Der glückliche See - Jan Kossdorff - E-Book

Der glückliche See E-Book

Jan Kossdorff

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Beschreibung

Vier Geschwister, ihre Eltern, die Erinnerung an den Großvater, die Verbundenheit mit einer Stadt: 2022 kommt eine Familie am Ufer des Traunsees zusammen, um ihren Zusammenhalt in unsicheren Zeiten zu feiern. Doch Veränderungen und Turbulenzen kann sie nicht verhindern – und auch nicht, dass manche Dinge sich wiederholen. Sie sind keine durchschnittliche Familie in der Kleinstadt Gmunden im Salzkammergut: Die Kinder tragen Namen wie Jola oder Aino, der Vater war Hausmann, und die Mutter verdiente als Fotografin das Geld. Jeder kennt sie in der Stadt, auch weil der Großvater Professor am Gymnasium und Hobbydichter war. Doch alles ändert sich: Die Geschwister Aino, Valentin, Jola und Leander sind heute zwischen 40 und 50 Jahre alt und leben zwischen den USA und Salzburg, die Eltern sind geschieden. Auch wenn Humor, Herzlichkeit und die Ablehnung von Spießertum immer noch auf dem Familienbanner stehen, zieht der widerständige Geist der Familie in den Kompromissen des Alltags oft den Kürzeren. Die Zeiten werden schwieriger, Träume bleiben manchmal nur Träume, und was anderen zustößt, scheint plötzlich auch einen selbst treffen zu können. Anlässlich des Besuchs der jüngsten Tochter Aino, die in New York lebt, versammeln sich die Geschwister und Eltern an einem Sonntag im Januar im Haus des Vaters am Traunsee. Ein wunderschöner und humorvoller Gegenwartsroman über eine Familie, deren Mitglieder ihre Beziehungsnetze in alle Richtungen auswerfen.

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Seitenzahl: 433

Veröffentlichungsjahr: 2025

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JAN KOSSDORFF

Geb. 1974 in Wien. 2009 lieferte er mit Sunnyboys sein Romandebüt, bei Milena erschienen anschließend die Romane Spam! (2010), Kauft Leute (2013) und zuletzt Horak am Ende der Welt (2021). Zwischen den Büchern Journalist und Werbetexter. Kossdorff ist Vater von zwei Kindern, er ist in Wien und manchmal am Traunsee zu Hause.

Milena

Inhalt

HAUPTFIGUREN DES ROMANS

TEIL 1 JANUAR

1

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5

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TEIL 2 APRIL

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TEIL 3 JULI

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TEIL 4 OKTOBER

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TEIL 5 DEZEMBER

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71

HAUPTFIGUREN DES ROMANS

Die Eltern:

Max: Mitte siebzig, Gastronom

Monika: Anfang siebzig, Fotografin

Die Geschwister:

Leander: Anfang fünfzig, Sportagent

Jola: Ende vierzig, Bildhauerin

Valentin: Anfang vierzig, Puppenbühnenbetreiber

Aino: Mitte dreißig, Touristikerin

TEIL 1 JANUAR

1

Valentin beobachtete durch das Sichtfenster des Kasperltheaters, wie die letzten Kinder mit ihren Eltern den Saal verließen. Zurück blieben verschobene Sessel, verstreute Maisbällchen und ausgequetschte Fruchtsaftpäckchen.

Valentin hatte immer noch die Zahnprothese im Mund, dank derer sein »Pezi« so lustig sprach. Seine Kollegin Pia kniete auf ihrer Spielbank und hatte die Augen weit aufgerissen, wie immer, wenn sie Kasperl war. Sie hatten noch ein Lied singen wollen, aber die Kinder hatten das Stichwort verpasst und gedacht, es sei vorbei – was die Eltern für einen schnellen Rückzug nutzten.

»Du, Kasperl«, sagte Valentin in Pezis Stimme in der Stille ihres Sperrholzkabuffs.

»Jaaa, Pezi?«

»Dem Thomas Bernhard hat jemand seine Jacke gestohlen!«

»Waaaaas?!«

»Ja, echt! Der Michel Houellebecq hat das Haus vom Bernhard besucht, und danach war seine Jacke weg!«

»Aber Pezi, der Mischell Coolpack ist doch ein berühmter Schriftsteller, der hat doch bestimmt eine eigene Jacke!«

»Ja, aber der mag den Bernhard ja ganz viel, der wollte seine Jacke! So eine schöne Trachtenjacke! Und die trägt er jetzt immer, wenn er sich in Paris seine Baguettes kaufen geht!«

Pia gluckste und ließ den Kasperl sinken.

Valentin nahm die Zahnprothese heraus und legte den Pezi nieder.

»Hab ich in der FAZ gelesen«, sagte Valentin.

»Was, echt?«

»Er war in Ohlsdorf auf Bernhards Hof, hat die Jacke anprobiert und war begeistert, wie gut sie ihm steht. Und dann hat er sie nicht mehr ausgezogen.«

»Geil.«

»Und der Herr Fabjan, der Bruder vom Bernhard, hat später gesagt, sie hätten sie ihm überlassen, also könne man nicht von Stehlen sprechen.«

»Das heißt, keiner hat sich getraut zu sagen: Aber jetzt zieh die Jacke mal hübsch wieder aus, du Lump!«

»Der Houellebecq ist ein Genie, wenn der meine Jacke will, gebe ich sie ihm auch.«

Nach dem Abbau setzten sich Valentin und Pia auf die Stiege, die von dem kleinen Prunksaal des Schlosses, in dem am Samstagnachmittag das Kasperltheater stattfand, zur Terrasse führte. Sie rauchten eine Zigarette und starrten in den nebligen Park mit den in Planen verpackten Zitrusbäumen.

»Du weißt, dass morgen ausfällt, oder?«, sagte Valentin.

»Ja.«

»Meine Schwester Aino kommt aus den USA.«

»Wie viele Geschwister hast du noch mal?«, fragte Pia.

»Wir sind vier.«

»Ich kenn deine ältere Schwester, wie heißt sie?«

»Jola.«

»Genau. Künstlerin, oder?«

»Bildhauerin.«

Valentin dachte daran, dass ihm Jola eine Präsentation für einen Wettbewerb geschickt hatte, irgendwas mit Holocaust, und dass er ihr noch eine Antwort schuldete.

2

Jola kniete auf der Promenade am See und betrachtete einen roten Regenschirm, der verkehrt auf der Wiese zwischen Gehweg und Wasser lag. Dahinter das Schloss Orth im See, links und rechts die knorrigen kahlen Bäume der Esplanade.

»Dort kommt es hin?«, fragte ihre Freundin Sandra, die neben ihr stand und Jolas Blick in Richtung Schirm folgte.

»Das ist jedenfalls mein Vorschlag«, sagte Jola und fühlte, dass sie immer noch unsicher mit der genauen Position war. »Sie wollten es beim Friedhof haben, gegenüber dem Kriegerdenkmal, aber das geht gar nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil Soldaten Täter und Opfer zugleich waren, das kannst du nicht gleichstellen.«

»Täter und Opfer zugleich … Ist dir das selbst eingefallen?«

»Das hab ich aus der Literatur … Außerdem kennen nur die Gmundner den Friedhof, da verirrt sich kein Tourist hin.«

»Und hier, so direkt vor dem Schloss …?«

Sandra sah Jola an, als würde ihre Freundin heiliges Territorium für sich beanspruchen.

»Schau, ich schlage es ihnen vor. 75 Jahre lang wurde der Geschichte der ermordeten Juden der Stadt nicht gerade überenthusiastisch gedacht – wenn ihnen das heute wirklich ein Anliegen ist, dann muss die Botschaft die Leute auch erreichen.«

»Ja, klar«, murmelte Sandra und starrte auf den Schirm, als wäre er mehr als eine Markierung der Position, als wäre er bereits das Kunstwerk.

»Es ist nur, du weißt, sie haben es nicht so mit Veränderung.«

»Na ja, das Naturschutzgebiet für Hotelparkplätze zu roden, lässt sich offenbar auch mit wertkonservativer Beständigkeit vereinbaren.«

»Ist noch nicht entschieden.«

»Ach, komm …«

Jola stand auf und zog das Handy aus ihrer Jackentasche. Sie zeigte ihrer Freundin eine 3D-Animation des Mahnmals vor dem See.

