Der große Fehler - Jonathan Lee - E-Book

Der große Fehler E-Book

Jonathan Lee

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Beschreibung

Die Welt besteht aus Fehlern und Flickversuchen. Und manchmal aus seltsamen Missverständnissen. Andrew Green ist tot. Erschossen am helllichten Tag, an einem Freitag, den 13. Spekulationen schießen ins Kraut. Verdankt New York dem einstigen Außenseiter doch unter anderem den Central Park und die New York Public Library. Inspector McClusky nimmt die Ermittlungen auf. Was wussten die übereifrige Haushälterin, der Präsidentschaftskandidat Tilden und die brillante Bessie Davis, der halb New York zu Füßen liegt?

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Seitenzahl: 409

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Jonathan Lee

Der große Fehler

Roman

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Diogenes

Für A & M

Der Roman ist aus Mangel der Geschichte entstanden.

Novalis, Magische Geschichtslehre

Doch Klagen sind nichts für die Toten: Sie wissen, was sie tun.

Clarice Lispector, Der große Augenblick

1Strangers’ Gate

Zum letzten Anschlag auf das Leben von Andrew Haswell Green kam es 1903 auf der Park Avenue. Die Nachricht seiner Ermordung füllte die Titelseite der New York Times – »Vater von Greater New York« vor seinem Haus erschossen. Ein Motiv wurde nicht genannt, blieb unerklärt. Der Herald, die Tribune, die Sun ergingen sich in Spekulationen. Einige Journalisten stellten die Berühmtheit des Opfers in den Vordergrund, andere die fünf abgegebenen Schüsse. Wieder andere starrten mit ernster Miene auf das Datum seines Todes: Freitag, der 13. November. Bürger mit weitschweifiger Fantasie trugen an solchen Unglückstagen Talismane bei sich, Kaninchenfüße und rostige Schrauben, Papst Pius IX. in einem Briefbeschwerer, den Stein eines Pfirsichs mit dem seltsamen Namen Stump the World – stumme, furchtlose Dinge, Glücksbringer, die sie vor dem Wahnsinn schützen sollten, doch mit seinen dreiundachtzig Jahren hatte Andrew keine Zeit für derlei Aberglauben. In seinen letzten Lebensjahren vertraute er auf Gras, Bäume und Unkraut, auf Bauten und Brücken aus Stein, und nachdem sein absurdes Ende aus den Nachrichtenspalten verschwunden war, stellte man eine marmorne Gedenkbank im Central Park für ihn auf. Das kleine Denkmal mit Blick aufs offene Grün von Fort Fish findet sich immer noch dort. Dienstagmorgens kommt jemand mit Putzutensilien und entfernt den Vogeldreck der letzten Woche.

An Andrews schicksalhaftem letzten Morgen, wie es die Times ausdrückte, wachte er früh auf und brauchte lange, um in Bewegung zu kommen, stieg dann behutsam sechzehn Stufen hinab und setzte sich an seinen Tisch aus Massachusetts-Ahorn unter den vollelektrischen Kronleuchter. Draußen vorm Fenster erwachte die Park Avenue. Staub wirbelte hinter den vorbeifahrenden Wagen auf und senkte sich wieder. Knarzende Räder trugen die Freitagswaren über das Pflaster. Aus sechsunddreißig Bohnen gebrüht war der Kaffee am besten – nach Jahrzehnten eigener Erkundungen war das sein Schluss –, und er trank ihn stetigen Schlucks aus seiner im Herbstgelb des Ulmenlaubs bemalten Lieblingstasse, bis Mrs. Bray das Frühstück brachte.

Wie haben Sie geschlafen?, fragte sie.

Wie ein Toter, sagte er.

Sie lächelten sich zu, wie sie es immer taten, und hoben gemeinsam Messer und Gabeln. Seine Haushälterin war eine rüstige Neunundsiebzigjährige, deren einst feurige irische Locken mittlerweile aufgewickeltem Metall glichen. Witze über sein fortgeschrittenes Alter waren an der Tagesordnung, und sie rühmte sich ihres Talents, Unglücke vorauszusehen. Tatsächlich hatte sie ihn in den letzten Jahren einige Male darauf hingewiesen, dass neidische Götter seinen Aufstieg zu Ruhm und Ehre mit Missgunst betrachten mochten und womöglich bald schon nach einer Schwachstelle suchten. Aber an diesem Freitag, dem Dreizehnten, wenige Stunden, bevor sie Zeugin seiner Ermordung wurde, äußerte Mrs. Bray beim morgendlichen Omelett keinerlei Warnung. Später würde sie dem kommissarischen Captain Daly der Polizeiwache East 35th Street erklären, der seine Beförderung zum tatsächlichen Captain kaum erwarten konnte, ihre Abschiedsworte an ihren Arbeitgeber an jenem Morgen hätten allein darin bestanden, dass sein voller weißer Bart in letzter Zeit außer Kontrolle geraten und ein Besuch beim Barbier noch in dieser Woche unerlässlich sei. Im Übrigen erwarte sie ihn spätestens um halb zwei zurück, vorzugsweise nach Zaubernuss und Haaröl duftend, denn der aufkommende Trend in dieser Stadt, sich vom Mittagessen zu emanzipieren, könne für einen Mann seines Alters doch keine Bedeutung haben.

Andrew hörte ihr zu, lächelte, nickte und vollführte einen unbeholfenen Tanz, um den schmerzenden Körper in seinen Mantel zu hüllen. Er hasste es, zum Barbier zu gehen. Im letzten Jahr war ein Freund gestorben, das Herz war ihm geplatzt, weil er das Kratzen der Klinge an den Hängebacken seines Stuhlnachbarn hatte mitanhören müssen. Was nicht gerade nach einem guten Abgang klang.

Er spülte seine Tasse aus und fuhr in sein Büro in der Nähe der City Hall, wo er bis ein Uhr blieb und in vier fruchtbaren Stunden mehrere Aufgaben erledigte: Er plante eine Gedenktafel für Mary Lindley Murray, antwortete auf die idiotische Korrespondenz einiger Politiker, deren größter Wunsch es war, die Freiheitsstatue mit ihrer seekranken Blässe wieder pennybraun zu streichen, und erdachte eine Route für die neuen, kupferbeschlagenen, weiträumigen Subway-Wagen, die auf Flößen den Harlem River hinaufgebracht werden sollten, was seinen Kopf mit leuchtenden Bildern füllte, nach denen der Rest des Tages nur mehr profan, profan, profan erscheinen konnte.

Er trat hinaus ins Gewimmel des Broadway und nahm sich einen Moment, um durchzuatmen. Der Herald beschrieb den Tag des Verbrechens später als einen jener klaren, strahlenden Novembernachmittage mit kaltem Wind, an denen es in der Sonne Herbst und im Schatten Winter ist. Die Sun beharrte darauf, dass der Himmel mit dunklen Wolken überzogen war, und der Brooklyn Daily Eagle stand ziemlich allein mit seiner Behauptung, dass es geregnet habe.

In diesem launischen Wetter fuhr Andrew mit der Straßenbahn über die Fourth Avenue uptown, so stand es später im Polizeibericht. Vergnügt und entschlossen wirkte er, obwohl seine scharfen Züge ihn doch allgemein schlechter gelaunt erscheinen ließen, als er es tatsächlich war. Sein weißer Bart flatterte im Wind. Er liebte es, die kalte Luft auf seinem Gesicht zu spüren und wie sie die Haut zu straffen schien. Allein die Silhouette der Stadt missfiel ihm auf seiner Fahrt nach Hause. Das angeberische Durcheinander der so verschieden hohen Gebäude, die seinem Empfinden nach in einem ständig wachsenden Widerstreit miteinander standen.

