Der Zögling - M. W. Craven - E-Book
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Der Zögling E-Book

M W Craven

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Beschreibung

Clever und hochspannend, scharfzüngig und voller britischem Wortwitz: »Als Leser merkt man sehr schnell, dass man mit der Poe-Reihe etwas ganz Besonderes in Händen hält.« n-tv.de M W Cravens Kriminalroman »Der Zögling« ist der erste Band der preisgekrönten englischen Krimireihe um DS Washington Poe und seine brillanten Kolleginnen und liefert die Vorgeschichte zum »Botaniker«. Ein Serienmörder foltert seine Opfer in den uralten Steinkreisen der Grafschaft Cumbria und verbrennt sie bei lebendigem Leibe. Der Täter hinterlässt keinerlei Spuren – bis die scheinbar willkürlichen Foltermale des dritten Opfers bei einer genauen Untersuchung den Namen "Washington Poe" ergeben. Könnte Detective Poe das nächste Opfer sein? Eilig wird der zurzeit suspendierte Detective zurück in den Dienst beordert und zusammen mit der brillanten, aber sozial inkompatiblen Analystin Tilly Bradshaw auf den Fall angesetzt. Als weitere Opfer und Hinweise entdeckt werden, die sich offenbar gezielt an Poe richten, stoßen die beiden Ermittler auf ein lange gehütetes Geheimnis, das den Morden zugrunde liegen könnte. Je näher Poe dem Täter kommt, desto größer wird der furchtbare Verdacht, dass er den Mann kennt, den die Presse "den Brandopferer" getauft hat … Englische Krimi-Serie mit Kult-Potenzial Für »Der Zögling« wurde der britische Bestseller-Autor M W Craven mit dem renommierten Gold Dagger Award ausgezeichnet. Die Krimireihe um Detective Washington Poe und sein Team von Power-Frauen ist mittlerweile weltweit erfolgreich. Auf Deutsch ist von M W Craven auch der Krimi »Der Botaniker« erschienen, der DS Washington Poe gleich mit zwei scheinbar unmöglichen Fällen konfrontiert – kluge Spannung zum Miträtseln für Leser*innen von Elizabeth George, AK Turner oder Nicci French.

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Seitenzahl: 498

Veröffentlichungsjahr: 2024

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M. W. Craven

Der Zögling

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Sabine Schilasky und Marie-Luise Bezzenberger

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Ein Serienmörder foltert seine Opfer in den uralten Steinkreisen der Grafschaft Cumbria und verbrennt sie bei lebendigem Leibe. Der Täter hinterlässt keinerlei Spuren – bis die scheinbar willkürlichen Foltermale des dritten Opfers bei einer genauen Untersuchung den Namen »Washington Poe« ergeben. Könnte Detective Poe das nächste Opfer sein? Eilig wird der zurzeit suspendierte Detective zurück in den Dienst beordert und zusammen mit der brillanten, aber sozial inkompatiblen Analystin Tilly Bradshaw auf den Fall angesetzt. Als weitere Opfer und Hinweise entdeckt werden, die sich offenbar gezielt an Poe richten, stoßen die beiden Ermittler auf ein lange gehütetes Geheimnis, das den Morden zugrunde liegen könnte. Je näher Poe dem Täter kommt, desto größer wird der furchtbare Verdacht, dass er den Mann kennt, den die Presse »den Brandopferer« getauft hat …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

Leseprobe »Der Gourmet«

Dieses Buch ist meiner Frau Joanne und meiner verstorbenen Mum Susan Avison Craven gewidmet. Ohne die beiden würde es nicht existieren.

Prolog

Der Steinkreis ist ein uralter, friedvoller Ort. Die Steine sind stumme Posten. Reglose Wächter. Auf dem Granit glitzert der Morgentau. Tausend und mehr Wintern haben sie getrotzt, und obgleich sie verwittert und von den Elementen gezeichnet sind, haben sie sich weder der Zeit, den Sommern und Wintern noch den Menschen gebeugt.

Allein in dem Kreis, umgeben von sanften Schatten, steht ein alter Mann. Tiefe Falten zeichnen sein Gesicht. Schlaffes graues Haar umrahmt seinen kahlen, fleckigen Schädel. Er ist ausgemergelt, und seine hagere Gestalt wird von Zitterkrämpfen geschüttelt. Sein Kopf ist gesenkt, seine Schultern sind gebeugt.

Er ist nackt, und er wird gleich sterben.

Starker Draht fesselt ihn an einen Eisenträger. Der Draht schneidet ihm in die Haut, doch das kümmert ihn nicht: Sein Peiniger hat ihn bereits gefoltert.

Er steht unter Schock und glaubt, noch mehr Schmerzen könne er gar nicht empfinden.

Da irrt er.

»Sehen Sie mich an.« Die Stimme seines Peinigers ist monoton.

Der alte Mann ist mit einer gelartigen Substanz eingeschmiert, die nach Benzin stinkt. Er hebt den Kopf und sieht die mit einer Kapuze verhüllte Gestalt vor sich an.

Sein Peiniger hält ein Feuerzeug in der Hand. Ein amerikanisches Zippo.

Und nun setzt die Angst ein. Die Urangst vor dem Feuer. Er weiß, was passieren wird, und er weiß auch, dass er es nicht aufhalten kann. Seine Atmung wird flach und schnell.

Das Zippo kommt näher, ist auf Augenhöhe. Der alte Mann sieht die schlichte Schönheit, die vollkommenen Linien, die präzise Arbeit. Ein Design, das sich in hundert Jahren nicht verändert hat. Mit einer raschen Bewegung klappt das Feuerzeug auf. Ein Drehen mit dem Daumen, und das Zündrädchen reibt am Feuerstein. Funken sprühen, und eine träge Flamme erscheint.

Sein Peiniger senkt das Zippo, zieht die Flamme langsam abwärts. Der Brandbeschleuniger fängt Feuer. Die gierigen Flammen lodern auf und kriechen dann seinen Arm hinab.

Sofort ist der Schmerz da, als wäre sein Blut zu Säure geworden. Entsetzt reißt er die Augen weit auf, und jeder Muskel wird steinhart. Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Er versucht zu schreien, doch der Schrei stirbt, als er auf das Hindernis in seinem Rachen trifft, wird erbärmlich und erstickt im Gurgeln seines eigenen Blutes.

Seine Haut zischt und brutzelt wie Fleisch in einem heißen Backofen. Blut, Fett und Wasser rinnen ihm über die Arme und tropfen von seinen Fingern.

Vor seinen Augen wird es schwarz. Der Schmerz lässt nach. Sein Atem geht nicht mehr schnell und panisch.

Der alte Mann stirbt. Er weiß nicht, dass sein Körperfett das Feuer noch lange in Gang halten wird, nachdem der Brandbeschleuniger aufgebraucht ist. Er sieht nicht, wie die Flammen verbrennen und verzerren, was ihm in die Brust geritzt worden ist.

Doch es geschieht trotzdem.

1. Kapitel

Eine Woche später

Tilly Bradshaw hatte ein Problem. Sie mochte Probleme nicht. Ihre niedrige Toleranzschwelle für Unsicherheit bedeutete, dass Probleme ihr Angst machten.

Suchend sah sie sich nach jemandem um, dem sie zeigen konnte, was sie gefunden hatte, doch das Büro der Serious Crime Analysis Section – der SCAS – war verwaist. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es beinahe Mitternacht war. Wieder einmal hatte sie sechzehn Stunden durchgearbeitet. Rasch tippte sie eine SMS an ihre Mutter, um sich zu entschuldigen, weil sie nicht angerufen hatte.

Danach wandte sie sich wieder ihrem Bildschirm zu. Auch wenn ihr klar war, dass es kein Fehler sein konnte, würde man bei einem solchen Resultat von ihr erwarten, dass sie alles dreimal überprüfte. Sie ließ das Programm erneut laufen.

Nachdem sie sich einen Früchtetee aufgebrüht hatte, warf sie einen Blick auf den Ladebalken. Noch fünfzehn Minuten. Bradshaw klappte ihren privaten Laptop auf, steckte ihre Ohrstöpsel ein und tippte: »Wieder da.« Innerhalb von Sekunden war sie völlig in ein Online-Rollenspiel namens Dragonlore vertieft.

Im Hintergrund verarbeitete das Programm die Daten, die sie eingegeben hatte. Bradshaw sah sich kein einziges Mal nach dem Bürocomputer um.

Sie machte keine Fehler.

 

Fünfzehn Minuten später löste sich das Logo der National Crime Agency auf wie ein Magic-Eye-Stereogramm, und dieselben Ergebnisse wie beim letzten Mal erschienen. Bradshaw tippte »Bin weg« in ihren Laptop und loggte sich aus dem Spiel aus.

Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder waren die Ergebnisse korrekt, oder das Ganze war ein mathematisch unerklärlicher Zufall. Als sie die Resultate zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie die Wahrscheinlichkeit überschlagen, dass es sich um einen Zufall handelte, und war bei einer Zahl im hohen Millionenbereich gelandet. Für den Fall, dass man sie fragte, gab sie das mathematische Problem in ein Programm ein, das sie geschrieben hatte, und ließ es durchlaufen. Das Ergebnis zeigte, dass es innerhalb der Fehlermarge lag, die sie zugelassen hatte. Sie lächelte nicht, als ihr klar wurde, dass sie das schneller berechnet hatte als ihr eigener Computer mit dem von ihr selbst geschriebenen Programm.