»Das Podest ist aus Stahl, die Namen sind herausgefräst. In der Nacht leuchtet es von innen, die Namen strahlen nach außen. Die Skulptur ist doppelt so hoch wie das Podest, keramischer Steinton.«

Jola zoomte auf die Figuren der Skulptur hin, aneinandergepresste nackte Menschen.

»Ein Kind …«, sagte Sandra, als sie die Figur einer Frau sah, die ein Mädchen im Arm hielt.

»Ich weiß nicht, ob Kinder dabei waren«, sagte Jola, »aber ich dachte, falls doch, will ich auch für sie einen Stellvertreter schaffen.«

»Was sagt denn Irma zu der Skulptur?«

Irma war Jolas vierzehnjährige Tochter.

»Sie findet sie sehr schön. Sie ist überhaupt total interessiert an dem Projekt. Weißt du, was sie gemacht hat?«

Sandra sah sie neugierig an.

»Sie hat eine Kurzgeschichte über die Skulptur geschrieben. Von einem Paar, das zufällig hier vorbeispaziert und in das Thema hineingezogen wird. Richtig gut!«

»Wow!«

»Ja. Aber weißt du, was mir aufgefallen ist: Der Mann kommt wahnsinnig schlecht weg dabei.«

»Ach Gott. Aber das darf dich jetzt eigentlich nicht wundern …«

Jola sah Sandra mit einer Spur von Verstimmung an. Sie sollte ihr nicht immer alles von ihrem Mann erzählen.

3

Als Leander die Autobahn verlassen hatte und die Salzkammergutstraße Richtung Ischl fuhr, eröffnete sich ihm der Blick auf den See, an diesem trüben Januartag stahlgrau, glatt und leer, mit Dunst über den Ufern.

Leander dachte, anderen Orten fehlte dieser Moment des Ankommens, dort wurde man von der Peripherie begrüßt und lauwarm auf die Ankunft eingestimmt. Hier war es eine Kuppe, die man mit dem Auto überwand, und dann lag der See in all seiner Schönheit vor einem, und alles, was man für diesen Ort empfand, schaltete sich in diesem einen Augenblick ein.

Sein Blick schweifte ab, er suchte nach den Zimtkaugummis, die ihm bei der Abfahrt von der Autobahn in den Fußraum gefallen waren, und wenn er den Kopf schon so nahe bei der Schaltung hatte, konnte er gleich nachprüfen, ob das pfeifende Geräusch, das sein alter Jaguar seit Linz von sich gab, vom Gebläse herrührte oder doch aus dem Motorraum kam – darauf tippte er, denn dies wäre sicher aufwendiger und teurer zu reparieren.

Die Straße senkte sich zum See hinab, Leander setzte sich wieder auf, nahm den Fuß leicht vom Gas und rollte den Berg hinunter nach Altmünster.

Vor ihm leuchteten Bremslichter auf, bei der Ortseinfahrt stauten sich die Autos. Während sie Stoßstange an Stoßstange wie in einer Prozession in den Ort einfuhren, klopfte Leander mit den Fingern auf das Wurzelholzlenkrad und sah seitlich aus dem Fenster: das Ufer des Sees in der Dämmerung, Spaziergänger mit Hunden, Jugendliche mit Mopeds, die unbeeindruckt von der Kälte in dünnen Jacken zusammenstanden und rauchten. Die alten Vespas waren wieder angesagt, vielleicht war seine eigene darunter, die er ’89 oder ’90 nach Pinsdorf verkauft hatte. Erstaunlich, wie manche Erinnerungen an Farbe und Schärfe gewannen, wenn die eigene Lebenserwartung durch eine schlechte medizinische Nachricht auf einmal drastisch verkürzt war.

Leander bog rechts in Richtung Ortszentrum ab, folgte der Straße für ein paar Minuten, bis linker Hand das alte Sporthotel auftauchte, in dem er seit Jahren abstieg. Er parkte den Wagen in der Tiefgarage des Hotels, legte einen großen Karton, den er immer im Kofferraum hatte, unter die Ölwanne des Jaguar und fuhr mit dem Aufzug in die Lobby. Die Lifttüren öffneten sich und boten einen Ausblick auf Salzkammergut-Schick mit cremefarbenen Loungemöbeln, eine Rezeptionistin im Dirndl und einen Screen mit Regionalwerbung über ihr. Der Geschäftsführer, der gerade durch die Vorhalle ging, begrüßte Leander, als er aus dem Aufzug trat.

»Was ist geschehen?«, stammelte Leander und sah sich verwirrt um.

»Wir haben renoviert«, sagte der Mann.

»Das seh ich …«

»Es war Zeit für was Neues. Den Gästen gefällt’s!«

»Die alte Rezeption, die Ski, die Bauernmöbel – was ist damit?«

»Na weg!«

»Na weg?«

»Alles wurmstichig! Jetzt ist es so. Und wir finden’s schön.«

»Und die Bar?«

»Schau rein, ich lad dich auf einen Whisky ein.«

»Vielleicht später …«

Leander checkte beim Dirndl ein, dann fuhr er auf sein Zimmer. Dort war alles unverändert, immerhin, trotzdem hatte er schon unten beschlossen, nicht mehr hierherzukommen. Er setzte sich auf das Bett und öffnete seine Tasche. Er nahm das Necessaire mit dem Mistelpräparat und dem Besteck heraus.

Leander ließ die Hose herunter, zog eine Spritze auf und setzte sich eine Injektion in den Oberschenkel. Dann ließ er sich auf das Bett zurückfallen und dachte daran, wie er vor zwanzig Jahren mit Melinda hier gewesen war, einer schwarzen Frau auf Ski, später die Mutter seines Sohnes.

Er sollte es ihm sagen …

4

Die Straßenlaternen von Gmunden hatten sich schon eingeschaltet, als Valentin mit dem alten VW-Kastenwagen am Marktplatz in der Altstadt von Gmunden parkte. Er hatte die Puppenwerkstatt vom Vorbesitzer übernommen, als dieser in Pension gegangen war. »Warum wollen Sie das Kasperltheater übernehmen?«, hatte der Mann gefragt und Valentin hatte die ehrlichsten vier Worte gesagt, die ihm einfielen: »Ich will mich verändern.«

Das war jetzt fast ein Jahr her, und auch wenn Valentin sich fragte, wie es andere Puppenbühnenbetreiber schafften, positiv zu bilanzieren, bereute er nicht, das Metier gewechselt zu haben. Wenn er sagte, er tat es für das Kinderlachen – nun, dann traf es das nicht ganz. Was ihr Theater wirklich in ihrem jungen Publikum auslöste, war Ekstase, Hysterie, Verzückung. Ein Rausch aus Lachen, Panik und Mitgefühl, der die Kinder glücklich und erschöpft zurückließ – und ihn auch.

So hatte er also mit Anfang vierzig eine Profession gefunden, in die er seine unterschiedlichen Stärken – unternehmerisches Talent, Freude am Spielen, handwerkliches Geschick – einbringen konnte, auch wenn all dies hieß, in Gmunden zu leben, was er fast sein gesamtes Erwachsenenleben nicht getan hatte. Aber war das Leben in diesen anderen Städten wirklich besser gewesen? Nein, war es nicht.

Als er die Bühne aus dem Wagen zog und auf den Rollwagen schob, um sie über das unebene Pflaster bis zur Werkstatt im Parterre eines alten Bürgerhauses zu rollen, wurde er vom ehemaligen Besitzer seines Theaters überrascht, der offenbar gerade von einem Glas Wein in einem Lokal am Marktplatz kam. »Wart, ich helf dir!«, rief er und schob den Wagen mit an, was die Aufgabe nicht unbedingt vereinfachte.

Als sie die Ausrüstung in die Werkstatt gebracht hatten und Valentin den Bus abgesperrt hatte, stand der alte Mann immer noch vor ihm, als bedrängte ihn etwas.

»Ich hab an deinen Großvater gedacht vorher, an den Papa Busch!«

Valentin wurde oft auf seinen Opa angesprochen, er war Professor am Gymnasium und Gemeinderat gewesen.

»Ohne ihn hätte ich nicht maturiert!«, sagte der Alte.

