Leben spielen - Jan Kossdorff - E-Book

Leben spielen E-Book

Jan Kossdorff

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Beschreibung

Mischa hat die Leidenschaft fürs Theater gegen die Liebe zu Valerie eingetauscht. Doch als sein Freund Sebastian mit einer grandiosen Geschäftsidee auftaucht, kann er nicht widerstehen: Es geht um Inszenierungen, in denen die Kunden selbst, ganz nach Wunsch, eine Rolle spielen. Die Auftraggeber zahlen für die Darstellung privater Wünsche und Träume, für „Leben spielen“. Ausgerechnet Valerie zieht den ersten Auftrag an Land. Im Mittelpunkt der Szene, die in Wien im Österreich der Nachkriegszeit spielt, steht eine junge Frau, der Valerie verblüffend ähnlich sieht … Eine Geschichte über Liebe, Freundschaft und das Spiel, das kaum jemandem so einfach gelingt: das Leben.

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Mischa hat die Leidenschaft fürs Theater gegen die Liebe zu seiner Freundin, der Blumenverkäuferin Valerie, eingetauscht. Doch als sein Schauspielerfreund Sebastian mit einer grandiosen Geschäftsidee auftaucht, kann er nicht widerstehen: Es geht um Inszenierungen, in denen die Kunden selbst, ganz nach Wunsch, eine Rolle spielen. Ausgerechnet Valerie zieht den ersten Auftrag an Land: Joseph Freedman, der seit langem im Exil in Amerika lebt, will noch einmal die wichtigste Entscheidung seines Lebens überprüfen. Im Mittelpunkt der Szene, die im Wien der Nachkriegszeit spielt, steht eine junge Frau, der Valerie verblüffend ähnlich sieht …

Jan Kossdorff erzählt von den feinen Zwischentönen, die unser Leben, unsere Lieben und unsere Träume begleiten.

Deuticke E-Book

Jan Kossdorff

Leben spielen

Roman

Deuticke

ISBN 978-3-552-06322-8

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2016

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Motive: © ratkom – Fotolia.com, © kontur-vid – Fotolia.com, © Fiedels – Fotolia.com, © borzywoj – Fotolia.com

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Jeder Mensch erfindet sich früher oder später

eine Geschichte, die er für sein Leben hält.

                                                MAX FRISCH

1

Einige Wochen nach seinem fünfunddreißigsten Geburtstag hörte Mischa auf, Schauspieler zu sein. Er schloss mit allen künstlerischen Ambitionen ab, kündigte seine Theaterengagements, vergrub Stücke und Schreibversuche ganz unten im Schrank, stieg auch aus der Band aus, in der er Sänger war, und schwor, nie wieder einen Fuß auf eine Bühne zu setzen.

Mischa suchte sich einen Job, lernte kochen und kaufte sich einen Hund. Er wehrte all die Bemühungen seiner Kollegen und Freunde, ihn zurück in die Kunst zu bringen, erfolgreich ab. Er hatte ihr alles gegeben, und sie enthielt ihm alles vor. Seine Vorbilder waren nicht mehr die Größen der Bühne, die Genies der Kunst, sondern der Kerl im Gemüseladen, der ihn immer zum Lachen brachte, oder sein Onkel, der im Sommer in den schönen Häusern reicher Witwen unterkam, die er im Internet kennenlernte.

Er traf Valerie, und ihr phantastisch normales Leben begann. Während er im Büro saß und für eine bunte Wochenzeitung übers Telefon Anzeigenfläche an Shampoo-Firmen verkaufte, stand sie in einem Blumengeschäft und band Themensträuße für Hochzeiten oder Beerdigungen. Nach der Arbeit trafen sie sich am liebsten in einem kleinen Café in der Nähe ihrer Wohnung. Sie saßen im Freien und tranken den zweitbilligsten Rotwein; ihr Hund schlief zwischen ihren Beinen.

Mischa musste sich nicht mehr in jemanden verwandeln, der er nicht war. Menschen gingen vorbei, und er überlegte nicht, wer sie waren, warum sie sich so gaben oder was sie heimlich antrieb. Die innere Stimme, die ihn aufforderte, Wasser in Wein zu verwandeln, war verstummt.

Valerie hatte Mischa das erste Mal bei einer Party gesehen. Eine ihrer Freundinnen kannte ihn aus dem Verlagshaus, wo sie arbeitete. Sie sagte, er sei seit kurzem im Verkaufsteam, und beschrieb ihn als netten, ruhigen Typ mit leichten Anhaftungen von Humor. Valerie war zu dem Zeitpunkt Single und suchte niemanden. Sie sah ihn lange allein draußen auf dem Balkon stehen, obwohl er einige Leute auf der Party kannte. Er war ein ganz gutaussehender Typ. Mit seinen schwarzen, etwas längeren Haaren und dem dunkleren Teint sah er aus wie ein Straßeneckeninformant in einem französischen Krimi oder ein heißblütiger Widersacher in einem Shakespeare-Stück.

Die Freundin erzählte ihr, dass die Mädchen aus seiner Abteilung ein bisschen für ihn schwärmten, weil er so eine schöne Stimme hatte. Auch wenn er nur einen Kunden anrief und zum Beispiel am Telefon sagte: »Wir haben letzte Woche über das Fertighaus-Sonderheft gesprochen, und ich wollte kurz Bescheid geben, dass ich Ihnen die Viertelseite jetzt für achtzehnhundert anbieten kann!«, seufzten die Mädchen und unterbrachen für ein paar Momente ihre Arbeit.

Der Abend wurde ziemlich lang. Irgendwann saß Valerie mit zwei Freundinnen auf dem Boden im Wohnzimmer, und sie sprachen über eine Balkan-Reise, die sie für den Sommer planten. Da setzte er sich neben sie auf den Teppich und hörte zu. Valerie fragte ihn, ob er Sarajevo kenne. Daraufhin erzählte er eine Geschichte, wie er mit einem Haufen Leute in einem klapprigen Bus runtergefahren sei, um das Sarajevo-Kriegstheater zu besuchen. Das war erst kurz nach dem Krieg gewesen, und irgendwie schien es die Runde gemacht zu haben, dass dieses Theater, das während der Belagerung gegründet worden war und in den vier Jahren, in denen die Stadt von der Welt abgeschnitten war, über zweitausend Aufführungen gespielt hatte, die aufregendste Bühne Europas geworden war. In einer Stadt, in der es Bomben regnet und täglich Leute umkommen, ist der Besuch eines Theaters keine gesellschaftliche Geste mehr, es ist ein Überlebensmittel (so ähnlich formulierte er es). Er erzählte, sie hätten im Bus Wein, Schnaps, Speck und Literatur mitgebracht, und an einem Abend hätte es eine Lesung aus Texten von Brecht und Horváth gegeben. Valerie war klar, dass die Reise eine Bedeutung für ihn hatte, aber dann tat er die Geschichte auch gleich wieder ab und meinte, die Mädchen sollten sich unbedingt den Tunnel ansehen, durch den Essen und Waffen in die belagerte Stadt geschmuggelt wurden, der sei wirklich interessant.

Dann sagte er Valerie, dass ihm ihr Kleid gefalle. Sie erwiderte, sie trage doch gar kein Kleid, sondern Jeans und Pulli. Er sagte, das sehe er, aber sie habe doch zu Hause zwischen diesem Ensemble und einem Kleid geschwankt. Er glaubte, das Kleid würde ihr gut stehen.

Als Mischa Valerie bei dieser Party kennenlernte, das war ein halbes Jahr nach seinem Neustart, hatte er gerade einige Verabredungen mit Frauen hinter sich, die nicht sehr angenehm verlaufen waren. Er bemerkte, dass er gar nicht in der Lage dazu war, ein richtiges Date zu haben, denn dazu gehörte, Dinge aus seiner Vergangenheit preiszugeben – Dinge, aus denen das Gegenüber schließen konnte, welche Art Mensch man war, wie man tickte und was einen begeisterte. Diesen Frauen aber von seiner Vergangenheit zu erzählen, in der sich jeder Moment um die Bühne gedreht hatte, um Film, Kunst und Musik, hätte bedeutet, sie zu täuschen und auf eine falsche Fährte zu locken, da er mit all dem ja abgeschlossen hatte! Er hatte das Gefühl, er war als Person ein weißes Blatt. Oder anders: Er war ein Notizbuch, bis zur Hälfte vollgeschrieben, dann umgedreht, und von der letzten Seite neu begonnen. Diese besonderen Umstände waren freilich für ihn schwer zu vermitteln, und genau genommen bemühte er sich auch nicht darum. Die Frauen, mit denen er sich traf, dachten entweder, er sei vollkommen hohl oder einfach nicht zu knacken. Als er Valerie bei dieser Party traf, war es anders: Er war ihr nämlich schon früher begegnet – und sie wollte er wirklich kennenlernen.

