Sunnyboys - Jan Kossdorff - E-Book

Sunnyboys E-Book

Jan Kossdorff

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Beschreibung

Eigentlich hat sich Clemens Kommenda in seinem Leben bequem eingerichtet. Er führt gemeinsam mit seinem Bruder Claudio ein gut gehendes Sonnenstudio. Seine Freundin, die attraktive und fürsorgliche Volksschullehrerin Martina, wäre die ideale Kandidatin für die Rolle der Ehefrau und Mutter seiner Kinder. Aber: Erstens gibt's da noch die Affäre mit Jenny, zweitens arbeitet Clemens im Nebenjob als Privatdetektiv und drittens gerät er dadurch in die Situation, die alles verändert. Er erhascht einen entlarvenden Blick auf seine Eltern, und all die Dinge, die bisher nicht ausgesprochen wurden, drängen nun an die Oberfläche. Clemens erkennt: Nicht nur seine Eltern haben ein Doppelleben geführt.

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INHALT

Der größere Zusammenhang

So nah, wie es geht

Amateurliga

Planungsphase

Getrennte Rechnung

Angstgegner

Schneller Rücklauf

Familienanschluss

Eine Frage der Formulierung

Versteckspiele

Wir vier

Zwei Männer im See

Wasserdicht

Aber ehrlich

Ungeladene Gäste

Ein Gruß von der Insel

IN EINER WENIG GLAMOURÖSEN Einkaufsstraße in einem etwas angeschlagenen Bezirk von Wien steht ein Sonnenstudio, das auf verblüffende Weise zum Mittelpunkt meines Lebens geworden ist, obwohl solche Läden früher nicht einmal an der Peripherie meiner Wahrnehmung aufgetaucht sind. Heute aber bin ich – gemeinsam mit meinem Bruder Claudio – Besitzer des Solariums »Sun City«.

Es lief von Anfang an überraschend gut für uns, und schon kurz nach der Eröffnung interessierte sich die lokale Presse für unseren Betrieb. Auf die Frage, wodurch sich das Sun City denn besonders auszeichne, antwortete ich dem freundlichen und uns schon fast unangenehm gewogenen Reporter der Bezirkszeitung: »Die Kunden schätzen unsere günstigen Spezialangebote vom Lady Day bis zur Sunny Siesta!«

Mein Bruder zog hörbar die Luft ein und hob Einspruch anmeldend den Zeigefinger. In seiner Mimik spiegelte sich das reine Glück des Besserwissers. Der Reporter lächelte ihn auffordernd an, und Claudio erläuterte: »Na ja, vor allem kommen die Leute wegen der familiären Atmosphäre und der offenen Kommunikation! Wir bringen die Sonne gewissermaßen auch in die Herzen unserer Kunden.« Ich warf ihm einen knappen, angeödeten Blick zu, hatten wir uns doch eigentlich darauf geeinigt, dass ein Pressebericht kein Poesiealbum sei. Der Reporter, ein ähnlich verträumter Knabe wie mein Bruder, nickte jedoch beeindruckt und erklärte: »Also für mich klingt das wie eine Headline!«

Und so kam es dann auch: Der halbseitige Artikel in der Bezirkszeitung vermittelte das Bild eines Unternehmens, das seinen Kunden nicht nur »Bestrahlung«, sondern auch »Erleuchtung« offeriert, ein Ort, an dem man neben Sonne auch spirituelle Energie und neue Lebenskraft tanken kann.

Dies war Claudios erster Etappensieg in unserem langen, zähen Ringen nach der Antwort, was das Sun City in seinem Kern nun eigentlich sei. Ich sehne mich nach einer pragmatischen, leistungsbezogenen Sichtweise, mein Bruder strebt eine Überhöhung ins Legendenhafte an. Ich zahle mit kleinen, matten Vernunft-Hellern, er mit glänzenden Visions-Dukaten.

DER GRÖSSERE ZUSAMMENHANG

An einem strahlend schönen, sonnigen Junitag, an dem man sein Gesicht nur in den Himmel zu strecken braucht, anstatt sieben Euro für zwanzig Minuten auf der Sonnenbank hinzublättern, parke ich meinen Citroen BX mit Youngtimer-Status wie fast jeden Morgen vor dem Sun City. Ich höre mir die letzten Takte von Stevie Wonders »Superstitious« an, dann schwinge ich mich aus dem Wagen. Als ich vor der Eingangstür stehe, habe ich den Schwung bereits aufgebraucht. Es ist mir teuflisch unangenehm, den Laden zu betreten, so wie es mir an jedem Tag seit etwa vier Monaten unangenehm ist – so lange habe ich schon ein Verhältnis mit unserer Angestellten Jenny Schickel.

Ich stoße mich selber vorwärts und drücke die Tür des Sun City auf. Kokosölgeruch, Zigarettenrauch, leise Jamiroquai-Musik und der Klang von Claudios Rezitationsstimme empfangen mich. Mein Bruder steht hinter dem Tresen und veralbert vor einem Publikum von zwei Frühpensionisten, einer Friseurin im Krankenstand, einem Botendienstfahrer und den beiden Schickel-Schwestern einen Artikel in der Kronen Zeitung. Keiner scheint mich zu bemerken. Seit Neuestem trägt Claudio in der Arbeit Jeans und Hemden, anstatt seines alten Lieblings-Sportdresses mit der glänzenden Jacke aus irgendeinem flotten Material, das Raumfahrern tolle Dienste leistet. Ich schätze, er möchte jetzt mehr als leger-erfolgreicher Unternehmer der kreativen und querköpfigen Art rüberkommen – in einer Reihe mit der neuen unkonventionellen Winzer-Generation, smarten Passivhaus-Architekten oder materialverliebten High-End-Kaminbauern. Wie das mit einem Sonnenstudio zusammenpasst, ist eine andere Geschichte.

Unten trägt Claudio Sportschuhe, oben Glatze. Seltsamerweise verliert er seine Haare, seit er fünfundzwanzig ist, während weder mein Vater noch ich unter Haarausfall leiden. Möglicherweise liegt es an den Steroiden, die er zu seiner Bodybuilding-Zeit wie Popcorn gefressen hat. Von den Muskelbergen ist nicht viel geblieben: Claudio ist jetzt 36 Jahre alt und seit fast acht Jahren nicht mehr aktiv. Obwohl er immer noch kräftig gebaut ist, würden sich die meisten Kerle wohl locker ein Handgemenge mit ihm zutrauen, vor allem weil er klein ist. Aber die Kraft von damals hat ihn nicht verlassen, er ist immer noch zäh und massiv, und niemand, den ich kenne, hätte nur den Hauch einer Chance, ihn im Armdrücken zu besiegen. Claudio möchte es aber so sehen, dass er die Kraft des Bizeps gegen jene des Humors eingetauscht hat, die Rolle des dumpfen »Starken Mannes« gegen die des klugen Conférenciers.

Ich bin zwei Jahre jünger als er, aber das ist noch unser geringster Unterschied. Kein Mensch nimmt uns ab, dass wir Brüder sind: Ich bin über 1 Meter 90, ziemlich schlank und habe dunkle und eigenwillige Haare, mit denen man drei Köpfe vollmachen könnte. Seit Jahren trage ich sie etwa schulterlang. Der Kurzhaarschnitt, den ich früher bevorzugt habe, lässt mich gemeinsam mit meinen eher verschlossenen Zügen zu sehr nach einem Armee-Deserteur auf der Suche nach einer Flasche Schnaps und einem zünftigen Raufhandel aussehen. Entgegen sonstiger Unterschiede haben Claudio und ich aber exakt die gleiche Stimme. Wir benutzen sie nur anders: Während ich eher der Silbenverschlucker und Murmler bin, tutet Claudio auf seinem Organ herum, als müsste er im Alleingang eine Stadt evakuieren.

Dabei gilt die Regel: je unwichtiger und/oder dämlicher der Inhalt, desto lauter die Tröte.

»›Flucht in den Tod. Sommelier ertrank in eiskaltem Fluss‹. Wovor muss denn ein Sommelier flüchten? Hat der Wein so einen Kork gehabt, dass sie ihn gleich aus seinem Lokal getrieben haben? Aber dass sie ihn dann ertränken, ist schon sehr heikel. Ach, da hab ich mich verlesen, das war ein Somalier, kein Sommelier! So ein Flüchtling also!«

Es folgt asthmatisches Gelächter von der Frühpensionistenpartei, abgebrüht schiefes Lächeln von den Schickel-Schwestern (»Er ist der Chef, er sagt, wenn’s lustig ist.«), und die Friseurin weiß weder was ein Somalier noch ein Sommelier ist, weswegen sie am schrillsten lacht.