»Das hab ich schon von vielen gehört«, antwortete Valentin. »Der Opa hat immer gesagt, wegen einem Fünfer darf keiner sitzen bleiben. Man muss nicht alles gleich gut können.«

»Und er hat mich auch auf Theater und Kino gebracht, die Aktion Der gute Film, die war von ihm.«

Valentin nickte.

»Und später, da war ich schon als Lichttechniker beim Stadttheater, da bin ich immer zu den Vorträgen gegangen, die er in der Volkshochschule organisiert hat. Der Hans Hass, der Meeresforscher, war dort, das war beeindruckend. Der Hermann Buhl, der als Erster den Nanga Parbat bestiegen hat. Der Herbert Tichy!«

»Die habe ich natürlich nicht kennengelernt«, sagte Valentin, »aber ein paar andere …«

»Ja?«

»Den Paul Watzlawick zum Beispiel, der war nach seinem Vortrag bei Oma und Opa zum Abendessen eingeladen.«

»Anleitung zum Unglücklichsein!«

»Er hat im Gästezimmer übernachtet, und weil er Frühaufsteher war, weckte er mich auf. Wir haben zusammen gefrühstückt und über Gewitter geredet.«

»Über Gewitter«, staunte der Alte, »mit dem Watzlawick …«

»Der Eugen Roth, der Waggerl, die waren auch bei den Großeltern daheim.«

»Wir haben im Unterricht beim Papa Busch den Domherr von Passau gelesen. ‚Die Buben, die sangen Juchhei, der Domherr von Passau legt jeden Morgen ein Ei!‘«

Der Alte lachte lauthals, dann sagte er: »Ich glaub, du hast viel von deinem Opa!«

Eine Gruppe junger Männer ging lautstark redend an ihnen vorbei. Einer von ihnen trug ein Schild: »Chips zu jeder Impfung!«

»Witzbolde«, sagte der Alte.

»Ich weiß nicht …«, antwortete Valentin.

5

Jola stand in ihrem Atelier und arbeitete an dem neuen Modell. Eine einzelne Schreibtischlampe beleuchtete die Arbeit, zwei Spots strahlten die Holzdecke an, der Rest Zwielicht, Schatten und Ateliergeheimnisse.

Der große Raum war Werkstätte und Ausstellungsraum zugleich. Skulpturen aus zwei Jahrzehnten als keramische Bildhauerin standen in allen Stadien zwischen Entwurf und abgeschlossener Arbeit verteilt über den Raum. Der Großteil waren Torsi und Köpfe, einige reduziert und zu Blöcken geschlagen, andere detailreich und naturalistisch. Besuchern fielen zuerst die prominenten Köpfe auf, Thomas Bernhard, Nelson Mandela, Malala, …

Das aktuelle Objekt war ein schlichter Stuhl, modelliert aus Steinton, über dessen Lehne ein Schild hing. »Nicht ich« hatte Jola darauf geschrieben, »anders« auf die Rückseite. Es war ihre zweite Idee zum Wettbewerb, nachdem sie die erste bereits ausgearbeitet hatte, und nahm Anleihe an den Stühlen, die von den Nazis am Rathausplatz von Gmunden aufgestellt worden waren, um die Juden öffentlich zur Schau zu stellen.

Es war eine Panik-Idee kurz vor Ende der Einreichungsfrist, entstanden aus Selbstzweifeln und dieser maßlosen Distanz, die sie direkt vor der Abgabe zu ihrem Werk empfand. Ihre Tochter Irma hatte das Stuhl-Konzept auch schon gegoogelt und als unbeabsichtigtes Plagiat entlarvt: In Krakau standen überdimensionale Sessel auf dem Platz der Helden des Ghettos und erinnerten an die Deportation der Juden ins Konzentrationslager.

Während Jola eine weit aus der Lehne des Stuhls herausragende Schraube modellierte, überlegte sie, ob sie dieses Modell vielleicht anderen Städten anbieten könnte, die sich ebenfalls ihrer verdrängten Geschichte erinnern wollten … – da gab es sicher noch ein paar. Aber mehr noch als die Stühle in Krakau störte sie die Assoziation mit den riesigen roten Sesseln eines österreichischen Möbelhauses, und das würde dem Projekt wohl endgültig den Rest geben.

Jolas Mann Sven steckte seinen Kopf durch die Tür des Ateliers, das direkt an den Wohnbereich ihres Hauses anschloss. »Ich gehe noch raus!«

Sie sah von der Arbeit hoch und musterte ihn: Sven trug Mantel und Wollhaube, dazu die gefütterten Stiefel, die ihm ihr Vater geschenkt hatte, als Sven von seiner Immobilienfirma mit der Betreuung des Chalet-Dorfes bedacht worden war – eine große Sache, aus der wegen Corona aber nichts geworden war.

»Wo gehst du hin?«

»Nur spazieren.«

»Nimmst du den Hund mit?«

Er antwortete nicht.

»Nicht?«

»Ich gehe in die Stadt.«

»Triffst du wen?«

»Nur spazieren.«

Sie richtete sich auf, spürte wie sich ihr unterer Rücken schmerzvoll meldete, und sagte: »Aber nicht mit den Irren?«

Er ließ sich Zeit mit der Antwort, dann sagte er: »Die meisten sind ganz vernünftig.«

»Im Ernst?«

Er sah sie mit diesem Das-verstehst-du-sowieso-nicht-Blick an, den sie sonst nur von ihrer Teenager-Tochter bekam.

»Was gibt dir das?«

»Wir wollen einfach nur Gesicht zeigen.«

»Heißt das, du trägst keine Maske?«

»So habe ich das nicht gemeint.«

»Wenn du keine Maske trägst, musst du nachher gar nicht nach Hause kommen!«

»Ich trage eine.«

Er zog seine Maske aus der Manteltasche, sie sah zerfranst und schmutzig aus.

»Nimm eine neue!«, sagte Jola und zeigte auf eine Schüssel mit originalverpackten Masken.

Sven nahm sich eine, mit einem kleinen, süffisanten Grinsen, das Jola zum Kotzen fand, dann ging er durch die Tür, ohne noch ein Wort zu sagen.

Sie rief seinen Namen. Er steckte seinen Kopf noch mal in die Türöffnung.

»Wirst du morgen mitkommen? Aino war über ein Jahr nicht mehr hier.«

»Deine Mutter hat doch gesagt, so wie ich bin, will sie mich nicht dabeihaben.«

»Ich hab ihr gesagt, du bist getestet. Das bist du, oder?«

»Sicher.«

»Dann mach morgen noch einen Schnelltest!«

Sie fand jetzt selbst, sie klang, als redete sie mit einem Kind. Sie wollte gar nicht so sein.

»Soll ich das ganze Familientreffen über eine Maske tragen?«

»Wenn du dort heute mitmarschierst, wäre das eigentlich nur fair.«

»Wie du meinst«, sagte er ruhig und schloss die Tür hinter sich.

6

Nachdem er eine Stunde geschlafen hatte, fuhr Leander mit seinem Auto nach Gmunden und stellte den Wagen an einem der ersten Parkplätze an der Esplanade ab. Er ging in ein Restaurant gleich beim Jachthafen und aß zu Abend. Er überlegte, seine Geschwister Valentin und Jola zu fragen, ob sie sich spontan anschließen wollten, aber dann dachte er, sie wären sicher beschäftigt und sie alle kämen ja ohnehin am nächsten Vormittag zusammen.

Früher hatten sie sich öfter gesehen. Jetzt, wo sie viel näher beieinander lebten als in den letzten Jahren, trafen sie sich seltener. Jola und er hatten Valentin oft in Wien besucht, auch in München, als er dort gelebt hatte. Für Jola war es ein hübscher Vorwand gewesen, ihre Tochter mal Sven zu überlassen, und wenn sie zu Leander ins Auto stieg und sie auf die Autobahn fuhren, war sie so unglaublich gut gelaunt, dass Leander dachte, ihr Leben musste ziemlich arm an Vergnügungen sein.

Nun lebte Valentin wieder in Gmunden, in der Stadt, in der sie alle aufgewachsen waren, der Stadt, in die ihre Großeltern nach dem Krieg gekommen waren, weil der Opa hier eine Anstellung als Lehrer bekam – in der amerikanischen Zone von Oberösterreich, nicht der russischen, was nach russischer Kriegsgefangenschaft durchaus einen Einfluss auf die Entscheidung gehabt haben konnte … Na ja, und schön war es ja hier, war es auch nach dem Krieg schon gewesen.