Mischas Weg von seiner Arbeit nach Hause führte durch eine kleine Gasse, die voll von Lokalen und kleinen Galerien war, und manchmal setzte er sich dort in einen Gastgarten, las die Zeitung und trank ein Bier. Direkt gegenüber dieser Kneipe befand sich eine kleine Galerie mit floralen Kunstwerken in der Auslage. Irgendwann sah er sie sich aus der Nähe an und erkannte: Es war gar keine Galerie, es war einfach eine Blumenhandlung. Allerdings glich sie nicht den kleinen Blumenläden, wie man sie in Bahnhofs- und Krankenhausnähe fand, die ihn an Gemüsemetzger erinnerten, wo man in erdig-dampfender Luft aus frisch geschlachteten Tulpen, Nelken und Gerbera wählen konnte, hier herrschten nobler Geschmack und stilvolle Reduktion.

Hinter der Schaufensterscheibe sah er Valerie ein paar Wochen vor der Party zum ersten Mal. Sie steckte andächtig einen Blumenstrauß zusammen, wobei sie jede neue Blume und jeden Stiel Schnittgrün über den Daumen der linken Hand legte und in einer geschmeidigen, tausendfach geübten Bewegung in den Strauß hineindrehte, sodass die Stiele schräg zueinander verliefen und der Strauß einen kugelförmigen Kopf erhielt. Früher hätte er versucht, sich diese Bewegung einzuprägen – nur für den Fall, dass ihm jemand die Rolle der Eliza in einer schwulen Version von My Fair Lady anbot.

Ein paar Tage später saß sie nach ihrer Arbeit auf einem Hocker vor dem Lokal und unterhielt sich mit einem Kellner des Nachbarlokals. Sie trug ein blaues Sommerkleid, und Mischa nahm an, sie wollte noch fortgehen an dem Abend. Er fragte sich, ob sie Parfum auflegte oder einfach so nach einem wilden, geilen Mix aus Blumendüften roch. In der Woche darauf sah er sie wieder in demselben Kleid. Sie ging telefonierend an ihm vorbei, und während sein Hund einen Pinscher beschnüffelte, hatte er Zeit, ihr so lange nachzusehen, bis das Blau ihres Kleids nur noch als Punkt in einem Knäuel von Naschmarktbesuchern aufblitzte und dann ganz verschwand.

Als er sie schließlich auf der Party traf, zauderte er ewig, bevor er sich zu der Gruppe Mädchen setzte. Als dann das Stichwort Sarajevo fiel, musste er vom Kriegstheater erzählen, da die neuen Seiten seines Notizbuches ja nahezu unbeschrieben waren, er die Gelegenheit aber nicht einfach vorbeiziehen lassen wollte, irgendeine Form von Eindruck bei Valerie zu hinterlassen.

Nach diesem ersten Treffen dachte Valerie, dass er wirklich ein ungewöhnlicher Typ war, und es war richtig, er hatte eine gute Stimme, aber er wirkte auf sie wie ein Einzelgänger, einer, der nur ab und zu aus seinem Schneckenhaus herauskam, um ein wenig Zerstreuung zu suchen. Die anderen Mädchen in der Runde waren ganz aufgeregt über sein Erscheinen auf der Party und stellten, nachdem er kurz nach Mitternacht aufgebrochen war, allerhand Mutmaßungen über ihn an:

Er arbeitete als Anzeigenverkäufer. Gut. Aber warum wusste niemand, was er vorher getan hatte? Fragte man ihn, antwortete er ausweichend. Hatte er irgendwelche illegalen Geschäfte gemacht? Er schien ein Naturtalent im Telefonmarketing zu sein, die Gastgeberin erzählte, er schaffe Abschlüsse, wo andere nichts erreichten. Dann hatte er diesen jungen Hund, einen Cockerspaniel, mit dem er immer unterwegs war. Man konnte die beiden an der Alten Donau oder im Prater treffen, immer ohne Begleitung, nur der Mann und sein Hund. Hatte er keine Freunde, keine Familie? Mit den Kollegen schien er auch fast nie etwas zu unternehmen. Er war offenbar Single, warum ging er nicht fort? Was sie so mitbekamen, gab es nur einen Kollegen, mit dem er gelegentlich auf einen Drink ging – und das war ausgerechnet der Älteste im Team, der Trachtenjacken trug und Schulden von einem Pyramidenspiel zurückzahlte! Gab es da einen Zusammenhang mit Mischas Vergangenheit?

Ein paar Tage später stand Valerie in der Blumenhandlung und sah durch das Schaufenster auf die Straße hinaus – und da saß er, in dem Lokal direkt gegenüber. Und dann begann es bei ihr zu rattern: Natürlich, sie hatte ihn schon früher gesehen, er war schon öfter dort gesessen. Und dann fiel ihr seine Bemerkung zu ihrem Kleid ein, das sie bei der Party nicht getragen hatte, und sie dachte: Er hat mich also hier in dem Kleid gesehen, deswegen die Anspielung. Irgendwie wurde sie nun unruhig, und ihr fielen all die Sachen ein, die die Mädchen über ihn zusammengesponnen hatten, und sie fragte sich: War da doch was dran? Hinzu kam, dass sie schon früher in ihrem Leben von Männern verfolgt und bedrängt worden war und bei den leisesten Anzeichen eines überwachenden oder kontrollierenden Verhaltens Zorn in sich aufsteigen spürte.

Sie marschierte also aus dem Geschäft auf die Straße und ging direkt auf ihn zu. Als er sie bemerkte, ließ er die Zeitung sinken und lächelte.

Mit bemüht ruhiger Stimme sagte sie: »Darf ich fragen, was du hier machst? Sitzt du wegen mir hier?«

»Was meinst du?«

»Du bist öfter hier, immer vor meinem Geschäft. Und du merkst dir, was ich anhabe. Und dann tauchst du auf dieser Party auf.«

Er antwortete in einem sehr freundlichen und sachlichen Ton, der sie verrückt machte:

»Ich sitze gerne hier, weil es hier Hubertus-Bier gibt und man einen guten Überblick über die Gasse hat. Um sechs Uhr erwischt man auf diesen Plätzen auch noch Sonne, dort drüben ist schon Schatten. Der Kellner hat auch nach dem zehnten Besuch noch nicht versucht, eine Unterhaltung zu beginnen, und sie haben eine Hundetankstelle hier! Ich würde also sagen, es ist das Gesamtpaket.«

»Und was soll das Gerede über mein Kleid?«

Er setzte sich aufrecht hin und sagte etwas leiser als vorher:

»Ich hab dich ein-, zweimal in dem Kleid gesehen. Ich will es mir weder ausborgen, noch bin ich sonst wie darauf fixiert, es fiel mir einfach ein, als wir auf der Party geplaudert haben. Es ist unheimlich blau!«

»Und das war’s?«, fragte sie.

»Ende der Geschichte, keine bösen Absichten. Ist es dir lieber, wenn ich mich woanders hinsetze?«

Und darauf sagte sie: »Ja, das ist es mir wirklich!«

Er stand auf, zahlte und spazierte mit seinem Hund ein Lokal weiter. Ohne Widerstand, ohne Liebes- oder Hassbekundungen.

Mit Anspannung in der Miene kam sie zurück ins Geschäft.

»Was ist denn?«, fragte Jochen, ihr Kollege.

