Der Gourmet - M. W. Craven - E-Book

Der Gourmet E-Book

M W Craven

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Beschreibung

DNA kann man nicht fälschen – oder? Clever, voller schwarzem Humor und mit einer Spannung, die süchtig macht: Im 2. Krimi dergefeierten und preisgekrönten Reihe aus Großbritannien von M. W. Craven wartet ein weiterer unmöglicher Fall auf DS Washington Poe und Fallanalystin Tilly Bradshaw. Seit sechs Jahren sitzt der charismatische Sterne-Koch Jared Keaton im Gefängnis wegen Mordes an seiner eigenen Tochter. Zwar wurde die Leiche von Elizabeth nie gefunden, doch die hartnäckigen Ermittlungen von DS Washington Poe hatten schließlich zu Keatons Verhaftung und Verurteilung geführt. Als jetzt in einem Polizeirevier in Cumbria eine junge Frau auftaucht, die behauptet, Elizabeth Keaton zu sein, steht Poes Welt plötzlich auf dem Kopf. Denn eine DNA-Analyse scheint zweifelsfrei zu beweisen, dass die Frau die Wahrheit sagt. Mithilfe der einzigen Person, der er trauen kann – der brillanten, aber sozial unbeholfenen Analytikerin Tilly Bradshaw – sucht Poe nach Antworten: Wie kann jemand gleichzeitig tot und am Leben sein? Die britischen Kult-Krimis um DS Washington Poe erobern Deutschland: »Eine absolute Entdeckung!« eat.Read.sleep (NDR) über den Krimi Der Botaniker »Sie werden Autor M. W. Craven lieben. ›Der Botaniker‹ ist ein genialer Roman.« krimi-couch »Als Leser merkt man sehr schnell, dass man mit der Poe-Reihe etwas ganz Besonderes in Händen hält.« n-tv.de Auf Deutsch sind folgende Bände der Krimi-Serie aus England lieferbar: - Der Zögling (Band 1) - Der Gourmet (Band 2) - Der Botaniker (Band 5)

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Seitenzahl: 494

Veröffentlichungsjahr: 2025

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M. W. Craven

Der Gourmet

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Seit sechs Jahren sitzt der charismatische Sterne-Koch Jared Keaton im Gefängnis, wegen Mordes an seiner eigenen Tochter. Zwar wurde die Leiche von Elizabeth nie gefunden, doch die hartnäckigen Ermittlungen von DS Washington Poe hatten schließlich zu Keatons Verhaftung und Verurteilung geführt. Als jetzt in einem Polizeirevier in Cumbria eine junge Frau auftaucht, die behauptet, Elizabeth Keaton zu sein, steht Poes Welt plötzlich auf dem Kopf. Denn eine DNA-Analyse scheint zweifelsfrei zu beweisen, dass die Frau die Wahrheit sagt. Mithilfe der einzigen Person, der er trauen kann – der brillanten, aber sozial unbeholfenen Analytikerin Tilly Bradshaw –, sucht Poe nach Antworten: Wie kann jemand gleichzeitig tot und am Leben sein?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Mein Körper verzehrt sich [...]

1. Kapitel

Vor zwei Wochen: Erster Tag

2. Kapitel

Vierter Tag

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Fünfter Tag

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Sechster Tag

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Siebter Tag

20. Kapitel

Achter Tag

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Neunter Tag

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Zehnter Tag

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Elfter Tag

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

Zwölfter Tag

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

Dreizehnter Tag

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

Vierzehnter Tag

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

Eine Woche später

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

Danksagung

Für Jo. Meine beste Freundin, meine Seelenverwandte.

Mein Körper verzehrt sich selbst.

Ich kann es nicht verhindern.

Ich bin zu schwach, um mich zu bewegen. Meine Muskeln sind in die Aminosäuren zerfallen, die mein Körper braucht, um am Leben zu bleiben. Meine Gelenke versteifen und schmerzen, weil sie nicht mehr geschmiert werden. Meine Hände und Füße kribbeln und brennen, weil sich die Blutgefäße unter der Haut zusammenziehen, um die größeren Organe zu schützen. Meine Zähne lockern sich, weil das Zahnfleisch schrumpft.

Das Ende ist nahe.

Ich kann es spüren.

Mein Atem geht schnell und flach. Mir ist schwindlig. Zum ersten Mal seit Tagen möchte ich schlafen. Ein Schlaf, aus dem ich nie erwachen werde.

Ich bin nicht mehr wütend. Tagelang habe ich geschrien und gebrüllt, weil das alles so unfair ist. Dass mir, gerade als ich im Begriff war, mir einen Namen zu machen, alles weggenommen wurde, von dem Mann mit den Haifischaugen.

Jetzt habe ich es akzeptiert.

Schließlich ist es ja meine Schuld. Ich bin freiwillig hier heruntergestiegen, wollte unbedingt damit angeben, was ich gefunden hatte.

Ich hätte wissen müssen, dass es ihm egal war. Meine Entdeckung hat ihn nicht interessiert. Ihm war nur das andere wichtig.

Also lege ich mich jetzt hin und gönne meinen Augen etwas Ruhe.

Eine Minute.

Vielleicht auch ein bisschen länger …

1. Kapitel

In Südfrankreich gibt es einen Singvogel, die Gartenammer.

Sie ist fünfzehn Zentimeter lang und wiegt nicht einmal dreißig Gramm. Ihr Kopf ist grau, die Kehle blassgelb und das Gefieder von entzückendem Orange. Sie hat einen kurzen rosafarbenen Schnabel, und ihre Augen glänzen wie gläserne Pfefferkörner. Ihr Stakkato-Gezwitscher zaubert ein Lächeln auf das Gesicht jedes Menschen, der es hört.

Sie ist ein Wesen von bemerkenswerter Schönheit.

Die meisten Menschen hätten die Gartenammer gern als Haustier, wenn sie eine zu Gesicht bekommen.

Nicht alle.

Manche Menschen sehen ihre Schönheit nicht.

Manche Menschen sehen etwas anderes.

Denn das zweite Bemerkenswerte an der Gartenammer ist, dass sie Hauptzutat zum sadistischsten Gericht der Welt ist. Ein Gericht, für das der winzige Singvogel nicht nur getötet, sondern auch gefoltert werden muss …

 

Die Chefköchin hatte vor einem Monat zwei Stück erstanden. Gartenammern kann man nicht schießen, ohne sie völlig zu zerfetzen, also hatte sie einen Mann dafür bezahlt, die Vögel mit dem Netz zu fangen. Hundert Euro pro Stück hatte er dafür verlangt. Ein stolzer Preis, doch hätte man ihn erwischt, wäre die Strafe sehr viel höher gewesen.

Sie hatte die Vögel mit nach Hause genommen und sie gemästet, so, wie die Köche es damals für die römischen Bankette getan hatten: indem sie ihnen die Augen ausgestochen hatte. Für die Gartenammern wurde der Tag zur ewigen Nacht.

Und nachts fraßen sie.

Einen Monat lang stopften sie Hirse, Trauben und Feigen in sich hinein. Ihr Leibesumfang vervierfachte sich. Dick genug, um gegessen zu werden.

Ein Gericht für einen König.

Oder für einen alten Freund.

Als der Anruf kam, war sie persönlich mit den Tieren über den Kanal gefahren.

In Dover war sie von Bord gegangen und die ganze Nacht durchgefahren, zu einem Restaurant namens Bullace & Sloe in Cumbria.

 

Ihre beiden Gäste hätten gegensätzlicher nicht sein können.

Der eine Mann trug einen edlen Anzug mit hohem Kragen, allem Anschein nach von orientalischer Machart. Sein Hemd war weiß und gestärkt, die Manschettenknöpfe aus purem Gold. Er wirkte kultiviert und gelassen. Sein Lächeln war leutselig, und er hätte das Niveau jedes Speiseaals auf der ganzen Welt gehoben.

Der andere Mann war mit schlammbespritzten Jeans und einer nassen Jacke bekleidet. Von seinen Stiefeln tropfte schmutziges Wasser auf den Boden des Speisesaals. Er sah aus, als sei er rückwärts durch ein Ginstergebüsch gezerrt worden. Selbst im gedämpften Licht der flackernden Kerzen wirkte er nervös und zappelig. Verzweifelt.

Ein Kellner trat an den Tisch und präsentierte die beiden Vögel in den Kupfertöpfen, in denen sie gebraten worden waren.

»Ich denke, dieses Gericht wird Ihnen munden«, sagte der Mann im Anzug. »Das ist ein Singvogel namens Gartenammer. Chef Jégado hat sie selbst aus Paris hergebracht, und vor noch nicht einmal fünfzehn Minuten hat sie sie in Brandy ertränkt …«

Sein Tischgenosse starrte den Vogel an: Er war so groß wie ein großer Zeh und brutzelte im eigenen Fett. Dann blickte er auf. »Wie meinen Sie das, ›ertränkt‹?«

»So füllt sich die Lunge mit Brandy.«

»Das ist barbarisch.«

Der Mann im Anzug lächelte. Das hatte er alles schon oft gehört, als er in Frankreich tätig gewesen war. »Wir werfen lebende Hummer in kochendes Wasser. Wir reißen lebenden Krabben die Scheren aus. Wir stopfen Gänse für Foie gras. In jedem Bissen Tier, den wir essen, steckt Leid, nicht wahr?«

»Dann ist es illegal«, entgegnete der Mann in Jeans.