Er lag im Zeitplan für Mrs. Brays Mittagessen um halb zwei, als er um zwanzig nach an der Haltestelle 38th Street aus der Bahn stieg und erfolgreich eine stinkende Pfütze umrundete, wo der Fischhändler sein Eis auf die Straße gekippt hatte. Freitage bescherten ihm die besondere Freude der Aussicht auf Frische, war doch die kommende Woche noch bar aller Fehler! Aber warum teilten offenbar alle Heilbutt-Händler dieser Stadt den Eindruck, die New Yorker hätten keinen Geruchssinn? Andrew hob den Blick, er konnte Mr. Hepiner auf den Stufen seines Ladens sehen. Eine amphibische Gestalt, die auf ewig in ihren kleinen Gummistiefeln feststeckte und den nach Fisch stinkenden Eimer gepackt hielt, als trüge er die ganze Nation in sich.

Oh, hallo!, sagte Hepiner und winkte.

Aber Andrew winkte nicht zurück. Es gibt diese bestimmte Art von Groll, die ebenso irrational wie erhebend ist und die man sich unbedingt bewahren sollte, koste es, was es wolle. Besonders im Alter.

Er sehnte sich nach zu Hause, nach Stille. Er wollte essen, ungestört. Sein neues Buch lesen, Die Literarische Guillotine, eine Bilanz des Literarischen Notgerichts, dem Mark Twain vorgesessen und das pflichtgemäß die überschätztesten zeitgenössischen Autoren hingerichtet hatte. Still und ungestört. Auf dem Gehsteig vor sich sah er ein zerrissenes Stück Zeitung, wieder einmal umgeben von Kastanienschalen (wer war nur dieser Kastanien-Schäler?), und er bückte sich, ah, um all das aufzuheben und es sich vorsichtig in die linke Manteltasche zu stopfen, die er seinen Schneider mit einem leicht zu reinigenden Material hatte auskleiden lassen, genau für diesen Zweck. Die Straßen sauber zu halten, das damit verbundene Ritual, beruhigte ihn. Aber der Müll wurde nicht weniger. Jeder Tag brachte mehr.

Jene, die ihn auf seinem letzten Weg innehalten und die Kastanienschalen aufklauben sahen, würden bald schon als Zeugen vernommen werden und erklären, dass er müde aussah, ihn der Rücken schmerzte und seine Haltung Zeugnis von seiner inneren Verfassung gab – unbeholfen wirkte er, krängend, die rechte Hand fast unten beim Fuß, ein alter Mann, der stets zu versuchen schien, Dinge aufzufangen, die ihm aus der Hand gefallen waren. Und er spürte ihre Blicke auf sich. Es machte ihn verlegen, jeden Tag so gesehen zu werden, andererseits aber war er dankbar, dass man ihn sah, fürchtete er doch seit einiger Zeit, aus dem allgemeinen Gedächtnis zu schwinden. Präsident Roosevelt brauchte immer länger, um seine Briefe zu beantworten. Im letzten Jahr war die Rede gegangen, dass man eine große Brücke oder ein Gebäude nach ihm benennen wolle, aber womöglich hatte er diese Pläne selbst durchkreuzt, indem er griesgrämig statt schöntuerisch war und Politikern gegenüber Dinge sagte, die nur er witzig fand. Die unkluge Bemerkung zum Beispiel, Bürgermeister Lows Schnauzbart sehe aus, als sei er auf der Suche nach einem warmen Platz zum Sterben auf der Oberlippe durch die Landschaft gekrochen.

Minuten vor der Konfrontation, die sein Leben beenden sollte, ging er ohne Hilfe des Stocks, den Mrs. Bray ihm immer mitzugeben versuchte, die Park Avenue in nördlicher Richtung hinauf, ging vorbei am Metzger mit seinen blutroten Rindfleischstücken, dem Schneider, der hinter seinem Fenster HOSEN NACH MASS nähte, vorbei am Süßwarenladen und dem Dentisten gleich nebenan, die sich eine rot-weiße Markise teilten, überquerte die Straße im Schatten des Murray Hill Hotels mit seinem Cape-Ann-Granit, seinen Pressziegeln aus Philadelphia und seinen korinthischen Säulen mit eingemeißelten Laubgirlanden, sah zu seinem Haus hinüber, der Nummer 91, und fragte sich, welche Schrecken Mrs. Bray heute wohl zusammengekocht hatte. Er hoffte nur, dass es nicht wieder Hepiners Heilbutt war. Sie quälte ihn damit, bestand auf Fisch, meinte, er sei gut für seine Knie und seine Augen, für die dünner werdenden Fußsohlen und das morgendliche Knarren in seinen Gelenken – aber was war mit der Moral eines Mannes? Mit seinen dreiundachtzig Jahren besaß er die nötige Selbsterkenntnis, um mit seinen Mitmenschen geduldig zu sein, aber nicht immer die Gewandtheit, zu verbergen, welche Mühe ihm das bereitete.

Er liebte diese Stadt. Er hasste sie. Sie war eine Kathedrale der Möglichkeiten, die niemals zur Ruhe kommen würde. Vielleicht behielt sie ihn im Gedächtnis, vielleicht vergaß sie ihn. Ihn überkam ein Gefühl von Machtlosigkeit, und aus irgendeinem Grund hielt er inne, zögerte, war mit seinen Gedanken bei der Stadt, dem Essen und anderswo, er stand da, die linke Hand auf dem kleinen Eisengeländer vor seinem Haus, und weil er dort so zögernd verharrte, und aus tausend anderen Gründen, einem wilden Wuchern von Zufällen, Fehltritten und Fehleinschätzungen, aus misslichen Umständen und einer Spur kaltem Kalkül, sollte er bald schon auf dem Rücken liegen, das Gesicht zum Himmel gewandt, hingestreckt und bloßgestellt, zuckend und auf dem besten Weg, wie es ein Droschkenfahrer auf der anderen Straßenseite ausdrückte, unter der Erde einzuparken. Toter geht’s nicht, sagte Mr. Anton, der Florist, der behauptete, die Natur zu lieben, trotz allem, was sie seinem Gesicht angetan hatte. Tot wie ein blindes Auge. Tot wie ein seelenloser Satz. Ein geistloser Geist. Ein Klischee. Tot wie der Stein eines Pfirsichs namens Stump the World. So leblos wie all die Zeitungen, in denen am Morgen sein Name stehen würde.

2Children’s Gate

In ihren Berichten über den Mord des Jahrhunderts, das doch erst drei Jahre alt war, schrieben mehrere Journalisten, es habe nicht immer so ausgesehen, als würde das Opfer einmal zu Ruhm gelangen. Andrew war 1820 geboren, der Spross einer angesehenen Familie aus Massachusetts, die während seiner Jugend in Schulden geriet. Das siebte von elf Kindern. Damals so unsichtbar, wie er es heute im New York des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist. Aber einzelne Dinge lassen sich noch immer finden, eine Kindheit verschwindet niemals ganz. Lebenszeugnisse dringen durch die Ritzen der Berichte, das Raunen eines nahenden Todes, die Pausen in den Nachrufen, finden Licht und Luft, um zu wachsen.