»Ach, da war so ein Kerl draußen. Mit einem Cockerspaniel. Hat mich beobachtet.«

Jochen – zwei Meter groß, Deutscher, Familienvater – unterbrach seine Arbeit nicht, während er sagte: »Den kenn ich. Der kommt auch, wenn du nicht da bist!«

»Ich hab ihn weggeschickt, denkst du, das war das falsch?«

Er ließ von den Blumen ab und sah gequält zu ihr hinunter: »Meine Frau hatte wieder Schmierblutungen heute früh. Wir brauchen dringend eine neue Gastherme. Katja, die Zweijährige, ist ganz versessen darauf, meinen Penis anzufassen. Und ich glaube, wir haben ein Ameisennest im Toyota. Das sind jetzt nur die Tagesnachrichten. Ist das mit dem Mann und seinem Hund dort draußen wirklich ein Problem, das meine Zeit wert ist, oder findest du ihn nur süß und schickst ihn weg, bevor es kompliziert wird?«

Sie flüsterte »Sag bitte nicht Penis!« und machte sich wieder an die Arbeit.

Valerie versuchte, die wenigen Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass sie Mischa aus seinem Lieblingscafé verscheuchte, für sich zu ordnen, und nach einiger Zeit begriff sie, dass alles mit den Spekulationen der Mädchen auf der Party zu tun hatte. Sie hatte tatsächlich einen Stalker und soziopathischen Einzelgänger in ihm gesehen, und sie ärgerte sich, wie leicht sie das Schlechteste in jemandem zu identifizieren glaubte.

Vielleicht war nun das der Moment, um den Ereignissen, die sie erwartete, einen Schritt entgegenzugehen … Es war nämlich so: Sie wünschte sich etwas. Sie wünschte es sich schon sehr lange, und sie wünschte es sich so sehr, dass sie es fast angreifen konnte. Sie hätte es nicht Glück oder Liebe genannt oder sonst einen großen Begriff dafür gefunden, es ging ihr einfach um einen größeren Lebenswert, um etwas Tieferes. Sträußchen binden, Aperol trinken, zu Indie-Musik tanzen, Flohmärkte durchstöbern, mit Jungs am Stadt-Strand knutschen – alles hübsch und nett. Aber das war nicht das, was sie suchte. Sie wusste gar nicht, was es war. Sie fand es nicht in Frauenzeitschriften und sah es nicht in ihrem Bekanntenkreis. Sie hatte es in keinem Buch gelesen und in keinem Film gesehen. Sie wusste, dass es sich nicht auf eine der ewig wiederholten Lebensinhaltsfloskeln wie Karriere oder Familie reduzieren ließ. Aber irgendwann mal würde irgendein Typ, der hier vorbeikam, sagen: Diese Kleine aus der Blumenhandlung, die hat vielleicht was auf die Beine gestellt. Und ein anderer würde fragen: Ach ja, was denn? Und der andere würde sagen: Ist mir gerade entfallen, aber es gibt da diese Dokumentation über sie. Und dann würde der andere sagen: Ach, Dokumentationen schau ich nicht.

Mehr sah sie nicht in ihrer Kristallkugel. Vielleicht war sie auch nur eine Idiotin, die dachte, etwas Großes erwartete sie, bis sie eines Tages vom Bus überfahren wurde. Auch denkbar. Auf jeden Fall wusste sie, dass sich nichts in ihrem Leben verändern würde, wenn sie sich Menschen und Möglichkeiten gegenüber verschloss. Dieser Mann dort auf der anderen Straßenseite war ein Mensch. Und möglicherweise war er ein Mensch für sie. Sie hatte ihn verscheucht, und jetzt würde sie sich entschuldigen. So einfach war es.

Sie sagte zu Jochen, dass sie früher Schluss machen würde, schlüpfte aus der Schürze, verließ die Blumenhandlung und lief über die Straße.

Valerie fand Mischa Zeitung lesend im Gastgarten vor einem Lokal weiter die Straße hoch. Sie entschuldigte sich dafür, ihn weggeschickt zu haben. Er antwortete, dass er sie verstehe und dass ihr neuer Verehrer wirklich Klasse habe (er deutete auf den alten Spinner, der jetzt auf seinem früheren Platz saß, die Zeitung in zweifingerbreit Entfernung an sein Gesicht gedrückt hielt und immer wieder laut und saftig schmatzte). Sie lächelte, und mehr gab es dazu eigentlich nicht zu sagen. Sie saßen im Freien, bis der Garten geschlossen wurde. Dann wechselten sie in ein anderes Lokal und plauderten bis nach Mitternacht. So wenig Mischa bei seinen letzten Verabredungen mit Frauen von sich erzählt hatte, so leicht fiel es ihm jetzt, sich mitzuteilen. Es ging gar nicht darum, ob er bereit war, etwas von sich preiszugeben. In allem, was er sagte, gleichgültig wie trivial das Thema war, fand er seine Stimme. Er sprach über seine Arbeit, Artikel, die er gelesen hatte, die Stadt, in der sie lebten, und hatte nachher doch das Gefühl, vor allem über sich selbst gesprochen zu haben. Er merkte, es war dumm gewesen zu glauben, er könne sich einer Frau nicht mehr öffnen. Es musste nur die richtige sein. Vielleicht war es seltsam, wenn man nach einem Treffen mit einem Menschen vor allem darüber glücklich war, dass man sich selbst gut leiden konnte, aber dass es so war, rechnete er eben ihr an.

Sie verabschiedeten sich ohne Kuss und tauschten keine Telefonnummern aus. Sie sagten nur auf Wiedersehen.

Es gab einiges, das Valerie an Mischa gefiel: Er war nicht aufdringlich. Weder versuchte er, sie mit Charme um den Finger zu wickeln, noch bemühte er sich darum, eine erotische Stimmung aufzubauen. Seine Blicke schweiften nicht ab, obwohl die hübscheste Kellnerin des Lokals sie bediente. Was Valerie auch mochte: Er schien wirklich im Hier und Jetzt zu leben. Er verlor sich nicht in Episoden aus seiner Vergangenheit oder zählte Lebenserfolge auf. Genauso wenig hatte er das Bedürfnis, ihr alles über seine Ziele und Zukunftspläne zu erzählen.

All dies war ihr sympathisch und angenehm. Aber irgendwann, nach zwei, drei Stunden, hatte sie schon das Gefühl, er könnte ihr einen kleinen Einblick in sein Inneres gestatten.

Als sie sich verabschiedeten, fühlte sie sich seltsam. Dieser Mischa war ein netter Kerl, er hatte Charme, und sie fand ihn attraktiv, aber sie hatte nicht das Gefühl, ihn nun besser zu kennen. Und irgendwie fand sie, ihm wäre eine Spur Leidenschaft doch recht gut gestanden. Ihr Gefühl war: Dies war bestimmt kein Mann, den sie aus ihrem Leben fernhalten musste – aber auch keiner, den sie unbedingt darin haben musste.

Es wunderte sie nicht, dass sie keine Telefonnummern oder E-Mail-Adressen austauschten. Sie machten sich auch nichts für die folgenden Tage aus. Ja, sie küssten sich nicht mal zum Abschied.

Ein paar Tage später schaute Mischa bei der Blumenhandlung vorbei und fragte nach Valerie. Man sagte ihm, sie sei heute nicht im Geschäft. Zwei Tage darauf versuchte er es erneut – wieder war sie nicht da. Er war enttäuscht, aber später an diesem Abend lief sie ihm in der Nähe des Geschäftes zufällig doch über den Weg. Er fragte sie, ob sie vielleicht Hunger habe, und so landeten sie bei einem Vietnamesen gleich ums Eck.

Das Essen verlief nicht gut. Die kleine Kränkung, sie zweimal nicht angetroffen zu haben (der Verdacht, dass sie sich zweimal verleugnen hatte lassen), beunruhigte ihn, und es gelang ihm nicht, in den Abend und in eine Unterhaltung hineinzufinden. Also tat er, was er sein Leben lang getan hatte, wenn er unsicher war: Er spielte eine Rolle. Und er spielte schlecht.

Wenn sie ein ernstes Thema ansprach, gab er sich nachdenklich. Er wollte, dass sie dachte, Nachdenklichkeit sei seine Natur. Er wurde zur Karikatur eines nachdenklichen Menschen, ein sein Kinn reibender, das Unsichtbare fixierender, den Schmerz und die Ungerechtigkeit antizipierender Übergutmensch.

Auf eine lustige Alltagsbeobachtung reagierte er im Ton eines Sitcom-Charakters: zynisch, prätentiös lässig, lebensverdrossen.

Und wie jeder nervöse Mensch sagte er lieber eine Dummheit, als eine Pause im Gespräch zuzulassen. Er verstieg sich zu immer seltsameren Aussagen:

– Mein Hund weiß oft besser, was ich fühle, als ich.

