Der große Erziehungsberater - Jan-Uwe Rogge - E-Book

Der große Erziehungsberater E-Book

Jan-Uwe Rogge

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Beschreibung

«Kinder brauchen Grenzen» heißt die wichtigste Botschaft von Jan-Uwe Rogge, «Eltern setzen Grenzen» die zweitwichtigste; und zugleich gilt die Erfahrung: «Ohne Chaos geht es nicht». Seit Jahrzehnten schreibt Bestsellerautor Jan-Uwe Rogge über den Alltag in unseren Familien, Kindergärten und Schulen. Seine sachkundige und zugleich stets humorvolle Art hat viele hunderttausend Leserinnen und Leser begeistert; selbst das Bundesministerium für Familie sucht inzwischen bei ihm Rat. Jetzt fasst er die wichtigsten Grundlagen und Erkenntnisse seiner Arbeit in einem umfangreichen Handbuch zusammen. Das Buch begleitet und berät Eltern bei der Entwicklung ihrer Kinder – von Schwangerschaft und Geburt bis hin zum 12. Lebensjahr, dem Beginn der Pubertät. Buchtipp: • Von wegen aufgeklärt! Sexualität bei Kindern und Jugendlichen (Rowohlt) • Wut tut gut – Warum Kinder aggressiv sein dürfen (Rowohlt)

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Jan-Uwe Rogge

Der große Erziehungsberater

Inhaltsverzeichnis

Zitate

KAPITEL EINS – Leichtigkeit in der Erziehung

KAPITEL ZWEI – Die Null- bis Sechsjährigen – Vom Säugling bis zum Ende des Kindergartens

1. Die körperliche und motorische Entwicklung

2. Die sexuelle Entwicklung

3. Erziehung zur Sauberkeit

4. Die sprachliche Entwicklung

5. Ängste entwickeln sich

6. Trotz, Wut und Zorn

7. Die moralische und soziale Entwicklung

KAPITEL DREI – Vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr – Das Schulkind

1. Beobachtungen

2. Die Zwischenzeit

3. Entwicklungsaufgaben

4. Die körperlich-sexuelle Entwicklung

5. Die moralische Entwicklung

6. Aggression und Ängste

7. Soziale Verunsicherungen

8. Die kognitiv-intellektuelle Entwicklung

KAPITEL VIER – Alltägliche Erziehungskonflikte

1. «Oh, diese Unordnung ...» – Vom Aufräumen

2. «Nun mach schon ...» – Vom Trödeln und Bummeln

3. «Wann schläfst du endlich durch ...? – Das Ein- und Durchschlafen

4. «Bäh! Das mag ich nicht ...» – Vom Essen

5. «Du blöde Kuh ...» – Vom Umgang mit Kraftausdrücken

6. «Aber Papa hat’s erlaubt ...» – Von unterschiedlichen Erziehungsstilen

7. «Alle anderen dürfen ...» – Von Konsequenzenkillern

8. «Muss ich's dir noch zweimal sagen ...» – Vom Drama der «guten» Worte

9. «Wenn du nicht, dann ...» – Konsequenzen sind keine Strafen

KAPITEL FÜNF – Miterzieher in der Erziehung

1. Geschwister

2. Großeltern

3. Freunde

KAPITEL SECHS – Besondere Herausforderungen

1. Kinder, Väter und fehlende Zeit

2. Der Stress berufstätiger Mütter

3. Alleinerziehende

4. Trennung und Scheidung

5. Trauer und Tod

Literaturempfehlungen

Stichwortregister

«Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: Sieh dir das an, das ist etwas Neues. Aber auch das gab es schon in Zeiten, die vor uns gewesen sind.» (Prediger/​Kohelet 1.Buch)

«Auch wenn du jemandem etwas tausendmal gesagt hast, und er hat nicht zugehört, musst du es ihm immer und immer wieder sagen. Das ist Geduld.»(Mahatma Gandhi)

«Erziehung sollte keine Vorbereitung auf das Leben sein, sondern das Leben selbst.»(Anthony de Mello)

KAPITEL EINS

Leichtigkeit in der Erziehung 

«Die Jugend liebt heute den Luxus», schreibt der griechische Denker Sokrates 400 vor Christi Geburt. «Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten und schwätzt, wo sie arbeiten sollte. Sie widerspricht ihren Eltern und tyrannisiert ihre Lehrer.»

Knapp 2100Jahre später stellt der englische Philosoph John Locke fest: «Ich bin in der letzten Zeit von vielen Eltern um Rat gefragt worden, die bekennen, dass sie nicht mehr wissen, wie sie ihre Kinder erziehen sollen. Die frühe Verderbnis der Jugend ist jetzt eine so allgemeine Klage geworden, dass es angebracht erscheint, diese Frage öffentlich zur Diskussion zu stellen und Vorschläge zur Besserung der Jugend zu machen.»

Man kann diese skeptischen, kulturkritischen, pessimistischen Sinnsprüche, in denen über Kinder und Heranwachsende diskutiert, besser: hergezogen wird, leicht bis in die Gegenwart hinein verlängern. Mit jeder neuen Generation, die heranwächst, scheint die Gesellschaft, glaubt man ihren Schwarzmalern und -sehern, sich apokalyptischen Abgründen zu nähern.

Wer sich einmal den Berg an Ratgebern ansieht, die jedes Jahr erscheinen und die mit ihren Titeln den Vätern und Müttern alltägliches Glück und vollkommene Erziehung versprechen, der hat eine Ahnung davon, wie schwer man sich in der Erziehung tut. Manchmal gewinne ich den Eindruck, als ob mancher Vater oder manche Mutter die Kindererziehung als Punktesammeln fürs Paradies begreift. Je schlechter es einem dabei geht, je mehr man leidet, desto schneller meint man in den Himmel zu kommen unter Umgehung des Fegefeuers, hat man das doch schon auf Erden erlebt.

Dabei hat Erziehung doch mit Lachen, mit heiterer Gelassenheit zu tun und nichts mit jener Verbissenheit, mit jenem Zwang, mit jenem Perfektionismus, der den Erziehungsalltag allzu häufig prägt.

Axel Hacke hat dies in seinem «Kleinen Erziehungsberater» so wunderbar und unnachahmlich beschrieben – ein ermutigendes Buch, gerade für jene Stunden, in denen Eltern nicht mehr weiterwissen. Hacke steht dabei in einer langen Tradition. «Es ist des Menschen würdiger», so formuliert es der römische Dichter Seneca etwa 30 vor Christi Geburt, «sich lachend über das Leben zu erheben, als es zu beweinen. Um das Menschengeschlecht macht sich verdienter, wer es belacht, als wer darüber Tränen vergießt.» Dieser heiter-gelassene Grundton durchzieht (hoffentlich) auch diesen Ratgeber.

Kinder finden Erziehung zum Lachen. Sie finden Eltern ausgesprochen komisch, die zu Erziehungsvorträgen und -seminaren gehen – und dies den Kindern vorher noch anklagend, beschwörend, mahnend ankündigen: «Ich gehe nur deinetwegen da hin!» Geradezu zum Lachen finden Kinder jene Eltern, die bei diesen Veranstaltungen gar mitschreiben, die an den Lippen des Vortragenden hängen, jede seiner Weisheiten wie Labsal aufsaugen. Mir hat einmal der zehnjährige Markus schmunzelnd gestanden: «Meine Mama ist so anstrengend, wenn sie bei dir auf einem Vortrag war. Sie versucht, alles auszuprobieren, was du ihr gesagt hast. Aber ich warte eine Woche ab. Dann ist alles beim Alten!» Markus hat auf eine sehr direkte Weise umschrieben, was ein indischer Philosoph so ausgedrückt hat: Zur Bildung braucht es Bücher, zur Weisheit braucht es Zeit.

Bücher können erzieherisches Handeln nicht anleiten, gar ersetzen. Erst im Tun, im Vollzug, erfährt man, ob eine Erziehungsstrategie, ein Erziehungsstil passt oder nicht. Und die Antwort auf die Frage, ob etwas richtig oder falsch war, erhält man nicht selten erst dann, wenn die Kinder längst ausgezogen sind. Aber häufig gibt einem die Biographie dann noch eine zweite Chance: Als Großvater oder Großmutter jene Großzügigkeit, jene Gelassenheit und Souveränität, jene Leichtigkeit des pädagogischen Seins an den Tag zu legen, die Jahrzehnte zuvor nicht möglich waren.

Der Schweizer Pädagoge Marcel Müller-Wieland hat über die «heitere Grundstimmung» als Voraussetzung für Erziehung nachgedacht, in der man über gegenseitige Achtung, gegenseitigen Respekt nicht nur redet. Dazu bedarf es freilich des Mutes zur Unvollkommenheit. Diesen können Eltern von ihren Kindern lernen. Kinder sind auf eine wunderbare Art und Weise unvollkommen: Sie gehen kaum von A nach B direkt. Sie gehen zunächst nach Z, dann nach M, weil sie diesen Buchstaben auf dem Weg zum Z gesehen haben. Und vom M machen sie sich auf, um das W kennen zu lernen, bevor sie sich vielleicht entscheiden, doch beim B anzukommen.

Kinder lieben Umwege, weil Umwege die Ortskenntnis erweitern. Kinder lieben Eltern, die Fehler machen und die dazu stehen, ohne in den Kindern die Ursachen für gemachte Fehler zu sehen – nach dem Motto: «Ich wäre ja ganz lieb zu dir, aber du zwingst mich einfach, böse zu sein.»

Kinder mögen Eltern, die sich für Fehler entschuldigen, aufrecht, ehrlich, selbstbewusst und getragen von der Absicht, sie zukünftig zu vermeiden. Kinder sind zugleich großzügig genug, Fehler zu vergeben – auch dann noch, wenn Eltern sie ein zweites oder drittes Mal machen. Kinder können langmütig sein, weil sie spüren, irgendwann müssen’s die Eltern doch mal kapieren.