Schmächtig war Andrew. Knochig. Ein magerer Junge, still, aber stur, mit einem scheuen Selbstvertrauen, das wie Arroganz wirken mochte. Einer gefurchten Stirn, die ihn manchmal überlegen aussehen ließ. Der Neigung, die verdreckten Stiefel seiner Brüder, die sie Tag für Tag in einem wirren Durcheinander an der Tür zurückließen, in eine Ordnung zu bringen. Er hasste dieses Durcheinander und folgte allabendlich dem Drang, sie nach Größe und Art aufzureihen, ohne jemandem etwas davon zu sagen. Er war ein Junge, der mitunter zu weit für sein Alter zu sein schien, wie ein Onkel bemerkte, und stechender dreinblickte, als es gut für ihn sei. Er rieb sich das Kinn, wenn er nachdachte oder träumte, als versuchte er mit den Fingerspitzen die ersten Anzeichen des Barts hervorzuzaubern, der sein Gesicht später einmal schmücken sollte. Ein Kind mit einer ruhigen Weisheit in der Stimme, in seinem langsamen Lidschlag. Und gelegentlich schien Erheiterung die schmalen Lippen zu kräuseln – als hielte sich der kleine Dreckskerl für etwas Besseres. Er zeichnete gern. Notierte sich allerlei Dinge. Erfand Namen für eingebildete Freunde und Orte, Städte, die bis heute auf keiner Karte zu finden sind: Fernfoss, Skystead, Dignidale. Seine Familie fürchtete, ihn könnte eines Tages die Katastrophe ereilen, sich dem Dichtertum zu ergeben.

Einige dachten, seine Merkwürdigkeit lasse sich darauf zurückführen, dass er das Licht der Welt in einem Schaltjahr erblickt hatte. Hatte diese kalendarische Laune Einfluss auf seinen Charakter genommen und ihn mit einer subtilen Selbstgenügsamkeit ausgestattet wie einen Baum, der einen Blitzschlag überlebt hatte? Als Junge war er dafür bekannt, niemals zu weinen, wenn er von seinen Brüdern geschlagen wurde, aber er sah immer leicht verloren aus, desorientiert, mit einem Nachhall Unschuld im Blick, als wäre er ins falsche Jahrhundert geboren, in die falsche Familie, den falschen Körper. Es dauerte einige Jahre, bis eine einfachere Erklärung gefunden wurde: Seine Augen waren schlecht, er war weitsichtig. Für die unmittelbare, traute Wirklichkeit brauchte er eine Brille.

Ihm war nicht erlaubt, die Schule in Worcester durchgängig zu besuchen. Seine Kraft wurde auf Green Hill, der Farm der Familie, benötigt. Er lernte formvollendet einen Hühnerstall auszumisten. Er leistete seinen Anteil bei der Getreideernte, am Pflug, beim Heumachen, beim Pflücken und Einlagern von Obst, beim Jagen, Fischen, Nüssesammeln und bei der Vorbereitung der Waren für den Markt. All diese Aufgaben erledigte er schnell und mit fester Hand, aber dennoch verträumt, wie man ihm sagte, was er mit umso größerer Produktivität auszugleichen versuchte.

Andrew war nicht unglücklich damit, bei Tagesanbruch die Schweine mit einer Mischung aus Kartoffeln, Essensresten, Korn, kaltem Wasser und Mostäpfeln zu füttern. Die wahre Freude jedes Tages aber waren die zwei freien Stunden am Nachmittag. Diese Zeit der Erholung nutzte Andrew, um allein auf Bäume zu klettern, allein hoch in den Ästen zu sitzen, allein die Landschaft zu zeichnen, die er sah, und dabei alle möglichen Details zu erfinden, die nicht zu sehen waren. Die Lücken zwischen den Tatsachen zu füllen.

Er begann sich daran zu stören und schließlich darüber zu ärgern, wie sein Vater das Land aufgeteilt hatte. Er glaubte eine bessere Möglichkeit zu sehen, einen schöneren, aber auch ertragreicheren Plan, und so zeichnete er verschiedene Lösungen in seine Notizbücher, strich sie mit einer klaren Linie durch und begann von Neuem. Als er seinem Vater schließlich den besten Plan zeigte, lehrte ihn dessen Lachen, in Zukunft dergleichen nicht wieder zu tun. Doch dann, nachdem einige Zeit verstrichen war, sah er, dass der Pferch für die Schafe hinters Haus verlegt wurde, genau wie er es auf seinen Skizzen vorgeschlagen hatte, damit die Schafe besser vor Wind geschützt waren und sich frei zwischen Hell und Dunkel hin und her bewegen konnten, was die Tiere, wie Andrew festgestellt hatte, genossen.

Nach der Sonntagsmesse entfloh er gerne seinen Geschwistern und unternahm lange Wanderungen in die Umgegend. Manchmal lief er bis Auburn, Leicester, Paxton, Holden, Rutland, Princeton, Harvard, Boylston, West Boylston, Shrewsbury und Graf‌ton. Gerieten seine Abenteuer besonders lang, schlief er in Scheunen oder auf mondbeleuchteten Feldern, sprang auf Karren, wenn es die Entfernung verlangte. Dieses Gefühl von Reisespannung in den Zähnen, eine ganze Welt wollte entdeckt werden. Als ihn sein einziger wahrer Schulfreund, Samuel Allen, fragte, ob er ihn bei seinem nächsten Abenteuer begleiten könne – ich leiste dir Gesellschaft, Andrew, wir ziehen zusammen los! –, spürte er, wie sein Lächeln zusammenschmolz. Allein schon die Frage reichte aus, um sich beraubt zu fühlen. Er kam nicht dagegen an. Wandern konnte er nur allein. Es war etwas Wertvolles, das er nicht mit Gerede verderben wollte. Er lief, bis sich seine Zehen verkrampf‌ten und bluteten, seine Fußsohlen schmerzten und die Beine wie mit Sand gefüllt waren. Er lief, bis er sich vor Müdigkeit mit dem Gesicht voran in wunderbares Stroh fallen ließ, bis ihn die Vögel mit hässlichen Liedern aufweckten, ihn seine Gedanken mit sich forttrugen – ständig taten sie das – und die Kirchenglocke fünfmal schlug und es Zeit war, die Schweine zu füttern. Er lief, bis er aufhörte, sich zu fragen, warum sich seine Eltern nicht sorgten, wohin er laufen mochte. Wenn er am Montagmorgen rechtzeitig zu Hause war, um den jüngeren Geschwistern das Frühstück zu machen, die Aufmerksamkeit durch Schlaf‌losigkeit geschärft, als wäre das Wachsein ein Zug, der sich durch Gewohnheit bildet, wie eine Toleranz gegen bestimmte Gifte oder die Fähigkeit zu klettern, schien niemand etwas dagegen zu haben. Morgens versuchte er, die Miene seines Vaters zu entschlüsseln und Zuneigung unter der sonnenverbrannten Haut auszumachen.

Mit elf bestieg er den Wachusett Mountain. In einem Splitter Sonnenlicht auf dem Gipfel sitzend, aß er einen Apfel. Bedächtig. Ließ Stimmen durch seine Gedanken dringen. Hör das Grinsen auf. Verhalte dich wie ein Mann. Eine Axt hält man wie eine Axt.

Und doch wurde das strenge Gesicht seines Vaters von Zeit zu Zeit weicher, und er nahm Andrew in den Arm und küsste ihn aufs Ohr, die gewohnte Distanz zerfiel, und ohne weiteres Zutun stellte sich Nähe sein. Das waren die besten Momente, wenn der Vater betrunken, aber nicht zu betrunken war.

Manchmal betrachtete Andrew ihn, die gerötete Haut, die verbrannten Lippen, roch den zweitschlechtesten Wein aus dem Schrank und dachte: Ich kann die Dinge nur so machen, wie ich sie mache. Das laut zu sagen wäre jedoch zu viel gewesen, und so tat er sein Bestes, sich zu ändern. Er wusste die Axt wirksamer einzusetzen als seine Brüder, trieb sie schneller, tiefer und ausdauernder ins Holz, begann jedoch zu begreifen, dass die Erwachsenen weitgehend blind für das Ergebnis waren. Für sie war alles eine Frage der Methode. Die ganze Welt achtete nur auf das Wie, den Stil – und seiner war offensichtlich weibisch.