– Ich hasse es, wenn die Klopapierrolle verkehrt im Halter hängt und das Papier die Wand berührt.

– Vielleicht eröffne ich ein Restaurant in meiner Wohnung!

– Ich hätte mir längst einen Segway gekauft, wenn ich wüsste, wo man damit fahren darf.

Je länger der Abend dauerte, desto verkrampfter wirkte auch Valerie. Er konnte ihr ansehen, welche Mühe es sie kostete, ihrem Gesicht den Anschein von Heiterkeit aufzuzwingen. Offensichtlich fühlte sie sich so unwohl wie er sich selbst. Irgendwann fanden sie sich in einer schier unendlich langen Gesprächspause wieder – und es war definitiv nicht die gute Sorte Schweigen zwischen Menschen, die völlig auf einer Wellenlinie liegen. Anstatt den Schrecken immer weiter zu verlängern, seufzte er einmal tief, stand auf und verabschiedete sich.

»Es tut mir leid«, sagte er, »ich bin nicht so, aber ich kann es dir nicht beweisen!«

Er legte ein paar Geldscheine auf den Tisch und verließ das Lokal.

Er tat ihr leid. Es war ja nicht so, dass es ihr nicht schon ähnlich gegangen wäre. Jeder hat das doch schon mal durchgemacht, dieses totale Versagen. Manche Männer haben das Problem im Bett – andere im Restaurant. Sie hätte ihm so gerne herausgeholfen aus seinem Elend, aber wie?

Sie blieb noch länger sitzen. Nachdem sie das Treffen ein paar Mal im Geiste durchgegangen war, schweifte sie zu ihren üblichen Themen ab: Wie seltsam sich alles für sie in Wien entwickelt hatte … Anstatt ihr Psychologiestudium zu beenden, hatte sie die Floristenlehre gemacht. Aus der schönen, riesigen Wohnung von Mathias war sie ausgezogen und stattdessen in eine kleine Absteige in der Vorstadt übersiedelt. Anstatt mit seinen unverschämt gut verdienenden Freunden vom Fernsehen hing sie nun mit schlecht bezahlten Blumenverkäufern herum. Ihre Freundinnen bekamen Kinder, sie bloß Hautausschläge.

Es vergingen fast drei Wochen, bis sie ihn wiedersah. In der Gasse, in der sich die Blumenhandlung befand, wurde ein Fest veranstaltet. In dieser Gasse fand eigentlich jeden Monat irgendein Fest statt. Auf der für den Verkehr gesperrten Fahrbahn standen Tische und Bänke, DJs spielten ihre Musik direkt auf die Straße hinaus. Es gab zwei kleine Bühnen für Bands und Entertainer, und an einigen Ecken traten Straßenkünstler auf. Es war das übliche Treffen der Generation Ladenlokal, die ihrer Midlifecrisis mit Mojitos zuprostete.

Valerie hatte an diesem Tag schon um sechs Schluss und setzte sich nach der Arbeit mit einer Kollegin an einen der Tische. Sie tranken Wein und hörten mit einem halben Ohr einem Kabarettisten zu, der gerade auf der Bühne mit seinem Programm begonnen hatte. Da sah sie ihn. Er spazierte mit seinem Hund durch die Zuschauermenge.

Ihr erster Reflex war, sich zu verstecken. Als sie ihn aber ein paar Sekunden aus der Ferne beobachtete, strahlte er etwas so Verlorenes aus, dass sie weich wurde. Sie sprang auf und lief ihm hinterher. Kurz bevor er das Ende der Gasse erreicht hatte, holte sie ihn ein.

»Hey, Alter, was geht?!«, rief sie ihm zu.

Er wusste nicht, wie ihm geschah. In seinem Gesicht: Beunruhigung.

Sie entschuldigte sich: »Der Kerl auf der Bühne hat mich mit seinen Sprüchen angesteckt …«

»Oh. Wir ziehen nur durch. Ich hab eingekauft, wir wollen kochen.«

Zuerst wollte sie ihn bitten, nicht mehr in der Mehrzahl von sich zu sprechen, bloß weil er einen Hund hatte, stattdessen sagte sie: »Ich bin mit einer Freundin hier, setz dich doch zu uns!«

Er sah sie an, als wisse er nicht, warum zum Teufel sie das noch wollte.

»Lassen wir das lieber bleiben«, sagte er, »es könnte noch schlimmer werden.«

Valerie war beschwipst und wollte gutmachen, was er vertan hatte. Jedenfalls konnte sie ihn so nicht gehen lassen.

»Lass uns etwas trinken und das letzte Treffen einfach vergessen, gut?«

»Ein anderes Mal, Valerie.«

»So schlimm war es ja nicht, du warst eben nervös!«, sagte sie, nur um ihn zu trösten. Er wurde grimmig und rief: »Ich bin gar nicht dieser Typ aus dem Restaurant!«

Und weil sie dachte, damit machte er es sich zu einfach, sagte sie mit ruhiger Stimme: »Aber wer bist du dann eigentlich?«

Er ging ein paar Schritte zur Seite, von wo aus er Sicht auf die ganze Gasse hatte, und zeigte auf den Kabarettisten auf der Bühne, der versuchte, die Leute in Stimmung zu bringen.

»Ich bin der da, ok?«

Er sah sie mit einem zornig-triumphierenden Blick an, den sie nicht verstand.

»Und ich bin der da!«

Er zeigte auf einen Straßenmusiker, der dabei war, seine Gitarre zu stimmen.

»Und ich bin der da!«, und er deutete auf einen Pantomimen, der gerade eine Blume in den Himmel blies.

Sie runzelte die Stirn und hoffte auf eine Erklärung.

»Ich hab mein Leben geändert, verstehst du? Ich war so wie die, aber jetzt bin ich es nicht mehr. Ich will einfach … keine Spielchen mehr!«

»Du warst Pantomime?!«, fragte sie skeptisch.

»Ich war Schauspieler, Valerie.«

Sie sah ihn verwirrt an: »Da musst du doch kein Geheimnis daraus machen!«

Er nickte und kam einen Schritt auf sie zu.

»Ich war so eine Art Junkie, und seit sechs Monaten bin ich clean. Ich hänge das nicht an die große Glocke.«

Sie hatte den Eindruck, der Satz erschien ihm jetzt, wo er ihn ausgesprochen hatte, pathetisch, und vielleicht begann er sich schon wieder zu ärgern, dass es ihm nicht gelang, ihr gegenüber authentisch zu sein.

»Und Treffen mit Mädels wie mir lenken dich ab von deinem Entzug?«

Er überlegte kurz, und dann sagte er ihr völlig unerwartet etwas sehr, sehr Nettes. Etwas, das ihr wirklich guttat.

Sie, beduselt und verwirrt wie sie war, sagte ihm daraufhin auch etwas sehr Nettes, von dem sie erst gar nicht dachte, dass es stimmte, aber als sie es sagte, merkte sie, dass sie es genau so meinte.

Ihr fiel auf, dass ihre Knie zitterten.

Er fragte sie, ob sie am Tag darauf spazieren gehen wollten.

Sie sagte ganz sachlich »Ja, klar«, dann diktierte sie ihm ihre Nummer, und alles kam ihr sehr umständlich vor.

Sie trafen sich in der Woche darauf drei Mal nach ihrer Arbeit. Sie gingen essen oder spazieren, sahen sich Ausstellungen an und saßen in Parks herum. Auf einmal stimmte es zwischen ihnen. Das Desaster in dem vietnamesischen Restaurant hatte seinen Sinn gehabt. Dass sie ihm danach noch eine Chance gegeben hatte – das war, was er an ihr am meisten mochte.

Bei all ihren Verabredungen betrieben sie einen bemerkenswerten Aufwand, sich zu verstehen und rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Von außen betrachtet mag das allerdings ein klein wenig bemüht ausgesehen haben. Als sie sich dann bei Mischa zu Hause zum Kochen trafen, küsste sie ihn zur Begrüßung auf den Mund, und zwei Minuten später fanden sie sich eng umschlungen auf der Holzbank unter der Garderobe im Vorzimmer wieder, Wäsche verschoben, Knöpfe aufgerissen, und stolperten rasend in eine Vereinigung, auf die sie zuvor so geduldig hingesteuert waren. Die Vorsicht, mit der sie einander begegnet waren, war völlig aufgebraucht.