Bradshaw wusste nicht genau, was sie als Nächstes tun sollte. Ihre Vorgesetzte, Detective Inspector Flynn, war meistens nett zu ihr. Andererseits war ihre kleine Unterhaltung erst eine Woche her, die, bei der es darum gegangen war, wann es angebracht war, bei ihr zu Hause anzurufen, und wann nicht. Das durfte sie nur tun, wenn es wichtig war. Nur … DI Flynn war doch diejenige, die entschied, ob etwas wichtig war, also woher sollte Bradshaw es dann wissen, ohne sie zu fragen? Das war alles sehr verwirrend.

Bradshaw wünschte, das Ganze wäre ein mathematisches Problem! Mathematik verstand sie; Detective Inspector Flynn verstand sie nicht. Sie nagte an ihrer Lippe und kam zu einer Entscheidung.

Noch einmal ging sie ihre Ergebnisse durch und probte im Geiste, was sie sagen wollte.

Ihre Entdeckung bezog sich auf das aktuelle Fahndungsziel der SCAS, einen Mann, den die Presse »Immolation Man« – »Brandopferer« – getauft hatte. Wer er auch immer war – und sie waren schon früh davon ausgegangen, dass es sich um einen männlichen Täter handelte –, er hatte anscheinend etwas gegen Männer in den Sechzigern und Siebzigern. Tatsächlich waren sie ihm so zuwider, dass er sie anzündete.

Bradshaw hatte sich mit den Daten des dritten und jüngsten Opfers befasst. Nach dem zweiten Opfer war die SCAS hinzugezogen worden. Abgesehen davon, Serienmörder oder -vergewaltiger als solche zu identifizieren, bestand die Aufgabe ihrer Einheit darin, allen Polizeieinheiten, die komplexe Mordermittlungen durchführten oder es mit Tötungsdelikten ohne erkennbares Motiv zu tun hatten, analytische Unterstützung anzubieten. Der Brandopferer erfüllte zweifellos sämtliche SCAS-Kriterien.

Weil das Feuer die Leichname so sehr entstellt hatte, dass sie gar nicht mehr wie Leichname aussahen, hatte es der leitende Ermittler in Cumbria nicht bei einer Obduktion belassen, sondern die SCAS um Rat gebeten. Die hatte veranlasst, dass nach der Obduktion noch eine Multislice-Computertomografie der Leiche vorgenommen wurde. Die MSCT war eine hoch entwickelte medizinische Untersuchungstechnik, bei der mittels Röntgenstrahlen und Kontrastmittel ein 3-D-Bild des Körpers erstellt wurde. Eigentlich war sie für die Lebenden gedacht, doch bei Toten war sie nicht weniger nützlich.

Die SCAS konnte sich kein eigenes MSCT leisten – keine Strafverfolgungsbehörde konnte das –, aber es gab eine Absprache, nach der sie gegen eine Gebühr eine solche Untersuchung vornehmen lassen konnten, wenn es die Situation erforderte. Und da der Brandopferer dort, wo er seine Opfer entführte, oder an den Tatorten keinerlei Spuren oder Hinweise hinterließ, waren die obersten Stellen bereit, alles zu versuchen.

Bradshaw holte tief Luft und rief DI Flynn an.

Beim fünften Klingeln wurde abgenommen, und eine benommene Stimme meldete sich. »Hallo?«

Wieder schaute Bradshaw auf die Uhr. Nach Mitternacht. »Guten Morgen, Detective Inspector Flynn. Wie geht es Ihnen?« Bei dem Gespräch über unangebrachte Anrufe nach Feierabend hatte DI Flynn sie außerdem gebeten, höflicher zu ihren Kollegen zu sein.

»Tilly«, knurrte Flynn, »was wollen Sie?«

»Ich möchte mit Ihnen über den Fall reden, Detective Inspector Flynn.«

Flynn seufzte. »Können Sie mich bitte einfach Stephanie nennen, Tilly? Oder Steph? Oder Boss?«

»Natürlich, Detective Inspector Stephanie Flynn.«

»Nein … ich meine, können Sie nicht einfach … Ach, vergessen Sie’s.«

Bradshaw wartete, bis Flynn ausgeredet hatte, ehe sie weitersprach. »Darf ich Ihnen bitte erzählen, was ich herausgefunden habe?«

Flynn stöhnte. »Wie spät ist es?«

»Es ist dreizehn Minuten nach Mitternacht.«

»Na dann, was ist denn so wichtig, dass es nicht bis morgen früh warten kann?«

Flynn hörte ihr zu, stellte dann ein paar Fragen und legte auf. Mit zufriedenem Lächeln lehnte Bradshaw sich auf ihrem Stuhl zurück. Es war richtig gewesen, anzurufen. Das hatte DI Stephanie Flynn gesagt.

 

Flynn war innerhalb einer halben Stunde da. Ihr blondes Haar war wirr. Sie trug kein Make-up. Bradshaw trug auch kein Make-up, allerdings mit Absicht. Sie fand so etwas albern.

Bradshaw drückte einige Tasten und rief eine ganze Reihe Querschnitte auf. »Die sind alle vom Oberkörper«, sagte sie.

Dann erklärte sie, wozu das MSCT gut war. »Es kann Wunden und Frakturen erkennen, die bei einer Obduktion übersehen werden könnten. Besonders nützlich ist es, wenn das Opfer schlimm verbrannt ist.«

Flynn wusste das alles, ließ sie aber dennoch ausreden. Bradshaw lieferte Informationen in ihrem eigenen Tempo und ließ sich nicht hetzen.

»Die Querschnitte verraten uns eigentlich nicht sehr viel, DI Stephanie Flynn, aber sehen Sie mal hier.« Bradshaw rief ein Schichtbild auf, diesmal von oben.

»Was ist das denn …?« Flynn starrte auf den Bildschirm.

»Wunden«, antwortete Bradshaw. »Sehr viele Wunden.«

»Also wurde bei der Obduktion ein Haufen willkürlicher Schnittwunden übersehen?«

Bradshaw schüttelte den Kopf. »Das dachte ich zuerst auch.« Sie drückte eine Taste, und vor ihnen erschien das 3-D-Bild der Wunden auf der Brust des Opfers. Sie betrachteten es eingehend. Langsam arbeitete sich das Programm durch die scheinbar willkürlichen Schnitte, und schließlich fügten sie sich zusammen.

Die beiden Frauen starrten das endgültige Bild an. Daran war nichts willkürlich.

Nach einer Weile fragte Bradshaw: »Was machen wir jetzt, Detective Inspector Stephanie Flynn?«

Flynn stockte kurz, ehe sie antwortete: »Haben Sie Ihre Mutter angerufen und ihr gesagt, warum Sie noch nicht zu Hause sind?«

»Ich habe ihr eine SMS geschickt.«

»Tja, schicken Sie ihr noch eine, und sagen Sie Bescheid, dass Sie heute Nacht gar nicht nach Hause kommen.«

Bradshaw tippte sogleich auf ihr Handy-Display ein. »Und was soll ich als Grund sagen?«

»Sagen Sie ihr, dass wir den Director of Intelligence aus dem Bett holen.«

2. Kapitel

Washington Poe hatte es genossen, den ganzen Tag lang die Trockenmauer zu reparieren. Das war eine von mehreren neuen Fertigkeiten, die er sich angeeignet hatte, seit er zurück nach Cumbria gezogen war. Die Arbeit ging mächtig ins Kreuz, doch das machte den Lohn in Form einer Pastete und eines Pints am Ende des Tages umso süßer. Er lud sein Werkzeug und ein paar übrig gebliebene Steine in den Anhänger seines Quads, pfiff nach seinem English Springer Spaniel Edgar und machte sich auf den Rückweg zu seiner Schäferhütte. Da er heute an der äußeren Grenzmauer gearbeitet hatte, war er fast zwei Kilometer weit weg von seiner aus groben Steinen gemauerten Behausung namens Herdwick Croft. Er würde also etwa eine Viertelstunde brauchen.

Die Frühlingssonne stand tief, und der Abendtau ließ Gras und Heidekraut schimmern. Vögel zwitscherten ihre Revier- und Paarungsgesänge, und in der Luft lag der Duft der ersten Blüten. Beim Fahren atmete Poe tief ein.

Daran könnte er sich gewöhnen.

Er hatte vorgehabt, rasch zu duschen und anschließend zum Hotel hinüberzugehen, doch je näher er seinem Zuhause kam, desto reizvoller erschien ihm der Gedanke an ein langes Bad mit einem guten Buch.

Er kam über den letzten Hügelkamm und hielt abrupt an. Jemand saß an seinem Gartentisch.

Poe öffnete die Segeltuchtasche, die er stets bei sich trug, holte ein Fernglas heraus und richtete es auf die einsame Gestalt. Sicher war er nicht, aber sie sah weiblich aus. Er stellte das Fernglas schärfer und lächelte grimmig, als er die Frau mit dem langen blonden Haar erkannte.

Sie hatten ihn also endlich doch ausfindig gemacht.

Poe steckte das Fernglas wieder in die Tasche und fuhr zu seinem ehemaligen Sergeant hinunter.

 

»Lange nicht gesehen, Steph«, sagte Poe. »Was führt Sie denn so weit in den Norden?« Edgar, der pelzige Verräter, hüpfte um sie herum wie um eine alte Freundin.

»Poe.« Sie betrachtete ihn. »Hübscher Bart.«

Poe kratzte sich am Kinn; er hatte sich das tägliche Rasieren abgewöhnt. »Sie wissen doch, ich war nie gut in Small Talk, Steph.«

Flynn nickte. »War ganz schön schwer, Sie zu finden.« Sie trug einen Hosenanzug, blau mit Nadelstreifen, und so schlank und durchtrainiert, wie sie aussah, machte sie offenbar immer noch Kampfsport. Steph strahlte das Selbstvertrauen eines Menschen aus, der alles unter Kontrolle hatte. Auf dem Tisch lag eine Lesebrille neben einer Akte. Anscheinend hatte sie gearbeitet, bis er kam.