Kinder haben Probleme mit jenen Vätern, jenen Müttern, die alles richtig machen, die perfekt, die vollkommen sein, die jeden Tag den pädagogischen Oscar am Bande verliehen haben wollen. «‹Kinder brauchen Grenzen›», schrieb mir einmal der elfjährige Jakob, «ist ein blödes Buch. Du hast so viele Tricks von uns Kindern einfach verraten. Aber ich hab mir neue ausgedacht, und die verrat ich dir nicht. Und dann weiß Mama nicht, was sie tun soll. Dann ist sie sauer, nicht auf mich, sondern auf dich, weil das nicht klappt, was du schreibst!»

Diesen hinterlistig-anarchischen Ton haben jene Briefe nicht, die Eltern an mich richten. Zwar loben sie meine Ansichten über die Erziehung von Kindern, aber manche schlagen abschließend vor: «Könnten Sie in einer Neuauflage nicht ein Stichwortverzeichnis hinzufügen? Dann kann man Ihr Buch noch besser benutzen!» Erziehung hat aber nichts zu tun mit dem Befolgen von Rezepten. Erziehung stellt eine Haltung gegenüber dem Kind dar, und sie gelingt nur auf der Basis einer festen Beziehung zum Kind.

In meinen Büchern geht es nicht um Erziehungstechniken, die einen Erfolg zweifelsfrei garantieren. Erziehungstechniken, die ohne eine innere Einstellung dem Kind gegenüber daherkommen, sind zum Scheitern verurteilt. Sie sind ohne Seele, ohne geistige Haltung.

Wenn in diesem Ratgeber nun trotz mancher Bedenken, die ich habe, ein Stichwortverzeichnis enthalten ist, so dient dies nur dem leichteren Auffinden von Sachverhalten. Es ist nicht dazu gedacht, dass man in Konfliktsituationen nachschlägt – nach dem Motto: «Mal sehen, was im ‹Großen Rogge› steht!» Oder: «Was würde Rogge jetzt wohl sagen?»

Die populäre Erziehungsliteratur, die Erziehungsratgeber, die Elternzeitschriften haben zweifellos das Erziehungswissen der Eltern enorm vertieft und differenziert. Eltern von heute wissen sehr viel über ihre Kinder, vor allem darüber, wie man sich in bestimmten Konflikt- und Problemsituationen verhält, besser: verhalten sollte. Dabei werden ihnen nicht selten Ideallösungen vorgeschlagen, die sich im realen Alltag nur begrenzt praktizieren lassen. Dies erzeugt Minderwertigkeits-, dies bringt Versagensgefühle mit sich: «Warum klappt es bei mir nicht?» – «Warum habe ich nur solch ein Kind?» – «Was mache ich falsch?» Verhält ein Kind sich nicht so, wie man es gelesen hat oder die Umwelt meint, wie es sich verhalten müsste, sind Schuldgefühle die Folge. Und allzu häufig ziehen sich vor allem Mütter die Schuhe an, die ihnen Freunde, Verwandte oder Bekannte bereitstellen.

So viel Eltern gegenwärtig über Erziehung wissen, so lückenhaft sind ihre Informationen über die Entwicklung von Kindern. Und dies bringt Probleme mit sich. Anders formuliert: Im kindlichen Handeln drückt sich eben nicht allein ein elterlicher Erziehungsstil aus, kindliche Handlungsmuster sind zugleich Spiegel von Entwicklungsstufen, die ein Kind durchläuft, sind Ausdruck seines Temperaments, seines Charakters oder seiner Individualität.

Kinder kommen nicht als unbeschriebene Blätter auf die Welt. Und das ist gut so: Es wäre ja noch schöner, wenn Eltern die Blätter selber bekritzeln könnten, um sie dann, wenn ihnen etwas nicht passt, zu löschen. Nein, Kinder sind beschriebene Blätter, auf denen die Einzigartigkeit eines jeden Kindes festgelegt ist. Damit ist elterliches Handeln keinesfalls überflüssig: Eltern stellen aus den beschriebenen Blättern das Buch des Lebens zusammen, wie es für die ersten Jahre gültig ist – nicht mehr und nicht weniger.

Und noch eines macht Eltern Mühe: Es gibt keine Reifung, keine Entwicklung ohne Reibung, keinen Entwicklungsprozess, der nur gradlinig, ohne Widersprüche verläuft. In jedem Entwicklungs- und Reifeschritt, den ein Kind durchläuft, ist immer auch das Gegenteil von dem enthalten, was sich Eltern wünschen. Sie wollen autonome, selbstbewusste Kinder, die eigenständig handeln – nur richten sich solche Persönlichkeitsmerkmale nicht selten gegen elterliche Bedürfnisse. Kinder lösen sich aus der Eltern-Kind-Einheit, sie wollen losgelassen werden. Und je mehr die Eltern halten, ja festhalten, desto mehr Energie benötigen die Kinder, um sich abzugrenzen. Kinder reden nicht allzu viel, sie handeln, wenn ihnen etwas nicht passt.

Es geht mir in diesem Ratgeber zunächst nicht um die Vermittlung von Erziehungstechniken, darum, wie man in alltäglichen Konfliktsituationen am «besten» handelt. Im Vordergrund stehen vielmehr Haltungen, die man dem Kind gegenüber einnimmt:

Nicht jedes Verhalten, nicht jedes Handeln eines Kindes darf sofort und kausal auf einen Erziehungsfehler zurückgeführt werden! Vielleicht hat ja die Aktion, die das Kind macht, mehr mit einer Entwicklungsbesonderheit zu tun! Zwischen Erziehung und Entwicklung zu trennen ist mehr als eine nur akademische Unterscheidung. Erziehungsfehler gilt es abzustellen; Entwicklungsbesonderheiten gilt es anzunehmen und zu begleiten. Konkret: Das Trotzalter, die Pubertät – zwei Phasen, in der kindliche Eigenständigkeit und Autonomie im Vordergrund stehen, die sich in Zornes- und Wutausbrüchen ausdrücken – kann man nicht überspringen oder gar unterbinden. Kinder kommen ins Trotzalter, Heranwachsende in die Pubertät – egal, was die Eltern tun oder unterlassen. Und dennoch ist Erziehung nicht überflüssig. Sie kann in dieser Zeit sicherstellen, dass kein würdeloses Gegeneinander entsteht, man trotz unterschiedlicher Interessen die Gemeinsamkeiten pflegt.

Kinder entwickeln sich höchst unterschiedlich. Entwicklung stellt sich nicht als kontinuierliche Aufwärtsentwicklung dar. Diese lässt sich erst aus der Rückschau feststellen. Wer Kinder begleitet, hat es mit einem Gemenge aus Vorwärtsbewegung, Stillstand und Rückschritt zu tun. Und jedes Kind hat dabei ein ganz eigenes Tempo. Die Aufgabe der Eltern besteht darin, dem Kind sein eigenes Tempo zu lassen. Kinder reagieren auf Tempobeschleunigungen – ständiges pädagogisches Trainingsprogramm – ebenso widerständig wie auf Verlangsamungen – «Dafür bist du noch zu klein!» Jedes Kind kommt mit einem höchst individuellen Tempo auf die Welt – das eine als ICE, das andere als Schnecke. Und beide vollziehen ihren Weg, das eine schneller, das andere langsamer. Der ICE wird der Schnecke vielleicht voraus sein – in den ersten Lebensjahren. Aber um die Mitte des zweiten Lebensjahrzehnts werden sie sich möglicherweise vor einer Disco treffen. Der ICE wird zur Schnecke sagen: «Ganz schön lahm, Mensch!» Darauf die Schnecke zum ICE: «Ganz schön aus der Puste, was?» Der ICE wird lachen: «Voll cool, Alter!»

Eltern nicken zustimmend, wenn sie den Satz hören, Kinder sollten so angenommen werden, wie sie sind – und nicht, wie man sie gerne haben möchte. Doch dazu gehört, Kinder nicht ständig miteinander zu vergleichen: «Johannes, du bist schon sechs und kommst noch jede Nacht zu uns. Dein Bruder ist drei und schläft ganz allein durch!» Vergleiche werden den Kindern nicht gerecht, nehmen deren Einzigartigkeit nicht ernst. Vergleiche orientieren sich an einem idealen statistischen Durchschnittskind, das es nirgends gibt. Das kalendarische Alter gibt höchstens an, wann das Geburtstagsfest oder eine ärztliche Routineuntersuchung ansteht, es sollte aber nicht als Ausgangspunkt für Förderprogramme genommen werden, die sich mehr an elterlichen Bedürfnissen und Wünschen als an denen der Kinder orientieren. Die Unterschiede von Kind zu Kind sind enorm. Nimmt man sechsjährige Kinder, so kann eines in seiner Entwicklung wie ein fünfjähriges daherkommen, ein anderes wie ein siebenjähriges. Die interpersonellen Unterschiede, also jene von Kind zu Kind, können bis zu drei Jahren betragen. Solche Vielfalt ist normal.

Noch etwas anderes treibt Eltern häufig um: Die intrapersonellen Unterschiede, d.h. die Entwicklungsunterschiede im einzelnen Kind. Da ist Julia, fünf Jahre, die sich sprachlich gut ausdrücken kann, über ein profundes Wissen verfügt, aber «häufig», so die Mutter, «viel weint, ganz jämmerlich wirkt, wie ein Baby daherkommt. Das macht mir Sorge.» Da ist Elias, sieben Jahre, körperlich robust, fein- und grobmotorisch äußerst geschickt, der sich aber sprachlich nicht so differenziert ausdrücken kann, wie man es, so sein Vater, «von einem Siebenjährigen doch erwarten muss». Und da ist noch Jonathan, acht Jahre, «der bisher problemlos war», so die Mutter, «jetzt aber wie ein kleines Kind daherkommt, tagsüber ist er der wilde Kerl, nachts kommt er zu uns ins Bett gekrochen.»

Die körperlichen, emotionalen, kognitiven, sprachlichen und sozialen Reifungs- und Entwicklungsschübe, die ein Kind durchläuft, vollziehen sich nur selten harmonisch. Vielmehr ist Ungleichzeitigkeit angesagt. Kinder müssen innere Spannungszustände aushalten. Eltern kommt dann die Aufgabe zu, Kinder darin zu begleiten und bei Entwicklungsverzögerungen nicht sofort von Störungen oder Teilleistungsschwäche zu reden, die es schnellstmöglich zu beheben gilt. Entwicklungsverzögerungen geben Eltern vielmehr Hinweise, sich auf das individuelle Tempo der Kinder einzulassen, es ernst zu nehmen und pädagogische Eingriffe, die die Entwicklung beschleunigen (oder verlangsamen) wollen, auf ein Minimum zu reduzieren.

