit halb geschlossenen Augen in ihrem Bett lag, so blass vom Blutverlust, dass sich ihre Züge kaum von dem Weiß der Laken abhoben. Wieder fühlte Mina die Angst in sich aufsteigen, ihre beste Freundin und Vertraute zu verlieren, und sie schluckte hart, um sich im Griff zu behalten.

»Jetzt ist es sowieso zu spät, sich über irgendein ›Was-wäre-wenn‹ Gedanken zu machen«, sagte Irma gut gelaunt. »Ich bekomme wieder ein Kind. Das ist eine Tatsache, an der weder Heiko noch ich etwas ändern möchten, selbst wenn wir es könnten. Wir beide sind so glücklich wie lange nicht.«

»Das ist schön zu hören, Irma!« Mina zwang sich zu einem Lächeln. »Natürlich freue ich mich für euch. Ganz ehrlich, das tue ich! Ich weiß ja, wie sehr du unter dem Verlust des Babys gelitten hast, und es ist gut, dass es dir wieder besser geht.«

Bei Minas Worten flog ein Schatten über Irmas Gesicht, doch sogleich lächelte sie wieder. »Schwamm drüber!«, sagte sie und winkte ab, dann wandte sie sich Agnes zu. »Und wann ist es bei euch so weit, dass ihr für Nachwuchs sorgt?«, fragte sie. »So langsam wird es doch mal Zeit dafür, oder? Dein Anton ist schließlich auch nicht mehr der Jüngste.«

»Darüber denken wir im Moment noch nicht nach«, gab Agnes zurück. »Anton sagt, zuerst einmal müssen wir ein Haus finden, dann können wir es auch mit Kindern füllen, und ich bin ganz seiner Meinung.«

Irma sah sie verwundert an. »Ich dachte, ihr hättet inzwischen ein Haus gefunden.«

Agnes seufzte und nahm sich einen weiteren Keks. »Dachten wir auch, aber wir sind im letzten Moment überboten worden.«

»Ach, wie ärgerlich.«

»Ich hatte Agnes angeboten, ihr das Geld für ein weiteres Angebot zu leihen«, sagte Mina, froh, das Thema wechseln zu können. Ihr war einfach nicht wohl bei dem Gedanken an Irmas erneute Schwangerschaft. »Aber die zwei wollten nichts davon wissen.«

»Stimmt. Das Haus war laut Anton nämlich bei unserem ursprünglichen Angebot schon zu teuer bezahlt, und höher wollte er auf gar keinen Fall mit dem Preis gehen.« Agnes zog eine Grimasse. »Es ist wie verhext. Irgendwo in Hamburg muss es doch ein kleines Haus geben, das uns beiden gefällt und das wir uns auch leisten können.«

»Ach, bestimmt gibt es das«, sagte Irma tröstend. »Ihr müsst nur Geduld haben und weiterhin die Augen offen halten. Oder aber ihr nehmt Minas Angebot an und gebt mehr Geld aus, als ihr ursprünglich vorhattet.«

»Darüber ist mit Anton nicht zu reden. So fortschrittlich seine Ansichten sonst auch sind, in der Hinsicht ist er eisern. Er will das Haus von unserem eigenen Geld kaufen. Er sagt, das verlangt sein Ehrgefühl, uns selbst unser Heim zu schaffen.«

»Sparsamkeit ist ja eine löbliche Eigenschaft, und ein wenig Stolz schadet sicher auch nicht, aber in diesem Fall grenzt das schon an Sturheit«, stellte Irma trocken fest. »Anton sollte lieber froh sein, dass er sich das Geld in der Familie leihen kann, statt es einer Bank für die Zinsen in den Rachen werfen zu müssen.« Sie wandte sich zu Mina um. »So wie ich dich kenne, hättest du ihm das Geld doch zinslos gegeben, oder?«

»Natürlich«, sagte Mina achselzuckend. »Großmutter wollte Agnes das Geld auch leihen, damit Agnes endlich angemessen wohnen kann, aber davon wollte Anton erst recht nichts wissen.«

»Dann ist es bei Anton nicht Sturheit, sondern Dummheit«, stellte Irma mit einem Nicken fest.