»Offenbar nicht schwer genug«, antwortete er. Er lächelte nicht. »Was kann ich für Sie tun, Sergeant Flynn?«

»Mittlerweile Detective Inspector, auch wenn das natürlich überhaupt nichts ändert.«

Poe zog die Augenbrauen hoch. »Mein alter Job?«

Sie nickte.

»Überrascht mich ja, dass Talbot das genehmigt hat«, bemerkte Poe. Talbot war Director gewesen, als Poe Detective Inspector bei der SCAS gewesen war. Er war ein kleinlicher Mann und hätte Flynn das, was geschehen war, bestimmt ebenso sehr angekreidet wie Poe. Vielleicht sogar noch mehr – Poe war nicht geblieben. Sie dagegen schon.

»Edward van Zyl ist jetzt Director. Talbot hat den Fallout nicht überlebt.«

»Guter Mann. Ich mag ihn«, brummte Poe. Als van Zyl beim North West Special Branch gewesen war, hatten sie bei einem Antiterror-Fall eng zusammengearbeitet. Die Attentäter vom 21. Juli hatten im Lake District trainiert, und die Cops in Cumbria hatten einen entscheidenden Beitrag dabei geleistet, die Täterprofile zu erstellen. Es war van Zyl gewesen, der Poe gebeten hatte, sich für die SCAS-Stelle zu bewerben. »Und Hanson?«

»Ist immer noch Deputy Director.«

»Schade.« Hanson war politisch versiert, und es wunderte Poe nicht, dass er es irgendwie geschafft hatte, sich da herauszuwinden. Normalerweise rückte der Nächste in der Rangordnung nach, wenn eine Führungskraft wegen katastrophaler Fehlentscheidungen geschasst wurde. Dass Hanson nicht befördert worden war, bedeutete, dass er nicht ganz ungeschoren davongekommen war.

Poe erinnerte sich noch immer an Hansons spöttisches Grinsen, als er ihn suspendiert hatte. Seitdem hatte er keinerlei Kontakt mehr mit irgendjemandem bei der NCA – der National Crime Agency – gehabt. Er hatte keine neue Adresse angegeben, hatte seinen Handy-Vertrag gekündigt und wurde, soweit er wusste, in Cumbria in keiner Datenbank geführt.

Wenn Flynn sich die Mühe gemacht hatte, ihn hier aufzuspüren, bedeutete das, dass endlich eine Entscheidung bezüglich seines Beschäftigungsverhältnisses getroffen worden war. Und da Hanson noch auf seinem Posten saß, bezweifelte Poe, dass sie gute Neuigkeiten brachte. Es war ihm egal, mental hatte er sich schon vor Monaten verabschiedet. Wenn Flynn hier war, um ihm mitzuteilen, dass er nicht mehr für die NCA arbeitete, sollte ihm das recht sein. Und wenn sie gekommen war, um ihm zu erzählen, dass Hanson endlich eine Möglichkeit gefunden hatte, ihn einer Straftat anzuklagen, dann würde er damit eben irgendwie klarkommen müssen.

Es brachte nichts, den Boten zu erschießen. Er war relativ sicher, dass Flynn nicht freiwillig hergekommen war. »Möchten Sie einen Kaffee? Ich mache mir einen.« Er wartete ihre Antwort nicht ab, ging ins Haus und schloss die Tür hinter sich.

Fünf Minuten später kam er mit einem Espressokocher und einem Krug abgekochten Wassers zurück. Er füllte zwei Becher. »Nehmen Sie ihn immer noch schwarz?«

Sie nickte und trank einen Schluck. Dann lächelte sie und hob lobend den Becher.

Poe ignorierte das Kompliment. »Wie haben Sie mich gefunden?« Seine Miene war ernst; seine Privatsphäre wurde ihm zunehmend wichtiger.

»Van Zyl wusste, dass Sie nach Cumbria zurückkommen würden, und er wusste auch ungefähr, wo Sie wohnen. Ein paar Arbeiter aus dem Steinbruch haben mir erzählt, dass da jemand in einer alten Schäferhütte mitten in der Einöde wohnt. Sie hatten gesehen, wie Sie hier renoviert haben.« Sie blickte sich um, als fiele es ihr schwer, dies bestätigt zu finden.

Herdwick Croft sah aus, als sei es aus der Erde herausgewachsen. Die Mauern bestanden aus unverputzten Steinen – zu groß, als dass ein Mann allein sie hätte anheben und an ihren Platz setzen können – und gingen nahtlos in den uralten Moorlandboden über, auf dem sie standen. Die Hütte war gedrungen und hässlich und sah aus, als sei sie seit zweihundert Jahren in der Zeit erstarrt. Poe liebte sie heiß und innig.

Flynn sagte: »Ich habe ein paar Stunden hier gewartet …«

»Was wollen Sie?«, fiel Poe ihr ins Wort.

Flynn griff in ihre Tasche und zog eine dicke Akte heraus, schlug sie jedoch nicht auf. »Ich nehme an, Sie haben von dem Brandopferer gehört?«

Nun merkte Poe auf. Damit hatte er nicht gerechnet.

Und natürlich hatte er von dem Brandopferer gehört. Von so etwas hörte man selbst mitten in den Shap Fells. Der Brandopferer hatte in ein paar von Cumbrias zahlreichen Steinkreisen Männer bei lebendigem Leibe verbrannt. Bisher gab es drei Opfer, zumindest nach Poes aktuellem Stand. Trotz wilder Spekulationen in der Presse lagen die Fakten vor, wenn man sie von der Effekthascherei zu trennen wusste.

Die Grafschaft hatte ihren allerersten Serienmörder.

Selbst wenn die SCAS angefordert worden war, um der Polizei in Cumbria zu helfen, Poe war immer noch suspendiert. Und gegen ihn liefen eine interne Ermittlung sowie eine Untersuchung des unabhängigen Beschwerde-Ausschusses. Er wusste, dass er eine Bereicherung für jede Ermittlung war, aber unersetzlich war er nicht. Die SCAS war auch ohne ihn zurechtgekommen.

Was wollte Flynn also wirklich hier?

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: »Van Zyl hat Ihre Suspendierung aufgehoben. Er will, dass Sie an dem Fall mitarbeiten. Als mein DS.«

Poes Gesicht war eine ausdruckslose Maske, doch sein Verstand arbeitete schneller als ein Computer. Das ergab doch keinen Sinn. Flynn war neu als DI, und das Letzte, was sie wollen würde, wäre, dass ihr alter DI ihr unterstellt war und ihre Autorität durch seine bloße Anwesenheit untergrub. Außerdem kannte sie ihn schon lange und wusste, wie er auf Autorität reagierte. Warum sollte sie das mitmachen wollen?

Es war ihr befohlen worden.

Poe fiel auf, dass sie den Beschwerde-Ausschuss nicht erwähnt hatte; die Untersuchung lief demnach vermutlich noch. Poe stand auf und griff nach den Bechern. »Kein Interesse«, sagte er.

Seine Antwort schien sie zu überraschen. Er wusste nicht, warum. Die NCA wollte nichts mit ihm zu tun haben.

»Wollen Sie nicht sehen, was in meiner Akte steht?«, fragte sie.

»Ist mir egal«, antwortete er. Und das stimmte. Ihm fehlte die SCAS nicht mehr. Auch wenn er lange gebraucht hatte, um sich an den langsameren Takt in der Hügellandschaft Cumbrias zu gewöhnen, er wollte dieses Leben nicht aufgeben. Wenn Flynn also nicht hier war, um ihn entweder zu feuern oder festzunehmen, interessierte ihn nicht, was sie sonst zu sagen hätte. Serienmörder zu schnappen gehörte nicht mehr zu seinem Leben.

»Okay«, sagte sie und stand auf. Sie war groß, und ihre Augen waren auf einer Höhe. »Dann müssten Sie mir zwei Zettel unterschreiben.« Sie zog eine dünnere Aktenmappe aus ihrer Tasche und hielt sie ihm hin.

»Was ist das?«

»Sie haben gehört, wie ich gesagt habe, dass van Zyl Ihre Suspendierung aufgehoben hat, oder?«

Er nickte und las sich das Dokument durch.

Ah.

»Und Ihnen ist klar, dass Sie damit wieder offiziell Polizist sind und dass es ein Kündigungsgrund ist, wenn Sie den Dienst verweigern? Aber man hat mir gesagt, anstatt das alles noch mal durchzugehen, kann ich Ihre Kündigung jetzt gleich entgegennehmen. Ich war so frei, mir dafür das entsprechende Dokument von der Personalabteilung geben zu lassen.«

Poe studierte das einseitige Schreiben. Wenn er das unterschrieb, war er kein Polizist mehr. Obwohl er damit gerechnet hatte, fand er es doch nicht so einfach, sich zu verabschieden, wie er gedacht hatte. Aber wenn er unterschrieb, würde damit endlich ein Schlussstrich unter die letzten achtzehn Monate gezogen werden. Er könnte anfangen zu leben.

Doch er würde nie wieder einen Dienstausweis tragen.

Poe sah Edgar an. Der Spaniel aalte sich in den letzten Strahlen der Abendsonne. Der größte Teil des umliegenden Landes gehörte ihm. War er bereit, all dies aufzugeben?