In einer normalen Woche schlug ihn sein Vater für gewöhnlich nur einmal, in einem durch seine Trinkerei verursachten oder freigesetzten Gewaltausbruch. Deshalb konnte er den Schlag mit dem Handrücken oft schon kommen sehen und ihm ausweichen. Der kantige Grat des Eherings war der Grund, dass mitunter Blut floss, dennoch musste man es von Zeit zu Zeit geschehen lassen, denn nichts macht wütender als Anstrengung, die ins Leere läuft. Das spürte Andrew schon damals.

Seine Mutter starb, als er zwölf war. Er wollte kein Mitleid, er wollte sie nur zurück. Eines Tages bekam sie Fieber, dann war es vorbei. Eine seiner Schwestern fand ihren toten Körper im Bett. In späteren Jahren gab es Auseinandersetzungen darum, wer als Erstes begriffen hatte, dass sie wirklich tot war. Jedes ihrer Kinder erinnerte sich anders daran, sodass ihr Tod den Geist eines winzigen Mythos annahm. Eine Welt verschiedener Perspektiven ohne festes Zentrum.

Als an jenem Tag seines dreizehnten Lebensjahres die Reihe an ihn kam, das Schlafzimmer zu betreten, war sein erster Gedanke, dass die Luft nach saurer Milch roch. Der zweite, dass sie beide, er und seine Mutter, niemals wieder miteinander würden reden können.

Es war nicht ihr kaltes Gesicht, das so erschreckend war. Es war der Umstand ihres Schweigens. Dass all ihre Gespräche damit beendet waren – diese Erkenntnis ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Niemals wieder würde er morgens in ihr Bett klettern und sich an sie drängen dürfen, wenn er sagte, dass ihm kalt sei. Niemals wieder würde der Hund, der einfach nur Dog hieß, mit aufs Bett springen, sich mit Brot vom Vortag füttern und sich Dinge beibringen lassen, die Andrew in der Schule gelernt hatte. Andrew, der Lehrer, der das Tier unterrichtete, während seine Mutter lächelnd zusah. Manchmal bellte der Hund zweimal, wenn er eins und eins zusammenzählen sollte. Dann wieder machte er Fehler, die ihm vergeben wurden.

In den Monaten nach ihrem Tod sprach Andrew kaum etwas, wenigstens hieß es das später. Auch in seiner tiefsten Trauer fand er Worte, aber seine Zuhörer schienen ihrer nicht würdig. Die Trauer kehrte ihn in sich. Seine Gedanken hüpf‌ten wie ein Kind auf heißem Sand zwischen dicht gedrängten Eindrücken aus der Vergangenheit hin und her. Sein Schweigen war keine bewusste Entscheidung, nicht wirklich, doch mit der Zeit erschien es ihm wie ein Entschluss, wie der Versuch, der Mutter wieder näherzukommen, ihrem Zustand, einer Abwesenheit, die noch intensiver war, als wenn sie da wäre. Kurz überlegte er, ob er sich im Fluss ertränken sollte, doch was, wenn sie plötzlich nachts zu ihm sprechen wollte? Es würden bessere Jahre kommen. Es würde lange dauern, zu ihnen hinzuschwimmen. Erst war er nicht sicher, ob er die Kraft dafür hatte. Der Durchbruch kam, als er begriff, dass es Tage geben würde, an denen er sie hatte, diese Kraft, und andere, an denen sie ihm fehlte. Tage, an denen das Wasser, koste es, was es wolle, zu meiden war, und andere, um einzutauchen. Furchtlos.

Sein Vater sorgte bald schon für Ersatz. Das konnte man ihm nicht vorwerfen, der Haushalt wollte geführt werden, aber war es nötig, wirklich nötig, insgesamt viermal zu heiraten? Andrew sah früher als die meisten, wie sich eine Familie selbst ihrer Mitglieder berauben kann. Neue Mütter kamen, um die alten zu ersetzen, brachten Halbgeschwister mit, Kaninchen, neue Cousins und Cousinen, Begierden, heranwachsende, um Atemluft konkurrierende Körper. Die meisten Frauen, die in Vaters Leben traten, behandelten Andrew mit der gleichen kühlen Zurückhaltung, die sie auch den Schafen, den Schweinen und dem Unkraut zuteilwerden ließen, und das war in Ordnung. In seinem dreizehnten Lebensjahr beschloss Andrew, gegenüber allen in seiner Umgebung jederzeit so zu tun, als ginge es ihm bestens. Komischerweise funktionierte es – bei ihnen und bei sich. Er stellte fest, dass sich echter Schwung daraus gewinnen ließ, sich voller Schwung zu zeigen.

Das Haus, in dem er aufwuchs, war einfach, aus Holz und stand an einem wenig frequentierten Weg. Es hatte zwei Stockwerke, aber niedrige Räume, war im Übrigen ansehnlich groß und durch einen Schornstein von unnötiger Größe verankert, der je nach Lichteinfall aussah wie eine Treppe, die hinauf in den Himmel wollte. Blinzelte man ins helle Sonnenlicht, konnte man den Eindruck haben, das Haus stünde auf dem Kopf. An seinem vierzehnten Geburtstag starrte er es an, als hätte er es nie zuvor gesehen. Blinzelte. Fragte sich, ob es Häuser gab, funktional, aber doch eindrucksvoll, in denen es sich besser wohnen ließ. Und er dachte, dass er womöglich Baumeister werden wollte.

Was sonst aus seiner Vergangenheit mochte den Lesern der New York Times nicht mitgeteilt worden sein? Vielleicht, dass er seine älteste Schwester Lucy aus drei Gründen unter seinen Geschwistern am liebsten mochte: Sie schlug ihn nicht wie seine Brüder, wenn er die Schuhe bei der Tür ordentlich aufreihte, sie sagte die Wahrheit, wann immer es darauf ankam, und irgendwie war sie Massachusetts entkommen. Aber eines Tages schrieb sie ihrem Vater einen Brief, in dem sie ihre Befürchtung äußerte, aus ihrem kleinen Bruder Andrew werde vielleicht nie ein eleganter Mann, wegen seiner Abneigung gegen das Lesen.

Als er den Brief auf dem Tisch seines Vaters fand, spürte er Hitze in seinem Hals aufsteigen, eine Scham in seinem Bauch, die nie ganz abkühlen sollte. Andrew beschloss, sich der Welt der Bücher zuzuwenden, Tag und Nacht, damit er nicht zu dem wurde, was seine Schwester befürchtete. Und das trotz der Probleme mit seinen Augen, dem cremigen Nebel, in den alles in seiner direkten Nähe gehüllt war, trotz der Kopfschmerzen, die ihm das Lesen bei Kerzenlicht bereitete. Er entwickelte die Gewohnheit, fünf Seiten vom Beginn eines Buches zu lesen, dann die fünf letzten, vorne weitere fünf und wieder fünf hinten, bis er sich die Handlung in der Mitte grob zusammenreimen konnte.

Es war das eine, kein männlicher Mann zu sein, die Axt nicht auf eine bestimmte Weise zu halten, aber wenn er stattdessen kein eleganter Mann werden konnte, was blieb dann noch?

Unter seinem Bett stand eine Schachtel mit Blättern, die er auf seinen Wanderungen gesammelt hatte. Von Englischen Ulmen. Tulpenbäumen. Linde und Ahorn. Eichen. Er konnte genau sagen, wo und in welche Richtung das jeweilige Blatt an seinem Baum gewachsen war, bevor er es gepflückt hatte, er wusste aber noch nicht, warum das so war oder wozu die Mittelrippe und die Adern dienten. Er nahm die ersten Regungen des Verlangens wahr, sich in eine neue Person zu verwandeln, jene besondere amerikanische Lust auf die Zukunft, die selbst heute noch so viele junge Menschen heimsucht. Aber tief in seinem Inneren spürte Andrew etwas noch Alarmierenderes: das Verlangen nach Schönheit, von dem er wusste, dass er es wahrscheinlich verstecken oder auslöschen sollte, ging er doch davon aus, dass ihm sein Leben keine Möglichkeit bieten würde, es zu befriedigen.