»Im Gegenteil, in diesem Fall kann ich Anton sogar sehr gut verstehen«, sagte Mina. »Wenn man bedenkt, wie Großmutter die Verbindung zwischen den beiden hintertrieben und wie sie Anton behandelt hat, hätte ich mich genauso verhalten. Und ich glaube, ich wäre nicht so höflich geblieben wie er, wenn ich ihr Geld abgelehnt hätte.«

Agnes grinste breit. »Du hättest ihr deutlich mitgeteilt, wohin sie sich ihr Geld stecken soll.«

»Agnes!«, rief Mina.

»Wieso, es stimmt doch. Damit hättest du dir allerdings eingehandelt, dass sie tödlich beleidigt gewesen wäre und vermutlich jahrelang nicht mehr mit dir geredet hätte. Und unter solchen Umständen mit ihr unter einem Dach zu leben, das möchte ich mir lieber nicht vorstellen.«

»Du warst schon immer diplomatischer als ich.« Mina hob ihre Tasse in die Höhe wie ein Sektglas, mit dem sie ihrer Schwester zuprosten wollte.

Auch Agnes hob ihre Tasse. »Darum ergänzen wir uns so gut, meine Liebe!« Sie trank ihren Kaffee aus und erhob sich. »Tut mir leid, euch jetzt verlassen zu müssen, aber ich muss wieder an die Arbeit zurück. Die Angebote schreiben sich schließlich nicht von allein, wie ihr wisst!« Agnes nickte den beiden Frauen zu und verließ das Büro.

»Sie macht sich wirklich gut, nicht wahr?«, fragte Irma, nachdem sich die Tür hinter Agnes geschlossen hatte.

»Ja, wirklich. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, als sie damals im Kontor angefangen hat, aber Agnes hat das Vorzimmer komplett im Griff.«

»Dann fehle ich dir ja nicht mehr.« Irma lächelte, aber ihre Augen wirkten traurig.

»Natürlich fehlst du mir hier, Irma«, beeilte sich Mina zu versichern. »Wenn du nicht gewesen wärst, dann hätte ich das Kontor nach dem Krieg längst nicht so schnell wiederaufbauen können. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, du würdest wieder zu deiner alten Stelle zurückkehren, wenn deine Jungens erst einmal alt genug sind. Aber nun?«

»Nun komme ich eben ein paar Jahre später wieder. So lange schaffst du es auch allein. Du hast Agnes, und du hast Edo, die dir bei der Arbeit helfen. Du brauchst mich gar nicht.«

»Oh doch, Irma, ich brauche dich.« Mina presste die Lippen zusammen und schluckte. »Du bist meine beste Freundin, und ich könnte es nicht ertragen, wenn …« Sie verstummte.

»Ach, Mina!« Irma beugte sich vor und griff nach Minas Hand. »Kinder zu bekommen ist keine Krankheit, das weißt du selbst. Wie ich vorhin schon sagte, es geht mir prima, und ich wüsste nicht, warum sich das ändern sollte. Mach dich bitte nicht verrückt.«

Mina senkte den Blick und schaute auf Irmas Hand hinunter, die auf ihrer lag. »Das kann ich nicht verhindern. Ich mach mir nun mal Sorgen, Irma.« Sie umfasste die Hand ihrer Freundin und drückte sie. »Bitte versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst und dich schonst, so gut du kannst, ja?«

»Das werde ich. Großes Ehrenwort!« Irmas Blick verschleierte sich ein wenig, doch dann zwinkerte sie Mina zu. »Ich werde mich von jeglicher Arbeit fernhalten, die Jungens von meinem Dienstmädchen beaufsichtigen lassen und mich nicht mehr aus dem Haus trauen, um mich bloß nicht anzustrengen. Aber nur wenn du mir versprichst, mich jeden Tag zu besuchen, damit ich mich nicht zu Tode langweile.« Sie lachte und zog Mina an sich.

Mina stimmte in das Lachen ein, auch wenn ihr nicht danach zumute war. Für einen Moment drückte sie die schmale Gestalt ihrer Freundin fest an sich und versprach es auf Ehre und Gewissen.