Jeden Morgen geht das so: Claudio zitiert aus der Zeitung und improvisiert dazu. Mein Bruder denkt, an ihm sei ein großer Wortakrobat verloren gegangen. Seit der letzten Pleite ist er aber etwas stiller geworden. Vor einigen Monaten kam er mit der Idee für einen frechen Spruch zu mir, den er im ganz großen Stil zu vermarkten gedachte: »In Wien gehen die Huren anders!« Das war als Wortspiel für seine Maßstäbe zwar recht gelungen und als Zitat beim Wirten noch immer eine Trumpfkarte, aber den Kult darum konnte ich mir dann doch nicht vorstellen. Claudio schien zu ahnen, dass ihn vielleicht nie wieder so ein Geistesblitz treffen würde, dass dies womöglich sein »Ich kam, sah und siegte« war, und begann, seinen Spruch in ewigen Marmor zu ritzen – genauer: ins Internet.

Inwiengehendiehurenanders.at war von da an die exklusive Bezugsquelle der in stark übertriebener Auflage hergestellten Autokissen (!) mit der gezeichneten Silhouette einer hüftschwingenden Professionellen vor dem Riesenrad plus Jahrhundertspruch.

Das Kommunikationskonzept war schlicht, einfach und erfolglos: Die Stammkunden des Sun City würden die ersten Kissen kaufen. Durch die Werbung in deren Heckscheiben kämen Neukunden auf die Idee, die Website zu besuchen und Geld für die herrlichste Zotigkeit ihres Lebens bei uns zu lassen. Die Zielgruppe war ja auch riesig: Alle Leute, die Prostitution grundsätzlich mit fröhlicher Neugier oder tiefer, wissender Wertschätzung betrachteten, UND Menschen, die Wiens Besonderheiten liebten! Das Ganze war dennoch ein großer Reinfall: Zwölf Kissen wurden verkauft, alle im Bekanntenkreis und preislich stark reduziert.

Aber wir haben ein paar Sachen daraus gelernt:

– Wenige Leute finden es witzig, in ihren Familienautos Werbung für Wiens ältestes Gewerbe zu machen.

– Die Caritas freut sich nicht über die Schenkung von dreihundert Stück Prostitutions-Promotion-Pölstern.

– Nur an eine Sache zu glauben, reicht noch nicht aus, um sie in einen Erfolg zu verwandeln.

Wie man an dieser Episode erkennen kann, besteht meine wichtigste Aufgabe im Sun City darin, Claudio fühlbar zu machen, was wir sind und was wir nicht sind. Was sind wir? Ein Ort, an dem Menschen ihre Bräune auffrischen, nach einer belebenden Dusche ein Glas Orangensaft trinken und sich dabei eine anrauchen. Das ist es, und das ist gar nicht mal schlecht. Was sind wir nicht? Wir sind kein Lifestyle-Tempel, den Leute aus Prestige-Gründen besuchen, wir sind kein Comedy-Club, wir sind kein Unternehmen, das zwangsläufig rasant expandieren muss, um zu überleben, wir sind kein Ort, wo man hingeht, weil die Tanzlokale in der Innenstadt so öde geworden sind, wir sind kein »Kommunikations-Knotenpunkt«. All das muss ich Claudio täglich begreiflich machen.

Erst vor ein paar Tagen traf ich Dr. Jungwirth auf der Straße, einen 80-jährigen, klugen, höflichen Menschen, der jahrzehntelang Kurator im Heeresgeschichtlichen Museum war und seit den sechziger Jahren mit seiner Frau in der 120-Quadratmeter-Wohnung direkt über dem Sun City wohnt. Ganz vorsichtig wandte er sich auf der Straße an mich und äußerte die Bitte, ich möge doch meinen Bruder instruieren, nicht wieder bei ihnen oben anzuläuten und sich als Nachmieter in Erinnerung zu bringen, weil das seine Frau ängstige. Ich hatte natürlich keine Ahnung davon und entschuldigte mich für die Aufdringlichkeit.

Später stellte ich Claudio zur Rede: »Was bist du für ein Kamel, die Menschen da oben aus ihrer Wohnung ekeln zu wollen, in der sie seit vierzig Jahren leben?!«

»Ich finde es ein wenig weltfremd von dir anzunehmen, dass man zu so einer Wohnung kommt, weil man der ist, der am geduldigsten gewartet hat. Außerdem kann von ekeln keine Rede sein, ich verstehe mich ganz gut mit dem Alten.«

»Du verstehst dich so gut mit ihm, dass er nur noch einen Fingerbreit davon entfernt war, die Polizei zu rufen! Wenn die Frau deinen Namen hört, springt sie aus dem Stand unters Bett!«

»Clemens, die zwei sind über achtzig, die jüngere Generation hat auch ein Anrecht dranzukommen!«

»Wofür willst du denn die Wohnung überhaupt?!«

»Clemens, ich habe dir erst neulich von der Idee ›Erlebnis-Seminarräume‹ erzählt und – nein, nein, warte! – du hast ihr keine Chance gegeben. Clemens, ich hab mir das durchgerechnet und ich würde dir das gerne noch mal präsentieren.«

»Was willst du denn da präsentieren? Und wieso belästigst du jetzt schon alte, hilflose Leute in unserem Haus, die noch nie ein Wort gesagt haben, dass wir sie mit Elektrosmog, Gelächter bis elf Uhr abends und hysterischen Kurzparkern terrorisieren?«

»Clemens, ich weiß, du bist der Pfennigfuchser von uns beiden, und ich bin dir dankbar, dass du dich darum sorgst, wo der Rubel bleibt, aber du bist nicht eben der visionäre Typ. Lass mich mal machen, gib mir etwas Spielraum, meine Ideen umzusetzen! Wir zwei wollen uns doch nicht wirklich darauf beschränken, ein Sonnenstudio zu führen?!«

»Oh, da hab ich wieder alles missverstanden! Als wir gemeinsam beschlossen haben, ein Sonnenstudio zu kaufen, hatten wir natürlich in Wirklichkeit vor, es innerhalb von vier Wochen in einen Weltraumflughafen zu verwandeln.«

»Flughafen …? Worauf willst du hinaus? Fühlst du dich als ›Kopilot‹? Willst du ›das Steuer‹ haben? Fliege ich dir ›zu hoch‹?«

»Spinnst du? Ich habe nur das Gefühl, dass du gewissen Problemen in deinem Leben ausweichst und dafür an anderen Dingen, die eigentlich ganz in Ordnung sind, herumdokterst.«

»Hm …«

»Da hab ich doch recht, oder?«

»Clemens …«

»Was denn?«

»Ich halt’s nicht mehr aus daheim.«

»Ich weiß …«

»Es ist, als würde ich mir selbst beim Leben zusehen, und ich möchte den Kanal wechseln, weil es mich einfach nicht interessiert … Ich habe Andrea wieder getroffen … Nur zufällig. Im Park bei ihrer Arbeit.«

»Sie hat doch gar keine Arbeit.«

»Okay, in der Nähe ihrer Wohnung.«

»Ich hör mir das nicht an!«

»Clemens, sie versteht mich. Du hast doch auch jemanden, der dich versteht!«

»Aha, wen?«

»Mich, du Arsch!«

»Claudio, das war ein einmaliges Treffen mit Andrea, oder?«

»Natürlich.«

»Ernsthaft?«

»Ich schwöre!«

So oder ganz ähnlich klingen die Gespräche, die Claudio und ich in schöner Regelmäßigkeit seit drei Jahren führen. Damals haben wir das Sonnenstudio komplett eingerichtet übernommen. Claudio kannte den vorherigen Besitzer aus seiner Bodybuilding-Zeit, und als die zwei beim »Schlecker« an der Kasse zufällig aufeinanderstießen – Claudio mit Windeln und Tampons im Wagen, der andere mit Kondomen und Rasierschaum unterm Arm –, plauderten sie über die alten Tage. Als ihr Gespräch auf das Sonnenstudio kam und sein Bekannter anklingen ließ, dass er sich davon trennen wolle, sprang mein Bruder voll darauf an. Als er noch Satellitenschüsseln montiert hatte, war er oft zur Mittagszeit auf dem Dach einer Villa gelegen, hatte sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen und von einem eigenen Geschäft geträumt – seiner kleinen Firma, wo er der Boss war. Das Sonnenstudio war exakt das, worauf er gewartet hatte. Ich hatte ein bisschen Geld übrig, außerdem entschied ich mich, die Garage zu veräußern, die mir mein Taufpate Gustav vererbt hatte, der sich Jahre vorher in einer öffentlichen Toilette in Sofia ins Herz geschossen hatte. (Er war ein schwermütiger, dicker Homosexueller gewesen, ein Jugendfreund meines Vaters, und nur die schwach besuchte Beerdigung war trauriger als sein Leben.) Ich erzielte einen tollen Preis und legte die Hälfte des Kaufpreises für das Sonnenstudio ohne mit der Wimper zu zucken auf den Tisch. Wir waren im Geschäft.

»›Forscher pflanzen Schwein Spinatgene ein!‹ Super, du bestellst dir ein Schnitzel, es kommt, du fragst: ›Und die Beilage?‹, und die Kellnerin: ›Die ist schon drinnen!‹«

Ich schließe die Tür zum angrenzenden Arbeitszimmer hinter mir, sodass ich nicht mehr mitkriege, ob Claudios nächste Pointe auf Zuspruch stößt. Hier herrscht Ruhe und Frieden – und es stinkt weniger nach Hygieneprodukten als im übrigen Lokal. Ich lasse mich an meinen Schreibtisch nieder und schalte den PC ein.