»Wir haben alle Probleme mit dem Gesetz. Ihre sind größer als meine, glaube ich. Essen Sie den Vogel oder essen Sie ihn nicht, mir ist es gleich. Aber wenn Sie sich dazu entschließen, dann machen Sie es wie ich. So schafft man ein Duftzelt und verbirgt seine Völlerei vor Gott.«

Der Mann im Anzug legte sich eine gestärkte blutrote Serviette über den Kopf und schob sich den Vogel in den Mund. Nur der Kopf blieb draußen. Er biss zu, und der Kopf fiel auf seinen Teller.

Die Gartenammer war brühend heiß. Eine Minute lang tat der Mann im Anzug nichts anderes, als sie auf seiner Zunge ruhen zu lassen und kurz und schnell zu atmen, um sie abzukühlen. Das köstliche Fett rann ihm allmählich die Kehle hinunter.

Er seufzte zufrieden. Sechs Jahre war es her, dass er so hatte dinieren können. Er begann, den Vogel zu kauen. Eine Explosion aus Fett, Eingeweiden, Knochen und Blut füllte seinen Mund. Das süße Fleisch und die bitteren Gedärme waren unvergleichlich. Das Fett, das seinen Gaumen überzog, war atemberaubend. Scharfe Knöchelchen bohrten sich in sein Zahnfleisch, und sein eigenes Blut würzte das Fleisch des Vogels.

Es war beinahe überwältigend.

Und endlich drangen seine Zähne in die Lunge der Grasammer. Der köstliche Armagnac ergoss sich in seinen Mund.

Der Mann in Jeans rührte seinen Vogel nicht an. Er konnte das Gesicht des Mannes im Anzug nicht sehen – es war noch immer unter der Serviette verborgen –, doch er hörte das Knirschen von Knochen und die verzückten Seufzer.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis der Mann im Anzug fertig war. Als er unter der Serviette hervorkam, wischte er das Blut weg, das ihm übers Kinn lief, und lächelte seinen Gast an.

Der Mann in den nassen Jeans sprach, und der Mann im Anzug hörte zu. Nach einer Weile, und zum ersten Mal an diesem Abend, war dem Mann im Anzug ein ganz klein wenig Verdruss anzumerken. Furcht zuckte über sein ansonsten gefasstes Gesicht.

»Das ist eine interessante Geschichte«, meinte der Mann im Anzug. »Aber leider eine, die wir nicht fortsetzen können, fürchte ich. Es sieht aus, als bekämen wir Gesellschaft.«

Der Mann in den nassen Jeans drehte sich um. Eine Gestalt in einem ganz gewöhnlichen Büroanzug stand vor der Tür, neben sich einen Polizisten in Uniform.

»So knapp.« Der Mann in dem orientalischen Anzug schüttelte den Kopf und winkte die Polizeibeamten herein.

Der Zivilpolizist kam auf den Tisch zu. »Sir, würden Sie bitte mitkommen?«

Der Mann in Jeans suchte nach einem Ausweg. Sein Blick huschte wild hierhin und dorthin. Der Kellner und die Köchin waren in der Küche; sie würden seine Flucht verhindern.

Der Streifenpolizist fuhr seinen Schlagstock aus.

»Machen Sie keine Dummheiten, Sir«, sagte sein Kollege in Zivil.

»Dafür ist es jetzt zu spät«, knurrte der Mann in Jeans. Er packte eine halb volle Weinflasche am Hals und hielt sie vor sich wie eine Keule. Der Inhalt ergoss sich auf sein noch immer feuchtes Hemd.

Eine Pattsituation.

Der Mann im Anzug sah zu, das Lächeln wich nicht aus seinem Gesicht.

Die Küchentür öffnete sich. Der Kellner kam mit einer Platte mit Austern heraus. Er sah, was im Speiseaal vorging, und ließ verblüfft die Platte fallen. Eiswürfel und Krustentiere schlitterten über den Fliesenboden.

Das war die Ablenkung, die sie brauchten. Der Polizist in Uniform setzte unten an, der in Zivil oben. Der Schlagstock erwischte den Mann in den Kniekehlen, und der Schwinger des Zivilbeamten traf ihn am Unterkiefer.

Der Mann in Jeans ging zu Boden. Der Streifenpolizist kniete sich auf seinen Rücken, drückte ihm den Kopf auf die Steinfliesen und legte ihm Handschellen an.

»Washington Poe«, sagte der Zivilpolizist, »ich verhafte Sie wegen Mordverdachts. Sie brauchen sich nicht zu äußern, aber es könnte sich nachteilig auf Ihre Verteidigung auswirken, wenn Sie etwas verschweigen, worauf Sie sich später vor Gericht berufen wollen. Alles, was Sie sagen, kann als Beweis verwendet werden.«

Vor zwei Wochen: Erster Tag

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Kapitel

Im ländlichen England ist das Blaulicht ausgegangen. Prachtvolle alte Polizeireviere aus der Zeit von Queen Victoria sind der Geschichte überantwortet worden. Ihre Anzahl wurde reduziert, und viele sind durch moderne, gut ausgestattete, seelenlose Exzellenz-Center ersetzt worden.

Und verschwunden ist auch der Bobby auf Streife. Der existiert jetzt nur noch im Kopf derer, die sich nach einem ländlichen Idyll sehnen. Heutzutage sehen Polizisten ihren Zuständigkeitsbereich größtenteils durch die Fenster ihrer Streifenwagen.

Tesco hat doppelt so viele rund um die Uhr geöffnete Supermärkte wie die Polizei rund um die Uhr geöffnete Dienststellen.

Keine Grafschaft hat es schlimmer getroffen als Cumbria. Fast viertausendachthundert Quadratkilometer groß – geografisch die drittgrößte Grafschaft Englands –, verfügt sie nur über fünf Vollzeit-Polizeidienststellen.

Alston in den North Pennines, die am höchsten gelegene Marktgemeinde im ganzen Land, hatte keine Chance. Das dortige Polizeirevier, ein großes und schönes frei stehendes Gebäude, war 2012 verkauft und durch einen Polizeitisch ersetzt worden. An jedem vierten Mittwoch des Monats fuhr ein Mitglied der Gemeindepolizei des Eden District – als »Problemlöser« deklariert – den ganzen Weg bis dort hinauf, saß an einem Tisch in der Bibliothek und hörte sich die Beschwerden der Leute an.

Problemlöser Constable Graham Alsop fand den vierten Mittwoch des Monats zum Kotzen. Außerdem fand er es zum Kotzen, als Problemlöser bezeichnet zu werden. Manche der Zwistigkeiten, die er sich anhören musste, waren so unfassbar kleinlich, so niederschmetternd unlösbar, dass er manchmal den Eindruck hatte, die kollektive Intelligenz des Ortes entspräche der eines Fischköders.

Er brauchte nicht weiter als einen Monat zurückzudenken, um ein gutes Beispiel für das zu finden, womit er sich herumschlagen musste. Ein älterer Mann war gekommen und hatte ihm eine Einkaufstüte voller Hundekacke auf den Tisch geknallt. Er sei es leid, die zwischen seinen preisgekrönten Lady-Penzance-Rosen zu finden, hatte er gesagt. Hatte behauptet, seine Nachbarin ließe ihren pfotenlahmen Dackel seine Rosen volldefäkieren, als Rache dafür, dass er sie bei der Dorfblumenschau übertrumpft hatte. Alsop solle die Köttel »ins Labor« bringen lassen, hatte er verlangt, für einen DNA-Test. Anscheinend war er sehr verblüfft, als er erfuhr, dass es hier kein »Labor« gab, und auch keine Hunde-DNA-Datenbank, um eine Kackwurst mit der anderen zu vergleichen. Das Ganze war eine Zivilrechtssache, und dementsprechend sagte ihm der Constable, er solle sich an einen Anwalt wenden. Und seine Tüte Hundescheiße wieder mitnehmen. Sollte die Angelegenheit eskalieren und es zu einem infamen Hundekacke-Mord kommen, dann hätte Problemlöser Alsop natürlich einiges zu erklären, aber manche Risiken musste man eben eingehen.

Abgesehen davon schob er hier eine ziemlich ruhige Kugel. Die Bibliothek öffnete um neun, und bis eine Stunde später die erste Lesegruppe eintrudelte, hatten Alsop und die Bibliotheksangestellten sie meistens für sich allein. Reichlich Zeit für Tee und Toast, bevor die Irren aufkreuzten.

Und an diesem Morgen hatte er sogar einen Plan. Er würde seine Zeitung lesen, dann zum Feinschmeckerladen hinüberschlendern und sich ein Stück guten Käse holen. Eine der Bibliothekarinnen wollte ihm zeigen, wie man ein Soufflé macht. Und seiner leidgeprüften Frau ein Käsesoufflé zu kredenzen, dachte Alsop, wäre genau das Richtige, um sie milde zu stimmen, ehe er ihr von der Golfreise nach Portugal erzählte, die er vorhatte.

Es war ein guter Plan.

Doch das Problem bei Plänen ist, dass sie sich binnen eines Wimpernschlags in eine Tüte voller Kacke verwandeln können.

 

Zuerst dachte er, die junge Frau sei gerade dabei, sich nach einer Nacht in einem fremden Bett nach Hause zu schleichen. Sie trug eine Wollmütze, ein schlichtes, langärmeliges T-Shirt und schwarze Leggins. Und sie hinkte, kam nur stockend und unsicher voran. Ihre billigen Turnschuhe schlurften über den Teppichboden.