3Gate of All Saints

Jeder Mord verlangt einen Mörder, so wie ein Ei einen Löffel oder ein Messer. Die dünne weiße Schale hätte keinen Sinn, gehörte ihr Zerbrechen nicht mit zum Plan.

Kurz vor halb zwei am Nachmittag jenes Freitags, des 13. November 1903, erreichte Andrew sein Haus, die Nummer 91. Mittlerweile freute er sich sehr auf das Mittagessen. Er hatte seine Hand am Tor und dachte an gekochte Eier, als er einen Fremden an der Ecke von 40th Street und Park Avenue auf und ab gehen sah. Eine schwarze Melone saß seltsam schief auf dem Kopf des Mannes, der immer wieder auf seine Taschenuhr sah mit der bedrückten Anspannung von jemandem, der schon viel zu lange auf seinen Einsatz wartete. Dann hob er den Blick. Entdeckte Andrew. Er lächelte, winkte und begann in Andrews Richtung zu laufen.

Der Mann wirkte vollkommen gelassen, während er näher kam, ordentlich in einen dunklen Anzug gekleidet. Etwa einszweiundsiebzig groß. Dunkle Haut. Leicht angegrauter Schnauzbart. Andrew sah durch die frische Perspektive größerer Nähe, dass ihm die Melone zu klein war und deshalb etwas schief weit oben auf dem Kopf saß. Als der Mann stehen blieb, rückte er sie auf irgendwie befangene Art zurecht – wenigstens sah es für den ebenfalls etwas befangenen Andrew so aus.

Andrew glaubte einen Anflug von Wärme im Blick des Mannes erkennen zu können – den Wunsch, mehr zu übermitteln, als die Gelegenheit erlauben mochte? –, und so fragte er nach einer kurzen, misslichen Pause: Hallo, kenne ich Sie?

Das tun Sie, sagte der Mann.

Sie starrten einander ungewöhnlich lange an. Andrew begann sich zu fragen, was sich der Fremde wohl von ihm erwartete. Einem gewissen Teil der Öffentlichkeit gefiel es, sich als Teil von Andrews Leben zu sehen. Das kannten wohl die meisten Vertreter des öffentlichen Lebens in dieser Stadt, aber er konnte sich einfach nicht an das Gefühl gewöhnen, gesehen, taxiert, eingeschätzt und beurteilt zu werden, von den Sichtweisen anderer Leute vereinnahmt und entstellt, ganz gleich, wie positiv oder negativ diese Sichtweisen sein mochten und wie behutsam sie angewandt wurden. Fremde formten sich ihre eigene Vorstellung von ihm und gaben ihrer Schöpfung dann seinen Namen. Sie verbannten ihn aus seinem Universum, um ihn zu einem Kleindarsteller in ihrer eigenen Welt zu machen. Sie sprachen ihn auf der Straße an und sagten Dinge wie: Andrew Green, Sie haben diese Stadt ruiniert!, oder: Mr. Green, Sie haben uns groß gemacht! Lob und Tadel tropf‌ten auf exakt die gleiche Weise von ihm ab, auch wenn er zugegebenermaßen den freundlichen Kitzel des Ersteren vorzog. Alle wollten ihm ständig seine Erfolge und Verfehlungen erklären, alle hatten eine Meinung zu ihm, es war, als fürchteten sie, ihre Gedanken unausgesprochen zu lassen, bedeute eine Art Tod oder einen Todesgrund, dass sie auf der Stelle ihr Leben aushauchen würden, wenn sie nicht redeten, redeten, redeten. Und jetzt trat der Fremde mit der Melone näher, immer näher, so nahe, dass Andrew seinen Atem riechen konnte – Minze, Zitrone, angenehm –, während zwei Droschkenfahrer in einem kühlen Sonnenflecken auf der anderen Straßenseite laut darüber debattierten, ob Jimmy Sheckards beste Tage im Baseball hinter ihm lagen oder erst noch kamen.

Kenne ich diesen Mann tatsächlich?, dachte Andrew jetzt. Täusche ich mich, wenn ich denke, dass ich ihn noch nie gesehen habe? Ich vergesse keine Gesichter. Ich fühle mich nicht wie ein alter Mann, der Gesichter vergisst. Und doch …

Er hasste die Vorstellung, dass er womöglich langsam die Fähigkeit verlor, andere Leute in Erinnerung zu behalten: Nachbarn, Politiker, Protagonisten sinnloser Sportarten. Wollte ihm dieser Mann mit seiner zu kleinen Melone etwas nehmen, das über seine Erinnerung hinausging?

Andrew wich dem eindringlichen Blick des Fremden aus, indem er sich auf eine Stelle über dessen rechtem Ohr konzentrierte. Das war ein alter Trick aus der Kindheit. Eine Möglichkeit, seine Beschämung und Angst zu kontrollieren, wenn ihn sein Vater zur Rede stellte. Und in diesem Moment vorübergehender Ruhe beschloss Andrew, sich von diesem Mann zu verabschieden, sich abzuwenden und endlich durchs Tor und in sein Haus zu gehen. Aber noch hielt ihn etwas zurück, eine seltsame Unsicherheit. Er war nicht Herr seines Körpers, geschweige denn seines Schicksals, doch was ihn innehalten ließ, schien eine Mischung aus zwei Regungen zu sein, die beide mitunter als unwesentlich abgetan wurden: Nervosität und Neugier. Er war nervös, weil er nicht wusste, was der Mann tun würde, wenn er ihm den Rücken zukehrte, aber auch, weil er damit jemanden vor den Kopf stieß, der aller Wahrscheinlichkeit nach ein wohlmeinender Fremder war. Neugierig, was der Mann wohl sagen würde, wenn er mehr Zeit bekam, aber auch darauf, wie lange das Schweigen zwischen ihnen andauern würde. Und vielleicht gab es noch andere Faktoren. Dass er den Höhepunkt eines Lebens voller ausgebliebener Nähe erreicht hatte. Das Verlangen, spät im Leben die Dinge zu Ende zu bringen, wie düster dieses Ende auch aussehen mochte. Ab einem gewissen Alter vergessen wir, uns vor den Leuten zu fürchten. Stattdessen graut uns vor ihrer Abwesenheit.

Eine Wolkenlücke warf Sonnenlicht auf den Boden zwischen ihnen, und Andrew bemerkte einen Schmutzfleck auf dem ansonsten glänzenden Schuh des Mannes. Er musste alle Willenskraft dieser Welt aufwenden, um sich nicht hinzuknien und ihn wegzuwischen. Was für ein Drang war das bloß, fragte er sich. Was sagte es über ihn aus, dieses ständige Bedürfnis, Zeichen von Schmutz zu beseitigen, bei sich und bei anderen?

Vor dem Murray Hill Hotel auf der anderen Straßenseite parkten mehrere Droschken. Einige der Fahrer saßen auf ihren Böcken und lasen womöglich die Rennergebnisse. Andere standen auf dem Gehweg und unterhielten sich. Jetzt sahen immer mehr von ihnen auf und nahmen die seltsame Verbindung zwischen Andrew und dem Mann mit der Melone in den Blick. Fürchteten sie um seine Sicherheit? Wussten sie vielleicht im Gegensatz zu ihm, dass dieser Mann ein, sagen wir, im Viertel bekannter Dieb war? Fragten sich alle, wie viel Geld Andrew Haswell Green heute bei sich hatte und wie schnell er überzeugt werden konnte, sich davon zu trennen? Er war für seine Großzügigkeit bei wohltätigen Zwecken bekannt, galt ansonsten aber als sparsamer alter Junggeselle, und bei einem Vorfall im letzten Jahr, über den in der Nachbarschaft noch immer geredet wurde, hatte er im El-Train einen angehenden Dieb mit dem Schirm bearbeitet, bis der junge Mann die Flucht ergriff. Die Schlagzeile in der Sun lautete: Berühmter Vater von Greater New York schlägt Räuber in die Flucht: A.H. Green setzt sich erfolgreich mit Schirm zur Wehr. (Gerettete Dollar: zwei.)