Wenn es mir eben noch gelungen ist, einem Blickkontakt mit Jenny auszuweichen – ihren Mails entkomme ich nicht.

Mit schlechten Vorahnungen öffne ich ihre Post, die wie immer ohne Betreff versendet wurde. Kein Text, dafür drei Bilder.

Das erste zeigt mich frühmorgens schlafend in Jennys Bett. Ich liege auf dem Bauch und umarme leidenschaftlich mein Kopfkissen. Auf meiner Schulter hat Jenny zwei »Herr der Ringe«-Figuren aus Überraschungseiern in Stellung gebracht.

Auf dem zweiten Foto stehe ich in Jennys Badezimmer. Ich trage nur Shorts und lehne mich über das Waschbecken, um mir das Gesicht zu waschen. Auch da hatte ich mich eigentlich unbeobachtet gewähnt.

Das dritte Foto ist aus ihrem Fenster im zweiten Stock aufgenommen worden: Es zeigt mich, wie ich Jennys Haus verlasse und in Richtung meines Autos gehe. (Ein schöner Moment. Sosehr es mich immer wieder in ihre Arme treibt, so befreiend ist es jedes Mal wieder, aus ihrem Haus in die Restwelt zu kommen, zurück in eine uninteressierte und beschäftigte Öffentlichkeit zu treten, hinein in einen kühlen, hellen Morgen; irgendwo einen Kaffee zu trinken, vielleicht eine Besorgung zu machen, die man auch hätte aufschieben können; bei einem Einkauf eine völlig unkomplizierte Zwischenmenschlichkeit zu genießen, bei der keine Gefühle auf dem Spiel stehen, solange man nicht mit der Kassa abhaut.)

Es ist die fünfte oder sechste Mail dieser Art, die ich von Jenny bekomme. Ich finde sie in hohem Maße irritierend. Wir sind sicher nicht in der Situation, wo man sich an Schnappschüssen aus dem Liebesnest ergötzt. Sie weiß, dass ich eine Beziehung habe (Martina ist Volksschullehrerin im Wohnpark Alt-Erlaa, wo ich auch wohne) und die ganze Situation für mich ziemlich problematisch ist. Dennoch verschickt sie fröhlich Beweismaterial durchs Internet. Dazu kommt, dass die Sorte Fotos, die sie mir mailt, genau die gleiche Seltsamkeit atmet, wie alles, das durch Jennys Finger geht. Ich habe sie natürlich schon gebeten, das bleiben zu lassen. Das klingt dann so:

»Jenny, es ist mir eigentlich nicht so recht, dass du mir dauernd solche Fotos schickst. Lass das doch bitte bleiben.«

»Aha.«

Schweigen.

»Nicht böse gemeint, aber mir ist das irgendwie nicht so angenehm.«

»Ich wusste nicht, dass du was gegen Fotos hast.«

»Ich hab nichts gegen Fotos, bitte, du weißt, was ich meine!«

»Sollten nur Erinnerungen sein …«

»Jenny, du fotografierst mich, wenn ich am Klo sitze und schickst mir das dann!«

»Soll ich auf eine Situation warten, wo du dir besser gefällst?«

»Mach einfach keine Fotos! Bitte.«

»Irgendwann wird’s dir leid tun …«

»Was?«

»Dass du keine Erinnerungen hast …«

»Ich kann mich an alles erinnern.«

»Was hab ich dir gestern gesagt, bevor du eingeschlafen bist?«

»Das hat nichts mit Fotografieren zu tun.«

»Du weißt es nicht mehr.«

»Du hast gesagt: ›Stell dir vor, es wäre immer Nacht, dann …‹ – etwas in der Art!«

»Das kam nicht aus meinem Mund.«

»Bestimmt!«

»Das muss der Lehrerin eingefallen sein. So verlässlich sind deine Erinnerungen!«

So sehr mich die Beziehung zu Jenny auch unter Druck setzt – ich fürchte, ich bin ihr ein kleines bisschen verfallen. Von Anfang an haben mich ihre Augen fasziniert. Es sind große, düstere, träumerische Augen. Ich kenne keine andere Frau, die so rätselhaft aussieht, und eigentlich wollte ich noch mehr in ihren Kopf als in ihr Bett. Mittlerweile habe ich dennoch viele Male mit ihr geschlafen, ich kenne ihre Wohnung, ihren Badezimmerschrank, ihre Bücher und ihren Handtascheninhalt; ich weiß, dass sie mit einer neugierigen, anstrengenden Schwester gestraft ist, ich kenne ihre Eltern und ihre sonstige Biografie; ich habe eine Vorstellung davon, wer sie glaubt zu sein und wer sie gern wäre. Trotzdem habe ich immer noch das Gefühl, ich müsste etwas an ihr entdecken, das alle anderen Männer vor mir aus Desinteresse und Selbstverliebtheit übersehen haben, etwas, das das Rätsel löst. Gleichzeitig möchte ich aber nicht der Mann sein, der es entdeckt. Ich sollte eigentlich völlig damit beschäftigt sein, das Rätsel meiner Freundin zu lösen (wobei sie nicht eben der rätselhafte Typ ist)!

Und dann ist da noch die andere Sache: ihre wirklich bezaubernde Figur. (Sicher, man sollte Menschen aus anderen Gründen faszinierend finden, aber ich versuche bloß, ehrlich zu sein.) Hinter ihrer oft rüpelhaften Art und unter ihrem Jeans-Sweater-Schlabber-Outfit versteckt sie einen – ich übertreibe nicht – perfekten Körper. Ich bin in der Beziehung sicher nicht fixiert, wie ein Blick auf die Frauen in meiner Vergangenheit beweist: Annegret – pummelig, wenig Busen, rötlicher Typus, Sommersprossen und andere Sächelchen am ganzen Körper. Tamara – riesig, spindeldürr, lange lockige, spröde Haare bis zum Po, Brillen wie bei Gary Larson. Und so weiter … Ich habe nie viele Gedanken darauf verschwendet, wie eine Frau genau gebaut ist. Diese Einstellung hinderte mich aber nicht daran, im Innersten tief bewegt zu registrieren, was für ein edles Geschenk mir ein komisches Geplänkel bei einer Flasche Frizzante in unserem Büro da in die unwürdigen Finger gespielt hatte.

Das Telefon läutet. Ich gehe an den Apparat. Ein Mann nennt mir eine Lieferadresse und teilt mir mit, dass er gerne Reis mit gebratenem Huhn und dazu sechs Stück knusprige Minifrühlingsrollen hätte. Das klingt nicht schlecht, aber er ist falsch bei uns. Aus irgendeinem närrischen Irrtum heraus werden wir in einem weit verbreiteten Lokalführer Wiens als chinesisches Restaurant geführt. Immer wieder versuchen Menschen, bei uns telefonisch ein Mittagessen zu bestellen, was wir kategorisch ablehnen müssen. Ich empfehle dem Anrufer ein chinesisches Restaurant, das alle seine Wünsche erfüllen wird, und lege auf. Dann fahre ich den PC herunter und verlasse das Büro. Claudio und die Schickel-Schwestern suchen gerade eine verloren gegangene Karteikarte (er sieht in der Kaffeedose nach, wo könnte sie auch sonst sein), und ich verdrücke mich mit einer gemurmelten Verabschiedung.

Ich steige wieder in meinen Citroen und fahre mit dezent quietschendem Keilriemen ab. Einen Moment liebäugle ich mit dem Gedanken, meine Eltern zu besuchen, die keine fünf Minuten entfernt wohnen.

Mein Vater wird über Mittag zuhause sein, sich einen Tomaten-Mozzarella-Salat zubereiten, dazu gibt’s Schwarzbrot mit Hüttenkäse und ein Glas herrliches Leitungswasser. Während er in der Küche werkt, erzählt er eine mordsmäßig langweilige Geschichte aus seinem Laden, die mit »Da war heute ein Idiot im Geschäft …« beginnt und mit »Vorstellungen haben die Leute!« endet. Meine Mutter schaut währenddessen irgendeine Sendung im Fernsehen und sagt Sachen wie: »Na, das ist mal ein wirklich hässlicher Mann!«, oder: »Siehst du, den juckt es an seinen Marillen, schau dir das an!«

Mein Vater setzt sich dann mit dem kargen Mahl an den Esstisch, und meine Mutter greift zum Otto-Katalog und streicht irgendwelche Dinge an, die sie nicht mehr bestellen darf, seit die Lotto-Sache aufgeflogen ist. Dann ruft meine Schwester Kitty an, die derzeit wieder bei meinen Eltern wohnt, und erklärt ausufernd, warum sie in der vorigen Nacht nicht zuhause geschlafen hat. Meine Eltern wissen, dass sie sich im Volkshochschulcafé von irgendeinem Trommellehrer, Sandalen-Selbstbaukurs-Teilnehmer oder Rhetorik-Seminaristen aufreißen ließ und deswegen nicht zuhause geschlafen hat. Meine Mutter erklärt Kitty, dass sie die ganze Nacht wegen ihr auf waren, fast die Polizei gerufen hätten, und Papa möglicherweise vor Kummer einen leichten Herzinfarkt hatte. Kitty glaubt kein Wort und schämt sich dennoch fürchterlich. Mein Vater ruft halblaut zum Telefon rüber: »Deine Sachen sind unten in der Mülltonne!« Dann lächelt er ein ganz kleines bisschen. Er ist milde geworden.