Mitten in der Bibliothek blieb sie stehen und blickte sich um. Anscheinend stand ihr der Sinn nicht nach einem speziellen Buch. Ihr Blick wanderte über die Kinderabteilung, dann über die Stadtgeschichte und dann über die Autobiografien. Wahrscheinlich ein Täuschungsmanöver, damit sie die Toilette benutzen konnte. Eine schnelle Katzenwäsche, vielleicht eine Linie Koks, und dann ein Taxi zurück nach Carlisle. Alston war keine Studentenstadt, doch Partys gab es trotzdem ab und zu.

Aber … Alsop war den größten Teil seiner Berufslaufbahn Streifenpolizist im Stadtzentrum von Carlisle gewesen, und er hatte noch immer den nötigen Instinkt.

Irgendetwas war hier ein bisschen komisch.

Seine erste Einschätzung war falsch gewesen. Die junge Frau sah nicht aus, als schäme sie sich, sie sah aus, als hätte sie Angst. Ihre Augen huschten hin und her, als suche sie nach etwas. Mit zusammengekniffenen Lidern spähte sie durch den Staub, der träge in der Luft schwebte, und ihr Blick verweilte nie länger als eine Sekunde irgendwo. Die Bücher jedoch, ordentlich mit dem Rücken nach außen in alphabetischer Reihenfolge aufgereiht, interessierten sie nicht. Prüfend musterte sie die Bibliothekarinnen und hakte anscheinend im Geiste jede von ihnen auf den ersten Blick ab.

Als sie ihn erblickte, wusste Alsop, dass es heute Vormittag nicht mehr darum gehen würde, das perfekte Soufflé zu backen. Sie war seinetwegen hier. Rasch kam sie zu seinem Tisch herübergehumpelt, das Gesicht verzerrt vor Anstrengung. Dann stand sie vor ihm, schlang den linken Arm um den dürren Brustkorb und umfasste ihren rechten Ellbogen. Es hätte neckisch gewirkt, wenn es nicht so verstörend gewesen wäre.

»Sind Sie die Polizei?« Ihre Stimme war ausdruckslos.

»Nicht die ganze, nein«, antwortete er.

Sie lächelte nicht über seine flapsige Bemerkung. Reagierte überhaupt nicht. Alsop betrachtete sie, suchte nach einem Hinweis, einem Warnzeichen, was gleich passieren würde. Er machte sich nämlich keinerlei Illusionen: Irgendetwas würde gleich passieren.

Das Mädchen war völlig erschöpft. Ihre müden braunen Augen lagen tief in dunkel umschatteten, eingesunkenen Höhlen. Das Haar, das unter der Mütze hervorschaute, war wirr, schlaff und leblos. Es umrahmte ein verhärmtes Gesicht. Die Wangenknochen ragten unter der bleichen Haut hervor, und durch die Schmutzschicht auf ihrem Gesicht zogen sich Tränenspuren. Weiße Krusten hatten sich um einen von Pickeln umgebenen Mund gebildet. Und sie war dünn. Nicht gertenschlank wie ein Model. Ausgezehrt. Unterernährt.

Alsop ging um den Schreibtisch herum, zog einen Stuhl darunter hervor und bot ihn ihr an. Dankbar ließ sie sich darauf sinken. Er kehrte zu seinem Platz zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und stützte das Kinn darauf. »Also, Schätzchen, was kann ich für Sie tun?« Er war ein Cop der alten Schule und hatte für die genderneutrale Sprache nichts übrig, die er eigentlich verwenden sollte.

Sie antwortete nicht. Starrte einfach durch ihn hindurch. Er hätte genauso gut gar nicht da sein können.

Aber das war okay. Er war den Umgang mit anderen Menschen gewöhnt und wusste, dass die schon mit der Sprache herausrückten, wenn die Zeit gekommen war.

»Ich sage Ihnen mal was, warum fangen wir nicht mit was ganz Einfachem an? Warum fangen wir nicht mit Ihrem Namen an?«

Sie blinzelte und schien aus irgendeiner Trance aufzuschrecken, doch es hatte den Anschein, als sei das Konzept eines eigenen Namens ihr völlig fremd.

»Sie wissen doch, was ein Name ist, oder? So was hat doch jeder, stimmt’s?«

Sie lächelte noch immer nicht.

Aber sie sagte ihm, wie sie hieß.

Und Alsop wurde klar, dass er ein Riesenproblem hatte.

Sie alle hatten ein Riesenproblem.

Vierter Tag

 

 

 

 

 

 

 

 

3. Kapitel

Ein alter Cherokee sagte einmal zu seinem Enkel, der voller Hass auf irgendjemanden zu ihm gekommen war: »Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Auch ich habe Hass auf jene empfunden, die mir unrecht getan haben. Aber Hass zermürbt dich und schadet denen nicht, die dir geschadet haben. Es ist, als würdest du Gift nehmen und dir wünschen, dein Feind möge sterben. Ich habe viele Male gegen diese Gefühle angekämpft. Es ist, als wären zwei Wölfe in mir und kämpften darum, meinen Geist zu beherrschen. Ein Wolf ist gut und schadet niemandem. Er lebt im Einklang mit allen um sich herum und empfindet keine Kränkung, wo keine beabsichtigt ist.«

»Was ist mit dem anderen Wolf, Großvater?«

»Ah«, erwiderte der alte Mann. »Der andere Wolf ist böse. Er ist voller Zorn. Bei der kleinsten Kleinigkeit bekommt er Wutanfälle. Er kann nicht richtig denken, weil sein Zorn und sein Hass so groß sind. Und es ist eine hilflose Wut, denn sie kann nichts ändern.«

Der Junge sah seinem Großvater in die Augen. »Und welcher Wolf gewinnt, Großvater?«

Der alte Mann lächelte. »Der, dem ich Futter gebe.«

Detective Sergeant Washington Poe hatte in letzter Zeit oft an die alte Fabel der Cherokee gedacht. Sein ganzes Leben lang hatte er den bösen Wolf gefüttert. Er hatte gedacht, er wisse, wieso. Dass seine Mutter fortgegangen war, als er noch ganz klein gewesen war, hatte ihn zu einem zornigen Kind gemacht, und das Gefühl des Verlassenseins war nie vergangen. Gelegentlich war es schwächer geworden, aber nur selten lange genug, dass er eine ganze Nacht durchschlief, ohne zitternd aus dem Schlaf aufzufahren.

Und jetzt wusste er, dass sein Zorn auf einer Lüge beruht hatte.

Poe war gezeugt worden, als seine Mutter auf einer Diplomatenparty in Washington D. C. vergewaltigt worden war. Sie hatte ihn nicht mutwillig verlassen. Und sie hatte ihn Washington genannt, wie einen Warnhinweis, damit sie den Mut haben würde, fortzugehen. Denn sie hatte furchtbare Angst gehabt, dass sie ihre Abscheu nicht würde verbergen können, wenn das Gesicht des Vergewaltigers in den Zügen ihres Sohns zum Vorschein kam.

Der Mann, der ihn großgezogen hatte, der Mann, den er fast vierzig Jahre lang Dad genannt hatte, war nicht sein leiblicher Vater. Diese Ehre gebührte jemand anderem.

Seit er die Wahrheit erfahren hatte, waren sein Zorn und sein Groll zu weißglühender Wut mutiert, zu einem brennenden Verlangen nach Vergeltung. Dass seine Mutter ums Leben gekommen war, bevor er die Wahrheit herausgefunden hatte, verstärkte das Gefühl schreiender Ungerechtigkeit noch. Irgendetwas in ihm war vor Kurzem zu Staub zerfallen.

Eine Weile hatte er sich mit dem Brandopferer-Fall abgelenkt. Er war einer der Hauptzeugen gewesen und hatte ganze Tage damit zugebracht, vor Komitees und bei öffentlichen Anhörungen auszusagen. Doch jetzt war es vorbei. Poes Zeugenaussage, zusammen mit den Beweisen, die er und alle anderen Beteiligten an dem Fall gefunden hatten, hatten für das richtige Resultat gesorgt: Die Geschichte des Brandopferers war verifiziert und öffentlich gemacht worden. Poe hatte gewonnen, doch es war ein wertloser Sieg. Was er über seine Mutter herausgefunden hatte, hatte jegliche Befriedigung angesichts einer gut gelösten Aufgabe überlagert.

Jemand fragte ihn etwas, und er kehrte mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. Poe versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was um ihn herum geschah. Er vertrat die Serious Crime Analysis Section bei einer Abteilungsbudgetbesprechung. Die fand alle drei Monate statt, und zwar aus längst vergessenen Gründen immer an einem Samstag. Normalerweise nahmen die Leiter der Abteilungen daran teil, doch als er vorübergehend Detective Inspector gewesen war, hatte er diese Aufgabe an seinen Detective Sergeant Stephanie Flynn delegiert. Als diese auf die Stelle des DI aufgerückt war und sie die Rollen getauscht hatten, hatte es ihr geradezu abartigen Spaß gemacht, ihm dasselbe anzutun. Jetzt musste er einmal im Quartal nach London fahren, nicht sie. Der Ironie daran konnte er nichts abgewinnen, obwohl er gern wieder Sergeant war. Der Rang stellte die optimale Balance zwischen Macht und Verantwortung dar. Und Inspector zu sein, hatte ihm nie zugesagt. Das hörte sich immer so an, als sollte »Ticket« oder »Sanitäts« vor dem Dienstgrad stehen.