Kurz vor Mittag lagen sie immer noch im Bett. Er redete und hielt sie dabei im Arm – obwohl sie gar nicht so der Typ war, der immer gehalten werden wollte. Er sprach von seiner Zeit als Schauspieler und warum er nun als »Keiler« glücklicher war als zuvor. Er erzählte von dem Druck, den man sich als Schauspieler macht, von dem Gefühl, nicht zu wissen, was man eigentlich tat, den Selbstzweifeln, der Entfremdung vom Alltag der anderen Leute. Er sprach auch von den Morlocks, die unter der Erde leben, und den Eloi, die das Tageslicht suchen, und dass Schauspieler von beiden etwas besaßen, Höhlenbewohner und Lichtgestalten waren. Sie dachte, sie ließ ihn am besten einfach reden.

Später fragte sie ihn, ob er Fotos habe. »Was für Fotos?«, fragte er. »Du als Romeo, du als Doktor Faustus, du als Gegenspieler von Kommissar Rex, was immer du anzubieten hast«, sagte sie.

Er holte das Notebook ins Bett, und sie suchten im Web nach den Spuren seines alten Lebens. Sie fanden: Fotos von diversen Auftritten, Presseberichte, die Website seiner Agentur, Videos, Blog-Einträge – ein Kaleidoskop verschiedener Gesichter und Stimmen.

»Du warst umtriebig«, sagte sie.

»Suchtbedingt …«, erwiderte er.

Sie verbrachten den Tag in seiner Wohnung, unterbrochen von ein paar Runden um den Block. Am Abend schauten sie Videos und ließen sich etwas vom Inder bringen. Sie spielten Paar, weil sie noch nicht wirklich eines waren. Sie hielten Händchen, wie es Paare machen, und sie küssten sich, wenn einer wieder zum anderen aufs Sofa kam. Sie fuhr ihm durch die Haare und streichelte seine Oberschenkel und hatte das Gefühl, als wäre das alles völlig neu für sie. Eigentlich hatte jede ihrer Beziehungen als Bettgeschichte begonnen, die irgendwann an Bedeutung gewonnen und zu einer Liebesgeschichte geworden war. Mischa aber hatte schon vor ihrem ersten Kuss ein so buntes Feuerwerk an Gefühlen bei ihr gezündet – Mitleid, Zorn, Unsicherheit –, dass sie nun das Gefühl hatte, sie hätten schon wahnsinnig viel miteinander durchgemacht, und sie müsste in den nächsten Tagen mal ein paar Sachen vorbeibringen, ein bisschen Wäsche, einen Föhn, Hausschuhe.

Ihr phantastisch normales Leben – jetzt begann es also wirklich. Oft waren sie bei ihr, in der kleinen Wohnung im vierten Stock ohne Lift in Ottakring, wo es im Stiegenhaus nach türkischem und philippinischem Essen roch. Wenn er die Wohnungstür öffnete, dann das Gegenprogramm: der Duft von frisch geschnittenen Wiesenblumen aus ihrem Laden, von Hautcreme, Rindsuppe oder Palatschinken, Ingwertee.

Sie saßen auf ihrer Fensterbank, teilten sich ein Bier und erzählten sich die Tagesgeschichten. Irgendwann später gingen sie in eine Kneipe, spielten gleich ums Eck mit Haluk und Mehmet Backgammon oder zogen zwei Straßen weiter, wo es in Gabis Pub einen Darts-Automaten gab. Oder sie ließen den Hund in der Hundezone im Park seine Runden drehen, während sie auf einer Bank rumlungerten wie Teenies in der Freistunde und gemeinsam eine rauchten.

Waren sie bei Mischa im Vierten, in der Altbauwohnung im ersten Stock mit Blick in den Innenhof einer Pizzeria, schauten sie sich seine Lieblingsfilme an, die er noch auf VHS-Kassetten hatte: Marx Brothers, Steve Martin, alte Tom-Hanks-Komödien, Monty Pythons. Dazu kochte er etwas Thailändisches, so scharf, dass sie die Taschentücher päckchenweise verbrauchten. Wenn sie genug hatten, spazierten sie in Richtung Wienfluss, besuchten irgendeine Bar oder liefen einfach nur lange unter Laternen hindurch und hielten Händchen wie all die anderen. An den Wochenenden, wenn das Wetter stimmte, setzten sie sich in einen Zug und fuhren irgendwohin raus. Sie stiegen aufs Geratewohl aus, zum Beispiel weil ihnen ein Stationsname oder eine Aussicht gefielen, wanderten drauflos, aber ohne übertriebene Ambition, und sobald es ihnen irgendwo passte, setzten sie sich hin, packten Jause und Bücher aus und ließen den Tag kürzer werden.

Zu ihrem Halbjahres-Tag schenkte Mischa Valerie Diamantohrringe, die ein befreundeter Schmuckdesigner entworfen hatte. Valerie hatte eine von ihr selbst gezeichnete Comicgeschichte für Mischa, in der er der Held war: ein Anzeigenverkäufer, der abends zum gefeierten Bühnenstar wird und nachts mit seinem Hund Parkbesuchern auflauert, die die Häufchen ihrer Vierbeiner nicht wegräumen (manchmal musste man die Leute daran erinnern). Mischa war zu Tode gerührt und dachte, das Geschenk hatte sie nichts gekostet und war doch spektakulärer als seines.

Viel später am selben Abend fragte er sie, ob sie glücklich sei und sich über die Ohrringe freue.

»Klar«, sagte sie, »weil sie schön sind, nicht weil sie wertvoll sind!«

Er wollte wissen, ob sie sonst viel Schmuck besaß – tragen sah er sie selten welchen. Sie gestand, dass sie sogar eine recht gut gefüllte Schmuckkiste besaß – Mathias, der Mann, mit dem sie vor Mischa zusammen gewesen war, hatte sie regelmäßig reich beschenkt.

»Was hat er eigentlich gemacht?«, fragte Mischa mit einem Anflug von Ärger. Inzwischen verdiente er gut, aber er erinnerte sich lebhaft an Zeiten, als er seinen Freundinnen Gutscheine für Workshops schenkte, die er selbst moderierte, oder gerahmte Fotos von ihm mit der Unterschrift: »Before the fame, love, Mischa!«

»Ich habe es dir erzählt, er hat beim Fernsehen gearbeitet!«

»Daran erinnere ich mich, aber was hat er genau gemacht?«

»Er war beim Wetter.«

»Als Produzent oder Redakteur?«

Sie sah ihn mit diesem zwischen Reserviertheit und Gereiztheit wechselnden Blick an, der ihm schon ein paar Mal untergekommen war.

»Er war der Wettermann, ganz einfach!«

»So einer wie der Kachelmann?«, fragte er, und es war schwer zu überhören, dass er es gehässig meinte.

»Er hat einfach das Wetter moderiert, was regst du dich auf?«

Er hätte das nicht sagen sollen, aber es reizte ihn zu sehr: »Eigentlich kann man das Wetter nicht moderieren. Das hieße, man würde es steuern oder mäßigen, wie soll das gehen?«

»Hm«, sagte sie ruhig, »wer macht jetzt auf Kachelmann … Außerdem ist die Wetter-Moderation nicht so sensationell einfach, wie sie vielleicht aussieht.«

Und in dem Moment, im Bruchteil einer Sekunde, ausgelöst durch das Wort »sensationell«, manifestierte sich eine Erinnerung und beantwortete von sich aus eine Frage, die irgendwie immer im Raum gestanden war, ohne dass er sich viel um sie gekümmert hätte.

»Mein Gott, wir sind uns früher schon mal begegnet!«

Valerie zuckte die Schultern.

»Ich habe lange gekellnert, ich bin wahrscheinlich jedem in dieser Stadt schon mal begegnet.«

»Nein, nein, ich weiß es jetzt wieder ganz genau! Und ich hab mich ja auch immer gefragt, ob ich dich nicht von irgendwoher kenne. Es war ein Workshop für Moderation und Improvisation auf der Bühne. Ich war Assistent der Leiterin, und dein Ex war einer der Teilnehmer.«

Auf einmal wusste er es wieder: Valeries Freund, der damals dabei war, im Radio Karriere zu machen, langfristig aber das Fernsehen im Visier hatte, wollte ein paar Tricks für die Moderation vor Publikum lernen. Er war eigentlich ein ganz sympathischer Kerl, die Kamera mochte ihn, und er hatte ein gutes Gefühl für Körpersprache und Bühnenpräsentation. Aber er war auch ehrgeizig und ein Perfektionist, und das stand ihm teilweise im Weg.