Damit ist schließlich eine weitere Grundhaltung angesprochen. Kinder wollen im Hier und Jetzt angenommen und nicht ständig unter einer prognostischen Perspektive betrachtet werden. Solche Perspektive ist leider der Ansatz vieler (meist unfruchtbarer) Trainingsprogramme – nach dem Motto: «Aber er/​sie kommt doch in einem Jahr in den Kindergarten/​die Schule/​auf das Gymnasium!» Wenn Kinder vier Jahre alt sind, dann sind sie vier und nicht sechs, wenn sie sechs sind, dann sind sie sechs und nicht neun, und wenn sie neun sind, dann sind sie neun und nicht dreizehn…

Kinder wollen in den einzelnen Entwicklungsstufen begleitet und nicht gehetzt, aber eben auch nicht festgehalten werden.

Und ein weiterer Gedanke ist mir wichtig: Die Erziehungspartnerschaft von Eltern und Kindern. Partnerschaft hat nichts mit Freundschaft zu tun. Eltern und Kinder sind nicht gleichrangig: Eltern sind meist eine Generation älter. Sie haben Lebenserfahrungen gemacht, haben Erfahrungsvorsprünge, auf die sich Kinder verlassen wollen in Zeiten der Entwicklung, der Übergänge, der Krisen. Erfahrungsvorsprünge sind nur dann kontraproduktiv, wenn sie von Eltern als Grundlage von Bevormundung, Bewahrung, Behütung missverstanden werden und dazu führen, Kindern Erfahrungen vorzuenthalten. Doch Eltern und Kinder sind gleichwertig. Eltern sind nicht nur Lehrer, sie sind auch Schüler, und Kinder sind nicht nur Schüler, sie sind auch Lehrer – manchmal langmütiger, spontaner, manchmal einfühlsamer und geduldiger als Eltern. Kinder ernst zu nehmen meint eben auch, sie als Lehrer zu begreifen, von denen man viel erfahren kann. Mit Kindern zu leben heißt nicht, für sie zu leben, sondern gemeinsam mit ihnen zu lernen und zu leben.

Kinder brauchen Halt gebende, nicht aber klammernde Eltern. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen Wurzeln und Flügel verleihen – Wurzeln, um mit der Erde verbunden zu bleiben. Wurzeln zeigen Kindern an, woher sie kommen. Wurzeln zeigen Kindern die Traditionen, die Großeltern und Eltern geprägt haben. Die Aufgabe der Kinder besteht darin, diese Traditionen daraufhin abzuklopfen, welche für sie zukünftig gültig sind, welche über Bord geworfen werden können. Kinder entscheiden, welche Normen und Werte sie im Rucksack des Lebens verstauen, welche sie zurücklassen. Mit diesem Rucksack und ausgestattet mit Flügeln machen sie sich auf den Weg – begleitet von den besten Wünschen der Eltern: «Mach’s gut! Du schaffst es!» Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen, die ihn suchen und finden – mal schneller, mal langsamer, mal leichter, mal problembeladener.

Der Weg ist dabei das Ziel. Und hin und wieder kommen Kinder kurz zurück, um von der weiten Welt zu erzählen, von den Wegen, den Irr- und Umwegen und um den Rucksack wieder aufzufüllen für die nächsten Etappen.

Im Talmud, einem 1500Jahre alten Buch, in dem jüdische Gesetze und Geschichten enthalten sind, steht, was Eltern ihren Kindern mitgeben sollen. Das fünfte Gebot lautet dabei: Eltern müssen ihre Kinder das Schwimmen lehren. «Warum», so fragt Wayne Dosick, ein amerikanischer Pädagoge, «besteht der Talmud ausgerechnet darauf, dass Eltern ihre Kinder das Schwimmen lehren sollen?» Und er gibt selbst die Antwort: «Wer seinen Kindern das Schwimmen beibringen will, der muss wissen, wie lange man sein Kind festhalten soll und wann man loslassen muss.» Wer Kinder loslässt, hat die Hände frei für Neues, für sich. Wer in die leeren Hände schaut und der Vergangenheit nachtrauert, wird in der Gegenwart nicht ankommen, schon gar nicht die Zukunft gestalten können und damit dem Kind Kraft für die ganz eigenen Wege zu geben.

KAPITEL ZWEI

Die Null- bis Sechsjährigen – Vom Säugling bis zum Ende des Kindergartens

«Mit einem Male», erzählt Marion Cramer, «kommt das Kind schon in die Schule. Wenn das Kind auf die Welt kommt, ist man noch unsicher. Gut, ich hab mich sehr gefreut. Aber man will ja auch alles richtig machen. Und da ist man gewaltig verkrampft. Und das überträgt sich natürlich auch auf das Kind.» Sie überlegt: «Manchmal möchte ich die Uhr nochmal zurückdrehen, es noch einmal, natürlich besser machen.» Marion Cramer lacht: «Ich glaub, ich könnte das dann viel mehr genießen.»

«Das stimmt», erhält sie von Cornelia Meissner Unterstützung. «Diese einzelnen Entwicklungsschritte bekommt man schon mit. Man ist auch stolz auf das Kind… Und auf sich natürlich auch ein bisschen. Aber manchmal geht das so schnell. Da wunderst du dich nur noch, was das Kind mit einem Male alles kann, wie es lernt, einen auch herausfordert.» Sie denkt nach: «Meine Julia hat mich genauso erzogen, würde ich sagen. Ich musste mich anpassen. In den ersten Monaten war sie pflegeleicht, aber dann forderte sie. Spätestens als sie krabbeln konnte, dieser Vierfüßlergang. Die war ständig unterwegs.» Sie rollt mit den Augen: «So schnell konnte ich gar nicht hinterher sein! Mensch, war die flink!»

«Für mich war das Überraschendste», greift Beate Roberts ein, «wie Babys komplette, vollständige Wesen sind, wenn sie auf die Welt kommen. Ihre Blicke, ihre Reaktionen, ihre Neugierde. Und das schon nach ein paar Wochen. Ach was», verbessert sie sich, «schon nach ein paar Tagen konnte ich das bei unserer Nicola beobachten. Und wie sie, je älter sie wurde, immer forschender, neugieriger war. Sie fasste alles an, wollte alles in den Mund nehmen, alles begreifen.»

«Als Jannis anfing zu laufen», erklärt Sonja Michaelis, «da wusste ich, nun geht er von mir weg. Auf der einen Seite ist man natürlich stolz, auf der anderen Seite ist da auch Schmerz dabei. Ja», sie fasst sich an die Stirn, «vom Kopf her ist einem alles klar, man muss das Kind loslassen. Aber das ist ja nun nicht nur eine Frage des Verstandes, oder? Da spielen Gefühle mit!»

«Bei mir kam noch etwas anderes hinzu», führt Anke Martini fort, «immer dieses genaue Hinschauen auf das Kind. Man liest so viel, hört so viel. Und diese Kommentare von den anderen Miterziehern. Da wirst du verrückt. Das eine Kind kann das, das andere schon das! Und dann diese ständigen Aufforderungen: ‹Ich würd das so machen!› Die nächste Freundin sagt dann das genaue Gegenteil. Man schwimmt ja völlig, hat keine Orientierung. Gut, man sagt immer: ‹Verlasse dich auf deinen Bauch!›, aber», sie zögert, «man will sich ja später auch nicht Vorwürfe machen, weil man vielleicht etwas versäumt hat.»

«Da hat sie Recht», unterstützt Vera Fischer, «man will sich ja nichts nachsagen lassen. Ich frage mich immer wieder: ‹Hast du auch alles getan, was in deiner Kraft steht?› Und wenn dann mein Jonas mal etwas hat, nicht durchschlafen kann oder sich vor einer Hexe fürchtet, dann fragt man sich sofort, warum macht er das? Hast du etwas übersehen? Etwas Falsches gemacht? Also, man ist ja ständig dabei, sich zu hinterfragen, an sich zu zweifeln.» Dann lacht sie: «Wenn die Kinder nicht so stark auf die Welt kommen würden, sie würden unsere Sorgen und Bemühungen gar nicht aushalten!»

Überblickt man den Abschnitt zwischen der Geburt eines Menschen und dem Eintritt in die Schule, lassen sich drei Phasen unterscheiden, die aufeinander aufbauen:

Die Entwicklung des Kindes beginnt schon vor der Geburt. Motorische Fähigkeiten bilden sich ebenso aus wie verschiedene Sinnestätigkeiten. Die Mutter-Kind-Beziehung entfaltet sich schon während der Schwangerschaft. Und sie erhält mit der Geburt eine neue Qualität. Die ersten Begegnungen zwischen Mutter und Kind sind von intensiver Zuwendung geprägt. Das Kind braucht Halt und Geborgenheit. Auch wenn es in den ersten Wochen und Monaten viel schläft, kann man in den Wachphasen viele motorische Aktivitäten, Reaktionen und Reflexe beobachten. Der Säugling kommuniziert, er ist neugierig, nimmt schnell an seiner unmittelbaren Umwelt Anteil. Er sendet Signale aus. Er lächelt, und die Umgebung reagiert darauf – wie auch umgekehrt. Nur wenn das Kind sich in der Beziehung gebunden fühlt, wenn es aufgehoben ist, entwickelt es sich. Der Säugling benötigt einen festen Rahmen, aber er will nicht festgehalten werden.

Indem sich das Kind seiner motorischen Fähigkeiten allmählich bewusst wird – es kriecht, krabbelt, macht den Bären- oder Vierfüßlergang, steht auf und geht–, löst es sich allmählich von der Mutter und anderen Bezugspersonen. Das kleine Kind erkundet, erforscht die Nahwelt, erwirbt dadurch Selbstbewusstsein. Und je mehr es sich seiner körperlichen Fähigkeiten bewusst ist, umso autonomer und eigenständiger handelt es. Das Kleinkind grenzt sich von den Eltern ab, will allein sein und tun. Und es erfährt, welche Macht es über Vater und Mutter, seine unmittelbare Nahwelt hat. Das Kind lässt nicht mehr nur mit sich machen, es drückt seiner Umgebung seinen Stempel auf. Das kleine Kind ist nicht nur ein lernendes Wesen, es agiert zugleich als Lehrmeister, der Einfluss auf das Alltagsgeschehen haben will.