»Entschuldigung, was?«

»Wir sprechen gerade über die Quartalsvorausberechnungen, Sergeant Poe. DI Flynn hat um drei Prozent mehr Budget für die Überstunden der SCAS gebeten. Wissen Sie, warum?«

Poe wusste es. Normalerweise wusste er so etwas nicht. Normalerweise hielt er den Mund und verließ sich darauf, dass Flynn den Papierkram so gründlich erledigt hatte, dass man sich nicht näher damit befassen musste. Er nahm den Dokumentenstapel zur Hand. Er fiel auseinander. Im Stillen verfluchte Poe den Verwaltungsmitarbeiter, der die Unterlagen für ihn vorbereitet hatte. Wenn Papiere zusammengehörten, dann tackerte man sie aneinander. Büroklammern waren etwas für Hippies und für Leute mit Bindungsproblemen. Er raffte sie zusammen, konnte jedoch nicht sagen, ob sie in der richtigen Reihenfolge lagen. Worte und Seitenzahlen waren ein verschwommenes Durcheinander. Er zog seine Lesebrille aus der Brusttasche. Die war etwas Neues; eine Erinnerung daran, dass er kein junger Mann mehr war. Nicht, dass man ihn daran erinnern musste – in letzter Zeit knackte er beim Gehen. Als er sich dabei ertappt hatte, wie er Schriftstücke immer weiter von seinen Augen weghielt, hatte er beschlossen, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen und einen Sehtest zu machen. Jetzt konnte er nicht mehr Kaffee trinken, ohne dass seine Brille beschlug. Er konnte beim Lesen im Bett nicht auf der Seite liegen. Ständig vergaß er, dass sie da war, und wischte sie herunter. Er vergaß, dass sie nicht da war, und stach sich ins Auge, wenn er versuchte, sie zurechtzurücken. Und ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, sie blieb einfach nicht sauber.

Jetzt rieb er sie an seiner Krawatte. Ebenso gut hätte er sie mit Pommes abrubbeln können. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er durch die Schlieren und machte sich mit dem richtigen Dokument vertraut.

»Wegen des Brandopferer-Falls. Ich, Analystin Bradshaw und DI Flynn waren eine Zeit lang in Cumbria, und der größte Teil des Überstundenbudgets ist verbraucht worden. Sie wollte die Kosten lieber strecken, als Ihnen am Ende des Finanzjahres ein großes Defizit hinzuknallen.«

»Das leuchtet ein«, sagte der Leiter der Besprechung. »Möchte noch jemand etwas hinzufügen? Ich denke, wir können sagen, das fällt unter die LOOB-Bestimmungen.«

Bis Poe LOOB vergeblich in seiner inneren Datenbank unsinniger Akronyme gesucht hatte, ging es bereits um einen Antrag auf zusätzliche Mittel der Abteilung für Transnationale Organisierte Kriminalität. Die hatten Schwierigkeiten, der Bedrohung durch Entity B angemessen zu begegnen. Viel war nicht über diese Organisation bekannt. Sie beschäftigten keine Türsteher und schickten keine Frauen auf den Strich. Sie hatten keine Dealer an den Straßenecken stehen. Aber sie kontrollierten die Nachschubwege, derer sich die Unterwelt bediente. Wenn eine illegale Einwanderin aus China ihre Schulden in einem Bordell in Südlondon abarbeitete, war es aller Wahrscheinlichkeit nach Entity B, die den größten Teil ihres Verdienstes einkassierte. Wenn ein Heroinlieferant in Arbroath seine Ware mit Ziegelstaub verschnitt, dann stammte das reine Zeug wahrscheinlich aus einer Lieferkette von Entity B. Wenn es wieder einmal einen vom russischen Staat gesponserten Mordanschlag auf britischem Boden gab, war der Killer wahrscheinlich von Entity B ins Land und wieder hinausgeschmuggelt worden.

Aber … sich um Entity B zu kümmern, war nicht sein Job. Sein Job war, Serienmörder zu schnappen und dabei zu helfen, Verbrechen aufzuklären, für die es anscheinend keinerlei Motiv gab. Etwas, womit er sich in letzter Zeit nicht allzu viel befasst hatte. Poe verbot sich, von Neuem in Gedanken an Rache und Vergeltung zu versinken. Er wollte den bösen Wolf nicht weiter füttern. Stattdessen schaltete er sein Handy ein, um zu sehen, ob es neue Meldungen über Hurrikan Wendy gab. Die Medien hatten kein anderes Thema. Ein Sturm im Sommer war selten. Ein Sturm von dieser angeblichen Riesengröße einmalig.

Während er darauf wartete, dass sein BlackBerry zum Leben erwachte, betrachtete er sein Spiegelbild in dem dunklen Display. Ein mürrisches Gesicht mit angegrauten Bartstoppeln und trüben, blutunterlaufenen Augen starrte zurück – das unvermeidliche Nebenerzeugnis von Vernachlässigung, Schlaflosigkeit und Selbstmitleid.

Aus dem schwarzen Spiegel des Displays wurde eine Sammlung bunter Apps, von denen er die meisten nicht kannte und, selbst wenn, nicht benutzen würde. Drei verpasste Anrufe und eine SMS, alle von Flynn. Er hatte Rufbereitschaft, also hätte er sein BlackBerry anlassen sollen. Doch wenn man bei der National Crime Agency den Ruf weghatte, dass man ans Telefon ging, hörte das Ding nie auf zu klingeln. Er las die SMS: Rufen Sie mich an, sobald Sie das hier bekommen haben.

Das hörte sich nicht gut an. Poe entschuldigte sich und verließ den Raum. Der Büroleiter lotste ihn zu einem leeren Schreibtisch. Er wählte Flynns Nummer, und sie nahm gleich nach dem ersten Klingeln ab.

»Poe, Sie müssen sofort Detective Superintendent Gamble anrufen. Er wartet auf Ihren Anruf.«

»Gamble? Was will er denn?«

Gamble arbeitet für die Cumbria Constabulary und war Ermittlungsleiter bei dem Brandopferer-Fall gewesen. Er war um einen Rang degradiert worden, als sich der Staub gelegt hatte und das Schwarzer-Peter-Spiel begann. Poe wusste, dass Gamble sich glücklich schätzte, noch einen Job zu haben. Obwohl sie sich nicht immer einig gewesen waren, hatten sie sich im Guten getrennt. Während des Prozesses hatten sich ihre Wege gelegentlich gekreuzt, doch der war jetzt vorbei. Es gab keinen offenkundigen Grund für sie, miteinander zu reden.

»Das wollte er mir nicht sagen, deshalb glaube ich, es geht vielleicht nicht um den Brandopferer«, antwortete Flynn.

Poe hatte die Cumbria Constabulary vor fünf Jahren verlassen. Er wohnte immer noch dort, doch wenn irgendetwas mit seinem Haus passiert wäre, würde sich ein Polizist vom Revier in Kendal melden, nicht der Superintendent von der Abteilung für Schwerverbrechen. Und außerdem bestand sein Zuhause aus vier soliden Mauern aus unbehauenen Lakeland-Steinen, einem Schieferdach und nicht viel mehr. Es gab eigentlich nichts, was ihm passieren könnte.

»Okay, ich rufe ihn an.«

Sie gab ihm Gambles Nummer. »Sagen Sie mir Bescheid?«

»Mach ich.«

Poe legte auf und rief Gamble an. Genau wie Flynn meldete er sich sofort.

»Sir, hier ist DS Poe. Ich sollte Sie anrufen.«

»Poe, wir haben ein Problem.«

4. Kapitel

Poe, wir haben ein Problem. Fünf Worte, die zu hören er niemals leid wurde.

Flynn hatte es so arrangiert, dass er den ersten Zug nach Cumbria nehmen konnte. Er hatte noch eine Stunde Zeit bis dahin. Die Fahrkarte würde in der Euston Station für ihn hinterlegt sein. Er hatte keine Ahnung, was los war; Gamble hatte ihm am Telefon nichts sagen wollen.

Poe war fünfzehn Minuten zu früh am Zug. Von London nach Penrith brauchte man knapp drei Stunden, und er verbrachte die Zeit am Handy, suchte nach irgendetwas in den Nachrichten, das ihm einen Hinweis darauf geben könnte, was ihn erwartete. Er fand nichts Außergewöhnliches. Hurrikan Wendy beherrschte weiterhin die nationale und internationale Presse. Er war noch eine Woche entfernt, hatte jedoch auf der anderen Seite des Atlantiks bereits Verwüstungen angerichtet.

Ein Polizist in Uniform wartete in Penrith auf ihn, und er wurde auf kürzestem Weg zur Carlton Hall gefahren, dem Hauptquartier der Polizei von Cumbria. Zehn Minuten später wurde er in Konferenzraum B geführt. Es war ein großer Raum voller Charakter. Poe dachte im Stillen, dass es vielleicht einmal das Esszimmer der Familie Carlton gewesen sein könnte, denn es gab noch den großen, verzierten Originalkamin mit kunstvoll gearbeitetem Sims und hohe, unpraktische Fenster. Der Raum wurde von einem großen Konferenztisch beherrscht.

Detective Superintendent Gamble war bereits da. Ein Detective, an den Poe sich von seiner Zeit bei der Polizei hier zu erinnern glaubte, saß neben ihm.

Beide blickten auf. Poe hatte den Eindruck, bei irgendetwas gestört zu haben. Die Miene des Detective war ausdruckslos und neutral. Vor ihm lag eine dicke Akte. Er schloss sie und legte sie mit dem Deckblatt nach unten auf den Tisch.

Poe nickte zur Begrüßung. Gamble erwiderte das Nicken, der andere Mann nicht. Dann erhob sich Gamble und gab ihm die Hand. Poe fiel auf, dass er dabei ganz kurz nach unten schaute.

»Wie geht’s damit?«, erkundigte sich Gamble.