Beinahe beschleicht mich ein warmes Gefühl, wie ich so an meine Eltern denke, aber schnell wird mir wieder bewusst, dass dies nur so ist, weil ich sie nicht wirklich besuchen muss. Nein, mein rechter Fuß kommt nicht einmal in die Nähe der Bremse, als ich an dem Haus vorbeifahre, in dem sich ihre Wohnung befindet, die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin.

SO NAH, WIE ES GEHT

Mein Weg führt mich quer durch die Stadt zum Auskunftsbüro Engländer. Was mich bei meiner Zusammenarbeit mit Claudio – dieser nie endenden Konfrontation grundverschiedener Anschauungen – davor beschützt, den Verstand zu verlieren, ist der Umstand, dass ich noch einen weiteren Job habe: Seit fast fünf Jahren arbeite ich als Berufsdetektivassistent.

Zum echten Berufsdetektiv fehlt mir die staatliche Befähigungsprüfung und der Ehrgeiz, selbst jemals eine Auskunftei oder ein Sicherheitsunternehmen zu gründen. »BDA« ist angenehmer: Man muss nicht als Zeuge in Gerichtsverhandlungen auftreten, man braucht die unangenehmen Nachrichten nur selten selbst zu übermitteln (»Ihr Verdacht in Bezug auf Ihre Frau und Ihren Bruder hat sich im Zuge der Observation leider bestätigt.«), und man kann sich bis zu einem gewissen Grad aussuchen, welche Jobs man übernimmt (»Wer hat Lust auf eine etwa sechswöchige Einschleusung in ein Jagdzubehör-Expedit in Obritz an der Pulkau?«).

In der Detektei, wo ich seit ein paar Jahren arbeite, gibt es insgesamt sechs BDAs. Das ist ein Pool von sehr unterschiedlichen Charakteren, die nur ein paar bescheidene Vorzüge gemeinsam haben: Sie sind zeitlich flexibel, clever genug, um kleine Details und auch mal größere Zusammenhänge wahrzunehmen, soldmäßig nicht überanspruchsvoll, Autobesitzer, vorstrafenfrei und gerne bereit zu lügen, bis die Suppe gefriert.

Da BDAs keine anderen Befugnisse besitzen als jeder Normalmensch da draußen, ist die geschickt eingesetzte Lüge sehr häufig der effektivste oder aber auch einzige Weg, weiterzukommen. Das beginnt dort, wo man sich als Lieferant ausgibt, um an die aktuelle Adresse eines säumigen Schuldners heranzukommen, und endet bei der totalen Schizophrenie, wenn man als Informant in ein Unternehmen gesetzt wird, wo man den Kollegen einen Monat lang eine falsche Identität vorgaukelt. Schlimm, wenn die Lüge platzt: Mir passiert, als ich in das Warenlager eines Elektronikkonzerns eingeschleust war, wo HiFi-Receiver, Boxen und Endstufen mit angeblichen Transportschäden unter der Hand verkauft wurden. Die Sache endete damit, dass mir ein paar »Kollegen« das Auto aufbrachen und in die Lüftungsschlitze pissten. Nach der einzig richtigen Behandlung ist dieser Wagen mittlerweile so groß wie ein Rubikwürfel.

Ich erlebe es natürlich hin und wieder, dass ich jemanden kennenlerne, der mich fragt, womit ich so meine Knödel verdiene, und dem ich dann – falls ich in der Stimmung bin – auch erzähle, dass ich recht regelmäßig als Detektiv arbeite (wenn ich nicht gerade einen Weltraumflughafen manage). Die Art und Weise, wie einen diese Person ganz plötzlich für den interessantesten Menschen der Welt hält, lässt mich erahnen, wie es sein muss, Filmstar zu sein. Dabei möchte ich nicht behaupten, dass es grundsätzlich ein Fehler ist, einen Detektiv für interessant zu halten. Tatsächlich habe ich einige Detektive kennengelernt, die wirklich erstaunliche Geschichten zu erzählen haben und in gewisser Weise viel mehr über das Leben wissen als der durchschnittliche Bürger. Obsessive, sture und einsame Gestalten, die sich in einen Fall hineinhängen wie Valentino Rossi in eine Kurve; die permanent gegen reale oder eingebildete politische Verschwörungen, sich auftürmende Alimenteschulden und zu ihren Ungunsten laufende Justizwillkür ankämpfen. Solche Detektive gibt es, und die haben ihre Geschichten zu erzählen. Allerdings lehrt einen die Erfahrung, dass diese Typen einen eigentlich immer zu manipulieren versuchen, weswegen man das alles besser nicht unreflektiert schluckt.

Wahrscheinlicher aber trifft man auf einen Berufsdetektiv in seinen späten Fünfzigern mit Vollbart und dem Temperament einer Weinbergschnecke, der – bedächtig und uninteressiert geworden – irgendwelche Chancen aufrechnet (tendenziell sind sie niedrig). Der alle sechs Monate Vorträge mit klangvollen Titeln wie »Wege der Beweismittelbeschaffung« oder »Rechtsschutz für Detektive« bei einem Fortbildungsseminar in Regensburg oder Eisenstadt hält und damit seine gesammelte Kollegenschaft dazu bringt, vor Langeweile leise zu schluchzen.

Die inzwischen aber wahrscheinlich größte Gruppe ist die »neue Generation«: Ehrgeizige Berufsdetektive in ihren Dreißigern, mit einem Diplom in Rechtswissenschaften oder einer soliden kaufmännischen Ausbildung, vom Auftreten und Styling irgendwo zwischen Autoverkäufer und Internet-Manager. Männer, die wissen, was gute PR bedeutet, die Kontakte zu Banken und Versicherungen suchen, die sich spezialisieren, die sinnvolle Kooperationen eingehen, die an High-Tech interessiert sind und hübsche Fitnesstrainerinnen zur Freundin haben. Die es aber gelegentlich auch voll auf den Kopf hauen kann, denn eine sichere Sache ist das Detektivgewerbe noch lange nicht. Wer – vor allem in den ersten Jahren – nicht bereit ist, 18 Stunden am Tag zu schuften (teilweise bei stark an die Klientel angepassten Preisen) oder ebenso lang auf einen Auftragsanruf zu warten, ohne gleich alles hinzuschmeißen, wird’s nicht bringen.

Ja, und dann gibt’s leider auch die wirklich linken Agenten, undurchsichtige Geschäftemacher mit einer Vergangenheit im Pyramidenspiel- oder Mehrwertnummerngenre, die per Prüfungstourismus oder Schmiergeld zu ihrer Lizenz gekommen sind, eine Truppe von ehemaligen Bodyguards, Polizisten oder Nachtwächtern engagieren und sich auf einen der »härteren« Bereiche spezialisieren, also z.B. Pfuscher-Kontrolle auf Baustellen oder Kaufhausüberwachung in sozialen Absturzzonen. Da ist dann – ethisch bewertet – alles nur noch grau gegen grau.

Als BDA spielst du aber selten in einer dieser Ligen. Der durchschnittliche BDA ähnelt mehr einem Callcenter-Agent: relativ ahnungslos, oft nur für Wochen oder Monate dabei, um dann in einen anderen McJob abzutauchen, immer nervös, übervorteilt zu werden, emotional wenig in die tatsächliche Causa verstrickt und dazu eine einzige, wandelnde Sicherheitslücke. Während Berufsdetektive laufende Fälle betreffend wirklich erstaunlich schweigsam sein können, plaudern BDAs zumindest im Freundes- und Bekanntenkreis immer gleich alles aus, was mitunter für echte Probleme sorgen kann. Meine Kollegen vom »Auskunftsbüro Engländer« und ich sind da eine rühmliche Ausnahme. Das hat mehrere Gründe: Zum einen sind einige von uns schon ziemlich lange dabei, was neben der Erfahrung auch ein recht großes Stück Sensibilität (zwischenmenschlich, rechtlich) mit sich bringt. Zum anderen ist unser Chef Ernst-Peter Engländer ein maßvoller und moralisch einwandfreier Vorzeige-Unternehmer, der Diskretion, Gewissenhaftigkeit und persönlichen Einsatz einfach erwartet.