Der Fremde rückte ein weiteres Mal seine Melone zurecht. Dann sagte er, leise und klar: Sagen Sie mir, wo sie ist, Mr. Green.

Und Andrew verspürte plötzlich – ein Fehler – Ärger, Wut, fühlte sich belästigt, war es leid, denn diese ganze Sache schien genau die Art Missverständnis zu sein, die sich auswachsen und den halben Tag beanspruchen konnte. Also sagte er: Wer sind Sie überhaupt? Und wer ist sie? Es könnte helfen, sich etwas genauer auszudrücken.

Der letzte Satz kam nicht gut an. Der Mann seufzte tief, als hätte er etwas abgewägt und nun eine Entscheidung getroffen. Und Andrew, nervös, wie er war, erkannte seinen Fehler, sah erneut zu Boden und sagte automatisch: Sie haben da …

Ja?, sagte der Mann.

Schmutz. Auf Ihrem Schuh.

Der Mann mit der Melone zog die Brauen zusammen. Blickte auf seine Schuhe, sah den Fleck. Dann blies er die Brust auf, als versuchte er, seinen verletzten Stolz wieder aufzurichten, und griff nach etwas in seiner Tasche – etwas Schwerem, ein erstes metallisches Glitzern in der Sonne? –, bis ihn ein Geräusch von der Straße zum Innehalten zu bringen schien.

Es war Mrs. Bray.

Andrew war so dankbar, sie zu sehen!

Und dann verwandelte sich seine Dankbarkeit in Angst um ihre Sicherheit. Sie pfiff vor sich hin, während sie von wo immer sie gewesen war zurückkam, vielleicht von einem Gespräch mit, wie war das Wort noch, dem Direktor des Soundso über den Auf‌tritt ihrer Tochter am nächsten Abend. Mrs. Bray wurde langsamer, als sie näher kam, und starrte den Fremden an. Schien den Ausdruck des Mannes entschlüsseln zu wollen – vielleicht erkannte sie ihn oder wollte es nur? Das Weiß ihrer Augen leuchtete hell wie Papier, als saubere kleine Unterbrechung im Text des Tages, und aus einem Päckchen unter ihrem schräg abgewinkelten linken Arm wehte ein fürchterlicher Geruch herüber.

Mr. Green?, sagte sie. Julia hat mich gebeten, Fisch für Ihr –

Gehen Sie hinein, Mrs. Bray.

Mit wachsendem Bedauern verfolgte er, dass Mrs. Bray zum ersten Mal seit Menschengedenken tat, was ihr gesagt wurde. Sie steckte ihren Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür, und die Wärme des Hauses begrüßte ihre alternde Haut. All die hellen Zimmer, in denen alte Dinge dösten, die gläsernen Figurinen und schweren Bücher, die Karten und Zeichnungen an den Wänden, die gerahmten Seiten des Greensward-Plans, so viele Junggesellenflächen, die zu wischen und zu fegen waren, und Mrs. Bray ihrerseits hatte mit einem Mal das seltsame Gefühl, mitten im Geschehen zu sein, eine Ahnung, dass die Ereignisse sich gleich zu ihrer Perspektive hinwenden würden. Einen Moment später hörte sie fünf Schüsse und wusste ohne jeden Zweifel, dass er tot war.

Unten an der Treppe stand der Mann mit der Melone und hielt eine Pistole in der Hand – eine mit einer Trommel, wie Mrs. Bray sah. Mr. Green lag auf der Erde, das Gesicht zum Himmel gewandt.

Der kaltherzige Mr. Green … so mürrisch … Ein Mann, für den Sie sich sicher nie erwärmt haben, Mrs. Bray.

Solche Dinge hatte man ihr über ihren Arbeitgeber gesagt. Aber jetzt wirkte er, perverserweise, warmherziger und zugänglicher als je zuvor. Zumindest würde sie so im Nachhinein seinen letzten Gesichtsausdruck vor sich sehen. Seine Miene war die eines alten Mannes, der bei einer Aufgabe unterbrochen worden war oder einen Witz mitzuhören versuchte, der zu weit entfernt erzählt wurde. Die rechte Hand versuchte die Augen zu beschatten, als wäre es das Sonnenlicht, das ihm das Leben nahm. Blut war in seinem weißen Bart und auf seinem Hemd, aber – ein kleiner Trost – seine hübsche smaragdgrüne Krawatte hatte offenbar nichts abbekommen. Er besaß ein Dutzend von ihnen, alle in anderen Farben, als gäbe ihm diese eine Konzession an das Lichte, Helle, an die Vorstellung, sich so der Öffentlichkeit zu präsentieren, ein besseres Gefühl, wenn es darum ging, andere Aspekte seiner selbst im Dunkeln zu halten.

Mrs. Bray fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Die Stufen hinunterzufallen und vor den Füßen des Mörders zu landen. Gleichzeitig jedoch registrierte sie jede Einzelheit. Der Mörder ihres Arbeitgebers starrte zu ihr hinauf. Seine Tat schien ihn zu verwirren.

In genau diesem Moment kam ein Straßenschwein um die Ecke gerannt, womöglich vom Geruch des Blutes angelockt. Und oh, dem Tier war die Frage des Motivs völlig egal! Das, entschied Mrs. Bray später, gab ihm eine solche Energie. Die wahre Grausamkeit des Todes bestand nicht in der Art, wie die eigenen obszönen Träume verblassten, sondern darin, dass einem die Möglichkeit genommen wurde, seine Geschichte zu erzählen. Die Tiere kamen gelaufen und stimmten nie darin überein, was sie sahen, denn die Vergangenheit war ebenso sehr ein Produkt der Fantasie wie die Zukunft.

Die Pistole, hörte Mrs. Bray sich sagen.

Sie stellte fest, dass ihr Zeigefinger auf die Erde deutete.

Der Mörder runzelte die Stirn. Er richtete seinen Revolver auf ihren Kopf, ihre Brust und dann auf ihr linkes Bein, das ihr besseres war. Schließlich, gerade als sie sich dem Tod ergeben wollte, legte er seine Waffe sanft genau an die Stelle, auf die sie gezeigt hatte.

Später übergab sich Mrs. Bray ins Waschbecken. Später weinte sie und schrieb alles auf. In einem Brief an die Frau, die sie liebte, eine Mrs. Margaret R. Ellis, deren Mann die beiden nicht mehr zusammenkommen ließ, schrieb sie, was geschehen war, und gab den Ereignissen Form und Farbe. Komisch, wie man, wenn man einen Brief an eine wichtige Person schrieb, anfing, in den Strukturen des eigenen Berichts zu existieren, wie geschönte Einzelheiten durch das Erzählen wahr wurden. Mrs. Bray versuchte in ihrer Korrespondenz mit Mrs. Ellis nicht den Fall zu lösen. Sie wollte nur, was jeder Zeuge eines geschichtlichen Ereignisses will – sich versichern, wo sie im Mahlstrom des Schicksals stand.