Mit Beginn des Kindergartenalters stehen Reifungsprozesse und erzieherisches Handeln nebeneinander. Mit dem Zuwachs an intellektuellen, emotionalen, sprachlichen und sozialen Kompetenzen wird sich das Kind seiner Möglichkeiten bewusst, Einfluss zu nehmen, Wirkungen zu haben. Zwar können fördernde Umweltfaktoren die Entwicklung der Kinder unterstützen und begleiten, beschleunigen können sie diese aber nicht. Kinder kommen mit einem individuellen Entwicklungstempo auf die Welt, das es unbedingt zu respektieren gilt. Verändert man dieses Tempo, werden Kinder schnell aus der Bahn geworfen.

Jedes Kind durchläuft diese Entwicklungsstufen. Sie bauen aufeinander auf, werden differenzierter. Dabei muss man allerdings beachten: Auch wenn sich Entwicklung als eine Abfolge von Stufen darstellt, bedeutet Entwicklung nicht nur eine stetige Kontinuität, ein ebenmäßiges Vorwärtsschreiten.

Entwicklung stellt sich als ein Ineinander von Schüben, Stillstand, aber auch Rückschritten dar. Nicht selten folgen nach einem Entwicklungssprung Wochen und Monate des Innehaltens, des Verweilens, des Verschnaufens. Das Kind braucht Zeit, sich seiner Kompetenzen bewusst zu werden. Und manchmal sinken Kinder zurück auf frühere Entwicklungsstufen, weil sie sich überfordert haben, zu weit gegangen sind, oder weil sie gelernt haben, dass ihnen als kleinem Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde als nun dem großen Kind.

1.Die körperliche und motorische Entwicklung

Schon in der Schwangerschaft beginnt die motorische Entwicklung. Eine Bewegungskoordination kann man bereits in der Gebärmutter feststellen: In der sechsten Schwangerschaftswoche lassen sich Bein- und Armbewegungen, im dritten Monat Bewegungen von Fingern, Rumpf und Kopf beobachten. Zu heftigen Arm- und Beinbewegungen kommt es etwa im fünften Monat, während sich im achten/​neunten Monat alle Körperteile rühren. Die motorische Entwicklung in den ersten beiden Lebensjahren vollzieht sich geradezu spektakulär, wobei eine Wechselwirkung zwischen körperlicher und kognitiver Entwicklung zu beobachten ist.

Die Beherrschung des Körpers im ersten, aber auch im zweiten Lebensjahr ist dabei weniger das Ergebnis von pädagogischen Übungsprogrammen als vielmehr das Resultat von Reifung. Und dies meint: Übungen zur Körperbeherrschung sind nur dann sinnvoll, wenn man damit das unterstützt, was das Kind schon kann und wofür es reif genug ist.

Die ersten Bewegungen eines Neugeborenen sind Reflexe, die vom Gehirnstamm aus gesteuert werden. Der wichtigste Reflex ist das Saugverhalten, weil dies das Überleben des Säuglings sichert. Aber auch der Umklammerungs- und der Handgreifreflex sind notwendig, damit das neugeborene Kind sich halten kann. Mit diesen Reflexen sucht sich das Kind Geborgenheit, findet es Bindung. Der Akt des Stillens ist mithin zunächst ein Akt der Nähe, des Einsseins mit der Mutter, erst in zweiter Linie ein Akt der Nahrungsaufnahme.

In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres fängt das Kind an, sich fortzubewegen. Es will Räume erobern – «Hänschen klein geht allein in die weite Welt hinein…» Die ersten Monate setzt sich das Kind noch mit der Schwerkraft auseinander, versucht es, seinen Körper gegen die Anziehungskräfte der Erde hochzuhalten. Etwa mit drei Monaten hebt der Säugling den Kopf, schaut sich aus der Bauchlage um. Aber das reicht ihm bald nicht mehr. Er stützt sich auf Ellenbogen und Hände. Bald darauf – zwischen dem vierten und neunten Monat – bewegt sich das Kind: um die eigene Körperachse, von der Bauch- in die Rückenlage und zurück. Danach – zwischen dem siebten und zehnten Monat, manchmal aber auch später – robbt es, kriecht es und bewegt es sich im Vierfüßler-, auch Bärengang genannt, fort. Danach ist es so weit entwickelt, dass es sich aufsetzt und irgendwann frei sitzen kann.

Ging man früher davon aus, dass Kinder alle die genannten Stufen durchlaufen müssen, so scheint diese Auffassung, wie Remy Largo, ein Schweizer Arzt, überzeugend beschrieb, überholt. Es gibt keine einheitliche Abfolge der motorischen Entwicklungsstadien, vielmehr vollziehen sich diese vielfältiger: Manche Kinder kriechen lange, andere nur sehr kurz, manche Kinder bewegen sich im freien Sitzen, rutschen auf dem Hosenboden, wieder andere gehen unendlich lange im Vierfüßlergang, bevor sie sich bequemen zu gehen.

Doch mit einem Male können Kinder gehen. Sie sind dermaßen stolz darüber, dass die Entwicklung in anderen Bereichen manchmal stagniert. Wenn sie dann gehen können, erobern die Kinder Räume, rennen herum, können gar nicht genug davon bekommen, sich in ihren Bewegungen zu beweisen. Sie wollen sich erproben und allen Menschen ihre erworbenen Kompetenzen zeigen. Der Bewegungsdrang, den Kleinkinder in dieser Zeit an den Tag legen und der natürlich von Kind zu Kind sehr unterschiedlich ausgebildet ist, darf nun nicht – wie es leider immer häufiger geschieht – als Verhaltensauffälligkeit, gar Hyperaktivität gedeutet werden. Kinder, die sich nicht bewegen, sich nicht körperlich austoben, nicht bis an ihre physische Grenze gehen können, werden schnell ungeduldig, frustriert, könnten den Eltern erzieherische Schwierigkeiten bereiten.

Drei Gedanken scheinen mir für Eltern wichtig zu sein:

Die motorische Entwicklung folgt einem Reifungsprozess, der nach inneren Gesetzen abläuft, einem Reifungsprozess, der ausgesprochen individuell ist. Jedes Kind nimmt sich seine Eigenzeit. Formulierungen wie: «Kinder, die spät laufen lernen, verfügen über wenig Selbstvertrauen» oder «Spätes Laufenlernen deutet auf eine geringe Bindungsqualität zwischen Kind und Eltern hin» entbehren jeglicher Grundlage. Zudem besteht auch kein Zusammenhang zwischen dem Tempo der motorischen Entwicklung und anderen Entwicklungsbereichen. So kann ein Kind, das sich motorisch nur langsam entwickelt, intellektuell, sprachlich oder gefühlsmäßig sehr weit entwickelt sein.

Übungen, um das Entwicklungstempo zu beschleunigen, bringen nichts! Wenn das Kind nicht frei gehen kann oder will, führen gut gemeinte Förderprogramme nur zu Frustration auf beiden Seiten, zu Widerstand und Blockaden seitens der Kinder, letztlich zu Minderwertigkeitsgefühlen aller Beteiligten («Warum habe ich nur dieses Kind?» «Wenn ich das nicht kann, haben meine Eltern mich nicht lieb!»). Sind motorische Fähigkeiten allerdings herangereift, können sie begleitet und das Kind in seinen Kompetenzen unterstützt werden. Dadurch bildet man den Stolz des Kindes auf sich aus, stärkt man sein Selbstwertgefühl, fördert seine Leistungsbereitschaft und seine Motivation, sich neuen Aufgaben zu stellen.

Unterstützung der motorischen Entwicklung durch die Eltern kann sich in vielen Facetten zeigen. Eltern sollten sich bemühen, das Umfeld so zu gestalten, dass das Kind in seinem Bewegungsdrang, in seiner Neugierde nicht eingeschränkt wird, dass es lernt, mit seinen neu erworbenen Fähigkeiten umzugehen. Zugleich müssen Eltern darauf achten, dass das Kind sich nicht gefährdet.

Lars war knapp drei Jahre, als er die 300Meter Fußweg von der elterlichen Wohnung zum Haus seiner Großeltern schon allein zurücklegte. Er musste dabei eine kleine Straße überqueren. Dazu benutzte er einen Zebrastreifen. Dann streckte er seine rechte Hand aus, überquerte vorsichtig, aber ganz selbstsicher die Straße.

Lars’ Mutter, Pia Seibold, war hin und her gerissen. Sie spürte: «Lars kann das! Ich kann ihm da vertrauen!» Aber sie hatte zugleich auch Nachbarn, Verwandte und Bekannte, die ihr Leichtfertigkeit, ja Fahrlässigkeit vorwarfen, ihr Angst machten: «Wenn Lars etwas passiert, dann wirst du nie mehr glücklich!»

«Und in meinen Träumen malte ich mir die allerschrecklichsten Sachen aus! Ich wachte nachts schweißgebadet auf, sah mich vorm Richterstuhl!» Pia Seibold ließ sich verunsichern. Sie verbot Lars den Allein-Gang zu den Großeltern und zu den Freunden. Doch Lars sah die mütterliche Grenze nicht ein. Tag für Tag «büxte» er aus, machte sich auf seinen Weg. Ihm passierte nichts. Kam er jedoch wieder zu Hause an, erwartete ihn ein Donnerwetter, zunehmend hagelte es Sanktionen, die Lars aber nicht von seinem Tun abhielten.

Rolf Seibold, Lars’ Vater, griff in die Situation ein, kritisierte seine Frau wegen ihrer Nachgiebigkeit, ihres Langmuts.