Am Samstagabend setzten sich die Kursteilnehmer und das Workshop-Team noch auf ein paar Bier in einem Lokal zusammen. Und dort stieß sie dann dazu: Mathias’ Freundin. Sie hatte eine blonde Lockenmähne, trug eine enge hellbraune Lederjacke, verwaschene Jeans und Stiefeletten, mit denen sie es auf eine ziemliche Größe brachte, mindestens auf Augenhöhe mit ihrem Freund. Ihre Augen waren dunkel geschminkt, sie rauchte viel, und in ihrem Auftreten und Wesen rangen Natürlichkeit und Künstlichkeit dauernd miteinander. Mit den anderen Anwesenden fing sie sofort und ganz offen Gespräche an, mit ihrem Freund aber verfiel sie in einen hülsenhaft-gewollten Sprechstil, der vielleicht in ihrem Bekanntenkreis üblich war. Mischa erinnerte sich, wie sie immer wieder das Wort »sensationell« verwendeten, wobei das Ausmaß der Sensation stark variierte. »MUSE live war sensationell! Die Semmeln beim Felber – sensationell!« Sie hatte auch zwei Lachen: ein natürlich-glucksendes mit leichter Tendenz zum Grunzen, das er mochte, und ein ironisches, das nicht aus dem Bauch kam, sondern von einem vorher gefällten Urteil herrührte.

Diese attraktive, aber auch unsicher wirkende junge Frau war Valerie – etwa fünf Jahre zuvor.

»Ich bestreite ja nicht, dass wir uns dort begegnet sind, aber ich habe nicht die geringste Erinnerung an dich!«, sagte Valerie, nachdem er ihr von dem Abend erzählt hatte.

»Du warst so anders«, rief er aufgeregt und fuchtelte mit seinem Weinglas herum, »ein bisschen Tussi, ein bisschen Kate Moss, und alles so sensationell!« Er machte sie nach, und das ziemlich gut, aber sie blieb unbeeindruckt.

»Das war eben Mode in diesem Zirkel, die waren alle so! Wir trafen uns vor allem mit seinen Freunden, und die waren alle beim Radio oder Fernsehen. Die waren jung, verdienten ein Schweinegeld, gaben sich aber, als wären sie ziemlich kaputt. Irgendwann ging das auch nicht mehr, dann habe ich mir meinen Platz im Prekariat reserviert. Außerdem, so wie du mich jetzt darstellst, so schlimm war ich gar nicht!«

Er wollte schon wieder etwas Bissiges entgegnen, aber dann begriff er plötzlich, warum er so aufgebracht war: Er war eifersüchtig. Auf diesen Mann in Valeries Vergangenheit, für den sie sich so weit verändert hatte, bis sie zu ihm und seinen Freunden passte. Ein erfolgreicher Mann, der ihre Liebe mit Schmuck belohnte. Und dann dachte er: Warum schenkte sie ihm dieses Comic, in dem er ein Doppelleben als Bühnenstar führte? War es das, was sie eigentlich wollte? Dass er wieder spielte? Sie hatte ihm erzählt, dass sie selbst Impro-Kurse besucht und auch zum Spaß bei Poetry Slams mitgemacht hatte. Würde es ihr auf Dauer nicht genügen, wenn er nur seinen Job im Verlag hätte? Er leerte das Glas in einem Zug und verließ das Zimmer.

Zehn Minuten später kam er zurück. Valerie sah ihn besorgt an.

»Ist was?«, fragte sie und strich ihm durchs Haar.

»Alles ok«, sagte er, »ich entdecke nur gerade neue Seiten an mir.«

*

Als Sebastian erfuhr, dass Mischa als Anzeigenverkäufer arbeitete und mit seiner neuen Freundin und einem Cockerspaniel unterwegs war, zog er interessiert die Augenbrauen hoch. Offensichtlich hatte sein geschwätziger Bekannter eine andere Reaktion erwartet, denn sofort versuchte er, ihm in vielen Worten zu beschreiben, wie bürgerlich dieser Job, wie brav dieses Mädchen und wie treuherzig das Hündchen seien. Mischa war zum Establishment übergelaufen, und Sebastians Schuldspruch wurde erwartet. Er hatte aber nicht die geringste Lust, ihn zu verurteilen. Mischa hatte getan, womit jeder von ihnen schon geliebäugelt hatte: den Zirkus verlassen. Sebastian gönnte Mischa seine neue Freiheit, nur eine Frage beschäftigte ihn: Warum musste gerade ein so talentierter Kerl wie Mischa den Abgang machen, und nicht einer der vielen Kollegen, deren »Kunst« niemandem fehlen würde, die im Gegenteil mit dem Ausscheiden aus ihrem Beruf den größten Beifall ihrer Laufbahn ernten würden …

Mischas Karriere war alles andere als glatt verlaufen, und Sebastian war bei jeder der Stationen dabei gewesen, die Mischas Kapitulation eingeleitet hatten: als seine Mutter starb, die auch sein größter Fan war (alle kannten und verehrten sie); als er die Hauptrolle in diesem seltsamen Film übernahm, der nie in die Kinos kam; als er sich eine langwierige Knieverletzung zuzog; und schließlich: seine eigene Inszenierung, die fast unbemerkt unterging. Es war eine Mischung aus Pech, falschen Entscheidungen und Eigensabotage gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass Mischa die Segel strich, bevor er einen auch nur annähernd seinen Fähigkeiten entsprechenden Platz im Theaterbetrieb finden konnte. Was übrig blieb, war der zu kurze Lebenslauf eines kaum bekannten Off-Schauspielers.

Bei Sebastian war es in mancher Hinsicht besser gelaufen, allerdings waren seine Ansprüche an seine Engagements geringer als Mischas. Er hatte kein Problem damit, im Werbespot einer Verhütungsmittelfirma aufzutauchen, den Mann im Schrank in einer Boulevardkomödie zu spielen oder in einem Hauptabendkrimi den dritten Streifenpolizisten von rechts zu geben. Er zeigte seine Fresse her, wo man es ihm gestattete, und dachte, irgendwann wird es sich schon bezahlt machen. »Ja« zu sagen war nicht nur die eiserne Regel im Improvisationstheater, wo man annehmen musste, was einem sein Partner entgegenwarf, »ja« sagen war auch seine persönliche Karriereformel. Bis auf Pornos hatte er alles gemacht, er sang, tanzte, raufte und schmuste vor Publikum, hatte vom Kindermusical-Piraten bis zum Stegreifbühnen-Jungbauern alles gegeben, hatte auch im ernsten Fach sein Glück versucht – als syphilitischer Bürgerspross in Gespenster oder als Sonnenbrillen tragender Räuber –, stürzte sich in die kleinsten Rollen mit demselben Elan wie in die tragenden und half auch abseits der Bühne, wenn es der gemeinsamen Unternehmung diente (Finanziers finden, Flyer verteilen, mit Journalisten flirten). Die Kehrseite dieser Strategie war offensichtlich: Für kritisch-künstlerische Geschmacksfragen blieb kein Spielraum, jedes zweite »ja« stellte sich im Nachhinein als »ja, leider« heraus.

Genau zu der Zeit, als Sebastian wieder von Mischa hörte, fragte ihn seine Kollegin Lisa, ob er mit ihr gemeinsam bei einer Familienfeier auftreten würde. Ein eher unübliches Engagement, aber offenbar nicht schlecht bezahlt. Lisa war eine großartige Impro-Schauspielerin, und Sebastian war unzählige Male mit ihr auf der Bühne gestanden. Privat war sie der süßeste Freund, den man sich wünschen konnte: gutherzig, einfühlsam, vielleicht ein bisschen naiv, mit ihren 25 Jahren immer noch bei der Pfadfindergruppe ihrer Kindheit aktiv. Auf der Bühne konnte sie ein anderer Mensch sein: unergründlich, schnippisch, sexy. Natürlich wurde sie nach ihrem optischen Typ – sanft, blond, stupsnasig – besetzt, und sie bekam das »süße Wiener Madl« perfekt hin, aber richtig gut war sie, wenn sie böse sein durfte. Sebastian und die Kollegen fragten sich immer, wo sie all das herholte, welches dunkle Feuer in ihrem Plüschherzen loderte und wann es wohl wie ein Flächenbrand ausgebrochen wäre, wenn sie nicht die Bühne gehabt hätte, wo es kontrolliert abbrennen konnte.