Um 13 Uhr bin ich bei Ernst-Peter im Büro. Er sitzt mir in seinem überbreiten Chefsessel gegenüber, der ihn von fast allen Seiten mit gediegenem Leder umgarnt, ihn jedoch wie ein Kind aussehen lässt, das im Arbeitszimmer seines Vaters einen erregenden Rollentausch probiert. Ernst-Peter ist so alt wie ich, wirkt aber um Jahre jünger. Er hat einen strohblonden, bei jeder Gelegenheit errötenden Sportreporterkopf mit nervösen wasserblauen Augen und fast bartlosen Wangen. Er wirkt ungefährlich und permanent eine Spur überfordert, was beides eigentlich nicht zutrifft. Ernst-Peter instruiert mich hinsichtlich der Observation, die heute Abend ansteht, und überreicht mir den Schlüssel zum Haus mit einer Anfahrtsbeschreibung.

Eigentlich ist zu der ganzen Angelegenheit kein Wort mehr zu verlieren, alles so oder ähnlich schon da gewesen, trotzdem scheint Ernst-Peter dem noch irgendetwas nachschicken zu wollen.

Er rubbelt mit dem Finger an einer Unterlage herum, dann wetzt er ein bisschen in seinem Sessel, kontrolliert besorgt die Anzahl seiner Bleistifte, um sich schließlich seufzend zurücksinken zu lassen und unpassend onkelhaft zu verlautbaren:

»Clemens, wir zwei haben schon Glück, oder?«

»So im Allgemeinen, meinst du?«

»Nicht nur. Auch mit unseren Mädchen zum Beispiel …«

»Mädchen? Yvonne? Irina und …«

»Nein, nein, nicht die Agentur-Mädels! Unsere! Andrea. Und Martina!«

»Ach so, ja, da hätten wir es vielleicht übler erwischen können.«

»Wollt ihr eigentlich Kinder haben, Clemens? Das würde mich wirklich sehr interessieren. Würdest du mir das verraten?«

»Ja, da können wir schon drüber reden, Ernst-Peter. Ähm, nein.«

»Keine Kinder?«

»Nein, nein, im Moment sicher nicht.«

»Weißt du, ich bin mir da nicht so sicher. Überhaupt nicht sicher. Und Andrea … Sie ist irgendwie sphinxenhaft dahingehend. Weißt du, ich glaube, sie wartet irgendetwas ab. Irgendetwas, hm.«

»Schwer zu sagen …«

»Absolut. Sie spricht ehrlich nicht viel darüber, also mit mir spricht sie gar nicht, aber auch ihre Mutter sagt nichts. Aber die beiden sind sich sehr ähnlich …«

»Sie sagt nichts zum Thema Kinder?«

»Nein. Also Andrea spricht mehr oder weniger gar nicht mit mir im Augenblick …«

»Ja, das kommt schon mitunter vor.«

»Wirklich? Spricht Martina auch nicht mit dir?«

»Martina? Nein, sie ist da vielleicht eine Ausnahme, sie hat immer den Mund offen.«

»Weißt du, Clemens, eine Frau kann einem Mann viel Kraft geben, ihm aber auch viel Kraft nehmen. Und Andrea saugt mir im Moment die Energie aus dem Körper wie ein Magnet.«

»Aber Ernst-Peter … Du hast doch gesagt, du hast ein Glück, sie zu haben.«

»Ja, was man halt so sagt. Weißt du, es ist nicht leicht zuzugeben, dass man Unzulänglichkeiten besitzt. Ich erreiche sie nicht. Sie will etwas von mir hören, und, verflucht, ich habe keine Ahnung, was es ist. Als wäre sie verwunschen, und ich müsste ein Zauberwort kennen, um das zu beenden.«

»Vielleicht bin ich da einfach nicht …«

»Sie hat mich geschlagen. Auch so eine Sache.«

»Wie bitte?«

»Nicht aus Bosheit oder Wut. Es schien mehr aus Neugier heraus zu passieren!«

»Die Wunde an der Stirn?«

»Ja, ja, das war ein Schuh. Es ist irgendwie verfahren …«

»Ernst-Peter, ich glaube, ich muss mich jetzt mal auf den Weg machen …«

»Mach das, ist schon gut. Nur eines noch: Gehen wir doch mal tanzen, wir vier! Andrea, Martina, du und ich!«

»Tanzen?«

»Ja, ja. Oder Essen? Beides vielleicht.«

»Okay, machen wir, warum nicht. Klingt nett, feine Idee. Auf jeden Fall!«

»Freitag vielleicht?«

»Du, ich muss jetzt wirklich!«

»Alles klar, wir organisieren das.«

Ich verlasse Ernst-Peters Büro. Ich höre noch, wie er mir etwas nachruft, eile jedoch weiter zur Tür, vorbei an Yvonne und hinaus. Als ich beim Auto unten bin, bemerke ich, dass ich vergessen habe, das Equipment für die Observation mitzunehmen, ich verblödeter Arsch. Ich muss wieder hinauf. Oben im Büro unterhalten sich Ernst-Peter und Yvonne, ich schnappe mir die Sporttasche mit Kamera und sonstiger Ausrüstung und will gleich wieder verschwinden. Sofort ist Ernst-Peter aber bei mir und hilft mir, die schwere Tasche auf die Schulter zu stemmen. Dann drückt er mir freundschaftlich den Oberarm und sagt mit gesenkter und nachdenklicher Stimme: »Du machst dein Spiel, Großer!« Er grinst kindisch und verschwindet flink in seinem Zimmer. Yvonne lächelt mich über ihren PC hinweg mitwissend an, als wäre hier gerade etwas sehr Berührendes und lange Überfälliges passiert. Ich verlasse endgültig das Büro.

Wenn ich etwas nicht wissen muss, dann wie es um das Privatleben dieses Mannes bestellt ist. Und das vor allem aus einem Grund: Mein Bruder Claudio ist in Ernst-Peters Frau Andrea verliebt. Meine Strategie in dieser Angelegenheit war bisher immer diese: Nur nicht darüber nachdenken. Wenn ich nun aber auch Details ihres Ehelebens serviert bekomme, werde ich mich wohl doch mit der Situation auseinandersetzen müssen. Mir ist Ernst-Peter ja nicht gleichgültig. Nur habe ich einfach keine Zeit für all das. Mein Potenzial als Vertrauensperson ist längst ausgeschöpft: Ich habe meinen realitätsfremden, von uneinlösbaren Sehnsüchten beherrschten Bruder, meine bockige kleine Schwester, ich gaukle meiner Freundin ein unzerstörbares, kompaktes Glück vor (an das ich nie imstande war zu glauben) und versuche mit einem Höchstmaß an Diskretion eine Affäre zu führen, bevor ich sie (hoffentlich) mit einem Mindestmaß an Fairness beende.

Ich kann mir keine weiteren Menschen leisten, die mehr von mir fordern als sie geben, die Ratschläge oder auch nur Beistand im Geiste erwarten. Ich bemühe mich seit ein paar Jahren ernsthaft, ein ausgefülltes Leben zu führen und meine Zeit zu nutzen. (Innerhalb meiner Grenzen: Mir fällt Treue schwer und ich bin kein Genie. Ich werde nie Ehemann des Jahres und ich werde keine große Sinfonie schreiben. Ich kann mich nur anderswo bemühen.) Das bedeutet aber auch, ich muss mich manchmal einfach raushalten!

Ich mache mich auf den Weg zu meinem Partner Armin, mit dem ich gemeinsam die Observation durchführen werde. Unterwegs bleibe ich bei einem Sportwetten-Lokal stehen und setze 25 Euro auf einen Sieg der Österreicherin Tamira Paszek gegen die Turnierfavoritin Justine Henin bei den French Open. Ich habe noch nie auf Damentennis gewettet, insofern ist das auch ein hervorragender Beitrag im Rahmen der Regel. Vor einiger Zeit habe ich nämlich bemerkt, dass es mir immer schwerer fällt, für gewisse Dinge Begeisterung aufzubringen und generell meinen Hintern hochzukriegen. Deswegen habe ich eine Regel entwickelt, die der äußeren und inneren Erstarrung vorbeugen soll: »Mache jeden Tag etwas, das du noch nie gemacht hast.«

Seit fast einem Jahr praktiziere ich das jetzt. Aufgerechnet heißt das: Ich habe durch die Regel an die dreihundert neue Sachen ausprobiert. Ehrlich gesagt handelt es sich meistens um wirkliche Trivialitäten und Kleinigkeiten, und ich schätze, dass vielleicht siebzig dieser Experimente Cocktails waren, die ich zuvor noch nie probiert hatte. Oder einen Schinken-Käse-Toast mit Senf essen. Die Zähne mit der linken Hand putzen. Eine ganze Folge einer türkischen Sitcom im Kabel ansehen. Et cetera.