«Ich nehme das jetzt in die Hand», meinte er, drohte Lars, ihn in seinem Zimmer einzuschließen, sollte er nochmals ohne Erlaubnis und allein das Haus verlassen. Lars überhörte die Drohung, wusste er doch aufgrund seiner Erfahrung vom inkonsequenten Erziehungsstil seines Vaters. Doch Lars hatte sich diesmal verschätzt. Als er wieder einmal allein aus dem Hause schlich, verspätet zum Abendessen kam, erwartete ihn der wütende Blick des Vaters: «Morgen sperr ich dich ins Zimmer. Dann kommst du nicht raus!» Lars’ Mutter führte die Drohung am nächsten Tag aus. Doch Lars öffnete das Fenster, kletterte katzengewandt hinaus, schlich zu seiner Großmutter. Dies wiederholte sich am nächsten Tag. Die Stimmung in der Familie verschlechterte sich zunehmend. Argumenten war Lars nicht zugänglich – ihm passierte doch nichts, war sein entscheidendes Gegenargument.

«Aber da kann was passieren!»

«Mir nicht!»

«Morgen bleibst du hier!»

«Warum?»

«Du hast mich hoffentlich verstanden!»

Nach dem zehnten «Warum?» flog Lars aus dem Raum, und zwischen den Eltern flogen die Fetzen.

«Ich glaube, wir sind nicht gerecht!», versucht Pia Seibold einzulenken.

«Der spinnt doch!» Rolf Seibold ist zornig. Ein Wort gibt das andere, der Ton wird scharf.

«Damit du’s weißt, morgen binde ich Lars an, wenn der wieder abhaut! Mal sehen, wer hier gewinnt. Das wollen wir doch mal sehen!» Pia Seibold versucht – eher matt denn engagiert–, ihren Mann von seinem Vorhaben abzubringen. Kein Argument hilft. Der nächste Morgen kommt. Rolf Seibold informiert Lars am Frühstückstisch über sein Vorhaben.

«Wenn du heute gehst, binde ich dich morgen an der Garage an! Verstanden?» Lars nickt beiläufig.

Am Nachmittag geht Lars zu den Großeltern. Am Tag darauf findet sich Lars am Garagentor angebunden, eine sechs Meter lange Leine mit mehreren Knoten um seinen Bauch gebunden. Lars kann kaum glauben, was ihm da passiert ist. Er versucht, die Knoten zu lösen – vergeblich. Lars windet sich hin und her wie ein Löwe im Käfig. Er findet keinen Ausweg, fühlt sich gefesselt, fängt an zu schreien. Immer schriller werden seine Laute – bis der Vater kommt. Lars bittet mit flehender Stimme: «Ich gehe nie wieder weg, wenn du mich losbindest!» Der Vater lässt sich erweichen, löst die Knoten. Nur kurz darauf ist Lars verschwunden, unterwegs zu seinem Freund – und allein.

Der Vater ist hilflos, die Mutter verzweifelt. Sie wissen keinen Ausweg mehr. Die Mutter meint: «Ich lass ihn gehen. Ich vertraue ihm!» Sie überlegt: «Ihm passiert nichts!»

«Und wenn?»

«Ihm passiert nichts!»

Die Mutter stellt diese Situation gemeinsam mit Lars auf einem Familienseminar vor, will wissen, ob sie ihrem Sohn, der mittlerweile knapp vier Jahre ist, den Weg allein zumuten kann. «Ich fühle, er schafft’s! Aber mein Kopf sagt, er ist noch zu klein!»

«Ich kann es!», meint Lars selbstbewusst.

Gemeinsam versuchen wir Absprachen, um Pia Seibold wie Lars Sicherheit zu geben: Lars ruft an, wenn er sein Ziel erreicht hat, er verspricht, pünktlich nach Hause zu kommen, immer den gewohnten Weg zu benutzen. Lars lässt sich auf alle Absprachen ein.

Das Familienklima entspannt sich, die Warnungen der Nachbarn hören dagegen nicht auf. Fast scheint es, als warteten sie geradezu auf ein Unglück. Aber nichts passierte. Im Gegenteil: Lars entwickelte sich zu einem selbstbewussten Kind, das sich in der Folgezeit viel zutraute. Auf meine Feststellung während des Beratungsgesprächs: «Lars, dir kann nichts passieren, nicht?», lächelt er, nickt ganz spontan.

«Bin doch ein Indianer!», antwortet er selbstbewusst. Dann fasst er in die Hosentasche, holt ein Abziehbild mit einem Indianer heraus. Er schmunzelt: «Mein bester Freund… Hab ich immer bei mir. Der hilft!» Er schmunzelt und steckt das Bild zurück: «Der hilft mir!»

Diese Geschichte stößt bei vielen Zuhörerinnen und Zuhörern, wenn ich sie ihnen vorstelle, auf Widerspruch. Viele meinen, die Mutter habe leichtfertig gehandelt angesichts der vielfältigen Gefahren, die jüngeren Kindern drohen. Lars’ Situation ist nicht zu verallgemeinern, schon gar nicht vorschnell auf andere Situationen zu übertragen. Aber die Problemlösung macht ein Erziehungsverhalten deutlich, das sich am ganz individuellen Verhalten eines Kindes, an einem pädagogischen Handeln im Hier und Jetzt orientiert: Die Mutter hat nicht leichtfertig gehandelt, sondern auf der Grundlage ihrer Beobachtungen. Ihre Beobachtungen gaben ihr das Gespür, Lars schon mehr zutrauen zu können als anderen Kindern in seinem Alter:

Als Lars bemerkte, seine Eltern orientieren sich in ihrem Erziehungsstil mehr an der Meinung anderer Menschen als an seinen Möglichkeiten, trat er mit den Eltern in einen Machtkampf ein. Er machte sie hilflos, spielte mit ihnen, rächte sich bei ihnen für die ständigen Reglementierungen.

Lars war sich seines Handelns sicher. Er wollte als Lars angenommen sein, als ein Mensch mit ganz unverwechselbaren Zügen, spezifischen Fähigkeiten, Eigenarten und Kompetenzen. 

Als die Eltern dies erkannten, ihm vertrauten, sogar mehr vertrauten als anderen Kindern seiner Altersgruppe, ohne ihn deshalb zu überfordern, war er bereit, mit ihnen in eine konstruktive Erziehungsbeziehung zu treten.

«Bist du aber groß geworden!», sagt Großmutter Hilde zu ihrer Enkelin Ann-Kathrin, neun Monate, überrascht. Das letzte Mal, als sie Ann-Kathrin gesehen hatte, war sie noch ein «Winzling», wie es die Mutter ausdrückte.

«Ungeheuerlich», berichtet Anton Sauer stolz, «wie der Timo wächst, dem kannst du beim Wachsen zusehen. Welches Tempo die haben, ein Wahnsinn! Bin ich froh, ihn zu beobachten. Wenn du nicht dabei bist, versäumst du wirklich etwas.»

Die körperlichen Wachstumsschübe sind im ersten Lebensjahr enorm: um den fünften Lebensmonat herum haben Säuglinge bereits ihr Geburtsgewicht verdoppelt, zum ersten Geburtstag verdreifacht. In den ersten drei Lebensmonaten wachsen Kinder durchschnittlich um drei bis vier Zentimeter pro Monat, im dritten Lebensjahr nur noch sieben Millimeter. Aber auch hier gilt, was ich bei der motorischen Entwicklung angemerkt hatte: Längenwachstum und Gewichtszunahme sind höchst verschieden. Es gibt Kinder, die lassen sich Zeit. Andere kommen mit einer ungeheuren Entwicklungsgeschwindigkeit daher. Vergleiche sind nicht angebracht, schon gar nicht, ob ein Kind nun zu groß oder zu klein, zu schwer oder zu leicht ist. Entscheidend ist, wie das Kind über Wochen und Monate an Gewicht und Länge zunimmt. Eine allmähliche Zunahme des Körpergewichts gibt zuverlässige Hinweise, ob ein Kind wächst.

Mit dem Wachstum verändert sich auch die Gestalt des Kindes. Körperproportionen entwickeln sich. Dies wirkt sich auf das Erscheinungsbild aus, mit dem ein Kind wahrgenommen wird. Nimmt der Kopf des ungeborenen Kindes im Alter von zwei Monaten noch die Hälfte der Gesamtlänge ein, so macht der Kopf des Neugeborenen nur noch etwa ein Viertel aus. Zugleich verändern sich die Proportionen des Kopfes: Säuglinge weisen einen großen Hirn- und einen kleinen Gesichtsschädel auf. Wachsen die Säuglinge, nimmt Letzterer immer mehr an Größe zu.

Die Veränderungen des Körpers, der Gestalt kommen nicht zuletzt dadurch zustande, dass sich die Organe im Inneren entwickeln. Vor allem der Veränderung des Gehirns kommt eine maßgebliche Rolle zu. Es weist bereits bei der Geburt ein Drittel der Größe eines erwachsenen Gehirns auf.

Mit der Geburt werden zudem die Sinnesorgane differenziert. Das neugeborene Kind verfügt bereits über ein fertiges System von Sinneswahrnehmungen, wenn es auf die Welt kommt.

So ist der Säugling in der Lage, Geräusche in seiner Umgebung zu orten. Babys reagieren auf Gerüche. Sie orientieren sich vor allem an der Mutter und erkennen diese an ihrem unverwechselbaren Geruch. Säuglinge weisen mehr Geschmacksrezeptoren auf als Erwachsene, reagieren also unterschiedlich auf süße oder salzige Flüssigkeiten, auf Wasser oder Tee.

Nicht zu vergessen ist schließlich die visuelle Wahrnehmung. Während sich die Neugeborenen in den ersten Monaten an groben Unterschieden orientieren, zum Beispiel Gegenständen, die reizintensiv sind, sich bewegen, kann man zwischen dem vierten und fünften Lebensmonat feine Differenzierungen festmachen, wie Kinder ihre Aufmerksamkeit verteilen. So bevorzugen sie vor allem vertraute Gesichter, während sie bei unvertrauten eher «fremdeln», sich abwenden, verunsichert reagieren. Doch dazu später.

Generell lässt sich festhalten: In den ersten Lebensmonaten sind der Hör-, der Geruchs- und der Tastsinn ausgesprochen wichtig. Kinder nehmen über diese gefühlsbetonten Sinne ihre Umgebung wahr. Und deshalb ist eine einfühlsame Umgebung wichtig, ein zuverlässiger Bezugsrahmen, der den Kindern das Gefühl des Haltes auch dann bietet, wenn die Bezugspersonen nicht direkt wahrzunehmen sind. Störungen in der Wahrnehmung haben deshalb in den ersten Lebensjahren nachhaltige Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder, wie Bettina Mähler und ich in «Kinder, die den Rahmen sprengen» aufgezeigt haben.