Poe nahm den Stift, den Flynn ihm anbot, und kritzelte seinen Namen unten auf das Blatt. Dann gab er es ihr, damit sie nachsehen konnte, ob er da nicht bloß »Verpisst euch« geschrieben hatte. Jetzt, da ihr Bluff aufgeflogen war, schien sie nicht mehr so sicher zu sein, was sie als Nächstes tun sollte. Das hier lief nicht nach Plan. Poe brachte die Becher und die Kaffeekanne ins Haus. Eine Minute später war er wieder draußen. Flynn hatte sich nicht vom Fleck gerührt.

»Was ist los, Steph?«

»Was soll das, Poe? Sie waren doch so gern Polizist. Was hat sich geändert?«

Er ignorierte die Frage. Nachdem er sich entschieden hatte, wollte er einfach nur, dass sie ging. »Wo ist das andere?«

»Wie bitte?«

»Sie haben gesagt, ich soll zwei Zettel unterschreiben. Ich habe die Kündigung unterzeichnet, wenn Sie die also nicht in doppelter Ausfertigung dabeihaben, ist da noch was.«

Jetzt war sie wieder ganz geschäftsmäßig. Sie öffnete die Mappe und zog ein zweites Dokument hervor. Es war etwas dicker als das erste und trug das offizielle Siegel der NCA.

Flynn setzte zu einer geprobten Ansprache an. Dieselbe hatte Poe auch schon gehalten. »Washington Poe, bitte lesen Sie dieses Dokument und bestätigen Sie durch Ihre Unterschrift, dass es Ihnen ausgehändigt wurde.« Sie reichte ihm das dicke Papierbündel.

Poe warf einen Blick auf das oberste Blatt.

Es war eine Osman-Warnung.

O Scheiße …

3. Kapitel

Wenn die Polizei Kenntnis davon hat, dass sich jemand in erheblicher und unmittelbarer Lebensgefahr befand, verlangt die Sorgfaltspflicht, dass sie das Opfer warnt. Diese Osman-Warnung – deren Namen ein früherer entsprechender Fall zugrunde liegt – ist die offizielle Vorgehensweise dafür. Potenzielle Opfer können die Schutzmaßnahmen in Erwägung ziehen, die die Polizei vorschlägt, oder eigene Vorkehrungen treffen, wenn sie damit nicht einverstanden sind.

Poe überflog die erste Seite, aber da stand nur amtlicher Bockmist, nicht, von wem ihm angeblich Gefahr drohte. »Um was geht’s hier, Steph?«

»Das darf ich Ihnen nur sagen, wenn Sie noch im Polizeidienst sind, Poe.« Sie reichte ihm das Kündigungsschreiben, das er eben unterzeichnet hatte. Er nahm es nicht.

»Poe, sehen Sie mich an.«

Sie hielt seinen Blick, und er sah nichts als Aufrichtigkeit in ihren Augen.

»Glauben Sie mir, Sie müssen sehen, was in dieser Akte steht. Falls es Ihnen nicht gefällt, können Sie Hanson Ihre Kündigung immer noch später mailen.« Wieder hielt sie ihm das Blatt Papier hin.

Poe nickte und zerriss es.

»Gut«, sagte sie.

Sie schob ihm ein paar Hochglanzfotografien hin. Tatortaufnahmen.

»Erkennen Sie die wieder?«

Poe betrachtete die Fotos. Sie zeigten einen Leichnam. Geschwärzt, verkohlt, beinahe nicht mehr als menschliches Wesen zu erkennen. Geschrumpft, so wie alles, was ursprünglich aus einer Menge Flüssigkeit besteht, bei extremer Hitze schrumpft. Die Leiche sah aus, als hätte sie die gleiche Beschaffenheit und das gleiche Gewicht wie die Holzkohlenreste, die Poe allmorgendlich aus seinem Ofen holte. Fast konnte er die Restwärme spüren.

»Wissen Sie, welcher das war?«, fragte Flynn.

Poe antwortete nicht. Er ging den Bilderstapel durch, suchte nach einem Bezugspunkt. Die letzte Aufnahme zeigte den ganzen Tatort. Er erkannte den Steinkreis. »Das sind Long Meg und ihre Töchter. Das hier …«, er zeigte auf die erste Fotografie, »muss Michael James sein, der Tory-Stadtrat. Er war das dritte Opfer.«

Flynn nickte. »Stimmt. In der Mitte des Steinkreises an einen Pfahl gebunden, von oben bis unten mit Brandbeschleuniger eingeschmiert und angezündet. Über neunzig Prozent Verbrennungen. Was wissen Sie sonst noch?«

»Nur was ich gelesen habe. Ich nehme an, die Polizei hat sich über den Fundort gewundert; er ist nicht so abgelegen wie die anderen beiden.«

»Nicht annähernd so sehr, wie sie sich darüber gewundert haben, dass er es geschafft hat, jede Überwachungsmaßnahme zu umgehen, die sie aufgefahren hatten«, erwiderte Flynn.

Poe nickte nachdenklich. Der Brandopferer hatte bei jedem Mord einen anderen Steinkreis gewählt. Poe hätte erwartet, dass die Polizei alle Steinkreise überwachte. Oder vielleicht auch nicht … es gab eine Menge solche Kreise in Cumbria. Nahm man die Hünengräber und Menhire hinzu, so hatte man an die fünfhundert Stellen zu überwachen. Selbst bei minimaler Überwachung bräuchte man ein Team aus fast zweitausend Cops. In Cumbria gab es insgesamt gerade mal an die tausend Beamte. Die Polizei musste sorgfältig auswählen, wo sie ihre begrenzten Ressourcen einsetzte.

Er gab Flynn die Fotos zurück. So grauenhaft das alles auch war, es erklärte nicht, warum sie die weite Reise nach Norden gemacht hatte. »Ich verstehe immer noch nicht, was das mit mir zu tun hat.«

Sie ignorierte die Bemerkung. »Die SCAS ist hinzugezogen worden, nachdem der Brandopferer sein zweites Opfer umgebracht hatte. Der Ermittlungsleiter wollte ein Profil.«

Das hätte er nicht anders erwartet. Dergleichen war die Spezialität der SCAS.

»Und wir haben uns an die Arbeit gemacht«, fuhr sie fort. »Konnten aber nichts Brauchbares bieten, abgesehen von dem üblichen Kram wie Altersgruppe und ethnische Zugehörigkeit.«

Poe wusste, dass Profile etwas bewirken konnten, aber nur, wenn sie Teil einer vielgleisigen Ermittlung waren. Er bezweifelte, dass sie sich hier wegen eines Profils unterhielten.

»Haben Sie schon mal von Multislice-Computertomografie gehört?«

»Ja«, log er.

»Dabei fotografiert eine Maschine den Körper in sehr dünnen Scheiben anstatt im Ganzen. Das ist ein teures Verfahren, aber manchmal erkennt es ante- und postmortale Wunden, die bei einer normalen Autopsie übersehen wurden.«

Poe war immer schon mehr der »Ich muss wissen, was es kann«- als der »Ich will wissen, wie es funktioniert«-Typ gewesen. Wenn Flynn sagte, dass das möglich war, dann war es möglich.

»Bei der Autopsie war nichts aufgefallen, aber das MSCT hat dies hier gefunden.« Sie holte noch einen Stapel Fotos hervor, die sie vor Poe auf den Tisch legte. Es waren Computerbilder, auf denen anscheinend willkürlich zugefügte Schnittwunden zu erkennen waren.

»Die waren an dem dritten Opfer?«, fragte er.

Sie nickte. »Am Oberkörper. Alles, was er tut, zielt auf maximale Wirkung ab.«

Der Brandopferer war ein Sadist. Um das zu begreifen, brauchte Poe kein ausgefeiltes Profil. Er schaute sich jedes Blatt an, das Flynn umdrehte. Es waren beinahe zwanzig, doch bei dem letzten schnappte er nach Luft.

Das Foto zeigte die Summe aller Einzelteile. Das Computerbild, auf dem sich all die willkürlichen Schnitte zu dem Bild zusammenfügten, das man sehen sollte. Der Speichel in Poes Mund verwandelte sich in Leim. »Wie?«, krächzte er.

Flynn zuckte die Schultern. »Wir hatten gehofft, dass Sie uns das verraten können.«

Stumm starrten sie das letzte Foto an.

Der Brandopferer hatte zwei Worte in die Brust des Opfers geritzt.

»Washington Poe.«

4. Kapitel

Poe sank schwer auf den Stuhl. Das Blut wich aus seinem Gesicht, und eine Ader in seiner Schläfe begann zu pochen.

Er starrte die von einem Computer erstellte Simulation seines Namens an. Und es war nicht nur sein Name – darüber war die Zahl Fünf eingeritzt.

Das war nicht gut … Das war gar nicht gut.

»Uns interessiert, warum er das Bedürfnis verspürt hat, dem Opfer Ihren Namen in die Brust zu ritzen.«

»Und so was hat er vorher nicht getan? Das ist nichts, was der Presse vorenthalten worden ist?«

Sie verneinte. »Wir haben nachträglich noch Opfer eins und zwei durchs MSCT geschoben, und da war nichts.«

»Und die Zahl Fünf?« Es gab nur eine plausible Erklärung dafür, und er wusste, dass Flynn das genauso sah. Deswegen die Osman-Warnung.

»Wir gehen davon aus, dass er Sie als fünftes Opfer vorgesehen hat.«

Er nahm das letzte Foto zur Hand. Nach dem groben Versuch an der Fünf hatte der Brandopferer es aufgegeben, Kurven zu ritzen. Bei den Buchstaben waren alle Linien gerade.

Obwohl sie lediglich ein Computerbild vor sich hatten, konnte Poe sehen, dass die Schnitte für ein Skalpell zu grob waren. Er tippte auf ein Teppichmesser oder etwas Ähnliches. Die Tatsache, dass die Buchstaben im MSCT entdeckt wurden, bedeutete zweierlei: Sie waren ante mortem entstanden – andernfalls wären sie bei der Autopsie gefunden worden –, und sie waren tief. Oberflächlichere Wunden wären beim Verbrennen vernichtet worden.