Ab dem folgenden Tag machte Mina es sich zur Angewohnheit, auf dem Nachhauseweg vom Kontor einen Umweg über Heikos und Irmas kleines Häuschen in Bahrenfeld zu machen. Sie vergewisserte sich, dass es Irma gut ging und sie sich nicht überanstrengte, trank mit ihr zusammen eine Tasse Tee und hörte sich dabei an, was Jens und Bernd, die sechs- und vierjährigen Jungs von Heiko und Irma, wieder ausgefressen hatten, ehe sie sich nach einer Stunde auf den Heimweg machte.

Die Einzige, die über dieses Arrangement gar nicht glücklich war, war Minas Großmutter Hiltrud, die sich beschwerte, dass Mina ständig zu spät zum Abendessen erschien. Gegessen werde in diesem Haus seit Menschengedenken pünktlich um sechs Uhr, sagte sie spitz, und sie habe nicht vor, von dieser Regel abzuweichen, egal, ob im Kontor nun viel zu tun sei oder sie sich nach dem Befinden von Comtesse Irma erkundigen wolle.

Eine Woche nach Edos Abreise traf ein Telegramm von ihm im Kontor ein, in dem er ihr mitteilte, dass er nach ruhiger Überfahrt New York erreicht habe und sich am folgenden Tag auf den Weg nach Toledo mache. Mina zählte bereits die Tage bis zu seiner Rückkehr. Eine Woche hatte die Hinreise gedauert, eine Woche hatte er vor, in Toledo zu bleiben, eine Woche würde er für die Rückfahrt brauchen. Einundzwanzig lange Tage … Und mit jedem Tag wurde die Sehnsucht nach Edo größer und schwerer zu ertragen.

In ihrem Büro ertappte sie sich dabei, sich zu Edos Schreibtischstuhl umzuwenden, um ihn um Rat zu fragen, welchen Preis sie in einem Verkaufsangebot veranschlagen oder ob sie auf eine Charge Rohkaffee aus Brasilien bieten sollte. Dann lag sein Name schon auf ihren Lippen, und erst im letzten Moment fiel ihr ein, dass Edo ja gar nicht mit im Raum war, sondern dass ein ganzer Ozean zwischen ihnen lag.

Für einen Moment dröhnte ihr Herzschlag in ihren Ohren, und ihr Inneres krampfte sich vor Sehnsucht nach ihm schmerzhaft zusammen. Sie hatte sein Gesicht so klar und deutlich vor Augen, als säße er dort drüben auf seinem Stuhl und lächelte sie an. Jede Einzelheit sah sie: sein braunes, welliges Haar, die Nickelbrille und die schwarze Augenklappe vor dem fehlenden linken Auge, während der Blick aus dem braunen rechten warm auf ihr lag. Sie sah den kurz geschnittenen dunklen Vollbart, der die schmalen Wangen bedeckte und der den größten Teil der Narben verbarg, die sich über seine linke Gesichtshälfte zogen. Und sie sah seine Lippen, so voll und sanft geschwungen, die sich zu einem Lächeln formten.

Ja, sie liebte Edo mit jeder Faser ihres Herzens. Sie hatte ihn schon damals als kleines Mädchen geliebt, aber jetzt, da sie beide erwachsen waren und ihre Kämpfe mit dem Leben ausgefochten und etliche verloren hatten, liebte sie ihn so viel mehr. In solchen Momenten wurde ihre Brust ganz eng, und sie musste tief Luft holen, um ihrem Herzen wieder Raum zu verschaffen.

Schließlich war die eine Woche, die Edo in Toledo verbringen wollte, so gut wie um, und Mina erwartete, dass er sich melden würde, mit welchem Schiff er zurückkommen werde. Doch das versprochene Telegramm blieb aus.

Zwei Tage vergingen, dann ein dritter, und noch immer hatte Edo keine Nachricht geschickt. Jeden Vormittag wartete sie ungeduldig auf den Postboten und schrak bei jedem Klopfen an der Tür zusammen.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Agnes, der Minas Nervosität nicht entgangen zu sein schien. »Du sitzt ja den ganzen Tag wie auf glühenden Kohlen.«