2.Die sexuelle Entwicklung

Wenn nun von «Sexualität» die Rede ist, so stellt sich das aus der Sicht des Erwachsenen dar. Die Erkundung des eigenen Körpers durch das Kind vollzieht sich nämlich auf einer anderen Ebene als der, die wir Erwachsenen «Sexualität» nennen: Das Kind nimmt den Grundsatz «Begreifen geht über Greifen» auf eine ganz wörtliche Weise auf. Ein Körpergefühl erwerben die Kinder nur, indem sie ihn im wahrsten Sinne «erfühlen». Erwachsene bleiben mit ihren Erklärungen abstrakt und lösen so Irritationen bei Kindern aus.

Volker Apel, Vater der sechsjährigen Jessica, ist fast froh, als sie fragt, woher denn Kinder kommen. Er hatte sich schon seine Gedanken gemacht, warum sie niemals fragte, wo doch alle anderen Kinder ihre Eltern mit ihrem Wissensdurst nervten:«Hab ich was falsch gemacht? Waren wir zu prüde?» Dabei hatte er – wie beiläufig – Kinderbücher zum Thema Aufklärung «in der Wohnung herumliegen lassen». Jessica ignorierte diese, schien anders zu sein als jene Kinder, die in der Ratgeberliteratur vorkommen und Fragen formulieren, auf welche die dort vorgestellten Eltern nur richtige Antworten haben.

Nun war die Gelegenheit da. Volker Apel antwortete nicht auf Jessicas Fragen – er referierte über den Zeugungsakt, der natürlich kein technischer Vorgang sei, sondernd ein Akt der Liebe, er dozierte über Lust, über seinen Penis, die Feuchtigkeit der Mutter, seinen Samenerguss, über das Einnisten des Eis in der Gebärmutter. Er bemühte sich um eine kindgerechte Sprache.

Doch bei allen Bemühungen übersah er Jessica, die voller Erstaunen dasaß, den Redeschwall ihres Vaters nicht stoppen konnte, so sehr brach es aus ihm heraus – nach den vielen Seminaren zur Sexualaufklärung, den langen Seiten in Aufklärungsbroschüren. Volker Apel redete und redete, erzählte vom Fötus, ja, er gebrauchte dieses Wort, verbesserte sich dann, sprach vom kleinen  Kind, das im Bauch wächst, davon, dass die Mutter dicker und dicker werde, dass sie ihr Kind spürt – bis es eines Tages, nein: nicht eines Tages, vielmehr nach neun Monaten, manchmal früher, manchmal später, das Licht der Welt erblickte.

«Tut das weh?»

«Was?»

«Wenn das Kind gemacht wird?»

«Was?»

«Wenn der Pipi in Mama steckt?»

Diese Frage hatte er nicht erwartet, seine Tochter war noch bei der Zeugung, er schon bei der Geburt. Er wirkte irritiert: «Ich glaub nicht, wenn es feucht ist…»

«Wie wird es feucht?»

Volker Apel referierte von Drüsen und Hormonen, von Lust und Empfindung – alles in einer «kindgerechten» Sprache, versteht sich. Als er am Ende war, nicht mehr weiterwusste, unterbrach Jessica ihren Vater, offenbar einen weiteren Referatsschwall befürchtend. Nun wisse sie es, meinte sie ganz bestimmt, sie wolle keine Kinder haben, weil alles nur wehtue – am Anfang, wenn keine Feuchtigkeit da sei, und am Ende bei der Geburt.

Nein, Jessica war sich da ganz sicher, mit ihr seien keine Kinder zu machen. Sie stand auf, streichelte ihren Vater flüchtig und ließ ihn mit der Erkenntnis zurück: «Wie man’s macht, macht man’s verkehrt. Nie wieder Aufklärung!»

Kinderfragen zur Sexualität können sich aus verschiedenen Motiven ergeben:

Bei Kindern um das vierte/​fünfte Lebensjahr kann Wissensdurst ein zentrales Motiv sein. Das Kind hat Beobachtungen gemacht, die es mit dem vorhandenen Wissen nicht mehr deuten kann. Es braucht neue Informationen.

Und damit tauchen andere Fragen auf, die das Kind beantwortet haben möchte. Manchmal haben Erwachsene aber auch nicht genau zugehört, haben die Bedeutungen, die hinter den Kinderfragen standen, nicht erkannt oder fehlinterpretiert.

Missverständnisse resultieren häufig daraus, dass Erwachsene sehr faktenbetont-rationalistisch antworten, sich nicht auf die Wahrnehmungs- und Altersbesonderheiten von Kindern einlassen. Nicht die richtige ist manchmal die passende Antwort, vielmehr eine wahrhaftige, die sich an den Vorstellungen und Phantasien von Kindern orientiert.

Aus diesen Überlegungen lassen sich einige Grundsätze ableiten, die bei der Beantwortung von Kinderfragen Eltern beachten sollten:

Zunächst ist wichtig, den Sinn einer Frage zu erkennen. Kinder fragen in der Regel nicht abstrakt, sie fragen nicht wissenschaftlich, sie sind als Menschen am Menschen interessiert. Deshalb muss auf kindliche Fragen kein sexualwissenschaftlicher Vortrag erfolgen. Zwar ist es von Belang, dass Eltern – wollen sie kompetent antworten – Bescheid über das wissen, was sie vermitteln wollen. Aber nicht alles, was sie wissen, müssen sie in ihren Antworten unterbringen. Sonst beherrscht man mit seiner Antwort das Kind. Ein langatmiger Wortschwall verkennt nicht nur den Sinn einer Frage, er geht meist auch am Erkenntnissstand des Kindes vorbei.

Je jünger das Kind, umso konkreter, klarer, knapper und anschaulicher können die Antworten sein. So wichtig es ist, Sachverhalte nicht zu verfälschen, so bedeutsam ist der Mut zum Fragmentarischen.

Durch diesen Mut können weitere Fragen der Kinder angeregt werden. Dies ist umso wahrscheinlicher, je intensiver sich ein Kind durch die Antworten angesprochen fühlt. Antworten haben deshalb die Empfindung des Kindes zu berücksichtigen.

In elterlichen Antworten können Rückfragen an Kinder enthalten sein – zum Beispiel: «Wie stellst du dir das vor?» Rückfragen können zu Assoziationen und Phantasien führen, die dem Erwachsenen zeigen, wo das Kind intellektuell und emotional steht. Jedes Kind hat Vorstellungen, Meinungen, Haltungen, an denen sich Erwachsene orientieren sollten. Antworten, die nicht am Hier und Jetzt des Kindes anknüpfen, überfordern es.

Schließlich: Sexualerziehung ist niemals abgeschlossen, sie stellt sich als lebenslange Aufgabe dar: erst im Kindes-, dann im Jugendalter, später in den unterschiedlichsten Phasen der Partnerschaft bis in das hohe Alter. Jedes Lebensalter, jeder Lebensabschnitt bringt neue, veränderte Erfahrungen mit sich. Natürlich werden im Kindesalter wichtige Erfahrungen gemacht, zweifelsohne ist die Pubertät ein zentraler, nachhaltiger Einschnitt – aber Sexualerziehung ist damit nicht am Ende angekommen: Dieses Wissen könnte Eltern und Erziehende entlasten und dazu führen, Kinder wie Kinder und nicht wie kleine Erwachsene aufzuklären, ihnen und sich bei den Antworten Zeit zu geben. Dies meint nicht, Kinder auf ein imaginäres «Später» zu vertrösten, sondern ihnen Antworten zu geben, die ihrem Erfahrungs- und Entwicklungsstand entsprechen. Weniger ist manchmal mehr und Gelassenheit ein besserer Begleiter als guter Wille. Gelassenheit meint nicht Gleichgültigkeit, und der Verweis auf das Recht des Kindes auf Kindsein bedeutet nicht Kindertümelei – aber Gelassenheit bewahrt vor Erziehungsstress, davor, dass aus dem «Ich mein es doch nur gut mit dir» ein sexualaufklärerischer und erzieherischer Hochleistungssport wird.

Die nachstehenden Situationen erheben nicht den Anspruch, alle Fragen der Sexualerziehung umfassend zu beleuchten, vielmehr will ich einige typische Aspekte ansprechen, die Eltern Kopfzerbrechen machen.

Dorothea Elser zögert, sie hat Schwierigkeiten, ihre Frage bei einem Elternseminar zu formulieren.

«Also», fängt sie an, «mein Sohn, der Benno, liegt häufig auf dem Bauch. Und dann geht es auf und ab…» Sie sieht mich fragend an, ob ich sie denn wohl verstanden habe.

«…er onaniert», ergänze ich.

«Ja.» Ihre Stimme ist sehr leise, sie klingt brüchig.

«Sein Kopf ist dann ganz rot… Ich will ihn ablenken. Aber nichts hilft.» Ihr Blick geht nach oben. Sie schüttelt den Kopf. Dann schaut sie mich an: «Nun hab ich gelesen, Selbstbefriedigung hat mit sexuellem Missbrauch zu tun. Aber Benno ist nicht missbraucht worden. Dafür leg ich meine Hand ins Feuer, ehrlich nicht. Ich bin da völlig fertig.»

Eine andere Situation. Sie «habe Angst», erzählt mir Gisela Bartels mit stockender Stimme. Ihre Tochter Jasmin, sieben Jahre, masturbiere ständig…

«Ständig?»

«Na, nicht ständig, aber mir fällt’s halt auf…» Sie ist unsicher, wirkt verzweifelt.

«Sie haben Angst?»

«Ja. Man liest so viel, Kinder, die das machten, seien in Gefahr.»

«Ist Jasmin in Gefahr?»

«Sie nicht!» Frau Bartels’ Stimme klingt bestimmt.

«Wer?»

«Ich weiß nicht… echt.» Sie hat Tränen in den Augen. «Ich hab Angst, Angst, dass Jasmin etwas passieren kann!»

«Was ist Ihnen passiert?»