»Warum ich?«, fragte Poe. Er hatte sich während seiner gesamten Berufslaufbahn Feinde gemacht, aber an einem Fall mit so etwas Verrücktem hatte er noch nie gearbeitet.

Wieder zuckte Flynn die Schultern. »Wie Sie sich denken können, sind Sie nicht der Erste, der das fragt.«

»Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, dass ich nur das weiß, was in den Zeitungen stand.«

»Wir wissen, dass Sie in Ihrer Zeit als Officer in Cumbria keinen offiziellen Kontakt zu einem der Opfer hatten. Ich nehme doch an, es gab auch keinen inoffiziellen?«

Poe schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.« Er zeigte auf das Haus und das Land darum herum. »Das hier nimmt dieser Tage den Großteil meiner Zeit in Anspruch.«

»Das haben wir uns auch gedacht. Wir glauben nicht, dass die Opfer die Verbindung sind, wir glauben, der Täter ist das Bindeglied.«

»Sie glauben, ich kenne den Brandopferer?«

»Wir glauben, er kennt Sie, oder er weiß von Ihnen. Wir bezweifeln, dass Sie ihn kennen.«

Poe wusste, dass dies die erste von vielen Diskussionen und Besprechungen war, und dass er in den Fall verstrickt war, ob er wollte oder nicht. In welcher Eigenschaft, stand noch zur Debatte.

»Erste Eindrücke?«, fragte Flynn.

Wieder betrachtete er die Schnittmale. Ohne die verhunzte Fünf zählte er zweiundvierzig Schnitte. Zweiundvierzig Wunden, die »Washington Poe« ergaben. Zweiundvierzig einzelne Zeugnisse von Höllenqualen. »Keine, außer dass sich das Opfer garantiert gewünscht hat, ich würde Bob heißen.«

»Sie müssen wieder an die Arbeit«, sagte sie und blickte sich in der desolaten Hügellandschaft um, die er jetzt sein Zuhause nannte. »Sie müssen wieder zur Menschheit zurückkehren.«

Alle bisherigen Gedanken an Kündigung waren verschwunden. Poe stand auf. Nur eines zählte: Der Brandopferer war irgendwo da draußen und suchte Opfer Nummer vier aus. Wollte Poe jemals wieder zur Ruhe kommen, musste er ihn finden, ehe er bei Nummer fünf war.

»Wessen Wagen nehmen wir?«, fragte er.

5. Kapitel

Sobald sie aus Cumbria herauskamen, wurde das Land flach, und die M6 erstreckte sich vor ihnen schnurgerade wie eine Landebahn. Der Frühling täuschte sommerliche Pracht vor, und Poe ertappte sich dabei, wie er Flynns Klimaanlage einschalten musste. Schweiß sammelte sich unten an seinem Rücken. Das hatte wenig mit der Hitze zu tun.

Im Wagen herrschte beklemmende Stille. Als Poe Edgar bei seinem Nachbarn abgeliefert hatte, hatte Flynn ihren Vorgesetzten-Hosenanzug gegen Jeans und Pullover eingetauscht, doch trotz der lässigen Klamotten zwirbelte sie mit den Fingern ihr langes Haar, während sie auf die Straße starrte.

»Gratuliere zur Beförderung«, sagte Poe.

Sie sah ihn an. »Ich wollte Ihren Job nicht. Das wissen Sie doch, oder?«

»Ja, das weiß ich. Trotzdem, ich denke, Sie werden einen ausgezeichneten DI abgeben.«

Das war nicht boshaft gemeint. Sie entspannte sich. »Danke. Allerdings hatte ich mir nicht gerade ausgemalt, dass Sie suspendiert werden, damit man mich zum DI macht.«

»Die hatten ja keine Wahl.«

»Vielleicht hatten sie keine Wahl, als sie Sie suspendiert haben«, antwortete Flynn. »Aber dieser Fehler hätte jedem passieren können.«

»Spielt keine Rolle«, erwiderte er. »Wir beide wissen, dass es eine klare Evolutionslinie zwischen diesem Fehler und dem gibt, was passiert ist, Steph.«

 

Flynn meinte ihren letzten Fall. Seinen letzten Fall. Ein Irrer hatte in Thames Valley zwei Frauen entführt und ermordet, und Muriel Bristow, eine Vierzehnjährige, wurde vermisst. Die SCAS war von Anfang an in die Ermittlungen eingespannt gewesen. Täterprofile und Tatkartierung waren fertig, doch es war das geografische Profil, das sie zu ihrem Hauptverdächtigen führte: Peyton Williams, persönlicher Berater eines Abgeordneten. Alles passte. Er war schon einmal wegen Stalking verurteilt worden, war jedes Mal in der Gegend gewesen, wenn eins der Opfer entführt worden war, und konnte eine lange Liste gescheiterter Beziehungen vorweisen.

Poe wollte ihn festnehmen und verhören, doch sein Boss, Director of Intelligence Talbot, hatte abgelehnt. Es standen Wahlen an, und den Berater auch eines unbedeutenden Abgeordneten ohne vorliegende Beweise zum Verhör zu holen, hätte als Wahlbeeinflussung ausgelegt werden können. Zumindest in Talbots Augen. »Finden Sie etwas Handfestes«, hatte er Poe befohlen. Bis dahin, hatte Talbot Poe erklärt, würde er den Parlamentarier informieren, dass gegen jemanden aus seinem Stab ermittelt wurde. Poe hatte ihn angefleht, es nicht zu tun.

Talbot hatte ihn ignoriert. Der Abgeordnete hatte seinen Berater gefeuert.

Und ihm gesagt, warum.

Poe war außer sich gewesen. Jetzt würde sich Peyton Williams nicht einmal mehr in die Nähe von Muriel Bristow wagen. Nicht unter diesen Umständen. Falls sie noch am Leben war, würde sie es nicht mehr lange sein. Sie würde verdursten.

Poe war kein Cop, der unangenehme Aufgaben auf andere abwälzte. Er war selbst zur Familie des Opfers gefahren. Vorher hatte er eine Fallzusammenfassung für die Opferbetreuung der Polizei ausgedruckt, eine stark bereinigte Schilderung des Ermittlungsverlaufs. Nachdem er den Bristows alles erzählt hatte, was er sagen durfte, gab er ihnen die Akte, damit sie sie sich in Ruhe ansehen konnten.

Und später am selben Tag brach die Hölle los.

Poe hatte einen Fehler gemacht. Einen furchtbaren Fehler. Neben dem Bericht für die Opferfürsorge hatte er auch eine aktualisierte Zusammenfassung für seine eigene Akte ausgedruckt. Die war nicht bereinigt, sondern enthielt all seine Verdachtsbegründungen und all seinen Frust.

Der falsche Bericht war in der falschen Akte gelandet … Und die Bristows konnten alles über Peyton Williams lesen …

Später, nachdem Williams von Muriel Bristows Vater entführt und gefoltert worden war, nachdem er Muriels Versteck verraten hatte und sie sicher zu ihrer Familie zurückgebracht worden war, kam die Frage auf, woher der Vater überhaupt von Peyton Williams gewusst haben konnte.

Der Fehler war rasch aufgedeckt worden, und obwohl er recht gehabt hatte, und obwohl ein unschuldiges Mädchen zu ihrer Familie hatte zurückkehren können, hatte man Poe mit sofortiger Wirkung suspendiert. Einige Wochen später erlag Peyton Williams seinen Verletzungen.

Und bis Flynn vor Herdwick Croft aufgetaucht war, hatte Poe seither niemanden von der NCA zu Gesicht bekommen.

»Sie sind verschwunden, ohne sich von irgendwem zu verabschieden«, sagte Flynn.

Er verspürte einen leisen Stich des schlechten Gewissens. Das stimmte. Als er suspendiert worden war, hatte Poe sämtliche Text- und Mailboxnachrichten ignoriert, die ihm Unterstützung anboten. Ein Mann war gefoltert worden, und er war dafür verantwortlich. Er hatte lernen müssen, damit zu leben. Er war nach Cumbria zurückgekehrt. Weg von seinen wohlmeinenden Kollegen. Hatte sich vor der Welt versteckt. Allein, mit nichts als finsteren Gedanken als Gesellschaft.

»Unter uns«, fuhr Flynn fort, »van Zyl hat mir gesagt, dass er denkt, der Beschwerdeausschuss wird bald auf ›Keine Verfahrensbegründung‹ befinden. Sie können nicht nachweisen, dass definitiv Sie den falschen Bericht in die Akte für die Familie gesteckt haben.«

Der Gedanke war wenig tröstlich. Hatte er sich womöglich schon an sein Einsiedlerleben gewöhnt? Er schlug die Fallakte auf und las noch einmal alles, was die SCAS über den Brandopferer wusste.

6. Kapitel

Auch wenn es sich um dreifachen Mord handelte und alles umfangreich dokumentiert war, hatte Poe schon genug Fallakten gesehen, um zu wissen, wo die wichtigen Dinge standen. Er blätterte direkt zur ersten Tatortbeschreibung des leitenden Ermittlers.

Solche Beschreibungen waren oft am nützlichsten, weil sie erste Eindrücke enthielten. Spätere Berichte waren gemessener und überlegter.

Der Ermittlungsleiter war ein Detective Chief Superintendent namens Ian Gamble. Normalerweise würde bei so einer großen Sache das Morddezernat die Führung übernehmen, aber die steckten mitten in einer anderen Ermittlung, also ernannte Gamble – der auch das Criminal Investigation Department leitete, die Kriminalpolizei – sich kurzerhand selbst, was angesichts des Medieninteresses in Cumbria nicht unvernünftig schien.