Jola lebte mit ihrem Mann Sven in einem Haus in Altmünster.

Und auch ihre Eltern waren immer noch in der Region: Ihr Vater in dem kleinen Haus unterm Traunstein, direkt am See, ihre Mutter in einer Wohnung in Bad Ischl; ihre Scheidung jährte sich heuer zum sechzehnten Mal (es war sicher kein Zufall gewesen, dass sie sich gleich im Sommer nach Ainos Schulabschluss trennten).

Leander war in Salzburg gelandet, nur Aino war völlig außer Reichweite und lebte in New York, wo sie eine Stelle im Büro der Österreich-Werbung am Broadway hatte.

Leander verließ das Lokal. Er sah, dass eine größere Menge von Leuten auf dem Weg in die Stadt war. Gruppen von Männern, Paare, aber auch Familien mit Kindern … Einige trugen Schilder. Leander las »Hände weg von unseren Kindern!«, »Schluss mit Diktatur«. Eine Frau trug eine OP-Maske über der Stirn, auf der »Pandemielüge« stand. Welches Ziel hatten sie wohl? Da Valentin nichts anderes vorhatte, setzte er selbst seine Maske auf und marschierte ein Stück mit ihnen.

Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr Polizisten sah Leander, der Franz-Josef-Platz war in Blaulicht getaucht. Eine größere Schar Spaziergänger hundert Meter weiter vorne skandierte: »Wir sind das Volk!«

Ein Mann neben ihm erklärte seiner Partnerin, erst würde man sie ignorieren, dann auslachen, dann bekämpfen, und schließlich gewännen sie. »Gandhi«, sagte sie und nickte energisch. Sie sahen beide nach Alt-Hippies aus.

»Das ist nicht von Gandhi«, sagte Leander. Zitate waren zufällig ein Steckenpferd von ihm.

»Sicher ist es«, sagte die Frau.

»Nein, das stammt von einem amerikanischen Gewerkschafter und es ging um die Proteste unterdrückter Textilarbeiter. Die übrigens dankbar für eine Impfung gewesen wären, denn es war die Zeit der Spanischen Grippe!«

»Das ist deine Wahrheit, okay?«, sagte der Mann.

Leander blieb stehen, während sich die Leute weiterbewegten. Er rief: »Nein, es ist die Wahrheit.«

7

Valentin drängte sich durch die Menge an Leuten, die an der Schiffstation standen, um einen der Seiteneingänge des Rathauses zu erreichen. Ein Mann sprach mit breitem Dialekt durch ein Megafon, lobte die Anwesenden für ihre Diszipliniertheit und teilte in einem Nebensatz gegen die »Fetzenschädel« im Rathaus aus.

Valentin ging durch einen Gang, von Neonröhren beleuchtet, und folgte dem Pfeil zu Gemeindesaal/Kulturhauptstadt-Sitzung. Als er den Saal betrat, waren etwa die Hälfte der Stühle besetzt. Die Fenster waren geöffnet, man hörte den Sprecher von der anderen Seite des Rathauses, kalte Luft zog durch den Raum. Eine junge Frau – in Schwarz gekleidet, mit langen brünetten Haaren – hatte gerade zu sprechen begonnen.

»Danke, dass ihr gekommen seid! Wir hätten uns einen anderen Termin gesucht, aber diese Zusammenkunft draußen ist nicht angemeldet, da hatten wir also keine Möglichkeit auszuweichen! Ich mache das Fenster gleich zu, ich denke, wir werden alle fünfzehn Minuten stoßlüften. Ich erzähle euch kurz, worum es heute geht …«

Valentin hörte zu, es ging um Partizipation, um jene der Projekte im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres, bei welchen den Künstlern der Region eine unbürokratische Teilhabe ermöglicht werden sollte, zum Beispiel beim Leuchtturm-Projekt »Theater der Träume« – jenes Format, für das sich Valentin interessierte.

Je länger sie sprach, desto mehr hatte Valentin aber den Eindruck, dass es doch nicht ganz so unbürokratisch und niederschwellig zuging, es klang jedenfalls eher kompliziert. Als die Möglichkeit gekommen war, Fragen zu stellen, zeigte er auf. Die junge Frau deutete auf ihn und ein Kollege von ihr brachte Valentin das Mikrofon. Er stand auf und grüßte in die Runde.

»Ich bin Valentin, mir gehört das Kasperltheater am Marktplatz. Aktuell sind wir nur als Wanderbühne unterwegs, weil der Spielraum noch nicht so weit ist. Jedenfalls möchte ich fragen, in welcher Form meine Kollegin und ich uns mit unserer Bühne einbringen können? Sollen wir einfach machen und ihr bewerbt unsere Aktivitäten dann im Zuge der PR mit, oder wird hier gemeinsam konzipiert? Wir haben unseren Schwerpunkt natürlich auf Kindertheater, aber wir haben auch gerade ein Stück geschrieben, das heißt Der Neger von Ebensee und ist für Erwachsene. Ich schreibe auch an einem Kasperlstück über Thomas Bernhard, das wird bald fertig.«

Seltsame Stille.

Während die einen beim N-Wort förmlich zusammenzuckten, drehten sich andere zu Valentin um und lächelten wissend – auch ihnen war bekannt, dass der eine schwarze Mann, der in den Achtzigern und Neunzigern in Ebensee gelebt hatte, als der Neger von Ebensee bezeichnet wurde. Als die Basketballmannschaft von Gmunden um die Jahrtausendwende auch afroamerikanische Legionäre verpflichtete, gehörten schwarze Gesichter zum Alltag der Stadt, und damit ging auch das zweifelhafte Alleinstellungsmerkmal des Mannes aus Ebensee verloren.

Die junge Frau hatte sich inzwischen gefasst und sagte, dass sie bei diesem Format nicht kuratierend eingreifen, sondern auf die vielfältigen Bühnen, Workshops und Kleinfestivals hinweisen wollten.

»Also wir sollen machen wie immer, und ihr sagt: Schaut euch das an!«

Klar, auf die Frage wollte sie auch nicht einfach mit »Bingo!« antworten, also zog sich ihre Replik ein wenig, und in Valentin verfestigte sich die Vermutung, dass sie vielleicht gar nicht so viel von der großen Kulturinitiative profitieren würden. Als die Veranstaltung vorüber war und er zum Gehen aufbrach, sprach ihn die Frau in Schwarz an.

»Hey, ich bin Sarah!«

Valentin stellte sich noch mal vor.

»Wir waren zusammen im Gym«, sagte sie, »also ein, zwei Jahre lang und mit ein paar Jahren Unterschied.«

Valentin war zweiundvierzig, sie war wohl Mitte dreißig, so konnte sich das ausgehen.

»Ich hab dich zuerst nicht erkannt«, sagte sie.

Früher hatte Valentin längere Haare, schwarz und mit Gel gepflegt, er war ein Economy-Guy, einer, der Gordon Gekko aus Wall Street für einen tollen Typen hielt. Heute trug er die Haare kurz, Jeansjacke statt Anzug und machte sich Sorgen, ob sich seine Nichte gut entwickelte, nicht seine Aktien.

»Meine Mutter hatte den Papa Busch noch als Lehrer, die hat ihn sehr geliebt!«

»Cool«, sagte Valentin.

»Magst du was trinken gehen?«, fragte Sarah.

8

Jola saß zu Hause auf der Couch. Irma war auf ihrem Zimmer, Sven mit den Irren spazieren. Sie legte die Füße hoch und griff nach der Short Story, die ihre talentierte Tochter geschrieben hatte.

Eine Begegnung am See

Sie gingen die Esplanade entlang in Richtung Stadt.

Er hielt ihre Hand und sie dachte, das tat er nur im Urlaub.

Die Möwen flogen knapp über ihre Köpfe hinweg, sie lächelte und duckte sich.

Sie blieben stehen und sahen aufs Wasser hinaus. Ein Schiff fuhr langsam über den See.

Als sie weitergingen, sah sie aus der Ferne eine Figur, unten Metall, oben Stein. Ihr Weg führte daran vorbei.

Sie erkannte Körper, die sich aus einem Steinblock herausdrückten.

Was ist das?, fragte sie.

Ein Denkmal …?, sagte er.

Das war früher nicht hier, sagte sie.