In mehr als der Hälfte der Fälle ist es auch so, dass ich mich erst kurz vor dem Schlafengehen an die Regel erinnere. Ich rekapituliere dann rasch den vergangenen Tag in der Hoffnung, bereits irgendetwas Neues getan zu haben – sehr oft ist das aber nicht der Fall. Entsprechend unspektakulär fallen die Beiträge aus, die fünf Minuten vor dem Zubettgehen abgehandelt werden. Natürlich ist das nicht der Sinn der Regel. Tatsächlich sollte sie bewirken, dass ich mehr unternehme, meinen Horizont erweitere, Erfahrungen sammle. In einigen Fällen hat das auch funktioniert. Ich denke da zum Beispiel an die wirklich interessanten Ausflüge ins Gehörlosentheater, Pornokino und Schnapsmuseum, oder als ich einmal zwölf Stunden lang nicht sprach, einen Tag lang mit Hut Auto fuhr oder mich in einem Spezialgeschäft beraten ließ, welche Handfeuerwaffe wohl zu mir passt. Ich will es noch mal klarstellen: Diese Unternehmungen sind in der absoluten Unterzahl, und ich kann mich auch nur schwer dazu motivieren. In ganz wenigen Fällen habe ich auch Entdeckungen gemacht, die mich nachhaltig begeistern konnten. Das waren zum Beispiel zwei, drei Drinks (Flying Kangaroo, Orgasm), mit Kleidung bei weit offenem Fenster schlafen und dann direkt in aller Früh in den Tag starten (das hatte ich aus einem Buch, es funktioniert toll), Theater spielen (ein als einmaliger Workshop geplantes Experiment führte zu einem echten Engagement), Tolstoi lesen (der Mann weiß, wie’s läuft). Insofern finde ich die Regel eine gute Sache, die ich auch jedem weiterempfehlen kann, der entweder das etwas klamme Gefühl hat, das Leben würde verrinnen, ohne dass es ihn oder er es irgendwie verändert, oder einfach zu viel Zeit mit Fernsehen verbringt.

Als ich vor Armins Wohnung stehe, rufe ich ihn am Handy an. Es ist schon späterer Nachmittag, und wenn wir alles anständig vorbereiten wollen, sollten wir zügig abfahren.

Nach zehn Minuten kommt er endlich herunter und steigt zu mir in den BX. Armin ist erwartungsgemäß zerknittert und mit Sicherheit schrecklich verkatert, er trägt Kapuzenpulli und Army-Hosen, dazu eine wenig überzeugende Hornbrille, hinter der kleine, verdrießliche Augen widerwillig in den viel zu hellen Tag lugen. Auf dem Kopf dominieren sonst ein rot gefärbter Ziegenbart und ein dickes Bündel zu Dreads geflochtener, blondierter Haare.

Armin ist Mitte zwanzig und Sänger in einer Metal-Band. Nebenbei studiert er noch irgendetwas – ich vergesse regelmäßig, was. Sein ganzes Bandprojekt hat für ihn allerhöchste Priorität, obwohl ich aus seinen vielen Erzählungen den Eindruck gewonnen habe, dass in einer Band zu sein bedeutet, sich mit den besten Freunden zu verkrachen, gründlichen finanziellen Selbstmord zu begehen, zwangsläufig unerfolgreich und immer nur einen winzigen Schritt von totaler Resignation und bitterem Selbsthass entfernt zu sein. Wenn ihm das Ganze auch irgendwie Freude machen sollte, dann verschweigt er es mir jedenfalls trotzig. Dass Armin seine Hornbrille aus stylemäßig unentschlosseneren Jugendtagen trägt, spricht sehr dafür, dass er gestern länger auf der Piste war und seine Kontaktlinsen heute einfach nicht ins Gesicht gekriegt hat. Armin ist nebenbei BDA wie ich, verdient damit etwa 600 Euro monatlich (die er unter Garantie nicht versteuert), muss aber mit dem Geld nicht auskommen: Seine Eltern unterstützen ihn, was ihm gleichermaßen entgegenkommt wie peinlich ist. Er ist sicherlich kein aktiver Bekämpfer des Establishments, dennoch bleibt wohl ein schaler Nachgeschmack zurück, wenn man seinen nicht mehr ganz jugendlichen Zorn mittels einer Gesangsanlage in die Welt brüllt, die Mutti bezahlt hat.

Während ich fahre und Armin gelangweilt aus dem Fenster sieht, erläutere ich ihm in wenigen monotonen Worten den Auftrag: Ein ehemaliger Profi-Fußballer, von seinen Fans »Der Fürst« genannt, vermutet, seine Frau betrüge ihn. Nach zweieinhalb Sätzen unterbricht mich Armin: »Fahren wir beim Mäki vorbei?!«

Also durch den Drive-in, und er frisst. Danach ist die Lage plötzlich eine völlig andere, ich kenne das schon. Er ist satt und zufrieden, raucht sich eine an und will nun philosophieren.

»Am Fußballfeld der Superstar, aber die Alte macht ihn zum Loser. Scheißegal, was du erreichst, für manche bedeutet es einfach nichts …«

»Der Titel ist ewig her …«

»Ich sage dir, es gibt genug Typen da draußen, die diesem Mann die Zehen küssen würden – auch noch nach vierzig Jahren. Und das weiß sie. Außerdem stehen bei ihm zuhause die Pokale auf dem Kamin. Und die eingerahmten Siegerfotos hängen üppig über der Whiskybar. Sie sieht das und denkt – Frauenhirn! –: ›He, was glaubt der alte Mann, ist er ein Gott, oder was?!‹ Sie kann ihm seine Vergangenheit nicht nehmen, aber sie kann einen anderen Mann in ihr Tor lassen.«

»Das ist eine tolle Zusammenfassung, obwohl wir noch nicht mal wissen, ob sie überhaupt was anderes laufen hat.«

»Du bist so ein Träumer! Wozu fährt sie sonst in das Häuschen?«

»Die Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt.«

»Ich weiß, ich kenne die meisten Stellungen!«

Armin und ich arbeiten jetzt seit eineinhalb Jahren sehr regelmäßig zusammen, und das Verhalten, das wir inzwischen einander gegenüber an den Tag legen, ist ziemlich exakt das gegenteilige, das man bei einem romantischen Rendezvous zeigt. Wir stellen einander keine interessierten Fragen nach unserem Leben und unseren Hoffnungen, wir sind nicht höflich und zuvorkommend zueinander, wir versuchen nicht, dem anderen eine tolle Zeit zu machen. Der Witz ist natürlich, dass das auf Dauer viel besser funktioniert.

Es ist 16 Uhr, als wir ankommen. Die Anfahrtsbeschreibung ist perfekt, und wir finden problemlos zu der asphaltierten Sackgasse, die zu einigen rosa, hellblau und gelb gestrichenen Reihenhäusern und in weiterer Folge zum Ferienhaus des Fürsten führt.

Kinder auf Fahrrädern und Rollern kommen uns entgegen, ein Junge sitzt in einem türkisfarbenen Rollstuhl am Gehsteig und beobachtet uns beim Vorbeifahren wie ein Greis. In den Gärten wird gegrillt, und der Geruch von angebranntem Fleisch und Grillanzünder-Chemie dringt durch die Lüftungsschlitze in meinen Wagen.

Nach etwa zehn Häusern endet die Siedlung. Rechts breiten sich Felder aus, links liegt ein Fischteich. An einem Ufer steht eine Vereinshütte, von deren Terrasse ein Steg in den Teich hinausführt. An die Hütte schließt ein Wäldchen an. Die Straße biegt nun leicht nach links ab und ist ab dort, wo sie in den Wald eintaucht, nicht mehr asphaltiert.

Nach etwa 150 Metern taucht das Haus auf. Es ist ein weiß gestrichenes, aber verschmutztes zweistöckiges Häuschen mit Giebeldach und von Vögeln zugeschissener Veranda. Moos und sonstiges Grün klettern vom hier immer schattigen Waldboden die Außenmauern hinauf. Der Kamin dürfte während eines Sturms von einem Ast gerammt und beinahe abgetragen worden sein. Unter einem etwas verfallenen Unterstand links vom Haus stehen ein altes Puch-Mofa und ein Traktor aus den fünfziger Jahren.

Armin steigt aus und lädt das Equipment und eine Rolle Schaumstoff aus dem Auto, ich wende und fahre mit dem Citroen die Straße zurück. Gegenüber dem ersten Reihenhaus ist eine Pizzeria mit großem Parkplatz. Dort stelle ich den Wagen ab und lege dann den Weg zum Haus zu Fuß zurück. Der Junge in seinem lächerlich modischen Rollstuhl sitzt immer noch da und betrachtet mich stur und misstrauisch.

Armin sitzt auf der Veranda des Hauses. Er hat es sich auf der Schaumstoffrolle gemütlich gemacht und pafft vor sich hin. Ich sperre die Tür auf. Ferienhausluft schlägt mir entgegen, eine Mischung aus Moder, Zigarettenrauch und Putzmittel. Ich ziehe die Schuhe aus und sehe mich im Haus um. Im Großen und Ganzen alles wie auf der Skizze des Fürsten, ein bieder eingerichtetes, ein wenig verschmuddeltes Feriendomizil, aber nicht ungemütlich, wenn man Canasta an Regentagen oder endlose, klaustrophobische Cognacräusche mag, in deren Verlauf man sich nackt auszieht, eine nicht anwesende, vergangene Liebe anbrüllt, vielleicht ein Ikea-Regal aufbaut und schließlich weinend und müde masturbierend auf dem Badezimmerboden endet.