Gamble war Detective Inspector gewesen, als Poe ihn kennengelernt hatte. Ein solider Polizist, der straff, wenn auch fantasielos ermittelte.

Er war es gewesen, der am ersten Tatort einen chemischen Geruch – neben dem offensichtlichen Benzingestank – bemerkt hatte. Sein Verdacht hatte sich als begründet erwiesen: Der Brandopferer hatte einen selbst gemachten Brandbeschleuniger verwendet. Kein Wunder, dass die Leichen zu Kohle verbrannt waren.

»Gruselig, nicht wahr?«, meinte Flynn. »Anscheinend muss man nur Styroporkrümel in Benzin schmeißen, bis sie sich nicht mehr auflösen. Die Tüftler in der Technikabteilung sagen, da kommt am Ende eine weiße Gelsubstanz heraus, die so heiß brennt, dass sie Fett schmilzt. Wenn das passiert, wird der Körper selbst zum Brennstoff und brennt, bis kein Fleisch oder Knochen mehr übrig ist.«

»Guter Gott«, flüsterte Poe. Bevor er zur Polizei gegangen war, hatte er drei Jahre in der schottischen Infanterie gedient, bei der Black Watch, und dort mit weißen Phosphorgranaten trainiert. Das Ergebnis stellte er sich ähnlich vor; hatte man das Zeug einmal an sich, bekam man es nicht wieder runter. Das Beste, auf das man hoffen konnte, war, dass einem das Fleisch vom Körper abfiel; andernfalls brannte es immer weiter.

Das erste Opfer war vor vier Monaten ermordet worden. Graham Russell hatte seine Zeitungskarriere vierzig Jahre zuvor bei einem Regionalblatt in Cumbria begonnen, war aber schon bald in die Fleet Street abgewandert. Dort war er zum Chefredakteur eines überregionalen Boulevardblatts aufgestiegen, das während der Leveson-Ermittlung, bei der Abhöraktionen in namhaften Verlagshäusern untersucht wurden, heftig kritisiert worden war. Russell war nicht persönlich in den Fall verwickelt gewesen, hatte aber dennoch eine saftige Pension kassiert und sich in Cumbria zur Ruhe gesetzt. Der Brandopferer hatte ihn von seinem kleinen Anwesen auf dem Land entführt. Es hatte keine Kampfspuren gegeben, und einige Zeit später war er in der Mitte des Castlerigg-Steinkreises in Keswick gefunden worden. Er war nicht nur bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, er war auch gefoltert worden.

Poe runzelte die Stirn, als er den ersten Ermittlungsansätzen des Teams folgte. »Tunnelblick?«, fragte er Flynn. Unerfahrene Ermittler sahen manchmal Dinge, die gar nicht da waren, und obwohl Gamble wahrlich kein Grünschnabel war, hatte er schon länger keine Mordermittlung mehr geleitet.

»Das glauben wir, obwohl sie’s natürlich abstreiten«, antwortete sie. »Aber DCS Gamble schien ziemlich scharf darauf zu sein, den ersten Mord als Rache für Leveson zu betrachten.«

Erst einen Monat später, als Joe Lowells Leichnam gefunden wurde, hörte man auf, die Ermittlungen auf Opfer von Telefon-Hacks zu begrenzen. Lowell hatte nie etwas mit Zeitungen zu tun gehabt; er kam aus einer Familie, die seit sieben Generationen Landwirtschaft im südlichen Cumbria betrieb. Die Lowells waren seit jeher solide und beliebte Gemeindemitglieder gewesen. Er war aus dem Familiensitz Lowell Hall entführt worden. Obwohl sein Sohn bei ihm lebte, meldete ihn niemand als vermisst. Seine Leiche wurde im Swinside-Steinkreis gefunden, in der Nähe von Broughton-in-Furness im Süden Cumbrias.

Von da an wurden die Ermittlungen sogar noch ernster. Jeder Zusammenhang mit Leveson wurde verworfen – so gründlich, dass man sogar die Akte korrigierte –, und man verlegte sich auf das, was sich bereits abgezeichnet hatte: eine Serienmord-Ermittlung.

Poe suchte in der Akte nach dem Abschnitt über Steinkreise. Da der Täter anscheinend einen Bezug dazu hatte, dürfte Gamble so viele Informationen darüber gesammelt haben, wie er konnte.

Cumbria wies die höchste Dichte an Steinkreisen, Menhiren, Hinkelsteinen, Steinformationen, Monolithen und Hünengräbern im ganzen UK auf. Alle waren einzigartig und ihre Entstehung über eine große Zeitspanne verteilt – vom frühen Neolithikum bis zur Bronzezeit. Manche Steinkreise waren oval, manche rund, einige der Steine aus rosa Granit und andere aus Schiefer. In einigen wenigen gab es noch einen inneren Kreis aus kleineren Steinen, in den meisten allerdings nicht. Gamble hatte Akademiker hinzugezogen, die das Team über die wahrscheinliche Bedeutung der Steinkreise aufklären sollten, was sich als wenig hilfreich erwiesen hatte. Die Theorien reichten von Totenzeremonien und Handelswegen bis hin zu direkten Assoziationen mit Mondphasen und Sternenkonstellationen.

Tatsächlich schienen sich die Fachleute einzig und allein darauf einigen zu können, dass die Steinkreise während ihrer gesamten Geschichte niemals für rituelle Opfer benutzt worden waren.

Aber natürlich wird die Geschichte von morgen heute geschrieben, dachte Poe …

7. Kapitel

Poe las den Bericht über den dritten Mord – Michael James, der Stadtrat des Bezirks South Lakes, der vor zwei Wochen mit Poes Namen auf der Brust gestorben war –, als er auf ein Dokument stieß, das ihn laut auflachen ließ. Es war von einem der Detective Sergeants verfasst, und der dürfte der Einzige sein, der damit davonkommen konnte, den Geruch am Tatort als »miasmatisch« zu beschreiben.

Er war ein Clown, aber auch einer der intelligentesten Menschen, denen Poe je begegnet war. Der Typ, der bei »Vier Gewinnt« mit drei Zügen gewinnen konnte. Sein Name war Kylian Reid, und außerdem war er der einzige echte Freund, den Poe in Cumbria hatte. Sie hatten sich als Halbwüchsige kennengelernt und sich seither immer sehr nahegestanden. Jäh hatte Poe ein schlechtes Gewissen, weil er sich seit seiner Rückkehr nicht bei Kylian gemeldet hatte. Er war so sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, dass ihm der Gedanke gar nicht gekommen war. Andererseits kannten Reid und er sich schon lange und blickten auf viel zu viel gemeinsame Geschichte zurück, um sich ganz aus den Augen zu verlieren. Poe lieh sich Flynns Handy, öffnete die Wörterbuch-App und tippte »miasmatisch« ein. Es bedeutete widerliche Dünste verwesender organischer Materie. Er fragte sich, wie viele das schon vor ihm hatten nachschlagen müssen. Das war typisch Reid, seinen Vorgesetzten eins auszuwischen, indem er sie dumm dastehen ließ. Kein Wunder, dass er immer noch Sergeant war.

Wenn sie wieder zusammenarbeiten würden, sah das Ganze ja schon besser aus. Poe nahm die Akte und las weiter.

Nach dem Fund des zweiten Opfers war die SCAS hinzugezogen worden, und nun tauchte Flynns Name in den Berichten auf. Außerdem löste das zweite Opfer einen Wettstreit unter den Medien aus, einen Namen für den Mörder zu finden. Am Ende – wie immer bei solchen Sachen – setzte sich die Boulevardpresse mit »Brandopferer« durch.

Poe las zu Ende und legte die Aktenmappe auf den Rücksitz. Dann schloss er die Augen und dehnte seinen Nacken. Bald würde er die Akte abermals lesen, würde sich jedes Dokument einprägen. Beim ersten Mal ging es bloß darum, eine Ahnung von dem zu bekommen, womit er es zu tun hatte. Die SCAS wurde selten sofort gerufen, daher war es wichtig, dass man die Akten betrachtete, als handelte es sich um längst abgelegte Fälle. Sie sahen sich nicht nur die Beweise an; sie suchten nach Fehlern, die bei der Ermittlung gemacht worden waren.

Flynn bemerkte, dass er fertig war. »Und, was denken Sie?«

Poe war klar, dass er auf die Probe gestellt wurde. Er war mehr als ein Jahr lang weg gewesen – sie und van Zyl mussten wissen, ob er dem Job noch gewachsen war.

»Die Kreise und das mit dem Verbrennen, das ist wahrscheinlich eine Sackgasse. Dem Täter wird das etwas bedeuten, aber was, das erfahren wir erst, wenn wir ihn haben. Er hat eine Vorstellung davon, was er will, aber er wird seine Vorgehensweise gern ändern, wenn die Realität seiner Fantasie nicht gerecht wird.«

»Wieso?«

»Das erste Opfer wurde gefoltert, die anderen nicht. Aus irgendeinem Grund hat ihm das nicht gegeben, was er erwartet hatte. Also hat er damit aufgehört.«

»Michael James wurde Ihr Name in die Brust geritzt. Kommt mir schon wie Folter vor.«

Poe schüttelte den Kopf. »Nein, das hat er aus einem Grund getan, den wir noch nicht kennen. Der Schmerz war nebensächlich. Graham Russells Schmerzen waren beabsichtigt.«

Flynn bedeutete ihm mit einem Nicken, fortzufahren.