Sie blieben vor der Skulptur stehen. Jetzt sah man wirklich, dass der sandfarbene Block aus Körpern bestand. Aus dem Metallwürfel waren Namen herausgeschnitten. Groß darüber stand UNVERGESSEN.

Juden, sagte er, und sie mochte nicht, wie er das sagte.

Wieso …, begann sie, aber dann sah auch sie das Schild neben der großen Skulptur.

Ich wusste gar nicht, dass hier …, begann sie.

Wo nicht …, antwortete er.

Ihr Blick glitt über die Menschen: Frauen, Männer, Kinder. Nackt und schutzlos.

Sie ging einmal herum, las UNFORGOTTEN auf der anderen Seite und noch mehr Namen. Viele klangen wie von hier, einige Wenige fremd.

Sie deutete auf einen Nachnamen.

Schau, wie deine Tante.

Die schreiben sich mit tz.

Ist er Jude?

Nein! Wie kommst du darauf?

Sie sah ihn arglos an, dann wandte sie sich wieder den Namen zu.

Wo sind die alle gestorben?, fragte sie, mehr sich selbst.

Er, der schon alles gelesen hatte, sagte: An unterschiedlichen Orten, im Gefängnis oder KZ, teils auf der Flucht oder durch die Euthanasie.

Euthanasie. Klang so schön, war so schrecklich.

Komischer Platz dafür …, sagte er.

Wieso?, fragte sie.

Ich weiß nicht, ob ich jeden Tag darauf schauen möchte, wenn ich hier wohne.

Wohnt ja immer wer in der Nähe, sagte sie und dachte, als ob es darum ginge.

Ja, aber so an der Esplanade … Aber vielleicht eh richtig. Es ist halt passiert.

Ist halt passiert. Sie sah ihn an, er sah zurück.

Sie beugte sich hinunter und strich die Vertiefungen der Buchstaben eines Frauennamens mit den Fingern nach. Sie hörte den Kies unter seinen Füßen, während er langsam weiterging.

Kommst du?

Gleich, sagte sie.

Er drehte sich um, sah seine Frau vor dem Metallgestell stehen, ihr Blick nun nach oben gerichtet, über ihr die Figuren aus Stein. Er griff nach seinem Handy und machte ein Foto. Er betrachtete die Aufnahme. Dann schüttelte er den Kopf, ging zu ihr zurück und nahm sie an der Hand.

Sie ließ sich von ihm wegziehen, und als sie wieder in Richtung Gmunden schaute, kam ihr die Stadt anders vor.

Man müsste sicherlich mehr darüber wissen, sagte er.

Ja, sagte sie und warf im Gehen einen Blick über ihre Schulter zurück.

9

Als die Menge den Rathausplatz erreicht hatte, wo sich schon ein paar Hundert Menschen aufhielten, als er eine verzerrte Stimme durch ein Megafon hörte, hatte Leander genug und ging an der Schiffstation vorbei in Richtung Traunbrücke, wo es bedeutend ruhiger zuging. Er lehnte sich ans Geländer und sah auf den See hinaus. Unter ihm im Dunkeln rauschte die Traun in Richtung Norden, nachdem sie den ganzen See durchströmt hatte, vom Eintritt in Ebensee bis Gmunden.

Leander dachte darüber nach, dass ihm all das Getöse am Hauptplatz früher egal gewesen wäre, dass er gesagt hätte, lasst ihnen ihre Meinung, dass er nun aber ein kranker Mann war, man konnte es nicht anders sagen, und Angst um seine Versorgung hatte; Angst, dass die medizinische Infrastruktur der Belastung nicht standhielt, und verärgert war, weil diese Menschen die Möglichkeit, gesund zu bleiben, ausschlugen, als wäre das kein Privileg, das es zu verteidigen galt.

Gleichzeitig fühlte er sich nicht krank, und er war auch noch nicht so weit, irgendjemanden in die Sache einzuweihen, weil ein Teil von ihm immer noch meinte, es würde wieder vergehen und es wäre besser, niemandem unnötig Kummer zu machen. Insofern glaubte er auch nicht, dass er seine Familie am nächsten Tag mit diesen Nachrichten konfrontieren würde.

Es passierte gerade viel Gutes in ihrem Leben: Valentin war wieder in Gmunden. Für Jola war die Einladung für das Mahnmal eine Bestätigung als Künstlerin. Aino kam mit einem Mann aus den USA zurück, von dem ihre Mutter glaubte, er hätte ernste Absichten, falls jemand in diesem Jahrtausend noch so etwas verspürte.

»Leander?«

Er drehte sich um und sah sich einem Mann in einer Sportjacke gegenüber, einen Hund an der Leine.

»Sepp!«

Sie schüttelten sich die Hände. »Wie geht’s dir?«, fragte der Mann.

»Gut«, sagte Leander.

»Bist du noch beim Eibinger?«

»Nein, ich hab mich selbstständig gemacht!«

»Ach! Hast du wen mitnehmen können?«

»Ein, zwei sind mir geblieben, ja.«

Leander war Sportagent und hatte für eine der großen Agenturen gearbeitet. Mit Basketball war in Österreich nicht viel Geld zu machen, aber aus Lokalpatriotismus hatte er Deals mit einigen der College-Spieler aus den USA verhandelt. Damals war Sepp Trainer gewesen.

»Ich hab gehört, der Ohler geht zum Mateschitz …«

Leander nickte.

»Ja, mit Fußball bin ich fertig.«

Der Mann klopfte Leander auf die Schulter und setzte seinen Weg fort. Leander fragte sich, ob sich Sepp den Spaziergängern anschließen oder lieber seinen Hund auf sie hetzen wollte – im Sport konnte man auf beide Einstellungen treffen.

Leander spazierte über die Brücke, dann hielt er sich rechts und ging Richtung Seebahnhof und weiter zum Bootsbauer Frauscher. Als sich Leander auf eine Bank am See setzte, überkam ihn so eine Müdigkeit, dass er überlegte, sich ein Taxi zu rufen, damit der Fahrer ihn zu seinem Auto zurückfuhr. Nach einer Viertelstunde ging es aber wieder und er machte sich auf den Rückweg.

10

Am Vormittag traf Valentin als Erster bei seinem Vater ein. Während Max in der Küche arbeitete, ging Valentin für einen Moment in den Garten. Nur ein schmaler Fußweg trennten Haus und Wiese vom Ufer des Sees. Der Grund fiel zum Wasser hinunter ab, und er hockte sich in die Wiese und genoss den Blick auf den See. Ein einzelnes Ausflugsschiff durchkreuzte von Gmunden kommend das Gewässer. Er hörte seinen Vater im Haus mit Geschirr hantieren, im Hintergrund leise das Bass-Solo aus Mahlers erster Symphonie. Dann die Stimme seines Vaters Max: »Aino sagt, sie kommen gegen zwei.«

»Ach, erst?«, rief Valentin zurück.

»Ja, leider. Ich bin gespannt auf Mr. Wonderful …«

Valentin stand auf und ging gemächlich die Stufen zur Terrasse hoch. »Was wissen wir denn über ihn?«

Max strich die Hände an seiner Küchenschürze ab und brachte zwei Schüsseln mit seinem berühmten Tomatenpesto auf die sonnige Veranda. Er war gebräunt vom Skifahren, sein weißer Haarkranz stand unfrisiert vom Kopf weg. »So gut wie nichts.«

»So ist es doch immer bei ihr, sie will ihre Männer für sich selbst sprechen lassen.«

»Das ist ja legitim, das finde ich sogar gut, aber dieses Mal schürt sie gleichzeitig unsere Neugier mit so kleinen Bemerkungen …«

»Ja?«

»Ja, ja. Er ist ein Himmelsstürmer. Das fiel einmal, sagt Monika. Und er ist ihr Anker.«

»Widersprüchlich, oder nicht?«

»Ja, doch!«

»Ist er ein Amerikaner? Ich würde dich gerne mal wieder englisch reden hören … Well, well, I love to speaking English!«

Max gab Valentin einen Klaps auf den Hinterkopf, dann legte er den Arm um ihn. »Er ist Österreicher, so viel wissen wir immerhin.«

»Da zieht man in die Ferne und kommt mit einem Pichler oder Moser heim …«

»Was stichelst du so? Hauptsache, sie hat ihn lieb. Ich hoffe, er ist kein Schwurbler!«

»Was meinst du?«

Max löste sich von seinem Sohn und sah ihn verwundert an. »Du weißt, wer mit den Schwurblern gemeint ist, oder?«

»Du meinst, einer reicht in der Familie?«

Max sah Valentin tadelnd an.