An einem Nachmittag im Januar saßen sie dann im Kaffeehaus und trafen ihren Auftraggeber. Beide hatten sie Alpaka-Schals um den Hals geschlungen und tranken Tee, denn fast jeder war krank, und wie alle ihre Kollegen hatten sie eine Mordsangst, eine Erkältung abzukriegen. Der Mann erklärte ihnen, worum es ging: Seine Eltern feierten ihren fünfzigsten Hochzeitstag, und er plante, Schauspieler im Rahmen eines schönen Festes ein paar Szenen aus dem Leben seiner Eltern nachspielen zu lassen. Er stellte eine erfreuliche Gage in Aussicht, und Lisa und Sebastian sagten sofort zu.

Vier Wochen später erfüllten die beiden ihre Aufgabe der Abmachung gemäß. Sie spielten drei Szenen aus dem Leben der Jubilare: ihre erste Begegnung in einem Zug, einen Moment in einem Italien-Urlaub, als sie einem Betrüger aufsaßen, und eine berührende Situation, als die beiden beschlossen, die Tochter ihrer verstorbenen Hausangestellten zu adoptieren. Kinder und Erwachsene aus der Familie spielten die Neben- und Komparsenrollen, und alles lief wunderbar.

Auf eben diesem Fest sprach die beiden ein anderer Herr an, ob sie auch für die Aufführung eines Art Streichs zur Verfügung stünden. Sie trafen ihn eine Woche darauf, und der Mann erzählte, worum es ging: Sein bester Freund und er kannten sich seit der Schulzeit und hatten eine besondere Art, ihre Geburtstage zu feiern – sie schenkten sich gegenseitig die unnützesten Dinge, derer sie irgendwie habhaft werden konnten. Zum Sechzigsten seines Freundes war der Auftraggeber bereit, etwas tiefer in die Tasche zu greifen: Er hatte einen schrottreifen VW-Bus ersteigert, der jahrelang als Ziegenstall verwendet worden war, und er wollte diesen in den Garten seines Freundes schmuggeln, der nur ein paar Häuser weiter wohnte. Dazu benötigte er Darsteller, die die Nichte seiner Frau und ihren Freund spielen sollten.

Sie verbrachten also einen Abend bei dem Mann und seiner Frau, der beste Freund war natürlich auch eingeladen. Sie hatten sich einen ganz amüsanten Hintergrund für ihre Rollen zurechtgelegt: Sebastian war Handpuppendesigner, Lisa arbeitete für das österreichische Weltraumprogramm, machte jedoch gerade ein Sabbatical, und sie beide fuhren mit dem Campingbus durch Europa und versuchten, schwanger zu werden. Der eigentliche Gag war aber der: Ihr Auftraggeber hatte extra für den Abend ein Wohnmobil gemietet, das er besonders ungeschickt vor seinem Haus geparkt hatte. Der Freund des Mannes schlug vor, sie könnten den Wagen in seiner Einfahrt parken, dann stünde er nicht im Weg herum. Er gab ihnen den Schlüssel zu seinem Tor, alles Weitere war genau geplant. Zuerst parkten sie das Wohnmobil in einer Quergasse, wo es außer Sicht war. Minuten später schoben ein Nachbar und einige Bekannte den völlig verrosteten, quietschenden »Bully« über die Straße zum Grundstück des Freundes. Sebastian öffnete das Tor, und sie parkten den Schrott-Bus mitten im Vorgarten. Ein paar Männer demontierten die Räder des Autos, zwei Frauen brachten die Ziegen, die sie in den Stall auf der Ladefläche verfrachteten.

Als zwei Stunden später alle gemeinsam zum Haus des Geburtstagskindes spazierten, sagte Lisa gähnend, wie sehr sie sich jetzt auf ihren Bus freue, der so tierisch bequem war, fast wie ein Stall, und Sebastian ergänzte, er hoffe, der Wagen habe nicht Rost angesetzt, so lange wie sie ihn im Garten gelassen hatten.

Im Augenblick, als das arme Opfer das Wrack in seinem gepflegten Vorgarten entdeckte und begriff, dass der andere Bus nur eine Finte gewesen war, um an den Schlüssel für sein Tor zu kommen, zündete einer der Nachbarn ein Mini-Feuerwerk im Garten. Auf dem Dach des Bully wurde ein Happy-Birthday-Schriftzug an den Strom gesteckt, und die Ziegen meckerten, dass es eine Freude war. Dann brach heilloses Gelächter los, zwei Dutzend Nachbarn kamen aus ihren Verstecken hervor, und Lisa und Sebastian tanzten vollkommen infiziert von der Albernheit des Augenblicks durch den Garten. Später auf dem Weg nach Hause dachte Sebastian, wie schön und befriedigend solche Aufträge waren, weil sie direkt mit dem Leben der Menschen zu tun hatten.

Eine Woche später spazierte Sebastian mit seinem fünfjährigen Sohn Emil durch den Augarten. Es war Anfang Februar, aber die Temperaturen waren beinahe frühlingshaft, und die ersten Schneeglöckchen blühten schon. Das Wetter hatte einige persisch aussehende Männer in den Park gelockt, die Boccia spielten, und Sebastian und Emil sahen ihnen eine Weile zu. Dann studierten sie Düsenjägerspuren am Himmel, bevor sie weiterspazierten und der Vater dem Sohn im Schatten des mächtigen Flakturms erzählte, dass es sich dabei um das größte Taubenklo der Welt handelte.

Als es Mittag wurde und mehrere Versuche gescheitert waren, den Jungen ohne Stützräder durch den Park Fahrrad fahren zu lassen, gingen sie mittagessen. Sie hatten ihr kleines Spiel, bei dem Sebastian bestellte, was Emil haben wollte, also zum Beispiel ein Kinderschnitzel und ein Spezi, und Emil, was sich sein Vater ausgesucht hatte, vielleicht ein kleines Bier und einen Schweinsbraten. Je nachdem, wie die Kellnerin darauf reagierte, entschieden sie, ob sie cool war oder nicht. Diese Kellnerin war ziemlich cool, weil sie Emil fragte, ob er nicht lieber ein großes Bier haben wolle, er sehe ziemlich durstig aus.

Nach dem Essen spazierten sie wieder Richtung Emils Zuhause und sangen umgetextete Weihnachtslieder, die für ihn das ganze Jahr über Saison hatten. »O Tannenbaum, o Tannenbaum, die Oma sitzt am Gartenzaun!«

Vor dem Haus, in dem die Wohnung von Emils Mutter war, in der Nähe des Wallensteinplatzes, richtete Sebastian Emil her, Jacke zu, Haare glatt, Rucksack geschlossen.

»War ein netter Ausflug, oder? Klar, nichts Aufregendes, aber besser als Nase popeln.«

Emil nickte. Dann bat er seinen Vater, noch mit raufzukommen. Sebastian ging auf Nummer sicher: »Glaubst du, dass die Mama allein ist? Oder hat sie einen Freund zu Besuch? Was denkst du?«

Emil glaubte, sie sei allein. Also quetschten sie sich in den winzigen Aufzug (Sebastian hatte zwei Wochen lang nach einem Kinderwagen gesucht, der dort hineinpasste), und Emil spielte Liftboy. Oben öffnete ihnen Emils Mama, Anna.

»Ah, du bist noch mit, komm rein! Kaffee?«

Anna verschwand in der Küche, während Emil in sein Zimmer lief. Sebastian sah sich rasch in der Wohnung um, ob er Spuren eines Mannes entdeckte, dann folgte er Anna in die Küche.

»Was habt ihr gemacht, wart ihr im Park?«, fragte sie.