Die Haut auf Poes rechter Hand war vernarbt und glänzte. Eine bleibende Erinnerung daran, was passiert, wenn man in einem brennenden Haus einen gusseisernen Heizkörper anfasst. Er beugte und streckte die Finger. »Gar nicht schlecht. Das Gefühl ist größtenteils wieder da.«

»Kaffee?«

Poe lehnte ab. Er hatte schon zu viel Kaffee getrunken und war ganz hippelig.

»Ich glaube, Sie kennen DC Andrew Rigg bereits«, meinte Gamble. »Er hat ein paar Fragen zu einem Ihrer früheren Fälle.«

Rigg hatte noch Uniform getragen, als Poe beim CID gewesen war, der Abteilung für Schwerverbrechen. Er war groß und schlaksig und hatte vorstehende Schneidezähne, die ihm gelegentlich den Spitznamen Plug eingetragen hatten – nach der Comicfigur aus The Beano. Poe hatte ihn alsguten, bodenständigen Cop in Erinnerung.

»Was ist denn los?«

Rigg wich seinem Blick aus; das war merkwürdig. Freunde waren sie nie gewesen, aber es hatte auch nie Feindschaft zwischen ihnen geherrscht.

»Erzählen Sie mir von den Ermittlungen im Fall Elizabeth Keaton, Sergeant Poe«, sagte er.

Elizabeth Keaton …

Warum überraschte ihn das nicht?

 

»Das war der letzte große Fall, an dem ich hier oben gearbeitet habe«, sagte Poe. »Hat als Vermisstenfall angefangen, eine gefährdete vermisste Person. Ihr Vater hatte von seinem Restaurant aus die Notrufzentrale angerufen. Er war völlig hysterisch, hat gesagt, seine Tochter wäre nicht nach Hause gekommen.«

Rigg blickte auf seine Notizen. »Eine mutmaßliche Entführung?«

»Nicht von Anfang an.«

»Das steht hier aber nicht. Laut der Akte wurde eine Entführung schon sehr früh in Betracht gezogen.«

Poe nickte. »Das steht in der Akte, weil es das war, was Jared Keaton gesagt hat.«

Gamble furchte die Stirn. »Ich war damals bei der Londoner Polizei, und ich will hier nicht im Nachhinein herumkritisieren, aber gab’s da vielleicht irgendwelche Begünstigungen? Wir lassen uns doch normalerweise von den Angehörigen nicht unsere Ermittlungsansätze vorschreiben.«

Poe zuckte die Achseln. »Die meisten Angehörigen kochen auch nicht für den Premierminister.«

Als seine Tochter verschwunden war, war Jared Keaton der Besitzer von Bullace & Sloe, Cumbrias einzigem Dreisternerestaurant. Ein berühmter Chefkoch, der Filmstars, Rock-Ikonen und Ex-Präsidenten zu seinen Kunden zählte. Er hatte für die Queen gekocht, und er hatte für Nelson Mandela gekocht. Wenn ein Chefkoch mit drei Michelin-Sternen etwas sagte, hörten wichtige Personen zu.

»Also doch Begünstigung?«

»Nein. In der Akte steht, was Keaton wollte. Wir haben Elizabeth Keatons Verschwinden genauso untersucht, wie wir es bei jedem anderen jungen Mädchen tun würden: ernsthaft und unvoreingenommen.«

Gamble nickte. Poes Erklärung hatte ihn zufriedengestellt. »Weiter.«

»Sie hätte ihn anrufen sollen, damit er sie vom Restaurant abholt, aber er war beim Fernsehen eingeschlafen und erst in den frühen Morgenstunden aufgewacht. Da hat er dann gemerkt, dass sie nicht nach Hause gekommen war.«

»Sie hat im Restaurant gearbeitet?«

»Hat im Foyer die Gäste empfangen und die Buchhaltung gemacht. Sich mit den Lieferanten und mit der Lohnabrechnung beschäftigt, so was in der Art. Außerdem war sie dafür verantwortlich, abends zuzumachen.«

»Sie war doch noch ein Teenager. War sie nicht ein bisschen jung für so viel Verantwortung?«

»Sie wissen, dass ihre Mutter bei einem Autounfall umgekommen ist?«

Rigg nickte.

»Sie hat ihre Aufgaben übernommen.«

»Sie hat also nicht angerufen, um sich abholen zu lassen?«

Poe wusste, dass die Akte dies alles ausführlich auflistete. Wusste, dass Rigg tat, was jeder gute Cop tat: Fragen stellen, auf die er die Antworten bereits kannte. Trotzdem ging es ihm gegen den Strich. Die Ermittlungen mochten ja zuerst die falsche Richtung genommen haben, aber sie hatten schnell den Kurs gewechselt.

»Laut Keaton nicht. Er hat gesagt, das Telefon hätte ihn geweckt.«

»Vom Bullace & Sloe bis zum Haus der Keatons war es doch nur ein kurzes Stück zu Fuß. Warum hätte er sie abholen müssen?«

Wieder zuckte Poe die Achseln. »Ein junges Mädchen spätabends, nehme ich an.«

»Und da wurden Sie hinzugezogen.«

»Ja. Es wundert mich, dass Sie nicht auch involviert waren. Hunderte haben nach ihr gesucht.«

»War ich auch«, gab Rigg zu. »Ich habe zu denen gehört, die den ganzen Weg vom Restaurant bis zur M6 abgelaufen sind und nach Anzeichen eines Kampfes gesucht haben.«

Die M6 war das Rückgrat Cumbrias und teilte die Grafschaft sauber in zwei Hälften. Poe erinnerte sich, dass er gesehen hatte, wie Cops die Straßenränder abgesucht, Autofahrer angehalten und ihnen Fotos gezeigt hatten.

»Auch wenn die M6 für die wahrscheinlichste Route des Entführers gehalten wurde«, fuhr Poe fort, »haben wir unseren Job gemacht und sämtliche Blickwinkel in Betracht gezogen.«

Rigg sah abermals auf seine Notizen hinunter. »Sie waren derjenige, der verlangt hat, dass die Küche forensisch untersucht wird.«

Poe nickte.

»Die Detectives, die den Fall bearbeitet haben, hatten sie zwar durchsucht und nichts gefunden, aber ich wollte, dass die Spurensicherung da durchgeht und noch einmal überprüft, ob Elizabeth nicht Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Ich wollte das zumindest ausschließen.«

»Warum waren Sie anderer Meinung? Sonst hatte doch niemand den Verdacht, dass es etwas anderes sein könnte als das, wonach es ausgesehen hat.«

»Immer die nächsten Angehörigen in Betracht ziehen, bis das Gegenteil bewiesen ist«, erwiderte Poe. »Ich fand, irgendjemand sollte wenigstens die Frage stellen.«

»Und da sind die Tatortermittler fündig geworden?«

»Damals hieß das noch Spurensicherung, aber ja, da sind sie fündig geworden«, bestätigte Poe. »In der Küche.«

5. Kapitel

Mit »fündig geworden« waren Blutflecke gemeint.

Nicht viele, doch als die Männer von der Spurensicherung die ersten Blutspuren fanden, verwandelte sich die Küche des Bullace & Sloe von einer Stätte preisgekrönter gastronomischer Exzellenz in einen Tatort. Poe berichtete, was als Nächstes passiert war, und dabei fluteten die Einzelheiten des Falls in einem gewaltigen Schwall in sein Gedächtnis zurück.

»Die anfängliche forensische Strategie bestand darin, herauszufinden, was genau in der Küche passiert war. Die Kollegen haben Luminol benutzt und noch mehr Blut gefunden. An der Decke und einigen tiefer liegenden Einbauten. Der Blutverlust wurde so eingeschätzt, dass ein Überleben nicht vorstellbar war.« Poe hielt inne und trank einen kleinen Schluck aus dem Wasserglas vor ihm. »Nachdem der Blutfund bestätigt war, haben sie 360-Grad-Rundumaufnahmen gemacht und die Blutspritzer analysiert, um sich ein Bild zu machen.«

»Und was ist dabei rausgekommen?«

»Dort hatte eine brutale, kontinuierliche Attacke stattgefunden, es gab mehr als einen Kampfort, und es war versucht worden, das Verbrechen zu vertuschen.«

»Der Täter hat sauber gemacht?«

»Nicht besonders geschickt. Genug, um eine visuelle Überprüfung zu überstehen, aber nicht annähernd gut genug für eine wissenschaftliche Untersuchung. Eigentlich nicht viel mehr als einmal drüberwischen.«

»Und das Blut hat mit dem von Elizabeth übereingestimmt?«

Poe nickte.

»Und von da an war es keine Vermisstensuche mehr, sondern eine Mordermittlung?«, wollte Rigg wissen.

»Richtig. Zusätzliche Mittel wurden bewilligt, Überstunden genehmigt, und sämtlicher Urlaub in der Abteilung wurde für alle gestrichen.«

»Arbeitshypothese?«

»Der erste Ansatz war, dass es entweder ein Landstreicher gewesen war, der an die Hintertür gekommen ist und auf etwas zu essen oder ein bisschen Kleingeld spekuliert hat, oder ein Stalker, von dem wir bis dahin noch nichts gewusst hatten.«

»Und was haben Sie gedacht?«

»Ich war mir nicht sicher. Dass es ein Landstreicher war, habe ich bezweifelt. Nicht in Cotehill – da wäre so einer aufgefallen wie Scheiße auf einer Torte. Irgendjemand hätte ihn gesehen.«

»Ein Stalker?«

»Das war auf jeden Fall das, was der Ermittlungsleiter geglaubt hat. Elizabeth war achtzehn und sah aus wie die junge Audrey Hepburn. Sie war beliebt und hatte ein aktives Sozialleben. Wir haben all ihre Habseligkeiten untersucht. Telefone, Computer, Tagebücher. Nichts gefunden. Wir haben passive Datensuchen durchgeführt und uns die Überwachungsaufnahmen von den Tagen noch mal angesehen, als sie die letzten paar Male in Carlisle unterwegs war. Wieder nichts. Der Ermittlungsleiter hat die Suche auf einen Mann ausgeweitet, mit dem sie Kontakt gehabt hatte. Ehemalige Schulfreunde, Männer aus ihrem sozialen Umfeld – ganz gleich, wie flüchtig die Bekanntschaft war –, Mitarbeiter vom Bullace & Sloe. Im Grunde also auf jeden.«

»Und Sie?«

»Ich habe angefangen, mir Jared Keaton näher anzuschauen.«

6. Kapitel

Und wieso, Sergeant Poe?«, fragte Rigg.