Und dann erzählt Gisela Bartels, wie sie als Kind gern und häufig masturbiert habe. Ihre Tante habe sie einmal «erwischt». Sie sei ganz freundlich gewesen. Abends musste «ich zu ihr ins Bett, und dann hat sie mich verführt. Damals wusste ich das nicht, was das war. Ich war ja erst fünf. Aber es war auch schön…» Sie weint. «Aber irgendwann wollte ich das nicht mehr, und dann musste ich immer zu ihr. Und sie hat dann gesagt, wenn ich nicht mehr komme, sagt sie es meiner Mutter… Ich war froh, als sie wegzog… Und später», es schüttelt Gisela Bartels, «hatte ich sogar Mitleid mit ihr, weil sie so allein war.» Sie sieht mich ernst an: «Und nun habe ich Angst, dass Jasmin Ähnliches passiert.»

Onanie, Masturbation wird allzu oft ausschließlich negativ diskutiert: War es früher eine verquere Sexualmoral, die kindliche Selbstbefriedigung mit Strafe und Zurichtung belegte, so wird Onanie heute (vor-)schnell unter der Perspektive des Missbrauchs gesehen. Oder anders formuliert: Häufiges Onanieren kann einen Hinweis auf sexuellen Missbrauch geben – Selbstbefriedigung wird in manchen Fällen vom Kind als auffälliges Verhalten inszeniert, um auf seine Situation aufmerksam zu machen. Dies mag bei gezielten Verdachtsmomenten wichtig werden. Doch hat Selbstbefriedigung aus der Sicht von Kindern ein sehr weites Bedeutungsspektrum:

Onanie ist Bestandteil der körperlichen Selbstfindung und der emotional-sexuellen Entwicklung von Kindern. Solche Ausdrucksformen kommen häufiger vor, als Eltern meinen. Doch spielen sich diese mehr in unbeobachteten Momenten ab. Onanie hat zu tun mit der Entdeckung des eigenen Körpers, mit Körpergefühl. Selbstbefriedigung spielt im Übrigen auch in der Erwachsenensexualität eine wichtige Rolle.

Dass die Berührung des Körpers mit lustvollen Momenten verbunden ist, erfährt das Kind eher beiläufig: durch die Reibung der Kleidung, durch das Liegen auf dem Bauch. Solche Gefühle werden dann durch Manipulationen verstärkt: Die Jungen berühren den Penis, drücken ihn rhythmisch gegen weiche Unterlagen; die Mädchen reizen ihren Kitzler mit der Hand, legen sich Kissen oder Stofftiere zwischen die Schenkel, um die angenehmen Gefühle zu verstärken.

Onanie bedeutet für Kinder Lust, sie bringt keinen körperlichen oder seelischen Schaden mit sich. Ein sich durch die gefühlsmäßige Entwicklung ergebendes Bedürfnis nach Selbstbefriedigung braucht nicht unterbunden zu werden. Die häufig zu beobachtende Wiederholung der Selbstbefriedigung hat zu tun mit den lustvollen Gefühlen, die auf ein Noch-mehr drängen, sowie der Neugier, mit der ein Kind eigene Möglichkeiten entdeckt, den Körper spielerisch zu gebrauchen.

Aufmerksamkeit ist dann geboten, wenn Kinder ihre Geschlechtsorgane gegenseitig erkunden oder beginnen, sich gegenseitig sexuell zu stimulieren. Dies gilt insbesondere für kleine Kinder, die die Folgen ihres Tuns nicht abschätzen können. Doch Aufmerksamkeit bedeutet nicht Verbot oder Ausgrenzung. Verbot und Ausgrenzung führen nur zu Verdrängungen, zu Heimlichkeiten. Sie helfen Kindern kaum, ein gesundes sexuelles wie körperliches Selbstbewusstsein auszubilden.

Grenzen können nur durch klare Regeln und Rituale gezogen werden: Sexuelle Spiele müssen von Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit – also nicht ältere Kinder gegen jüngere Kinder, Jungen gegen Mädchen oder umgekehrt–, von Freiwilligkeit – also keine erzwungene und erpresste Teilnahme am Spiel – geprägt sein. Die Spiele dürfen nicht zu Verletzungen führen – zum Beispiel dürfen keine Gegenstände in die Scheide oder den Po eingeführt werden.

Kinder können lernen, dass nicht jede Situation des Alltags dafür geeignet ist, ihren Bedürfnissen nach Sexualität und Selbstbefriedigung nachzugehen. Bei allem Verständnis ist der vormittägliche Stuhlkreis im Kindergarten ein zwar subjektiv möglicher, objektiv aber wenig passender Ort für das Ausleben körperlich-sexueller Gefühle. Dies gilt gleichermaßen für die sonntägliche Kaffeerunde, wenn die Oma zu Besuch anwesend ist, um ihre Enkel zu sehen. Aufschieben des Bedürfnisses – nicht: Verbot! – kann ebenso hilfreich sein wie der Hinweis an das Kind, sich in eine ruhigere Ecke des Kindergartens oder in das eigene Zimmer zurückzuziehen.

Solche von Verständnis getragenen Hinweise können dem Kind dazu verhelfen, Bedürfnisse nach sexueller Stimulation nicht sofort und unmittelbar zu befriedigen, sondern aufzuschieben oder sich andere, aber adäquate Symbole und Situationen zu suchen, um Lust zu spüren und auszuleben.

Marion Weber, Mutter der siebenjährigen Patrizia, erzählt: «Ich fand es irgendwann völlig unmöglich. Patrizia nuckelte und nuckelte. Immer ging der Daumen in den Mund. Ich hab’s ihr verboten. Hab ihr die ganze Sache madig gemacht. ‹Pfui›, hab ich gesagt. ‹Du siehst aus wie ein Affe…› und so.»

«Hat’s etwas genützt?», will ich wissen.

«Und wie!», meint sie mit viel Ironie in der Stimme. «Nun onaniert sie wie verrückt. Früher hatte sie den Daumen im Mund, und nun hat sie ein Stofftier zwischen den Schenkeln, liegt auf dem Bauch, und schon geht die Post ab.» Sie wirkt nachdenklich: «Hätte sie doch bloß noch ihren Daumen im Mund.»

Eine andere Situation: Katharina, fünf Jahre, geht zwei- bis dreimal am Vormittag zu ihrem Tisch, der in der Ecke des Kindergartenraumes steht. Sie stellt sich breitbeinig hin, schiebt die Tischkante zwischen ihre Schenkel, bewegt sich dann rhythmisch, versunken und gedankenverloren. Ihr Kopf wird rot, ihre Augen scheinen versonnen. Katharina ist in diesem Moment nicht ansprechbar. Nach zehn Minuten kommt sie wieder zu sich, steht auf, geht zu den anderen Kindern und spielt weiter.

Katharinas Verhalten fällt den Erzieherinnen auf, den Kindern nicht. Sie betrachten das offensichtlich als normal.

Katharinas Mutter, Julia Rückmers, ist besorgt: Auch zu Hause lege Katharina ein ähnliches Verhalten an den Tag. Sie benutze dort die Stuhlkante zur Stimulation. Dabei sei ihre Scheide stark gerötet, sie habe Schmerzen, könne aber nicht von ihrem Tun lassen.

«Wann onaniert Katharina?»

«Fast immer!»

«Wann genau?», bohre ich weiter.

Die Mutter überlegt, denkt angestrengt nach. Sie sucht nach Situationen, nach Anlässen, in denen sich die Tochter selbst befriedigt.

«Wenn sie zur Ruhe kommen will», entfährt es der Mutter spontan.

«Was war dann vorher?»

«Na ja, dann stand sie irgendwie unter Strom. Sie nimmt sich aber auch verdammt viel vor!»

«Und wie ist es mit Ihren Forderungen an Ihre Tochter?»

«Na ja, ich will schon, dass aus ihr etwas wird!»

Um die subjektive Bedeutung der Selbstbefriedigung aus der Sicht des Kindes genauer einzuschätzen, ist es unabdingbar, den Alltag und die Tagesabläufe der Kinder genauer zu beobachten. Viele Kinder leben unter Stress, sind ohne eine selbst gestaltete Freizeit in fest verplante Tagesabläufe eingespannt; viele fühlen sich unter Druck, den die Eltern ausleben oder ihren Kindern als Lebensmaxime vormachen.

Permanente Spannungszustände vermögen Kinder auf Dauer nicht auszuhalten. Gibt man ihnen keine Möglichkeiten, Spannung zu reduzieren, fordert der kindliche Körper sein Recht: Das Kind nuckelt, es fällt in frühkindliche Verhaltensweisen zurück, will gewickelt werden, hat übertriebene Zärtlichkeitsbedürfnisse – oder es onaniert.

Man kann zwei Formen der Selbstbefriedigung unterscheiden:

das Kind entwickelt ein Gefühl für seinen Körper und begreift, erkundet ihn mit seinen Händen (entwicklungsbedingte Selbstbefriedigung),

es onaniert, um körperliche Stresszustände abzubauen.

Während der entwicklungsbedingten Selbstbefriedigung kaum mit Sublimationen – also durch die Verlagerung auf andere Objekte – beizukommen ist, gelingt das bei der Selbstbefriedigung als Ausdruck von Entspannung eher: Suchen Sie nach Möglichkeiten, den Stress, die Überforderung des Kindes generell zu reduzieren. Man kann Formen der Entspannung – zum Beispiel Meditation, Yoga, autogenes Training, Sport mit dem Kind – entwickeln, um ihm Gelegenheit zu geben, seine körperlichen Gefühle auf vielfältige Weise anzugehen.

Wohlgemerkt: Sublimation der Selbstbefriedigung hat nichts zu tun mit Verbot. Vielmehr wird dem Kind eine Vielzahl an Möglichkeiten angeboten, damit es sich alters- und situationsangemessen entspannen kann.

Eine Situation aus einem Kinderhort. Im Anschluss an ein sich spontan ergebendes Gespräch über Fragen der Empfängnisverhütung während der Hausaufgaben bringt Jan-Peter, knapp sechs Jahre, am nächsten Tag seiner Horterzieherin Elisabeth ein buntes Kondom mit. Es entspinnt sich ein Gespräch zwischen Jan-Peter und der Erzieherin.