»Ja, Kleinkind-Zehnkampf, ich bin erledigt!«

»Hat er gegessen?«

»Es sah so ähnlich aus, ja.«

»Super.«

Emil hatte von seinem neuen Schwarm erzählt, also fragte Sebastian Anna nach ihr:

»Er hat eine neue Freundin, oder? Wieder so eine kleine Französin, Minou? Bijoux?«

»Ja, Minou, sie ist süß. Aber es wird nichts Festes, die Mutter ist irgendwie nicht mein Fall.«

»Adieu, Minou.«

Anna setzte sich auf einen Barhocker und lachte mit etwas Verspätung. Eine kleine Eigenheit, die ihn am Anfang irritiert hatte – würde sie noch lachen oder kam nichts mehr? –, die er irgendwann aber reizend fand, vor allem wenn er die verunsichernde Wirkung auf andere Menschen beobachten durfte.

»Ich habe das neue Stück von Xaver im Schauspielhaus gesehen«, sagte sie und nickte mehrmals.

»Und?«

»Ich war ein bisschen müde und hungrig, aber es war nicht schlecht. Natürlich düster und chauvinistisch, aber mit ein paar intensiven Momenten. Nicht unspannend.«

»Müde und hungrig, notiert.«

»Und deinen alten Helden hab ich auch gesehen, sein Musikprogramm! Er ist wirklich wundervoll!«

»Wolfram?«

»Ja, er ist so talentiert! Wieso hat der keine Serie, wieso hört man den nicht dauernd im Radio?«

Anna sprach von Wolfram Steiner, einem Schauspieler der älteren Garde, mit dem Sebastian gerade an einem Stück arbeitete.

»Wie heißt euer Projekt nochmal?«

»Unglaubhaft. Also U-Haft und nglaub in der Klammer.«

Anna war so hübsch und sah so zufrieden aus, und das begann, ihn langsam nervös zu machen.

»Wie geht es euch beiden, kommt ihr zurecht?«, fragte er und sah sich dabei um, als könne man ihre Lebensqualität am Zustand der Küche ablesen.

»Wir kommen klar, was denkst du?«

»Ich meine, die Dinge werden teurer. Weißt du, was Brot inzwischen kostet?«

Sie tat aufgeregt: »Nein, erzähl mal!«

»Na ja, mehr als früher. Deutlich mehr.«

»Hast du Geld, das du loswerden willst?«

»Ich habe derzeit tatsächlich ein bisschen mehr Geld als sonst, und ich würde dir gerne etwas davon abgeben.«

Er zog das Kuvert aus der Tasche, in dem sich das Geld befand, das er mit dem Bully-Job verdient hatte, und schob es Anna rüber.

Sie öffnete es, schätzte, wie viel es war, und schloss es wieder.

»Du wirst dich von jemandem ermorden und dabei filmen lassen?«

Er nickte. »Ich hatte gleich mehrere Angebote, aber bei Juri hat es auch menschlich gestimmt.«

Sie unterdrückte ein Grinsen.

Dann erzählte er Anna von den beiden Jobs, die er mit Lisa erledigt hatte, und wie diese kleinen Aufträge beide sowohl beglückend als auch lukrativ gewesen waren.

»Ich glaube, mit dieser Art von Schauspiel-Dienstleistungen, die in alle möglichen Richtungen weitergedacht werden können, ist eine nicht unbeträchtliche Menge Geld zu verdienen – und es macht Spaß!«

»Klingt nicht schlecht«, sagte Anna, »gib doch ein Inserat auf!«

»Ein Inserat? Du machst Witze, oder? Wer ein Inserat in die Zeitung setzt, öffnet ein Fenster in die Welt des Bizarren. Wie, glaubst du, habe ich Juri kennengelernt?!«

»Im Ernst, probier das! Weißt du was, ich zahl dir das!«

Anna nahm einen Hunderter aus dem Kuvert und drückte ihn ihm in die Hand. Er hielt ihre Hand für einen Moment fest.

»Du nimmst das Geld, ok?«, sagte er.

»Was ist mit deiner Wohnung, du brauchst es ja auch.«

»Ich liebe meine Wohnung. Sie ist wie mein Leben: eine Baustelle. Kaufe Emil ein besseres Fahrrad, ich geniere mich vor den anderen Vätern im Park.«

Sie lächelte, aber dann wurde sie schnell wieder ernst.

»Ich treffe jemanden«, sagte sie.

»Ok«, sagte er gefasst, »das haben wir ja auch schon durchgestanden.«

Halb nickte sie, halb schüttelte sie den Kopf. Noch nie hatte er einen Europäer jemals so nahe an das indische »Nicken« herankommen sehen, das den unerfahrenen Indien-Reisenden vor echte Verständigungsprobleme stellen konnte.

»Du meinst, diesmal ist es anders?«

Nun nickte sie, und dieses Mal war es eindeutig.

»Oh«, sagte er und wollte dem sofort etwas nachschicken, nur fiel ihm absolut nichts ein. Er hatte sich lange davor gefürchtet, dass »dieser Mann« einmal auftauchen würde, und vielleicht blödelte er sich auch deswegen durch die meisten ihrer Unterhaltungen, weil er diesem ernsten Gespräch aus dem Weg gehen wollte.

Er sah auf die Uhr, zum Glück trug er tatsächlich eine, und sagte, er müsse jetzt wirklich los.

»Behalte das Geld, bitte«, beharrte er.

Er küsste sie flüchtig, dann schnappte er sich seinen Sohn und küsste ihn mit feuchten Lippen, bis der kreischte. Dann verschwand er.

Sebastian lief die glattgewetzten Stufen hinunter, und als er auf der Straße war, rannte er weiter bis zur Straßenbahn, und als sie nicht in Sichtweite war, noch weiter bis zur Friedensbrücke, wo er mit rasendem Herzen in die U-Bahn Richtung Schwedenplatz stieg. Als er sich hingesetzt hatte, läutete sein Telefon. Es war sein Freund Konrad.

»Hi, Sebastian! Hast du es schon gehört?«

»Meinst du das mit Anna?!«

»Nein, was ist mit ihr?«

»Nichts, egal. Was meinst du?«

»Otto Alessi. Er ist tot, Mann!«

»Wirklich?«

»Ja.«

Er wusste nicht, was er fühlte. Es war kein klares, starkes Gefühl; es war etwas Trübes, Vermischtes. Otto Alessi war ihr Schauspiellehrer gewesen. Vier Jahre lang hatte er sie gedrillt.

»Es gibt eine Abschiedsfeier in seinem Haus. Seine Frau hat mich gebeten, alle anzurufen und einzuladen. Am Samstag um sechs.«

»Klar, ich komme.«

»Einer muss es Mischa sagen.«

Sebastian hatte Otto nicht sonderlich gemocht, und der Grund war, dass der nicht an sein Talent geglaubt hatte. Daraus hatte Otto auch kein großes Geheimnis gemacht. Er hatte andere Lieblinge gehabt. Vor allem Mischa.

»Ich rufe ihn an«, sagte er und legte auf.

*

Sebastians Anruf erwischte Mischa in der Arbeit; er nahm ihn mit gemischten Gefühlen entgegen. Er hatte sich lange nicht mehr bei Sebastian gemeldet – gut möglich, dass zwei Jahre vergangen waren –, aber bestimmt nicht, weil er ihm gleichgültig war. Er flüchtete vor Zuhörern in seiner Abteilung auf die leere Büro-Terrasse mit Blick auf den Donaukanal und freute sich darüber, die Stimme seines Freundes zu hören. Allerdings verlief das Gespräch anders als erwartet: Sebastian teilte ihm mit, dass Otto tot war.

»Wie ist er gestorben?«, fragte Mischa zuerst, doch Sebastian wusste es nicht. Er sagte ihm nur, wann die Trauerfeier stattfinden würde. »Kommst du?«, fragte er dann, aber Mischa konnte ihm keine Antwort geben. Otto und er waren nicht im Guten auseinandergegangen, und er wusste, dass Otto deswegen gekränkt gewesen war. Er war sich nicht einmal sicher, ob ihn Ottos Frau bei der Feier dabeihaben wollte. Er dankte Sebastian dafür, dass er angerufen hatte, und versprach, sich in den nächsten Tagen zu melden und Bescheid zu geben, ob er kommen würde. Nachdem er aufgelegt hatte, starrte er einem der Nostalgie-Schiffe hinterher, die zwischen Wien und Bratislava unterwegs waren, und beschloss, nicht zu der Feier gehen.

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