Poe sammelte seine Gedanken. Die Wahrheit war, dass Keaton anfangs nicht verdächtigt worden war. Nicht einmal von ihm. Nicht so richtig. Es war ein Unbehagen gewesen, ein Gefühl, dass irgendetwas nicht ganz stimmte.

»In seiner Aussage gab es Unstimmigkeiten.«

»Weiter.«

»Jemand aus dem Dorf war auf dem Rückweg vom Flughafen in Manchester an dem Restaurant vorbeigefahren. Er hat behauptet, Keatons Auto hätte um zwei Uhr früh noch davorgestanden.«

»Augenzeugen sind extrem unzuverlässig«, wandte Rigg ein.

Poe nickte. Das stimmte. Laut dem Innocent Project waren Augenzeugenberichte zu fünfundsiebzig Prozent nicht korrekt.

»Das war aber nicht alles«, fuhr er fort. »Keaton hatte gesagt, er sei nach Hause gefahren, um sich Match of the Day anzuschauen. Aber das war ein Länderspiel-Wochenende. Match of the Day lief an dem Abend gar nicht.«

»Da kann man sich ja nun leicht mal vertun.«

»Stimmt. Das kommt fast jeden Samstagabend, also kann man davon ausgehen, dass es läuft. Aber man würde ja wohl kaum vergessen, dass es nicht gelaufen ist, wenn man dafür extra nach Hause gefahren ist.«

»Ist das alles?«

»Er hatte die ganze Nacht Zeit. Tatsächlich hat er erst zwanzig Minuten vor dem Eintreffen der Frühschicht angerufen, die den Lunch vorbereiten musste.«

»Er hat gesagt, da wäre er aufgewacht.«

»Wenn dem so wäre, wenn er aufgewacht wäre und festgestellt hätte, dass seine Tochter verschwunden war, sieben Stunden nachdem sie zu Hause hätte sein sollen, wieso wäre er dann sofort zum Restaurant gefahren? Wieso hat er nicht zuerst ihre Freundinnen angerufen?«

»Also haben Sie ihn verdächtigt?«

»Genug, um ihn nicht auszuschließen.«

»Aber wenn er der Täter war, wo hat er sie dann versteckt?«, fragte Gamble. »Sie haben nicht geglaubt, dass er sie vergraben hat, das weiß ich.«

Poe schüttelte den Kopf. »Nein. Wir hatten gerade eine lange Kältewelle, die Temperaturen lagen seit fast einem Monat ständig unter null Grad. Der Experte für Geophysik, den wir konsultierten, hat gesagt, die Frosttiefe – das ist die Tiefe, bis in die das Grundwasser im Boden gefroren ist – läge bei über einem Meter. Er hätte schweres Gerät gebraucht, um sie zu verscharren.«

»Und er hätte sie nicht mit dem Auto irgendwo hinbringen können, um sie später zu entsorgen?«

Wieder schüttelte Poe den Kopf. »Wir haben seinen Range Rover genau untersucht. Nicht eine einzige Blutspur, und, glauben Sie mir, Elizabeth Keaton hatte keinen leichten Tod. Sie hätte in jedem Transportmittel eine Riesenschweinerei hinterlassen. Selbst wenn er sie in Müllsäcke gepackt und mit Klebeband verschnürt hätte, hätte es forensische Spuren gegeben. Der Leichnam wäre viel zu nass gewesen.«

»Aber Sie haben trotzdem gesucht?«

Poe nickte. »Ja, das haben wir. Eine Geowissenschaftlerin ist aus Preston raufgekommen und hat uns die wahrscheinlichsten Stellen gezeigt. Sie hat Luftaufnahmen ausgewertet, um zu sehen, ob der Boden irgendwo vor Kurzem aufgebrochen worden war, und sie hat Proben von allen umliegenden Seen und Wasserläufen genommen, nur für den Fall, dass Elizabeth irgendwo in direkter Nähe zum Grundwasser vergraben worden war. Nichts davon hat etwas ergeben. Wir haben gesucht, aber nichts gefunden.«

»Also«, meinte Gamble, »ich sage das ja nicht gern, aber wenn Sie dachten, der Mord sei in der Küche passiert, haben Sie dann in Erwägung gezogen, dass sie vielleicht irgendwie verarbeitet worden ist? Durch die Müllzerkleinerungsanlage geschoben und als Küchenabfall entsorgt?«

»Das haben wir getan. Jedes Gerät und jede Maschine in der Küche, mit denen man Tiere zerlegen könnte, ist unters Mikroskop gelegt worden. Wir haben die ganze Küche auf den Kopf gestellt. Das Fleisch in der Tiefkühltruhe überprüft. Und nichts gefunden, was darauf hingewiesen hätte, dass irgendwas dazu benutzt worden war, eine Leiche zu beseitigen.«

»Also …«

»Wenn er das also nicht hätte tun können, warum habe ich ihn immer noch für den Täter gehalten?«

Gamble nickte. Unausgesprochene Worte hingen schwer in der Luft. Poe überlegte, ob Keaton endlich die Erlaubnis bekommen hatte, Berufung gegen seine Verurteilung einzulegen.

»Weil ich mich da schon nicht mehr darauf konzentriert habe, wer Jared Keaton war, sondern angefangen hatte, mich damit zu befassen, was er war.«

»Nämlich?«, wollte Rigg wissen.

Eine lange Pause entstand, bevor Poe antwortete. »Haben Sie sich schon mal die Liste der Berufe angesehen, die bei Psychopathen am beliebtesten sind, DC Rigg?«

Rigg schüttelte den Kopf.

»Nein? Sollten Sie vielleicht mal tun. Ich kann Ihnen sagen, dass Platz drei ›Medien‹ ist. Ist ja auch irgendwie klar, oder? Man kann ja keinen Fernseher anmachen oder eine Zeitung aufschlagen, ohne Leute zu sehen, die glauben, sie wären so wichtig, dass alles, was sie sagen oder tun, der Öffentlichkeit unterbreitet werden müsste. Leuchtet ein.«

»Stimmt, aber was hat das mit …«

»Raten Sie mal, was auf Platz neun steht.«

Rigg, der nicht in der richtigen Stimmung für Ratespiele war, antwortete nicht.

»Koch«, sagte Poe. »Nummer neun auf der Liste ist Koch.«

Es herrschte Stille im Raum.

»Und Jared Keaton war nicht nur Koch, er war ein prominenter Chefkoch. Nummer drei und Nummer neun auf der Liste. Und eigentlich war er auch noch Geschäftsführer eines Unternehmens. Nummer eins auf der Liste. Eine toxische Dreifaltigkeit. Also habe ich mir den Mann mal gründlich angesehen. Komplettes Persönlichkeitsprofil. Habe mit seinen Freunden und Kollegen gesprochen, alten und neuen. Habe sein Leben auseinandergenommen, Stück für Stück. Und bin zu folgendem Schluss gekommen, Gentlemen: Jared Keaton hat vielleicht keine Hörner, aber in jeder anderen Hinsicht ist er die vollkommene Manifestation des Bösen.«

7. Kapitel

Wie in aller Welt beschrieb man jemandem, der ihn nicht kannte, Jared Keaton?

Charmant. Charismatisch. Hochintelligent. Als Koch ein Genie. Keinerlei Gewissen. Der gefährlichste Mann, dem Poe je begegnet war. Er hatte ihn auf Anhieb nicht leiden können. Der Mann war zu oberflächlich, zu gepflegt, zu glatt. Er erinnerte Poe an eine moderne Kneipe, die auf Irish Pub machte. Hübsch, aber ohne echte Substanz.

»Ich bin auf einen ganz anderen Menschen gestoßen als den, den wir alle schon mal in den Kochshows am Samstagvormittag gesehen haben«, sagte Poe. »Der fröhliche, verspielte, freche Koch, das war nur gespielt. Eine Rolle, die zu spielen er für seine Pflicht gehalten hat. Wenn er nicht vor der Kamera gestanden hat, war er kaltschnäuzig und unnachgiebig und hat andere manipuliert. Ich glaube nicht, dass ihm das Promileben Spaß gemacht hat, aber als Koch war er der Hammer. Jeder, mit dem ich gesprochen habe, hat gesagt, Keaton wäre fokussiert und brillant. Ein enormes Gespür für kommende Trends, seinen Kollegen in Sachen neue Techniken weit voraus, und ein Perfektionist, wenn es um die richtige Weinbegleitung ging. Sein Umgang mit Gästen war einzigartig. Nach allem, was ich gehört habe, war er der beste, den das Land je hervorgebracht hat. Er hat dem UK zu kulinarischem Ansehen verholfen. Chefköche, Prominente und Restaurantkritiker aus der ganzen Welt essen noch immer im Bullace & Sloe.«

»Das steht hier auch so.« Rigg las gerade eine Seite, auf der Abschnitte in Pink hervorgehoben waren. »Hier heißt es, er war geistreich, klug, genial, engagiert und sehr attraktiv.«

»Aber niemand hat je gesagt, dass er nett wäre«, erwiderte Poe. »Und zwar, weil er nicht nett war. Er war ein grausamer Mensch. Hatte sadistische Freude daran, anderen Schmerzen zuzufügen. Konnte unheimlich nachtragend sein, hat sich für eingebildete Kränkungen exzessiv gerächt und Köche, die Fehler gemacht haben, hart bestraft.«

»Wie meinen Sie das?«, wollte Gamble wissen.