»Alle Männer gehören zur selben Altersgruppe, und sie sind alle wohlhabend. Ihr habt nichts gefunden, das darauf hindeutet, dass sie sich kannten.«

»Sie glauben, er wählt sie willkürlich aus?«

Das glaubte Poe nicht, doch er war noch nicht bereit zu sagen, warum. Er brauchte mehr Informationen. »Er will, dass wir das denken.«

Sie nickte, sagte jedoch nichts.

»Und keiner wurde als vermisst gemeldet?«, fragte Poe.

»Nein. Sie schienen alle einleuchtende Gründe zu haben, nicht zu Hause zu sein. Erst nachdem sie tot aufgefunden wurden, haben wir herausgefunden, wie viel Mühe sich der Brandopferer gegeben hatte, damit es keine Vermisstenmeldungen gab.«

»Wie hat er das gemacht?« Poe wusste, dass das irgendwo in der Akte stand, aber manchmal war es besser, eine Interpretation der Fakten zu bekommen.

»Graham Russells Wagen und sein Pass wurden auf einer Fähre registriert, und seine Familie hat E-Mails bekommen, dass er Urlaub in Frankreich machen wollte. Joe Lowell hat seiner Familie eine SMS aus Norfolk geschickt, dass er bei Freunden wäre und bis zum Ende der Jagdsaison Rothühner schießen wollte. Michael James hat allein gelebt, also hätte ihn nicht sofort jemand vermisst, aber sein Browser-Verlauf hat trotzdem gezeigt, dass er eine Gruppenrundreise durch die Whiskybrennereien auf den schottischen Inseln geplant hatte.«

»Also wisst ihr nicht genau, wann sie jeweils entführt worden sind?«

»Nicht genau, nein.«

Er überlegte, was das bedeutete, und entschied, dass es lediglich bestätigte, was er bereits wusste. Der Brandopferer war gut organisiert. Das sagte er Flynn.

»Im Ernst? Er hinterlässt doch chaotische Tatorte.«

Poe schüttelte den Kopf. Sie stellte ihn immer noch auf die Probe. »Am Tatort hat er alles unter Kontrolle. Improvisieren kommt bei ihm nicht vor. Alles, was er braucht, bringt er mit. Keine physischen Beweise am Entführungsort oder am Tatort, und wenn man bedenkt, dass eine Spurenübertragung unvermeidlich ist und dass die Nachweistechniken nie besser waren, ist das eine reife Leistung. Als das dritte Opfer gefunden wurde, sind die Steinkreise schon ziemlich gut überwacht worden, nicht wahr?«

»Die meisten«, antwortete Flynn. »Die Überwachung bei Long Meg war gerade erst beendet worden.«

»Also weiß er davon«, stellte Poe fest.

»Sonst noch etwas?«, fragte Flynn.

»Habe ich bestanden?«

Flynn grinste. »Sonst noch etwas?«

»Ja. In den Akten fehlt etwas. Ein Kontrollfilter, etwas, das der Ermittlungsleiter den Medien vorenthält. Was ist das?«

»Woher wissen Sie das?«

»Der Brandopferer ist vielleicht kein Sadist, aber er geht sadistisch vor. Ausgeschlossen, dass er die Leichen nicht verstümmelt.«

Flynn zeigte auf ihre Aktentasche auf dem Rücksitz. »Da ist noch eine Akte drin.«

Er griff nach hinten und holte die Aktenmappe hervor. Sie trug den Stempel »Geheim«, und jemand hatte handschriftlich ergänzt: »Nicht ohne schriftliche Genehmigung von DCS Gamble weitergeben.« Poe öffnete sie nicht.

»Schon mal von der Beschneidungssaison gehört, Poe?«

Er schüttelte den Kopf.

»Den Begriff hat der NHS geprägt. Er bezieht sich auf die Zeit – normalerweise die Sommerferien –, wenn Mädchen, manche erst zwei Monate alt, aus dem UK herausgeschafft werden, angeblich, um Verwandte im Ausland zu besuchen. Tatsächlich werden ihnen die Genitalien verstümmelt. Das passiert in den langen Sommerferien, damit ihre Wunden verheilen können, bis sie zurückkommen.«

Poe wusste ein wenig über weibliche Genitalverstümmelung, die widerwärtige Sitte, kleinen Mädchen Teile der Genitalien zu entfernen, damit sie niemals sexuelles Vergnügen empfinden konnten. Die Vorstellung dahinter war, dass sie so treu und keusch blieben. Tatsächlich bescherte es den Opfern lebenslangen Schmerz und medizinische Probleme. In manchen Kulturen wurden die Wunden immer noch mit Dornen zugenäht.

Plötzlich ging Poe auf, warum Flynn ihm das erzählte. »Er kastriert sie?«

»Rein technisch gesehen nicht. Er schneidet alles weg. Sauber und ohne Anästhesie«, sagte sie.

»Er behält Trophäen«, sagte Poe. Ein hoher Prozentsatz aller Serienmörder bewahrte Teile seiner Opfer auf.

Flynns Entgegnung überraschte ihn. »Nein, tut er nicht. Sehen Sie sich die Akte an.«

Poe tat es. Fast wäre ihm das Mittagessen hochgekommen. Das erste Foto erklärte, warum die Schreie dieses Opfers nicht gehört worden waren.

Der Mann war geknebelt gewesen.

Das Foto war eine Nahaufnahme von Graham Russells Mund: darin steckten seine eigenen Genitalien. Die nächsten Aufnahmen zeigten Penis, Hoden und Skrotum – alle noch miteinander verbunden –, nachdem sie aus seinem Mund entfernt worden waren. Am einen Ende vom Feuer geschwärzt, erstaunlich rosig und unversehrt am anderen. Poe blätterte die übrigen Fotografien durch und stellte fest, dass sie alle mehr oder weniger das Gleiche zeigten.

Und er sollte das fünfte Opfer werden? Als hätte bisher noch nicht genug auf dem Spiel gestanden. Unwillkürlich schlug er die Beine übereinander.

»Wir kriegen ihn, bevor er auch nur in Ihre Nähe kommt, Poe«, sagte Flynn.

8. Kapitel

Tief im Herzen von Hampshire, auf dem Gelände des alten Bramshill Police College, liegt Foxley Hall. Die Polizeischule mag ihren letzten Jahrgang verabschiedet haben, Foxley Hall jedoch beherbergte noch immer die Serious Crime Analysis Section.

Für eine Einheit, die Aufmerksamkeit meiden und im Hintergrund operieren sollte, war das Gebäude überraschend skurril. Es war breiter als hoch, und das schräge Dach reichte beinahe bis zum Boden, daher sah es aus, als würde die SCAS von einer stillgelegten Pizza-Hut-Filiale aus operieren.

Flynn hatte die Nacht zu Hause verbracht. Poe hatte in einem Hotel übernachtet.

Er hatte eine unruhige Nacht gehabt. Seine Albträume waren wieder da. Als er als Cop gearbeitet hatte, waren die Toten Poe stets treu geblieben. Sie mischten seine Träume auf und störten seinen Frieden. Wieder in Hampshire zu sein, hatte alte Wunden aufgerissen. Trotz seiner Taten hatte Peyton Williams es nicht verdient, zu sterben. Bei den ersten Anhörungen hatte man Poe Fotografien der Verletzungen gezeigt, die Mr Bristow Williams beigebracht hatte. Mit einer Zange herausgerissene Zähne, Spiralfrakturen an allen Fingern, die punktierte Milz, die schließlich sein Tod sein würde. Es hatte sechs Monate gedauert, bis Poe wieder eine ganze Nacht durchschlafen konnte.

Und jetzt waren die Albträume wieder da. Vielleicht waren sie ja nie weg gewesen …

Es war acht Uhr morgens, und Poe musste ins Gebäude eskortiert werden wie ein offizieller Gast. Die gelangweilte Miene der Empfangssekretärin bekam etwas Anbiederndes, als sie ihre Vorgesetzte sah. Sie reichte Flynn einen Stapel Post und musterte Poe unverschämt.

»Und Sie sind?« Poe erwiderte ihren Blick finster. Er trug ja vielleicht Jeans und sah eher aus wie ein Waldschrat als ein Polizist, doch sie würde gleich merken, dass es bei der SCAS wieder einen Sergeant gab.

Die Empfangssekretärin schien nicht antworten zu wollen, sofern es ihr nicht befohlen wurde. Das war das Problem in Gegenden mit sehr niedriger Arbeitslosigkeit: Niemand nahm seinen Job mehr ernst. Er war wenig mehr als ein Taschengeld.

»An Ihrer Stelle würde ich ihm antworten, Diane«, sagte Flynn, während sie die Briefe durchsah, die sie eben bekommen hatte. »Das ist DS Poe, und glauben Sie mir, er lässt sich von Ihnen nichts bieten.«

Doch Diane grinste spöttisch. »Deputy Director Hanson erwartet Sie in Ihrem Büro.«

»Ach ja?« Sie seufzte. »Halten Sie sich lieber von ihm fern, Poe. Er gibt Ihnen immer noch die Schuld daran, dass er nicht Director geworden ist.«

Hanson hatte nie die Verantwortung für seine eigene Unzulänglichkeit übernommen. Die ausbleibende Beförderung musste entweder die Schuld von jemand anderem oder Teil einer größeren Verschwörung gegen ihn sein. Dass er sich im Peyton-Williams-Fall auf Talbots Seite geschlagen hatte, spielte keine Rolle. »Mit Freuden«, antwortete Poe.