Unten: Vorzimmer, große Wohnküche, Arbeitszimmer. Oben: zwei Schlafzimmer und Bad.

Armin erobert das Arbeitszimmer, für das wir einen extra Schlüssel mitbekommen haben, und beginnt, den Rekorder und die Wanzen auszupacken. Ich mache mich inzwischen im Wohnbereich auf die Suche nach einem Radio oder einer HiFi-Anlage, auf die man aufpassen müsste. Ich will weder, dass die zwei hier unten so laut aufdrehen, dass wir kein Wort mehr durch die Funkmikros verstehen, noch, dass es zu irgendwelchen Rückkopplungen oder Frequenzstörungen kommt, und wir hier ein fröhliches Pfeifkonzert auslösen. Ich finde ein batteriebetriebenes Radio und tausche die Batterien gegen leere aus, die wir mitgebracht haben. Dann bringe ich die Wanzen an: zwei Stück in der Wohnküche – beide in der Nähe der Couch, aber möglichst weit voneinander entfernt; eine im Schlafzimmer. Ich vermute, dass die zwei erst noch ein Gläschen trinken werden, bevor sie loslegen. Falls sie erst nachher in Plauderstimmung sind, ist der Bettbereich jedenfalls auch abgedeckt.

Gegen 18 Uhr 30 trete ich ein letztes Mal vor die Haustür und überprüfe, ob wir nichts liegen gelassen haben. Wagenspuren sind nicht zu sehen (seit zwei Wochen kein Regentropfen), Tannennadeln liegen unverdächtig und angemessen ungeordnet herum. Das Bild sagt: Kein Mensch hier. Ich schließe die Tür und sperre sie von innen ab, dann lösche ich die Lichter im Haus. Ich ziehe mich zu Armin ins Arbeitszimmer zurück, sperre auch diese Tür von innen zu und lasse den Schlüssel stecken. Das Arbeitszimmer hat einen separaten Ausgang hinter dem Schuppen, sodass wir problemlos noch mal pinkeln gehen können – und abhauen, falls die ganze Angelegenheit hier bis morgen Früh dauern sollte. Ich verkleide die Tür und die Türritzen mit Schaumstoff, es ist nicht nötig, dass jeder kleine Furz draußen zu hören ist. Als ich fertig bin, ist das Ticken der Wanduhr aus dem Wohnzimmer nicht mehr zu hören, ein gutes Zeichen. Armin hat sich inzwischen auf das Notbett gelegt und ist vollauf damit beschäftigt, seinen roten Bart zu zwirbeln und so weit anzuspitzen, dass man ihn in Tinte tauchen und damit elegante Liebesbriefe verfassen könnte.

Ich setze mich an den Schreibtisch, lege die Füße hoch und werfe noch einmal einen Blick auf die Unterlagen zum Fall: »Der Fürst« – eigentlich Leo Wanek – ist Mitte sechzig und besitzt eine Großgärtnerei in Wien-Penzing (ich erinnere mich, dort mal ein paar Topfpflanzen gekauft zu haben, zu welchem Zweck ist mir jetzt aber schleierhaft). In seinen Zwanzigern war er Profi-Kicker, Mitte der sechziger Jahre wurde er mit seinem Club österreichischer Fußballmeister (»Der Fürst, der Fürst, der Fürst bringt uns in Führung!«). Er lebt seit drei Jahren mit einer gewissen Barbara Firmenzini zusammen, die Shoppingpartys für Naturkosmetikprodukte, Vitaminpräparate und dergleichen organisiert. Ein Foto zeigt sie umrundet von einigen Frauen bei einem Produktpräsentations-Kränzchen. Die Firmenzini ist eine große, magere Rothaarige von Ende fünfzig, mit Zahnfleisch-Lächeln und Schulterpolster-Kostüm, eine stark geschminkte und sicherlich hartnäckige Verkäuferin, als Frau (aus meiner Sicht) absolut abschreckend. Die beiden leben gemeinsam in einem Haus am Penzinger Satzberg. Ein hedonistisches spätes Glück, stelle ich mir vor, basierend auf gutem Wein, Reisen ins Piemont, relaxtem Sex und gelegentlichen Besuchen der erwachsenen Kinder aus früheren Beziehungen. Dieses Glück ist jetzt durch einen konkreten Verdacht getrübt:

Nachdem der Fürst mit der Firmenzini zusammengekommen war, verlor sein kleines Ferienhaus im Wald, in dem wir uns gerade befinden, an Attraktivität, und er beschloss, es zu verkaufen. Vor etwa einem Monat besuchte er deswegen noch einmal das Grundstück – eine letzte Begutachtung vor der Übergabe an den Makler – und war perplex: Seit er das letzte Mal da gewesen war, hatten sich Kleinigkeiten im Haus verändert. Spirituosen waren verschwunden und durch andere ersetzt worden, Gläser befanden sich nicht dort, wo sie zu stehen hatten, im Bad stieß der Fürst auf Hygieneartikel, die er nicht benutzte.

Im Gegensatz zu anderen Männern, die gewisse für sie niederschmetternde Möglichkeiten von vornherein ausklammern (»Das würde sie nie tun!«), nahm der Fürst sofort das Schlimmste an: Seine Freundin hinterging ihn in seinem eigenen Rückzugsbereich. Auf ihren Verkaufsreisen übernachtete sie im Schnitt drei Tage pro Woche nicht daheim, es wäre für ihn unmöglich gewesen zu sagen, wo sie in dieser Zeit war. In den nächsten Wochen suchte er nach weiteren Hinweisen. Schließlich stieß er in ihrem Handy auf eine verdächtige SMS, die Bestätigung eines Termins für Montagabend. Diesen Montagabend. Er beauftragte die Agentur Engländer – für die wir arbeiten – damit, vor Ort zu überprüfen, ob seine Freundin ihn hinterging.

Und hier sind wir nun.

Ich schließe die Auftragsmappe und ziehe wahllos eine der Schubladen auf. Volltreffer: Playboy-Ausgaben seit den siebziger Jahren. Die Siebziger waren die besten: sinnliche schwedisch-amerikanische Blondinen mit ausufernden, natürlichen Brüsten, einem Busch wie ein Weizenfeld im Juni und einer Freundlichkeit in den Augen, die unbezahlbar war; oder kompakte, strahlende SüdstaatenBrünette mit festen, runden Popos und großen Nippeln, mit Begeisterung für Rudern, Männer, die zupacken können, und Root Beer. Ich schnappe mir eine Ausgabe von ’73, werfe Armin aus Bosheit eine von ’87 zu, dann ziehe ich mich mit Kamera und Playboy in den Wald zurück. Etwa fünf Meter von der Lichtung entfernt mache ich es mir auf einem Baumstamm gemütlich. Ich habe optimale Sicht auf Parkplatz und Haustür und bin dennoch im Dunkel der Bäume weitgehend unsichtbar. Ich bereite alles vor, dann konzentriere ich mich auf mein Rendezvous mit Sheryl, Kalifornierin aus Überzeugung, die ihre beeindruckende Figur mit Rollschuhlaufen in Form hält und Männer schätzt, die über sich lachen können.

Kurz nach 20 Uhr geht es los: Ein dunkelblaues Saab-Coupé kommt den Waldweg hoch und bleibt vor dem Haus stehen. Sheryl landet im Moos, und ich beginne zu schießen. Ganz klar, es ist die Firmenzini. Sie steigt aus, holt eine Reisetasche und zwei Einkaufstaschen aus dem Kofferraum und sperrt das Haus auf. Ich drücke regelmäßig ab, während ich mich stetig in ihr Gesicht zoome. Sie schließt die Tür hinter sich, und ich helfe Sheryl wieder auf ihre schönen, berollschuhten Beine.

Zehn Minuten später erreicht uns der nächste Wagen. Ein roter Mercedes wird neben dem Saab abgestellt. Ein großer, fülliger Mann von etwa 55 Jahren steigt aus, Jeans, teure Wildlederjacke, Borstenfrisur. Ich erwische ihn mehrmals optimal – danke, und ab ins Haus. Das heimliche Paar ist eingetroffen, das Betrugs-Drama findet seine banale Fortsetzung, und ich ziehe mich ins Arbeitszimmer zurück.

Armin sitzt mit Kopfhörern vor dem Rekorder, er sieht hochkonzentriert und von Verantwortung beseelt aus wie ein Funker im Zweiten Weltkrieg, der die schlachtentscheidenden Koordinaten im letzten Moment mit ruhiger, deutlicher Stimme weitergibt. Er lauscht über seine Kopfhörer auf die Geräusche und Gespräche im Haus und führt währenddessen gewissenhaft Protokoll. Wenn er mit dem Schreiben nicht mitkommt, lässt er einzelne Sätze aus, hin- und wieder ist er unsicher, wer gesprochen hat, und lässt auch das frei. Beim späteren Anhören der Aufzeichnung werden wir das dann nachbessern.