Sie erschauderte. Meinte bereits den Geist von Mr. Green über sich schweben zu spüren. Die Kunst der Wahrsagerei war von den Chaldäern auf die Griechen übergegangen, von den Griechen auf die Etrusker und von ihnen auf die Lateiner, die Römer, und jetzt war Mrs. Bray klar, dass der Fluch der Voraussicht an diesem Freitag, dem Dreizehnten, hier bei ihr in der 91 Park Avenue behaust war. Sie sah voraus, dass die Flaggen an den öffentlichen Gebäuden auf Anweisung von Bürgermeister Low auf halbmast gesetzt werden würden, sah Mr. Greens Leiche in seinen besten Anzug gekleidet, damit sich die Beerdigungsgäste vorstellen konnten, er wäre freiwillig zugegen. Sie sah, dass Präsident Roosevelt den Verschiedenen unter trübem Himmel ehren würde, sah die Überreste eines Totenmahles in dessen Walrossbart und wie er sich auf die Weste klopf‌te, als wollte er sichergehen, dass nicht er es war, den man erschossen hatte.

4Boys’ Gate

Kurz vor Andrews fünfzehntem Geburtstag geschahen zwei Wunder: Das Geschenk einer Brille verbesserte sein Sehvermögen, und sein Freund Samuel Allen stahl eine Wagenladung Wein. Der Wein war rot und schmeckte auch so. Sam hatte ihn von einem Onkel, der ein Geschäft mit einem anachronistischen Namen führte, den sich außer dem Eigentümer niemand merken konnte. Dieser Mann, erkannte Andrew, war ein so begeisterter Konsument der eigenen Ware, dass die Bestandsaufnahme der Flaschen weniger eine Wissenschaft als eine Kunst war, ein äußerst fließender Prozess, bei dem er in letzter Zeit seinem jungen Neffen (um seine Probleme auszuklammern) einigen Einfluss eingeräumt hatte.

Ein Augustabend. Der Mond war so voll wie ihre Köpfe mit Wein. Käfer brummten, Grillen zirpten, eine Kröte oder ein Mittsommerfrosch quakte, am Himmel mochte sich eine Nachteule zeigen. All das erfüllte die Abendluft, während sich Blumen in der verbliebenen Hitze wiegten – es waren die Art Einzelheiten, an die man sich später erinnerte, viel später, im Hunger und Herzschmerz der Rückschau, oder man dachte sie dazu. Er und Sam Allen spielten auf der Wiese hinter dem Haus der Allens und traten die letzte Glut eines Feuers aus. Dann entbrannte ein Streit darüber, wer am schnellsten auf einen Baum geklettert war, und plötzlich kämpf‌ten die beiden und wälzten sich auf einem Stück nackter Erde, wo einmal ein anderes Feuer gebrannt hatte, keuchend, lachend, und Andrew atmete den Duft der sonnengetränkten Haut seines Freundes ein, voller Verlangen nach Luft und Erleichterung, nach einer Nacht, die diesem herrlich warmen Tag gerecht wurde, juliverbrannte Lippen und weinbelebter Atem. Er hatte mehr getrunken als je zuvor in seinem Leben – wenigstens zwei Tassen, vielleicht sogar drei? –, was ihn benommen gemacht hatte, der Wein, Sams Hemd war jetzt halb offen, seine Brust, dieser Knochen mit seinem harten Namen, Klavikel?, das Schlüsselbein, und Andrew spürte einen seltsamen Ausbruch von Wonne in seinem Herzen, einen Rausch, wie er ihn seit Jahren, seit seine Mutter dahingeschieden war, nicht erlebt hatte.

Er saß auf Sam Allen, drückte die Hände seines Freundes in den Sand, sah in die grünen ihn unverwandt anblickenden Augen in dem breiten, schönen Gesicht und dachte, Abscheu oder Verlangen? In welchem Verhältnis spürte Sam in diesem Moment diese verwandten Gefühle? Andrew konnte es nicht sehen, er wusste es nicht, weil er die neue Brille verloren hatte.

Wo war seine Brille? Einen Moment lang war es ihm egal. Er war ganz von der Erregung erfüllt, die in den Sekunden aufblüht, bevor Zurückweisung oder Zustimmung erfolgt.

Was die Welt vergrößert, verkleinert gleichzeitig die Person, deren Sehkraft davon profitiert. Ihr alter Hausarzt hatte ihn vor Monaten davor gewarnt, die Brille länger als eine Stunde am Tag zu tragen, da die Art, wie sie die gottgegebene Sicht korrigiere, wie sie die Schwäche der Augen ausgleiche, sonst mit der Zeit eine absolut vernichtende Wirkung auf die Sehkraft des jungen Mannes haben werde. Und jetzt hatte er sie vielleicht schon zu lange getragen, denn nun, da er sie verloren hatte, sah er nicht mehr, wo sie sein konnte. Außer, oh, da war sie, bei der Asche des Feuers, in dem Sam und er vor nur einer Stunde groteske Zeichnungen von Mädchen verbrannt hatten, von der Redman zum Beispiel, davon, wie sie sich ihre furchterregenden weiblichen Öffnungen und dubiosen Stellen ausmalten. Sie zeigte sie her, wenn man sie fragte, aber das trauten sie sich nicht. Oder waren vielleicht nicht interessiert genug.

Als er sich auf seine weinweichen Beine erhob, um die Brille zu holen, stellte er überrascht fest, dass Sam die Augen geschlossen hatte. Und so kam er, so absurd ihm alles schien, mit klarerem Blick zurück, um sich neben den Freund zu legen.

Jeder Atemzug war eine Welt. Er spürte, wie es seine Lippen zu Sams Ohr zog, oder der Stelle darüber – ob er damit einem Zwang oder einer Neigung folgte, er konnte es nicht genau sagen.

Dann eine Gewissheit. Das klare, unverwechselbare Gefühl, von ferne beobachtet zu werden, als er die Nase in Sams Ohr grub. Und jetzt öffneten sich Sams Augen, öffneten sich schreckensweit, und Sams Mund ebenfalls – die Lippen rot vom Blut –, und er sagte: Was machst du da? Was …

Machst du. Sam stieß ihn weg. Stieß ihn. Und erst da wandte Andrew den Kopf und entdeckte sie: Sams Mutter im Fenster mit einer Kerze in der Hand. Sah Entsetzen in ihrem Gesicht aufflackern. Das Flattern des Vorhangs, und weg.

Er hatte es gewusst, oder? Dass da jemand war, oder sein konnte. Eine Sekunde lang, sogar eine Minute, währenddessen, oder vorher. Fast war es so, als hätte er gesehen werden wollen, mit den Lippen so nahe an Sams Haut. Als hätte er beschlossen, ein Erwachsener zu werden, hätte die vernichtende Wirkung auf seine Unreife und Jugend erzwingen wollen. Als wüsste er bereits, dass das Leben, mehr als alles andere, darauf hinausläuft, sich einen Zeugen zu verschaffen. Aber vielleicht war er auch einfach nur betrunken.

 

Mehrere Wochen fiel nicht ein Wort darüber. Andrew bewahrte den Vorfall in seinem Bauch, eine sich windende Demütigung, von der er sich nicht zu befreien vermochte, und als er beschloss, einfach nicht mehr daran zu denken, tat er es natürlich umso mehr. Dann eines Abends, als sein Vater in seinem Sessel döste, scheinbar am Rand des Schlafes entlangtrieb, kamen die Worte. Es war, als hörte er einen Toten reden, jemanden, der endlich sagen konnte, was er als Lebender nicht hatte sagen können, obwohl sein Vater doch zu stur und mürrisch war, um je zu sterben – ewig würde er leben, dachte Andrew.

Sein Vater sagte, die Augen immer noch geschlossen: Du bist nicht mehr mit dem Allen-Jungen befreundet.

Das Geräusch des Feuers. Das Knistern, das Glühen. Das Gesicht seines Vaters, die dicke, faltige Haut sah im Licht des Feuers unzerstörbar aus. Die Narbe auf seinem Handgelenk glänzte.

Andrew stellte fest, dass er nicht antworten konnte. Nicht schlucken, nicht denken konnte. Dann sprach sein Vater wieder:

Der Allen-Junge, seine Mutter. Sie hat von einem Kampf geredet.