»Ein Koch hat mir erzählt, er hätte mal Brühe zu stark gewürzt. Keaton hat ihn gezwungen, den ganzen Rest des Tages ständig Salzwasser zu trinken. Er hat drei Tage mit einem Nierenschaden im Krankenhaus gelegen.«

Stirnrunzelnd blätterte Rigg in der Akte. »Davon steht hier nichts, Sergeant Poe.«

»Nein. Da steht vieles nicht drin. Sie müssen verstehen, fast jeder Koch im ganzen Land hatte einen Heidenrespekt vor Jared Keaton. Ein Wort von ihm konnte eine Karriere vernichten. Niemand wollte sich offiziell äußern.«

»Gab’s sonst noch etwas?«, fragte Gamble.

»Jede Menge, Sir, aber ich erzähle Ihnen mal die Geschichte, die wirklich zeigt, was für ein Mensch er war. Ich habe das aus drei verschiedenen Quellen gehört, also ist es, was mich angeht, glaubwürdig. Jared Keaton hat seine Küche auf traditionelle Art und Weise geführt, und das heißt, sie war in mehrere Abteilungen gegliedert. In Warmspeisen, also Fisch, Suppe oder Soßen und so, und in kalte Küche, also zum Beispiel Vorspeisen, Salate und Ausstellungsgerichte. Gebäck und Dessert. Abwiegen und überprüfen, Gemüse vorbereiten, abwaschen, anrichten.«

»Und?«, fragte Rigg.

»In einer Küche ist es wie an jedem anderen Arbeitsplatz. Bestimmte Aufgaben sind begehrter. Sie sind angesehener, und man bekommt mehr bezahlt. Mit anderen Worten, Köche und Küchenhelfer können sich um Beförderung bemühen.«

Rigg und Gamble warteten darauf, dass er das näher ausführte.

»Also, bei der Polizei haben wir Promotion Boards. Man macht die nötigen Fortbildungen und bewirbt sich auf frei werdende Stellen. Jared Keaton hat das anders gemacht. Bei ihm gab es die Herdplatten-Challenge. Wenn zwei oder mehr Leute denselben Posten wollten, hat er sie die Hand auf die heiße Herdplatte legen lassen. Derjenige, der sie am längsten draufgelassen hat – der bereit war, für seine Arbeit schwere Verbrennungen in Kauf zu nehmen –, wurde befördert.«

»Das ist doch eine typische urbane Legende«, wehrte Rigg ab.

»Die drei Leute, mit denen ich gesprochen habe, hatten alle Hände wie meine.« Er drehte die Handfläche nach oben, zeigte auf seine Narbe und wartete, bis das, was er gesagt hatte, angekommen war. »Das war’s, womit wir es zu tun hatten, meine Herren. Sie werden niemals einem intelligenteren und böseren Menschen begegnen.«

Er hielt inne. Trank noch einen Schluck Wasser.

»Aber seine Intelligenz war zugleich auch seine größte Schwäche. Ich denke, er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass jemand ihm nicht glauben könnte. Sein ganzes Leben hatte er damit verbracht, andere Menschen nach Belieben zu brechen und zu formen, er war also gar nicht auf die Idee gekommen, dass jemand immun dagegen sein könnte. Als ich seine Ausgaben überprüfte, habe ich festgestellt, dass er vor Kurzem mehrere Gegenstände gekauft hatte.«

»Als da wären?«

»Eine Metzgersäge, ein schweres und ein leichtes Fleischerbeil und ein Ausbeinmesser.«

»Ich nehme an, das, was Sie da beschreiben, ist das Handwerkszeug eines Kochs?«

»Ja. Und das Bullace & Sloe kauft ganze frisch geschlachtete Tiere, um sie direkt vor Ort zu zerlegen. Ist günstiger. Aber Sie müssen sich über zwei Dinge im Klaren sein: Jared Keaton würde sich normalerweise nicht die Hände mit Werkzeugbestellungen schmutzig machen – das war Elizabeths Job –, und die Messer und Beile, die er bestellt hat, waren vom selben Hersteller wie die, die in der Küche verwendet worden sind.«

»Und?«

»Ich war der Ansicht, dass er Elizabeth mit diesen Küchenwerkzeugen umgebracht hat.«

»Mit allen?«

Poe zuckte die Schultern. »Wir wissen, dass es einen Kampf gegeben hat. Vielleicht ist ja nicht alles so gelaufen, wie er wollte. Abwehrverletzungen hatte er nicht, aber das heißt ja nicht, dass sich Elizabeth nicht irgendetwas geschnappt hat, um sich zu wehren. Ich glaube, die eigentlichen Tatwerkzeuge sind da, wo sie ist.«

»Und trotzdem hatten Sie noch immer keine Ahnung, wie er ihren Leichnam transportiert hat, und Sie haben keine Ahnung, wie er sie entsorgt hat«, sagte Rigg. »Nicht gerade ein perfekter Kriminalfall, Poe.«

»Kein Fall ist je perfekt. Und außerdem ist perfekt der Feind von gut.«

 

»Haben Sie je ein Motiv entwickelt?«, erkundigte sich Rigg. »Und sei es eins, das Sie nicht anführen konnten?«

»Außer dass er ein Psychopath ist, hatte ich absolut nichts«, gab Poe zu.

»Ihre beste Einschätzung?«

»Schätzen ist gefährlich für Detectives. Ich bemühe mich, derlei zu vermeiden.«

Rigg lief bei dieser Zurechtweisung rot an. Er wandte sich wieder seiner Akte zu. »Glauben Sie, er hatte das geplant?«

Poe wartete einen Augenblick lang. »Er ist ganz sicher intelligent genug, um mit einem Mord davonzukommen. Angesichts der Tatsache, dass er nicht damit davongekommen ist, denke ich, nein, er hatte das nicht geplant.«

»Also ein spontaner Entschluss?«

»Wahrscheinlich. Aber wenn man die Denkweise eines normalen Menschen anwendet, um zu hinterfragen, was Jared Keaton unter Druck getan haben könnte, dann wird man immer falschliegen.«

»Also keine Mittel, kein Motiv und lediglich ein äußerst fragliches Zeitfenster«, stellte Rigg fest. »Wundert mich ja, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat.«

Das war keine Frage, also sagte Poe nichts. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Keaton wegen Mordes anzuklagen, hatte auf zwei Dingen beruht: auf seiner kategorischen Weigerung, auch nur zu versuchen, die Diskrepanzen zu erklären, und auf der Tatsache, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Mord geschehen war.

Rigg machte ein finsteres Gesicht, als Poe nicht antwortete.

»Mich wundert, dass er verurteilt worden ist«, bemerkte Gamble. Er sah müde aus.

»Mich nicht«, sagte Poe. »Der Staatsanwalt hat die Geschworenen gut bearbeitet, aber letzten Endes ist Keaton sein eigenes Ego zum Verhängnis geworden.«

»Sein Ego?«, fragte Rigg.

»Sein Anwalt wollte nicht, dass er als Zeuge auftritt, aber er hat darauf bestanden. Ich glaube, er hat gedacht, er braucht nur zu lächeln und den beiden Frauen in der Jury zuzuzwinkern.«

»Da waren nur zwei Frauen dabei?«, erkundigte sich Rigg. »Das ist statistisch unwahrscheinlich.«

»War so eine Laune des Schicksals. Und sein umwerfender Charme hat bei Männern aus Cumbrias Arbeiterschicht nicht so richtig gewirkt.«

»Aber wenn zwei Geschworene für ›nicht schuldig‹ stimmen, reicht das.«

»Der Geschworenensprecher war ein sehr starker Charakter«, entgegnete Poe. »Und sie haben lange gebraucht. Fast zwei Tage. Als das Urteil verlesen wurde, war Keaton empört. Er konnte es nicht fassen, dass er für schuldig befunden worden war. Aber es war die richtige Entscheidung, und ich habe damals nachts gut geschlafen. Man bringt nicht alle Tage einen Psychopathen hinter Gitter.«

Rigg antwortete nicht. Stattdessen sah er Gamble fragend an. »Sir?«

Gamble nickte.

»Was würden Sie also sagen, Sergeant Poe, wenn ich Sie davon in Kenntnis setzen würde, dass Elizabeth Keaton vor drei Tagen quicklebendig die Bibliothek von Alston betreten hat?«

8. Kapitel

Poe erstarrte. Die Sommerbräune wich aus seinem Gesicht. Schweiß brach ihm im Nacken aus. Schweigen hatte sich über Konferenzraum B gesenkt.

»Unmöglich«, flüsterte Poe. Das Blut dröhnte in seinen Ohren; er konnte sich selbst kaum hören. Das konnte nicht wahr sein. Elizabeth Keaton war tot. Jared Keaton hatte sie umgebracht. Das wusste er ganz tief in seinem Innersten. Irgendjemand zog hier eine linke Nummer ab. Aber … Gamble hätte ihn doch nicht nach Cumbria zurückgeholt, wenn er nicht schon unterm Bett nachgesehen hätte.