»Sven wird sich impfen lassen, hat Irma gesagt.«

»Ihn zu bekehren, sollte nicht ihre Aufgabe sein!«

»So sind Kinder! Du wolltest auch nicht, dass ich Auto fahre, wenn ich was getrunken hatte. Du hast meine Schlüssel versteckt!«

»Ja. Und es wäre mir lieber gewesen, ich hätt’s nicht müssen.«

Max knetete Valentins Schultern. Er war so liebesbedürftig, dachte Valentin, so nähesuchend. Von der Freundin, die er letztes Jahr gehabt hatte, war auch nicht mehr die Rede. Wo war die hin? Die Beziehungen dieser Generation hielten so kurz! Sie waren nicht bereit, irgendwelche Abstriche bei ihrer Lebensqualität zu machen. Und allein fernzusehen – das, was sie wollten, in der Lautstärke, die sie wollten –, dieses Recht galt es zu verteidigen!

11

Leander parkte seinen Jaguar neben einem Kleinbus mit einem Kasperl-Logo auf der Schiebetür. Valentin hatte also ernst gemacht. Vor ein paar Monaten hatte er ihn spätabends angerufen, was selten vorkam, höchst selten. Er hatte ihm von dem Theater erzählt, von seiner absurden Idee, in München alles aufzugeben und nach Gmunden zurückzugehen, und mitten im Telefonat hatte er in der Kasperlstimme zu sprechen begonnen, »Hey, Kinder, soll Valentin seinen Job aufgeben und mit seinen Puppen durch die Provinz tingeln?«, und Leander empfand eine schmerzhafte Peinlichkeit und wollte seinem Bruder raten, das mit dem Theater bitte bleiben zu lassen. Stattdessen sagte er: »Probier es aus, gib dir mal ein Jahr!«, oder einen ähnlichen Schwachsinn. Wenn sich sein kleiner Bruder schon mal bei ihm meldete und ihn in eine Lebensentscheidung einbinden wollte, würde er ihn jedenfalls positiv unterstützen, so empfand er das. Egal wie furchtbar er kleine Bühnen für kleines Publikum fand.

Leander öffnete die Gartentür und schlenderte über die Wiese zu seinem Vater und Valentin. Max bemerkte ihn zuerst, ging ihm mit strahlendem Gesicht entgegen und umarmte seinen Sohn, der einen halben Kopf größer war als er.

»Kommst du aus Salzburg?«

»Ja!«

»Mit dem Jaguar?«

»Ja, sicher!«

»Er geht noch?«

»Er geht noch, Papa.«

Leander schickte Valentin ein Augenzwinkern, das ihrem Vater galt; die Brüder umarmten sich. Valentin sagte: »Keine Elektronik, die den Geist aufgibt!«

»Sie haben andere Sachen eingebaut, um kaputtzugehen«, sagte Leander. Dann wandte er sich an seinen Vater und sagte: »Fahr doch mal eine Runde!«

Max nickte, als würde er das später sicher machen, aber alle drei wussten, es würde nie dazu kommen.

Leander sah über den See und rief: »What a day!«

»… to get visit from the states!«, fuhr Max laut tönend fort.

»Setz dir mal eine Kappe auf«, sagte Valentin zu seinem Vater, dessen Stirn schon Röte aufgezogen hatte.

»Mir macht das nichts«, sagte Max, »verwandelt sich gleich in Bräune!«

»Ich bin sicher, da verwandelt sich was …«, begann Valentin und nahm ein paar Pigmentflecken auf der Glatze seines Vaters in Augenschein, aber Max sprach dazwischen: »Ich trage dauernd eine Kappe, ja? Oder eine Haube oder einen Hut! Ihr würdet mich ja am liebsten ganz verschleiert sehen! Aber ein bisschen Sonne halte ich aus, ja?«

»Schon gut«, sagte Valentin.

»Was ist mit Aino?«, sagte Leander, »kommt sie allein?«

»Du weißt ja gar nichts«, sagte Max, legte seinem Sohn den Arm über die Schulter und ging mit ihm in Richtung Küche, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen.

Valentins Handy brummte, eine Nachricht von Sarah: »Das war nett gestern. Weil du gesagt hast, du willst wieder mal auf den Traunstein: Ich würde morgen vielleicht rauf!«

Er hatte Lust, Sarah wiederzusehen, aber vor dem Berg hatte er Respekt, da musste er sich noch vorbereiten. Zum Beispiel indem er ihn noch ein weiteres Jahr vom See aus anstarrte … Hatte er wirklich gesagt, er würde gerne wieder mal auf den Traunstein?

Er setzte sich in die Wiese und überlegte, was er ihr antworten sollte. Er war komplett aus der Übung …

12

Valentin stand mit seiner Mutter vor dem Bus. Sie hatte bei ihrer Ankunft gehupt, damit ihr jemand half, den Kuchen hineinzutragen; er war zum Parkplatz geeilt, hatte sie geküsst und ihr das Backblech abgenommen, und nun betrachtete sie den Kasperl am Bus und lächelte.

»Der ist aber schon sehr entzückend! Das ist sicher für den Mann, der das aufträgt, auch eine schöne Abwechslung, oder? Nicht immer bloß Installationsservice Huber oder Malermeister Moosberger oder was weiß ich …«

»Ich glaube, das ist denen wurscht.«

»Glaubst du? Hm, wahrscheinlich hast du recht, sie sind alle so pragmatisch …«

Monika war hier geboren, hatte die Region nie verlassen, trotzdem grenzte sie sich immer noch von den Leuten hier ab, als wäre sie ein Kuckuckskind, nur durch einen seltsamen Zufall in diesem Winkel der Welt aufgewachsen.

Sie betrachtete den Kasperl mit kindlichem Lächeln, dann holte sie ihre Kamera aus dem Wagen, rückte ihren Sohn zu seinem Puppenlogo und schoss ein paar Fotos.

Monika war Fotografin, eine der ersten Frauen, die für die großen Zeitungen im Skizirkus fotografiert hatte, später in der Werbung und in den vergangenen Jahren erfolgreich mit Porträtserien.

Gut sah seine Mutter aus, dachte Valentin. Sie trug die silberblonden Haare kürzer als früher. Und schlank war sie, das intermittierende Fasten hatte ihr fast eine zweite Jugend geschenkt.

Seine Schwester Jola hatte Valentin erzählt, seine Mutter bekäme jede Menge Angebote von Männern, auch von viel jüngeren. »Das hat sich überhaupt so geändert«, hatte Jola gesagt, »die Männer reißen sich heute um reifere Frauen, da kann man eigentlich ganz gelassen in die Zukunft sehen als Single-Frau! Männer dagegen, na ja, die lassen sich leicht gehen, und wenn sie dann auch noch arm sind …« Und das war Jolas Überleitung gewesen, um Valentin zu raten, den Job in München doch zu behalten, denn künstlerische Erfüllung hin oder her, Altersarmut sei keine Erfindung der Medien, und wann habe er zuletzt einen alten Kasperltheatermanager im Porsche gesehen …

Monika sah ihren Sohn aufmunternd an und sagte: »Das macht dir jetzt richtig Freude, oder?«

Er musste fast lachen über den verniedlichenden Unterton und sagte bloß: »Es ist eine spannende Zeit!«

»Ich würde dir wahnsinnig gerne Fotos machen«, sagte seine Mutter, und Valentin kam das in diesem Moment vollkommen aufrichtig vor.

»Ja, bitte!«, sagte er.

»Du bist jetzt in einer ganz anderen Welt, oder? Kinder, Lachen, Kunst! Schön, dass du dir das noch erschlossen hast!«

Er nickte. Sie hatte völlig recht, aber am Ende kam es ihm immer so vor, als wüsste sie besser, was er zu fühlen hatte, als er selbst.