Hier das Protokoll:

Frau im Haus eingetroffen (anzunehmen: Zielperson). Sie geht ein paar Mal zwischen Vorzimmer und Wohnbereich hin und her. Sie hat Getränke mitgebracht, die sie im Kühlschrank verstaut. Sie öffnet einige Fenster. Zwischendurch summt sie ein Lied, es dürfte sich um »Crazy« von Gnarls Barkley handeln (irrelevant?). Sie zündet sich eine Zigarette an. Sie geht zu der Theke zwischen Küche und Wohnzimmer und versucht, das Radio anzustellen. Es funktioniert nicht, sie flucht. Sie schließt die Fenster wieder, dann geht sie die Treppe hinauf in den ersten Stock. Sie dreht die Dusche auf.

Als sie etwa fünf Minuten unter der Brause steht, kommt unten ein weiteres Fahrzeug an. Ein Mann (bis wir Namen wissen: »Bimbo«) betritt das Haus. Er ruft: »Babschi!« Keine Antwort.

Bimbo sieht in den Kühlschrank, nimmt aber nichts heraus. Dann versucht auch er, das Radio aufzudrehen. Es funktioniert nicht. Er öffnet ein Fenster, steckt sich eine Zigarette an. Er sagt leise: »Leck mich am Christbaum.« (?!) Oben geht die Dusche aus. Nach etwa zwei Minuten kommt die Zielperson die Treppe hinunter.

Noch bevor sie unten ist, ruft Bimbo ihr zu: Seit wann – Scheiße – haben die ein Radar im Ort?

ZP: Haben die nicht sogar zwei?

Bimbo (laut): Na, das eine ist vor dem Ortsschild, das sieht jeder! Aber seit wann gibt’s das beim VW-Händler?

ZP: Habens dich geblitzt?

Bimbo: Hoffentlich nicht …

ZP: Wird schon nix sein, Hannes … Magst ein Bier?

Bimbo/Hannes: Dass ich dann dauernd schiffen muss?

ZP: Der Herr wird ja wahrscheinlich auch ein Bier trinken.

Hannes: Bitte, dann wird er auch dauernd schiffen müssen.

ZP: Hast du das Bild gesehen, wo er über ihr steht?

Hannes: Oh ja!

ZP: Was für ein Stier!

Sie lacht und holt sich ein Getränk aus dem Kühlschrank.

ZP: Einen Spritzer mit Eis?

Hannes: Herrje, ja. Hast du irgendwas zu knabbern, ich glaube, ich hab leichten Mundgeruch. Dieses Kalbsgulasch heut Mittag war nicht ganz astrein.

ZP: Knabber-Mix?

Hannes: Ja, ja!

Sie werkt in der Küche.

Hannes: Bei dem Bild … Ich wär nicht überrascht, wenn der gar nicht so mächtig wäre. Das ist diese Perspektive, da sieht ein Pinscher wie ein Schäfer aus …

ZP: Du spinnst. Na, und sie?

Hannes: Angelina Jolie ist sie keine.

ZP: Aber sie hat noch eine recht knackige Figur. Die ist unsere Generation, bitte!

Hannes: Dicke Spaßlaberl hat sie.

ZP: Also, das Wort ersparst du dir aber bitte, wenn die zwei da sind, ja? Ich glaub, die haben Niveau.

Hannes: Ist das eine Krankheit?

ZP: Trink was, relax und dann geh unter die Dusche.

Hannes: Wäscht du ihn mir?

ZP: Hör auf zu spinnen, die können jeden Moment kommen! Da muss erst mal das Eis brechen, vor allem wenn sie ein Niveau haben.

Hannes: Was ist mit dem Radio los?

ZP: Keine Ahnung, Batterien leer?

Hannes: Ich hab einen Kassettenrekorder im Auto.

ZP: Super. Ich geh ihn holen, und du gehst dich brausen! Und bring gleich einen Packen Handtücher mit runter!

Armin unterbricht sein Protokoll und zeigt mir mit einiger Dringlichkeit in seiner Mimik die letzte Passage. Er flüstert mir zu: »Da kommt noch wer!« Sofort schnappe ich mir die Kamera und will hinaus in den Wald – aber zu spät: Ein drittes Auto nähert sich bereits, um Sekunden später hinter den anderen Fahrzeugen zu halten. Ich ziehe die Tür wieder zu und deute Armin, er soll das Protokoll weiterführen. Die dritte Partei müssen wir später ablichten.

Fortsetzung Protokoll:

Während die Zielperson (Firmenzini) nach draußen gegangen ist, hat der Mann (Hannes) oben zu duschen begonnen. Vor dem Haus findet eine Begrüßung statt. Nach kurzer Zeit kommt die Zielperson mit zwei Personen zurück, einem Mann und einer Frau.

Gast männlich: Gemütlich habt ihr’s hier, muss man sagen.

ZP: Ja, eher was für Männer halt.

Gast weiblich: Ich wollt’s nicht sagen …

ZP: Und ihr habt wirklich gleich hergefunden?

Gast m: Die Beschreibung, die ihr uns gemailt habt, war echt super. Wir sind keine 35 Minuten unterwegs gewesen.

Gast w: Und er fährt wie ein altes Weib.

Gast m: Du darfst reden, wenn du selber einen Schein hast …

ZP: Wollts ihr was trinken? Mein Freund ist noch unter der Dusche.

Gast w: Gerne! Darf ich einen Blick in den Kühlschrank werfen?

ZP: Sicher, bedien dich! Und du, Peter? Ein Bier vielleicht? Oder einen Cognac?

Gast m/Peter: Nur einen Saft!

Die Zielperson schließt den Kassettenrekorder an. Ein Band von Neil Diamond beginnt leise zu laufen. Hannes kommt die Treppe hinunter.

ZP: So, darf ich euch den Hansi vorstellen! Im Grunde kennen wir uns ja alle schon von den Fotos, aber so ist es dann ja doch was anderes. Außerdem hat der Hansi ein, zwei Kilo zugelegt, falls ihr ihn gar nicht wiedererkennt …

Lachen.

Peter: Servus Hansi, ich bin der Peter.

Hannes: Grüß dich, Hansi.

ZP: Und das ist die Connie. »Connie«, oder?

Gast w/Connie: Ja, ja. Hallo Hansi.

Hannes: Küss die Hand!

ZP: Na fein, dass wir das heute geschafft haben!

Peter: Ja, wir freuen uns auch sehr. Du, Hansi, eine Frage: Hast du deine Fotos eigentlich mit Blitz aufgenommen oder mit Sekundärlicht?

ZP: Also bitte, nicht gleich ein Männergespräch! Lernen wir uns erst einmal ein bisschen kennen, würde ich vorschlagen!

Hannes: Die Antwort ist: kein Blitz, eine simple Baustellenleuchte.

Peter: Aha, doch.

ZP: So, Connie, ich sehe, du hast dich schon bedient. Campari Orange ist eigentlich eine super Idee! Peter, du kriegst gleich deinen Saft. Und Hannes, du hast eh noch deinen Spritzer! Jetzt setzt euch mal nieder.

ZP leise, schlecht verständlich zu Connie: Dusche? Eh frisch? (???)

Antwort ebenfalls unverständlich.

Hannes: Setz dich, Peter, bitte, und, Connie, du auch! Na also. Seid ihr auch in die Radarfalle hineingeraten?

Peter: Radarfalle, na hallo, wo soll die denn gewesen sein?

Hannes: Haha, es sind gleich zwei!

Connie: Wir haben die dreißig nie überschritten, don’t worry!

Hannes: Eine vor dem Ortsschild und eine – und die ist neu – beim VW-Händler!

Peter: Nichts bemerkt!

Hannes: Na, hoffen wir das Beste!

Peter: Ich hab im Internet in deinem Profil gelesen, dass du ein ziemliches Tennis-Ass bist!

Hannes: Peter, Tennis ist meine Leidenschaft, aber mittlerweile bin ich nicht mehr viel beweglicher als eine Ballmaschine.

Lachen.

ZP (aus der Küche, schlecht verständlich): … aber auch so … und ausdauernd …

ZP (jetzt bei der Couch): So, Peter, dein Saft. Wohl bekomm’s! Connie, du bist echt toll in Schuss, wenn ich dir das sagen darf!

Peter: Sie hat einen Stepper!

Hannes: Und ich wohne im 4. Stock ohne Lift!

Lachen.

Hannes: Nur ein Witz.

Connie: Ich hasse jede Sekunde davon, aber meinem Hintern hat es zehn Jahre gebracht.

ZP: Toll.

Peter: Barbara, du bist ja unheimlich schlank. Irgendein Geheimnis?

ZP: Allerdings.

Peter: Aha?

ZP: Mein Lebensgefährte kocht!

Gelächter.

Peter: Der Hans sieht doch aber ganz wie ein Genussmensch aus!