Was wurde ihm hier verschwiegen?

»Sagen Sie mir, was Sie wissen«, knurrte er.

»Die Ermittlungen waren von Anfang an unter aller Kanone, Sergeant Poe«, verkündete Rigg. »Sie hatten keine Leiche, keine Erklärung dafür, wie Keaton den Leichnam hätte beseitigen können, und kein Motiv. Aber anstatt zu tun, was Sie hätten tun sollen, nämlich nach einem entführten jungen Mädchen suchen, haben Sie sich auf die erstbeste Lösung fixiert, die Ihnen in den Sinn gekommen ist.« Er rammte den Finger in Poes Richtung. »Nur weil Sie ihn nicht leiden konnten.«

Poe starrte den hochgewachsenen Detective an. Riggs Blick war zornig.

Rigg blätterte in der Akte, holte eine Fotografie heraus und schob sie über den Tisch. Es war ein Screenshot von einer jungen Frau in einem Vernehmungszimmer. Wahrscheinlich ein Standbild aus einer Videoaufnahme.

Poe rieb die Lesebrille an der Manschette seines Hemdes und setzte sie auf. Dann studierte er die Frau auf dem Foto. In seinem Magen begann die Säure zu brennen. Das Alter schien wirklich zu passen. Elizabeth Keaton war achtzehn gewesen, als sie ermordet worden war, und das Mädchen auf dem Foto war Mitte zwanzig. Und obgleich sie verhärmt und verwahrlost war, sah sie wirklich so aus, wie Elizabeth vielleicht ausgesehen hätte, wenn sie noch sechs Jahre länger gelebt hätte.

»Elizabeth Keaton ist von einem Mann entführt worden, der durch die Kellnertür in die Küche gekommen ist«, sagte Rigg. »Sie meint, es könnte ein Restaurantgast gewesen sein, der sich auf der Behindertentoilette versteckt hatte, bis alle außer ihr weg waren.«

Poe konnte den Blick nicht von dem Foto losreißen.

»Mit einem hatten Sie recht: Es hat wirklich eine gewaltsame Auseinandersetzung gegeben. Der Mann – und nach sechs Jahren haben wir endlich eine Beschreibung – hat sie gefesselt und dann eines ihrer großen Blutgefäße mit einem Messer angeritzt. Laut Elizabeth hat er eine Sauteuse mit ihrem Blut gefüllt und es dann überall herumgespritzt, sodass es aussah wie in einem Schlachthaus. Dann hat er sich darangemacht, es wegzuputzen.«

»Aber … aber warum?«

»Warum? Das möchte ich ihn auch gern fragen. Wir gehen davon aus, dass er einen Mord vorgetäuscht hat, damit Sie … Entschuldigung, die Ermittlung sich auf das Falsche konzentriert. Nach einem Leichnam zu suchen ist etwas vollkommen anderes, als nach einem lebenden Menschen zu suchen. Die Medienstrategie ist anders, die technischen Hilfsmittel sind anders, die Fachleute, die man hinzuzieht, sind andere. Während Sie damit beschäftigt waren, Jared Keaton des Mordes zu bezichtigen, ist Elizabeth Keaton in einem Keller vergewaltigt worden.«

Poe zuckte zurück. Wenn das stimmte, war er für einen katastrophalen Fehler verantwortlich. Einen Fehler, von dem er nie wieder loskommen würde, das wusste er.

»Erzählen Sie mir ganz genau, wie Sie damals das Blut, das in der Küche gefunden wurde, als das von Elizabeth Keaton identifiziert haben«, wies Rigg ihn an.

»Wir haben Abstriche genommen und ein DNA-Profil erstellen lassen. Dann haben wir aus verschiedenen Quellen weitere Proben genommen, um zu überprüfen, ob es Elizabeths Blut ist. Wir haben Haare aus ihrem Schlafzimmer und von ihrer Arbeitskleidung verwendet. Speichel von ihrer Zahnbürste und einer Coladose, die wir im Müll gefunden hatten. Alles hat gepasst. Das Blut in der Küche stammte von Elizabeth Keaton.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut.«

»Als wir sie nach Penrith gebracht hatten, wurde ein Force Medial Examiner angefordert, Sergeant Poe«, sagte Rigg. »Elizabeth hat sich von niemandem anfassen lassen – wer könnte es ihr auch verdenken? –, und wir mussten wissen, ob sie im Krankenhaus behandelt werden musste. Es hat eine Weile gedauert, aber schließlich hat Elizabeth sich bereit erklärt, sich von Dr. Jakeman Blut abnehmen zu lassen.«

Poe antwortete nicht. FMEs waren approbierte Ärzte mit einer forensischen Zusatzausbildung. Weil Cumbria so groß und so dünn besiedelt war, waren sie nicht fest bei der Grafschaft angestellt, sondern es gab ein Rufbereitschaftssystem.

»Sie wollen sich bestimmt das Video ansehen, aber die Beweismittelkette ist makellos. Dr. Jakeman hat vier Blutproben genommen. Wir haben die Blutabnahme gefilmt, und die Röhrchen sind sofort in Asservatentüten eingesiegelt worden. Eine der Proben haben wir in unser Labor geschickt.«

Poe wusste, was Rigg gleich sagen würde, doch er fragte trotzdem. »Und?«

»Und das Blut hat mit dem von damals übereingestimmt, Poe. Es gibt keinen Zweifel – die Frau auf dem Foto ist Elizabeth Keaton. Sie haben vor sechs Jahren einen Unschuldigen ins Gefängnis gebracht.«

9. Kapitel

Sie werden die Aufnahmen sehen wollen«, sagte Gamble und erhob sich. »DC Rigg besorgt Ihnen einen Computer.« Er wusste offensichtlich, dass der Wandel vom Ungläubigen zum Konvertiten nicht augenblicklich erfolgt, wenn einem plötzlich eine fundamentale Überzeugung wegbricht.

Der Superintendent ließ Poe allein, während Rigg einen Laptop holen ging. Poe trank den Rest seines Wassers. Es war lauwarm und mit einem Staubfilm bedeckt, doch das war ihm egal – sein Mund war knochentrocken. In seinem Magen rumorte es, und sein rechtes Bein wippte unaufhörlich. Alles Anzeichen dafür, dass er nervös war. Das ergab doch überhaupt keinen Sinn. Elizabeth Keaton war tot. Dessen war er sich sicher.

Aber war er sich wirklich sicher?

Er war sich sicher gewesen. So viel wusste er. Doch er erinnerte sich auch noch, dass er eine sofortige heftige Abneigung gegen Jared Keaton empfunden hatte. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er gewusst, dass Keaton ein unaufrichtiger Manipulator war. Doch ihm war auch klar, dass man überall Täuschungsmanöver sah, wenn man mit Unehrlichkeit rechnete. War es so gewesen? Hatte seine Abneigung gegen Keaton ihn Dinge sehen lassen, die gar nicht da waren? Ihn Hinweise auf eine einzige Art und Weise interpretieren lassen, ein Narrativ entwickeln lassen, das nur die Fakten in Betracht zog, die es bestärkten, ihn alles Widersprüchliche als unwichtig abtun ließ? Seiner Ansicht nach nicht, aber das war es ja gerade: Niemand glaubt, dass er unter Bestätigungsverzerrung leidet – jenem verlässlichsten aller mentalen Stolpersteine.

Und die Tatsache, dass Keaton Elizabeths Leichnam nicht hätte beseitigen können, hatte ihm immer zu schaffen gemacht. Er hatte sich eingeredet, dass Keaton zu clever für sie gewesen sei. Dass man Elizabeths Leiche eines Tages irgendwo entdecken würde. Das Gesetz erlaubte Schuldsprüche ohne Leichnam doch für genau solche Situationen.

Sein Verstand raste. Er war ein guter Cop, unfehlbar jedoch war er nicht. Wenn ohne Zweifel, ohne seine Zweifel nachgewiesen wurde, dass er sich geirrt hatte, dann war er maßgeblich dafür verantwortlich, dass Elizabeth Keaton sechs Jahre in der Hölle verbracht hatte. Und Jared sechs Jahre an einem nicht sehr viel besseren Ort.

Wie konnte man sich für so etwas entschuldigen? Wie konnte solches Unrecht wiedergutgemacht werden?

Rigg kam mit einem Laptop herein. Er stellte ihn vor Poe auf den Tisch und klappte ihn auf. Die richtige Datei war bereits aufgerufen.

»Die Befragungen laufen in chronologischer Reihenfolge ab. Die erste Datei ist die Aufnahme der Überwachungskamera in der Bibliothek von Alston. Sie können sehen, wie sie Kontakt aufnimmt.«

Poe rührte sich nicht. »Wenn ich mich geirrt habe, gebe ich es zu, Rigg. Ich werde mich hier nicht wegducken.«

Rigg verließ den Raum, ohne zu antworten.

 

Die Aufnahmen aus der Bibliothek von Alston waren nicht besonders hilfreich. Das Bild war gut, aber es gab keine Tonspur. Man sah, wie die junge Frau die Bibliothek betrat, wie sie zögerte, als raffe sie allen Mut zusammen, und wie sie dann auf den Polizeitisch zuging, wo ein augenscheinlich gelangweilter Cop in Uniform saß

Er musste es ehrlich zugeben – sie sah wirklich aus wie Elizabeth Keaton. Klapperdürr und verdreckt, doch die Ähnlichkeit war geradezu unheimlich.