Flynn wandte sich zu Diane. »Holen Sie DS Poe eine Tasse Kaffee. Dann ist er bis in alle Ewigkeit Ihr Freund.«

Poe und Diane sahen einander an. Beide bezweifelten das, doch Poe war so früh nicht in der Stimmung für Streit. Flynn ging zu Hanson, und Diane führte Poe durch das Großraumbüro zur Küchenzeile. Während sie ihm Filterkaffee einschenkte, blickte Poe sich in dem Büro um, das er früher einmal geleitet hatte.

Es hatte sich einiges verändert. Als er Detective Inspector gewesen war, waren die Tische so hingestellt worden, wie die Leute gerade sitzen wollten, und wegen der internen Büropolitik hatte der Raum ständig anders ausgesehen. Obwohl Poe gewusst hatte, dass das Flynn auf die Nerven ging, war er nicht eingeschritten. Wenn sie Ordnung wollte, hätte sie ihre Sergeant-Streifen nutzen können.

Jetzt jedoch hatte sie beschlossen, ihre qua Inspector-Abzeichen verliehene Autorität einzusetzen. Analysten, von denen Poe einige wiedererkannte, saßen in einem ordentlichen Kreis. Dieser bildete gleichsam eine Radnabe, von der die Büros und Arbeitsnischen der Spezialisten abgingen wie Speichen. Es war nicht direkt ein Wabenbüro, aber viel fehlte nicht. Im Raum herrschte eine gedämpfte Geräuschkulisse; leise Telefongespräche, das Klacken von Tastaturen, Papierrascheln. Obwohl es noch früh war, frühstückte niemand an seinem Schreibtisch. Das war noch etwas gewesen, bei dem Flynn die Galle hochkam: dass die Leute zur Arbeit kamen und dann erst mal eine halbe Stunde damit verbrachten, sich Porridge zu kochen.

Die SCAS mochte professionell und effizient laufen, für Poe hatte sie nun etwa so viel Charme wie eine Abwesenheitsnotiz. Wenn er gezwungen wäre, sich hier aufzuhalten, würde keine Stunde vergehen, ehe er das Wort »Fuck« ebenso häufig benutzte wie andere Menschen Kommata.

Wenigstens war seine große Karte des United Kingdom noch da. Poe ging zu ihr hinüber und ließ den Blick darüber wandern. Sie nahm fast die ganze Wand ein. Unterschiedliche Farbmarkierungen überzogen sie wie Wettermuster und zeigten, wo die diversen Verbrechen begangen worden waren, mit denen sie sich hier befassten. Wenn das Farbschema noch dasselbe war, fanden sich genügend Hinweise, dass diese Verbrechen miteinander zusammenhingen. Analysten überprüften laufend die Medien- und Polizeiberichte der einzelnen Dienststellen und suchten nach Mustern und Anomalien. Zu den Aufgaben der SCAS gehörte unter anderem, den Teufel an die Wand zu malen – Muster zu erkennen und die Polizei zu informieren, dass ein Serienvergewaltiger oder Serienmörder in ihrer Gegend sein Unwesen treiben könnte. Meistens lagen sie falsch.

Manchmal hatten sie recht.

In Cumbria gab es drei rote Markierungen; an dem Brandopferer wurde hart gearbeitet.

Nach und nach senkte sich Stille über den Raum, als die Leute bemerkten, wer da mit ihrer Vorgesetzten hereingekommen war. Poe hörte, wie sein Name geflüstert wurde, und ignorierte es. Er hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, wusste aber auch, dass er so etwas wie eine Berühmtheit war. Und das nicht nur, weil sein Name in die Brust eines Mannes geritzt worden war, der im Kühlfach von Carlisles Gerichtsmedizin lag, sondern wegen der Art und Weise, wie er diese Einheit damals geführt hatte.

Und wie er sie verlassen hatte; das sollte er nicht vergessen.

Gedämpftes Gebrüll zerriss die Stille. Es kam aus Poes früherem Büro, das nun Flynns war. Poe ging hinüber.

Obgleich das Gebrüll größtenteils undeutlich war, hörte Poe hin und wieder seinen Namen. Er öffnete die Tür und schob sich unauffällig hindurch.

Hanson stand über Flynns Schreibtisch gebeugt, die geballten Fäuste auf den Tisch gestützt.

»Ich hab’s Ihnen gesagt, Flynn! Mich interessiert nicht, was der Director meint; Sie hätten ihn nicht wieder in den Dienst holen sollen!«

Flynn nahm das gelassen hin. »Also, eigentlich hat Director van Zyl ihn zurückgeholt, nicht ich.«

Hanson richtete sich auf. »Ich bin enttäuscht von Ihnen, Flynn.«

Poe hustete.

Hanson drehte sich um. »Poe«, sagte er. »Mir war nicht klar, dass Sie mit DI Flynn zurückgekommen sind.«

»Guten Morgen, Sir«, sagte Poe ruhig.

Hanson ignorierte seine ausgestreckte Hand.

Poe war klar, dass ihm die Verachtung des Deputy etwas ausmachen sollte, doch er fand es erheblich einfacher, einen Dreck darauf zu geben. Wenn einem sein Job egal war, wurde den Autoritätspersonen rasch bewusst, wie wenig Macht sie tatsächlich besaßen.

»Lächeln Sie ruhig, soviel Sie wollen, Poe. Van Zyl hat einen Fehler gemacht, Sie wieder einzustellen, Poe. Sie werden wieder Scheiße bauen, und dann geht es ihm genauso wie dem letzten Director.« Er wandte sich an Flynn. »Und wenn er weg ist, wird sich hier eine Menge ändern, Detective Inspector Flynn.«

Ohne ein weiteres Wort verließ er das Büro. Als Meister der dramatischen Geste konnte er nicht umhin, die Tür zuzuknallen.

 

Flynn hatte einen Termin mit der Personalabteilung gemacht; je schneller Poe offiziell wiedereingestellt war, desto eher konnten sie beide nach Cumbria zurückkehren. Ein leitender Personalsachbearbeiter war unterwegs zum SCAS-Gebäude. Sie setzten sich an den kleinen Konferenztisch und warteten.

Poe nutzte die Zeit, um sich anzusehen, was Flynn aus seinem alten Büro gemacht hatte. Bevor er sich hereingeschlichen hatte, war ihm das blank polierte Messingschild mit Flynns Namen aufgefallen. Er hatte damals seinen Namen mit Weißwandstift auf ein DIN-A4-Blatt geschrieben. Blau, wenn ihn seine Erinnerung nicht trog.

Das Chaos, in dem Poe gearbeitet hatte, war einer ruhigen, geordneten Atmosphäre gewichen. Blackstones Polizeihandbücher reihten sich auf dem Regal. Ganz am Ende stand Flynns zerlesene Ausgabe des Senior Investigating Officers Handbook. Poe hatte auch so eine Taschenbuchausgabe gehabt – jeder Detective besaß eine –, doch er hatte sie nach einmaligem Lesen weggeworfen. Das Ding war nützlich, aber nichts Besonderes. Es führte leitende Detectives durch logische und gründliche Ermittlungen. Das Problem war, dass schließlich jeder gleich ermittelte, und auch wenn Poe zustimmte, dass es Normen geben musste, half das Handbuch nicht dabei, abnorme Mörder zu überführen.

Er blickte sich im Büro um. Alles sehr geschäftsmäßig. Nichts Persönliches.

Als er bei der SCAS gearbeitet hatte, war die Politik des freien Schreibtisches etwas gewesen, das anderen Leuten widerfuhr. Flynns Schreibtisch war erwartungsgemäß nicht zugemüllt. Ein Computer und ein Notizblock, dessen oberstes Blatt leer war. Ein Becher mit dem NCA-Logo diente als Stiftehalter.

Ihr Handy klingelte. Sie drückte auf das Lautsprecher-Icon und meldete sich. Diane sagte: »Ashley Barrett von der Personalabteilung ist hier.«

»Danke«, antwortete Flynn. »Schicken Sie ihn rein.«

Barrett kam lächelnd herein, in vollem Wichs und mit einer braunen Lederaktentasche in der Hand. Der große dünne Mann setzte sich an den Konferenztisch.

»Entschuldigen Sie, Ash«, begann Flynn, »aber können wir uns ein bisschen ranhalten? Wir müssen zurück nach Cumbria.«

Er nickte, sah Poe kurz an und holte ein paar Dokumente aus seiner Aktentasche, die er vor sich auf den Tisch legte. Dann hüstelte er leise, bevor er eine offensichtlich vorbereitete Ansprache zum Besten gab. Es klang, als spräche er auf Autopilot. »Wie Sie wissen, DS Poe, ist die Suspendierung ein neutraler Akt und die Entscheidung über deren fortdauernde Rechtfertigung der jeweiligen Dienststelle anheimgestellt. Gestern hat Director of Intelligence Edward van Zyl entschieden, dass trotz der noch laufenden Untersuchung der Beschwerdestelle Ihre Suspendierung aufgrund der Einstellung der internen Untersuchung aufgehoben werden sollte.« Barrett ging seine Papiere durch und reichte Poe ein Blatt mit den Worten: »Dies ist die schriftliche Bestätigung. Können Sie bitte da unten unterschreiben?«

Poe unterschrieb. Es war lange her, dass er seine »Arbeitsunterschrift« hatte leisten müssen – ein achtloses Gekrakel, das er niemals auf einen Scheck setzen würde. Es fühlte sich auf wohltuende Art seltsam an. Er schob das Papier wieder über den Tisch.

Das Telefon auf dem Schreibtisch läutete, und Flynn stand auf, um abzunehmen. Während sie leise mit dem Anrufer sprach, fragte Barrett, ob Poe Hilfsangebote für Mitarbeiter in Anspruch nehmen wolle, wie etwa Psychotherapie oder ein Auffrischungstraining für das IT-System. Poe verneinte alles, so, wie sie es beide gewusst hatten.