«Hier», sagt Jan-Peter und zeigt ihr ein Kondom, das er sich über den Finger gezogen hat. Die Erzieherin ist überrascht, schluckt kurz.

«Hier», insistiert Peter.

Die Erzieherin findet mühsam ihre Worte: «Woher hast du denn das?»

«Aus Papas Schublade im Schrank. Der steht beim Bett.»

Die Erzieherin will etwas sagen, ihr fehlen aber die Worte, sie lächelt Jan-Peter an: «Und?»

«Rat mal, Elisabeth, warum schmeckt das nach Erdbeere?»

«Woher weißt du denn das?»

«Hab dran geleckt!»

Die Erzieherin schaut Jan-Peter an: «So, so.»

Jan-Peter grinst: «Schmeckt gut! Wie Bonbons! Willst du auch mal?» Er hält ihr seinen Finger hin. Als Elisabeth reflexartig zurückweicht, den Kopf vehement schüttelt, fragt er ganz nachdenklich: «Elisabeth, warum müssen Kondome nach Erdbeeren schmecken?» Bevor er eine Antwort bekommt, meint er kopfschüttelnd: «Die sind doch dazu da, dass keine Kinder kommen? Komisch!»

Während der letzten Worte ist Thomas, acht Jahre, hinzugekommen, hat sich Jan-Peters Überlegungen angehört. Thomas baut sich vor dem Jüngeren auf: «Du hast keine Ahnung.»

Jan-Peter wirkt irritiert: «Ich hab doch Ahnung!»

«Quatsch! Die schmecken nach Erdbeeren, weil Mama nimmt Papas Ding in den Mund. Und wenn das nach Erdbeeren schmeckt, mag Mama das lieber.»

Jan-Peters Augen zucken, ein leichtes Kopfschütteln ist zu sehen. Jan-Peter runzelt die Stirn, sieht Elisabeth an. Beide sind sprachlos.

«Und das war gut so», erinnert sie sich später, «sonst hätte ich nur Blödsinn erzählt.» Während Thomas abdreht – auch in der Gewissheit, es «diesem Kleinen mal wieder gegeben zu haben»–, schüttelt Jan-Peter den Kopf. Er klettert auf Elisabeths Schoß, sucht ihre Nähe, sieht sie mit einer Mischung aus Unsicherheit und Nachdenklichkeit an.

«Im Nachhinein», überlegt sie, «hat er mir, hat uns das geholfen. Jetzt konnte ich ihn annehmen und wirklich beobachten.»

Nach einiger Bedenkzeit meint Jan-Peter: «Ich weiß, warum die nach Erdbeeren schmecken.»

Elisabeth schaut Jan-Peter an.

«Weil die Kinder, die dann nicht geboren werden, wegen dem Kon…, diesem Ding da», er zeigt mit seinem Kopf auf das Kondom am Finger, «nicht so traurig sind, wenn die keine Kinder werden.»

Nach diesem Satz wirkt er, als habe er seine Lösung gefunden. Er scheint mit seiner Erklärung zufrieden. Elisabeth sagt nichts dazu, setzt ihn ab, geht und überlegt:«Hätte ich dazu nun etwas sagen sollen?»

Zwei weitere Bemerkungen zu dieser Situation. Kurz darauf ging die Erzieherin zu Thomas. Als sie mit ihm alleine ist, fragt sie: «Woher weißt du das mit dem Erdbeergeschmack?» Als er zu einem altväterlichen «Das weiß man doch!» ansetzen will, reagiert die Erzieherin schroff: «Zieh nicht so ’ne Show ab!» Thomas wird ernsthaft, berichtet von einer Aufklärungsbroschüre, in der er gelesen habe. «Aber», meint er zum Schluss des Gesprächs, «ich find das schon eklig. Also, ich würd doch lieber ’n Erdbeerbonbon lutschen.»

Zweiter Nachtrag – fast ein Jahr später: Jan-Peter kommt zu Elisabeth, jetzt wisse er das mit «der Erdbeere auf dem Gummi ganz genau». Seine Mama habe ihm das erklärt: Sie «mag Papas Pipi und dann küsst sie ihn. Weil nur auf den Mund küssen sei so langweilig. Und sie mag ja Erdbeeren.» Jan-Peter macht den Eindruck, als habe er Verständnis für die Erklärung seiner Mutter, als sei nun alles für ihn klar. Seine Augen gehen nach innen, als suchten sie Bilder für das, was die Mutter ihm erzählt hatte.

«Aber Elisabeth, warum tut sie dann nicht Erdbeermarmelade um seinen Pipi?»

«Ich musste lachen», berichtet Elisabeth mir später. «Ja, was sollte ich sagen. Tja, irgendwie hab ich dann gesagt: ‹Papas Pippi ist doch kein Brötchen.› Da hat’s ihn vor Lachen fast zerrissen.»

So weit die Geschichte. Folgende Aspekte sind mir dabei wichtig:

Sexualaufklärung funktioniert nicht allein über Sprache, ist nicht allein eine Frage der präzisen Information. Vertrauen und Beziehung sind die Voraussetzung für eine Aufklärung, die sich am Kind orientiert. Das Kind braucht das Gefühl des Angenommenseins, das Gefühl, verstanden zu werden.

Die Erzieherin hat an der spezifischen Entwicklungsphase des Kindes angesetzt, den Erfahrungen des Kindes. Und da Jan-Peter und Thomas ganz spezifische Erfahrungen besitzen, hat sie entsprechend gehandelt.

Die Erzieherin hat ihrem Gefühl vertraut. Und sie hat den Kindern vertraut. Wenn Kinder nicht mit den Antworten auf die von ihnen gestellten Fragen einverstanden sind, dann insistieren sie weiter, fordern sie Erwachsene weiter heraus. Und umgekehrt gilt: Wenn Kinder sich von Antworten überfordert fühlen, dann ziehen sie sich häufig zurück, dann schweigen sie.

Die Erzieherin hat den Kenntnisstand beider Kinder berücksichtigt, sie hat beide für sich angenommen: Jan-Peter in seiner noch magischen Betrachtung von Wirklichkeit, Thomas in seinem schon authentisch-realistischen Herangehen.

Die Erzieherin hatte den Mut zum Fragmentarischen. Als die unterschiedlichen Erfahrungen von Thomas und Jan-Peter aufeinander prallten, konnte sie beiden nicht zugleich gerecht werden. Sie hat sich in einem ersten Schritt für Jan-Peter entschieden, Thomas’ Hinweis zunächst überhört. Dieses Überhören betraf Thomas’ Einwand, als Person hat sie ihn wahrgenommen. Es war deshalb wichtig, dass sie später Kontakt zu Thomas aufgenommen hat. Noch wichtiger: Die Erzieherin besaß den Mut, Jan-Peters magische Deutung als Realität stehen zu lassen. Sie fühlte, diese Sichtweise passe momentan für ihn. Und noch wichtiger: Die magische Deutung wurde dem Kind nicht von außen auferlegt. Es war Jan-Peters ganz eigene Erklärung. Sie hatte für ihn im Augenblick alle Gültigkeit.

Die Erzieherin vertraute auf Jan-Peters Entwicklung, darauf, dass er zu ihr kommen würde, wenn es weitere Fragen, Probleme und Unsicherheiten geben sollte. Dies trat ein. Elisabeth blieb konsequent im Hier und Jetzt, orientierte sich am Hintersinn kindlicher Fragen – und nicht daran, was sie alles wusste, oder gar daran, was man zu dieser Frage alles sagen könnte. «Aber, ehrlich gesagt, damit bin ich auch ganz schön ins Schwitzen gekommen. Also das mit den Erdbeeren – mein lieber Gott, wo ich doch gar keine mag, schon gar nicht da!»

Schließlich hatte sie den Mut zu einem für Jan-Peter überraschenden Satz: «Aber Papas Pipi ist doch kein Brötchen!» Diesen Satz konnte sie formulieren, diese Formulierung vermochte Jan-Peter nur anzunehmen, weil die Vertrauensbasis, die emotionale Beziehung zwischen beiden Beteiligten gegeben war.

Marc und Jakob, beide knapp über sechs Jahre alt, treten mit ihrer Erzieherin, Stefanie Schrader, über sexuell gefärbte Annäherungsversuche in einen Machtkampf: Mal beißen sie in ihre Bluse, mal versuchen sie, diese zu öffnen, oder sie schleudern ihr den Turnbeutel zwischen die Beine. Stefanie mahnt, droht – vergeblich. Auch als sie deutlich ihre Grenzen formuliert, ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit einfordert, hören die Jungen nicht mit ihren Aktionen auf, selbst dann nicht, als sie Strafen androht. Im Gegenteil: Die Machtkämpfe nehmen an Intensität zu.

Eines Tages – als eine ganze Gruppe von Kindern wieder um Stefanie herumsteht – springt Marc plötzlich auf sie zu, zieht sich ein kleines Stückchen an ihr hoch, ertastet ihre Brust, nimmt sie vorsichtig in die Hand, beißt dann jedoch durch den dünnen Pullover kurz, aber heftig, vor allem sehr schmerzhaft zu. Stefanie ist von der Aktion völlig überrascht. Aber sie wirkt nur kurz geschockt. Reflexartig beugt sie sich zu Marc, packt ihn schnell, nimmt ihn auf den Arm und setzt ihm schmatzend einen Kuss auf seine Wange.

«Ich musste sofort handeln», erinnert sie sich im Rückblick.

«Meine Worte, meine sprachlichen Grenzen reichten offensichtlich nicht mehr aus. Marc machte ja ständig weiter. Meine Beziehung zu Marc stimmte. Das spürte ich. Aber es musste etwas passieren. Er war ein absolutes Schmusekind, das wusste ich. Nur vor der Gruppe, da spielte er den starken Macho…, den Unberührbaren. Irgendwie war’s ein Reflex von mir. Ich wollte ihm zeigen: Du tust mir weh. Ich musste ihm das begreiflich machen. Da hab ich aus dem Gefühl heraus etwas gemacht, was er auch nicht mochte. Pädagogisch war das natürlich nicht richtig. Das weiß ich. Aber er hat mich verstanden. Für den Tag hatte ich meine Ruhe.»