Monika packte ihre Kamera wieder in die Tasche, dann sah sie über Valentins Schulter in Richtung Gartenzaun und fragte mit gedämpfter Stimme: »Wie kommt er dir denn vor?«

»Papa?«

»Ja.«

»Ganz normal.«

»Ja?«

»Ja. Wieso?«

Seine Mutter sah ihn an, als würde sie eigentlich gar nicht über die Sache reden wollen, aber dann sagte sie: »Ich hab seine Freundin getroffen, sie hat sich ausgespieben über ihn.«

»Birgit? Ich dachte, sie wären nicht mehr …«

»Nein, sind sie auch nicht … Und sie versteht nicht, warum.«

»Hat er sich nicht erklärt?«

Sie lachte auf. »Nein, er hat sich nicht erklärt. Er hat sie wohl eher geghosted. So heißt das jetzt, oder?«

»Ich glaube, so heißt das, ja.«

»Na ja, geht mich ja nichts an.«

Monika öffnete ihre Tasche und holte einen Schminkspiegel hervor. Sie zupfte an ihren Haaren herum und legte ein paar Strähnen über ihre Ohren, in denen die Hörgeräte zu sehen waren.

Ein paar Augenblicke lang sagte Valentin nichts, er mochte es nicht, wenn seine Mutter etwas Schlechtes über Max sagte, kein Kind wollte so etwas hören.

»Darf ich dich eigentlich verkuppeln?«, fragte seine Mutter plötzlich. »Da gibt es ein paar Töchter von Freundinnen, die dich zufällig von Fotos her kennen und nicht gerade abgeneigt wären, mal in eines der glamourösen Gmundner Abendlokale ausgeführt zu werden …«

»So wie die mit der Hundeschule?«

»Ha, nein! Nein, die würde ich dir nicht zumuten.«

Er sah seine Mutter mit unglücklicher Miene an, und sie sagte: »Vergiss es. Die sind auch alle beschädigte Ware. Muss man einfach so sagen.«

»Gehen wir rein?«

»Ja, gehen wir rein.«

13

Leander hatte seinen Mantel über einen Barstuhl geworfen und half seinem Vater in der Küche, die durch die offenen Verandatüren mit dem Garten verbunden war. Sie standen sich im Weg herum, ärgerten sich über die Technik des jeweils anderen und setzten damit eine lange Vater-Sohn-Tradition fort.

»Wo ist der Balsamico?«, fragte Leander.

»Wenn du jetzt schon Balsamico auf die Bruschetta gibst, ertränkst du sie«, sagte Max.

»Balsamico-Crema sickert nicht ins Brot!«

»Aber dieser ist keine Crema, sondern ein Balsamico Tradizionale mit einer hohen, aber nicht zu hohen Dichte, und er tut genau das: Er sickert!«

»Dann kauf einen vernünftigen!«

»Ich bekomm meinen Balsamico von Hilde und Gerhard von ihrem Händler in Barberino Val D’Elsa, der ist geschmacklich höherstehend als alles, was du beim Spar oder auch bei dem überteuerten Delikatessenladen in Gmunden kriegst!«

»Aber er sickert!«

»Weil er … ach, mach was anderes, bitte!«

»Soll ich schon das Carpaccio schneiden?«

»Ungern. Aber ja.«

»Mit dem Messer kann ich nicht arbeiten.«

»Das ist ein neues Keramikmesser!«

»Ich hätte meine mitbringen sollen …«

Valentin stand inzwischen mit dem Backblech in der Hand in der offenen Tür und sah seinem Bruder und seinem Vater hingerissen dabei zu, wie sie sich um jeden Handgriff stritten. Monika trat an ihm vorbei ins Haus und sah sich irritiert um.

»Du hast ausgemalt! In Farben, die nicht weiß sind.«

Max eilte auf Monika zu, küsste sie auf den Mund, worauf sie Valentin einen verdutzten Blick zuwarf. Nach zwei Jahren Corona wusste anscheinend niemand mehr, ob man sich in den seligen Zeiten davor auf die Wange oder den Mund geküsst, ob man sich mit einer Umarmung oder einem Handschlag begrüßt hatte. Max und Monika jedoch hatten seit ihrer Scheidung nichts davon getan: Sie standen üblicherweise einfach voreinander und sagten sich zur Begrüßung, was sie vom Aussehen ihres Gegenübers hielten. Aber jetzt verteilte Max nonchalant Küsse auf den Mund, als wäre es immer nur seine Entscheidung gewesen, zur Begrüßung auf Distanz zu bleiben …

»Das ist Kalkfarbe«, sagte Max. »Eine Verneigung vor dem alten Kalkwerk unterm Stein, literarisch gewürdigt bei unter anderem Ransmayr und Bernhard. Das Braun geriet anders als erwünscht.«

Er zeigte auf das schlammfarbene Sims, das die Küche vom Wohnbereich trennte.

»Du hättest mich fragen können, bevor du hier dekorativ wirst …«, sagte Monika.

»Ich informiere dich ja auch nicht, wenn ich eine der tausend Ausbesserungs- und Erhaltungsmaßnahmen im Haus durchführe«, sagte Max, und hinterließ damit einen Ausdruck der Verwunderung auf den Gesichtern seiner Söhne, die bei jedem Besuch mehr den Eindruck gewannen, das Haus bräuchte dringend mal eine Generalsanierung.

Das kleine Haus unter dem Traunstein hatte einmal Monikas Eltern gehört. Ihre Familie hatte drei oder vier Jahre lang in den Sechzigern hier gewohnt, bevor die Familie Busch mit Kind und Kegel ins Stadtzentrum gezogen war. Danach war es nur noch vermietet worden, bis Monika es irgendwann überschrieben bekam. Für die vier Kinder war es immer viel zu klein gewesen, aber von Mai bis August hatten sie dort gelebt, die Kinder in zwei Stockbetten schlafend, oder verteilt auf Baumhaus und Zelte im Garten. Bullerbü unterm Berg. Nach der Scheidung – die Kinder erwachsen – war Max hier eingezogen. Monika wollte nicht unter dem Traunstein leben. In der Früh, wenn sie Licht brauchte, um in den Tag zu finden, war es kalt und dunkel unter dem Fels. Ohne Auto kam man nicht aus der Sackgasse am Ostufer heraus, und die Nachbarn waren zu nahe und von allen wusste man drei Generationen zurück die markanten Lebensereignisse. Sie war also nach Bad Ischl gezogen, eine Wohnung nach Osten raus, mit Blick auf die Traun. Nicht gerade großstädtisches Flair, aber mehr Cafés, ein paar Galerien, ein kleines bisschen Leben noch nach einundzwanzig Uhr. Es war eigentlich gemein, dass man oft von »Fad Ischl« sprach, dachte sie. Und sie war nur dreißig Minuten von Jola entfernt, wenn sie jemanden für Irma brauchte oder über Sven ablästern wollte …

Leander kam nun auch hinter der Küchentheke hervor und ging zu seiner Mutter, wobei er ihr überließ, wie nahe sie ihm kommen wollte. Sie sagte: »Bist du wieder gewachsen?«, dann zog sie ihn an den Schultern herunter und gab ihm Küsschen links und rechts und dann noch mal eines links, wie ihre schweizerische Freundin Marlies es immer tat – wenn man sich daran gewöhnt hatte, kamen einem zwei Küsschen einfach knausrig vor.

Sie sah ihrem ältesten Kind in die Augen und irgendetwas sah sie vielleicht darin, das ihr nicht gefiel, denn sie setzte sich gleich darauf mit einem Seufzen auf einen Stuhl am Küchentisch und sah mit einem Ausdruck von Erschöpfung auf die Kameratasche in ihrer Hand hinunter.

14

Jola, Sven und Irma kamen mit dem Auto an und parkten neben dem Peugeot Cabrio von Jolas Mutter. Keiner von ihnen machte Anstalten auszusteigen. Jola überlegte, wie sie die Stimmung noch umdrehen könnte, nachdem sie den ganzen Vormittag mit Sven gestritten und keine Zeit und Ruhe gefunden hatte, um sich auch mal um Irma zu kümmern.

»Noch fünf Minuten Auszeit?«, fragte sie in die Runde.

Sven und Irma nickten. Sven stieg aus und zündete sich eine Zigarette an, Irma griff nach ihrem Handy und machte es sich auf der Rückbank bequem.

Jola öffnete das Fenster und atmete die Seeluft ein.