Erleichterung. Ein Kampf, ein Kampf! Und da öffnete sein Vater die Augen und starrte ihn lange an. Lange genug, um die scheinbare Unschuld der Bemerkung zu untergraben, bis Andrew sah, wie sich seine leeren Augen wieder schlossen, genau wie sich Sams Augen an jenem Abend auf dem Feld geschlossen hatten. Im Schlaf trug Andrews Vater den bitteren Ausdruck im Gesicht, der ihn bald nach dem Tod seiner Frau befallen hatte, fast über Nacht, wie eine Krankheit, die alle für ein Lächeln benötigten Muskeln erschlaffen ließ – das war es, das ganze Geheimnis: Der Mann lächelte nicht mehr, nur noch aus Wut, und Andrew begriff, dass er sich geirrt hatte. Sein Vater würde eines Tages sterben, natürlich würde er das, und er würde Angst davor haben, allein zu sterben, wie es jeder tut, und darum würde er versuchen, andere mit sich mitzunehmen. Nur aus einem einzigen Grund würde er sein Ziel verfehlen: Er war nie ein guter Gesellschafter gewesen. Nicht mal die Schafe auf dem Feld folgten ihm.

 

In diesem Sommer verwandelte sich Andrews widerwillige Bereitschaft zu lesen dank der Brille in ein Vergnügen, dann in eine Besessenheit, wie es die meisten strengen Gewohnheiten am Ende tun. Aber dann verdunkelte der September das Grün in den Blättern, und eines Morgens fand seine neue Hingabe an die Literatur beim Frühstück ein jähes Ende. Sein Vater informierte ihn, dass er bald schon nach New York geschickt würde, um Geld zu verdienen und sich nützlich zu machen.

Andrew blinzelte. Suchte nach einem Lächeln in der Miene des Vaters. Musterte die bleichen, starren Gesichter seiner Geschwister. Es war eine Erleichterung – wenn auch keine große – zu sehen, dass sie so schockiert waren wie er.

Eine Lehre in einer Gemischtwarenhandlung ist arrangiert worden, sagte der Vater. Eine Firma namens … Hinsdale & Atkins, glaube ich.

Und während sein Vater weiterredete, beobachtete Andrew die träge Arbeit seiner Lippen, milchnass vom Glas an seiner Seite, und begriff, dass die Sache mit Sam Allen auf dem Feld mit seiner Verbannung zu tun hatte. Es war, als wäre jedes Wort eine Last, die aus dem Tal des väterlichen Mundes gerollt wurde.

Du wirst die Hälfte deines Lohnes nach Hause schicken, sagte sein Vater, und das wird …

Ein Huhn war in die Küche gekommen und pickte an der Schranktür herum.

Sein Vater warf einen Löffel nach dem Tier und verfehlte es.

 

In den folgenden Wochen begannen sich erste Anzeichen einer Verhärtung zu zeigen. Überzogen seine Haut. Seine Unschuld. Wie Narbengewebe auf einer Wunde – oder, um das Thema weniger erhaben weiterzuführen – Weinflecken auf einer Unterlippe? Er war es leid, sich wegen der Art zu schämen, wie er die Axt hielt. Für die Zeichnungen, die er draußen auf den Feldern machte. Für die Tatsache, dass er gegenwärtig kein großes Interesse an Mädchen hatte. Für seine angeblich feminine Handschrift.

Also gut, dachte er. Wenn du mich, deinen besten Arbeiter auf der Farm, verlieren willst, soll es so sein. Die Aussicht, wie sehr sein Vater seine Entscheidung bereuen würde, begann köstlich zu schmecken. Die Schonungslosigkeit, mit der ihm seine bevorstehende Lehre beim Frühstück im Beisein der ganzen Familie verkündet worden war, schmerzte nicht mehr, sondern nagte nur noch an ihm.

Er würde in die Stadt gehen, würde die Lehre antreten, als hätte er es sich so ausgesucht. Vielleicht gab es irgendwo in New York sogar eine Möglichkeit zu wandern und zu klettern. Die Möglichkeit, am Ende genug Geld nach Hause zu schicken, um vom Verstoßenen zum Retter zu werden! Er war sich nicht sicher. Er wusste nichts. Es war ihm wichtig und auch wieder nicht. Er hatte Angst. Nie erinnerte er sich, im Schlaf geweint zu haben, aber er wachte immer wieder mit nassen Wangen auf, selbst tief im Winter. Er war unschuldig, kannte kaum Begierden und spürte doch einen wilden Hunger in seinem Bauch heranwachsen. Es mochte schön sein, vielleicht sogar produktiv, sich in einen Geist zu verwandeln und neu zu beginnen.

Was er in jenen Jahren mitunter nachts spürte, war eine Art hilf‌loser Nostalgie, ein Gefühl, von dem er wusste, dass er es sich noch nicht verdient hatte. Dabei war es keine Sehnsucht nach vergangenen, bereits durchlebten Zeiten, sondern nach Versionen seiner selbst, die er noch nicht hatte sein können. So wenig er seine Familie hinter sich lassen und in einem Geschäft in New York arbeiten wollte, vielleicht erwies es sich – er zuckte zusammen, als sich der Gedanke in seinem Kopf bildete – als ein Tor in eine andere Art von Existenz?

Viel später im Leben kam Andrew zu dem Schluss, dass es seinem Vater, einem gescheiterten Anwalt, der kurz zu einem gescheiterten Essayisten wurde, bevor er sich dem Scheitern als Farmer zuwandte, nie an Intelligenz gefehlt hatte. Nein. Was ihm gefehlt hatte, war das Einfühlungsvermögen, um ein Verständnis für andere Leute zu entwickeln. Das und die Fähigkeit zu vergeben.

Sein Vater begriff nie, warum Andrew das, was seine Schwester in ihrem Brief geschrieben hatte, so tief getroffen hatte – ihre Einschätzung, dass er womöglich niemals ein eleganter Mann werden würde. Schließlich war er ein Junge, der nie übermäßig auf Beleidigungen und Strafen durch ihn, William Elijah Green, eine vermeintliche Respektsperson, reagiert hatte. Ein Junge, der sich in keiner Weise verletzt zeigte, als er ihn kurz vor seiner Verbannung nach New York daran erinnerte, dass er jegliche Bestrebungen, ein nobler Gentleman in der sogenannten Metropole zu werden, möglichst schnell vergessen solle, da ihm in dieser bitteren Welt ungerechter Wohlstandsverteilung als einzige Kategorie die eines Gentlemans ohne vier wesentliche Dinge zur Verfügung stehe.

Ohne Geld, sagte sein Vater. Ohne Vermögen. Ohne Witz.

Das sind drei, sagte Andrew.

Und ohne Manieren.

Fanden sich da im Blick seines Vaters, als er seine Feststellung beendete, nicht doch Anzeichen eines Lächelns? Liebe, ja, die spürte Andrew, aber ihr Glanz war schwer zu erkennen.

In den kommenden Jahren würde er überall danach suchen. Liebe, Liebe, Liebe. Als wäre es eine Münze, die man auf einem Feld oder in einem Park finden könnte. Als wäre sie ohne Verlust zu erlangen.

5Girls’ Gate

Auf der Polizeiwache in der East 35th Street musste Mrs. Bray über mehrere Stunden hinweg vor einer ständig wechselnden Zuhörerschaft von Beamten mit keinem, mittlerem oder äußerst starkem Mundgeruch die einfachen Fakten dessen wiederholen, was sie am Freitag, dem Dreizehnten, miterlebt hatte.

Bei der letzten dieser Vernehmungen war sie allein mit Inspector McClusky. Er hatte sich als der Leiter der Ermittlungen herausgestellt.