Zu Weihnachten 2019 hatten sie sich das letzte Mal alle hier gesehen. Dann zwei Jahre Coronapause ohne ein großes Familientreffen, nur verschämte Zusammenkünfte zu zweit oder zu dritt, auf Abstand, im Freien, getestet, dennoch mit einem mulmigen Gefühl dabei. Zwei Jahre der Ungewissheit, zwei Jahre, in denen ihr dieser lässige Glaube ans gute Ende abhandenkam. Zwei Jahre auch, in denen es bei ihr und Sven beruflich miserabel lief, womit sie unterschiedlich umgingen. Sie arbeitete mehr denn je, nicht unbedingt inspiriert, aber dafür manisch. Er verfiel zuerst in Resignation, dann begann er, seinen geistigen Horizont für die simpelsten und gleichzeitig abwegigsten Theorien zu öffnen. Und mit der Mitgliedschaft in diesem neuen Club ging eine Überheblichkeit einher, die Jola fassungslos machte. Den einfachsten Weg gehen und sich dabei noch auserwählt fühlen, was für ein Deal!

Sie freute sich so darauf, wieder mit ihren Leuten vereint zu sein, ihre Brüder um sich zu haben, Aino wieder im Arm zu halten, Mama und Papa zusammen an einem Tisch zu sehen, rätselnd, was die beiden immer noch verband, auch so viele Jahre nach der Scheidung. Vielleicht in ihrer Beziehung die Antwort auf die Frage der eigenen Beziehung finden, diese andere Definition von Liebe, die im Leben stattfand und nicht im Kino. Eine Definition, die auch miteinschloss, dass man einander vorübergehend mal hasste – nicht nur zwischen Weihnachten und Silvester, sondern zwischen Silvester und Weihnachten …

Sven dämpfte seine Zigarette aus, Jola schloss das Fenster, Irma kletterte hinten aus dem Wagen. Jola ergriff die Hände von Sven und Irma, beide sahen sie überrascht an, aber Jola lächelte und zog sie mit sich in den Garten des Hauses.

15

Monika stand auf der Veranda und hielt das Gesicht in die Sonne, als Jola erschien. Sie drückte sich von der Hauswand weg und lächelte die Ankommenden an, während ihr noch die Lichtreflexe des Sees vor den Augen tanzten.

Jola, ihr großes Mädchen, das Kind, das sich am wenigsten losgelöst hatte, das immer noch jeden Tag anrief, Monikas Meinung, ihren Rat wertschätzte. Vielleicht weil sie beide Kunstweiber waren. Sie sahen Dinge anders, weil sie sie selbst erschufen, egal, ob es eine Figur oder eine Bildkomposition war. Irma würde auch so werden. Mit vierzehn hatte sie schon eine Meinung, eine Freude am Diskutieren und am Schöpferischen – in dem Alter hatte Monika einem Erwachsenen noch nicht mal in die Augen schauen können.

Monika und Jola umarmten sich, Jola war ganz aufgedreht und schrie ihrer Mutter etwas in den Nacken, zu nah am Hörgerät, unangenehm und unverständlich, aber Jolas Gesicht war ohnehin alles anzusehen: Sie war angespannt und nervös und auch voller Vorfreude und wollte einfach ein Glas Sekt oder Bier in die Hand gedrückt bekommen.

Monika strich ihrer Enkeltochter Irma über die Haare, wie groß sie jetzt war, nie würde Monika den Chinesen vergeben, dass sie dieses Virus auf die Welt losgelassen hatten und sie zwei Lebensjahre ihrer Enkeltochter fast gar nicht miterleben konnte …

Sven stand so halb schief vor ihr, mit seinem weiß werdenden Bart und den komischen Stirnfransen und diesem Lächeln, das er nur für die Schwiegermutter aufsetzte. Er wusste wohl, dass er irgendwie das schwarze Schaf der Familie war, der Deutsche mit den komischen Ansichten, der beruflich immer rumwurschtelte (das war das Österreichischste, was er konnte) und es nicht fertigbrachte, Jola glücklich zu machen. Er wusste aber wohl auch, dass Monika und Max ihn dennoch gernhatten, vielleicht mehr als Melinda, als Leander und sie noch zusammen waren, sicher mehr als die Tussi-Freundinnen von Valentin. Monika fand auch nicht alle seiner Theorien so schlimm, genau genommen hatte sie eine Freude daran, Leute mit ungewöhnlichen Meinungen vor den Kopf zu stoßen, und manchmal borgte sie sich welche von Sven aus.

Aber eines war auch klar: Wenn er mit seinen Mitstreitern unterwegs war und sich ansteckte und dann seine Tochter krank machte, dann würde ihm Monika so fest in seinen blassen norddeutschen Arsch treten, dass …

Aber das ging zu weit, er stand ja ganz harmlos vor ihr, wirkte auch ein wenig zerknirscht und er hatte sich zehn Mal testen lassen in den letzten Tagen, das behauptete Jola jedenfalls.

Monika beugte sich vor und gab ihm mit spitzen Lippen zwei Küsschen, dann sagte sie: »Es ist schön, dass ihr alle da seid!«

Valentin trat auf die Veranda heraus und begrüßte die Neuankömmlinge. Irma, die völlig vernarrt in Valentin war, immer schon gewesen war, stellte sich zu ihm und begann über ein Buch zu sprechen, das er ihr irgendwann vor Weihnachten geborgt hatte und das ihr nicht so gefallen hatte wie ein anderes, das sie von ihm bekommen hatte.

»Die Bücherei in Gmunden macht einen Abverkauf«, sagte Valentin, »wir könnten hinschauen und uns mit neuem Stoff eindecken!«

»Haben die nicht nur alte Hanni und Nannis und so Bücher über Glückssteine?«

»Nein, die haben einen Haufen guter Romane und Sachbücher, bloß ein bisschen speckig und abgegriffen und mit so Bleistiftnotizen drinnen: Das hat Onkel Rudi auch immer gesagt!«

Max und Leander stießen dazu. Leander und Jola hatten sich lange nicht mehr gesehen, er begrüßte sie so herzlich, und Monika dachte, die zwei hatten immer so einen besonderen Draht zueinander. Sie sah die beiden als Kinder vor sich, wie sie in der Erika strampelten, dem alten Tretboot, das sie dem Bootsverleiher in Traunkirchen abgekauft hatten und das den Sommer über in der Wiese vor dem Haus lag. Die Kleinen, Valentin und Aino, saßen hinten, ließen sich über den See kutschieren und riefen den Großen zu, welche der geheimen Buchten am wilden Ufer unter dem Traunstein sie ansteuern sollten. Jola und Leander waren verbunden in ihrer Aufpasserrolle, immer sorgsam, dass keiner fror, keiner Hunger hatte, die Schwimmflügel fest saßen … Das alles während Max in der Badehose am Steg lag, den neuesten Roman von Alistair MacLean oder Desmond Bagley las und zwischendurch einer Nachbarin erklärte, was eine Paella sei … Und wo war Monika da? Immer etwas abseits, kam ihr vor, mit der Kamera geduckt in der Wiese, im Schatten ein Projekt vorbereitend oder gar in der Dunkelkammer im Schuppen …

Aber vielleicht waren alle diese Zuschreibungen bloß Einbildung, welche Kinder sich besonders lieb hatten, wer welche Rolle im Familientheater spielte – nie herrschte Einigkeit in diesen Dingen, nie ergab die kollektive Erinnerung ein kongruentes Bild.

16

»Prosecco?«, rief Leander in die Runde, während sich die Familie am großen Tisch auf der Veranda niederließ.

Billigende Rufe, Wünsche nach einem Seiterl Bier, Irma verlangte nach Almdudler.

»Es ist warm wie zu Ostern«, sagte Jola und zog ihren Pulli aus.

»Morgen soll es sechzehn Grad kriegen«, sagte Monika, »beim Zauner wird wieder der Garten voll sein.«

»Den Glöcklerlauf sagen sie ab, aber im Kaffeehausgarten darf man beisammensitzen …«, sagte Max.

»Weil du immer so ein Fan vom Glöcklerlauf warst«, lachte Valentin.

»Na ja, der gehört halt hierher! Und bei dem Riesenabstand zwischen den Läufern …!«

»Ich wollte eigentlich nur übers Wetter sprechen«, sagte Jola.

»Corona ist das neue Wetter«, sagte Valentin.

»Sven glaubt nicht ans Wetter«, sagte Max.