High Dive - Jonathan Lee - E-Book

High Dive E-Book

Jonathan Lee

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Brighton, Südengland 1984: Moose, ein ehemaliger Spitzensportler, der seine besten Zeiten längst hinter sich hat und nun als Hotelmanager im hiesigen Grand Hotel arbeitet, kann sein Glück kaum fassen: Das Grand wurde ausgewählt, Regierungschefin Margaret Thatcher sowie ihr gesamtes Kabinett für ein paar Tage zu beherbergen. Alles soll reibungslos klappen bei Ankunft der eisernen Lady in 24 Tagen. Mooses Tochter Freya, die gerade die Pubertät hinter sich hat und an der Rezeption sitzt, wird bis dahin ihre Manieren entdeckt, der Portier seinen Bourbonkonsum im Griff, und der Koch ein paar französische Gerichte auf der Pfanne haben, die gerade so en vogue sind, hofft Moose. Was er nicht ahnt: Soeben hat ein Mann unter dem Namen Roy Walsh in Zimmer 629 eingecheckt und dort eine Bombe platziert, die genau in 24 Tagen detonieren soll ... Jonathan Lee verwebt Fakten und Fiktion, Komödie und Tragödie zu einem eindringlichen Roman um Gewalt, Gewissen und Loyalität – von großer Aktualität.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 519

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Brighton, Südengland 1984: Moose, ein ehemaliger Spitzensportler, der seine besten Zeiten längst hinter sich hat und nun als Hotelmanager im hiesigen Grand Hotel arbeitet, kann sein Glück kaum fassen: Das Hotel wurde ausgewählt, Regierungschefin Margaret Thatcher sowie ihr gesamtes Kabinett für ein paar Tage zu beherbergen. Alles soll reibungslos klappen bei Ankunft der eisernen Lady in 24 Tagen. Mooses Tochter Freya, die an der Rezeption sitzt, wird bis dahin ihre Manieren entdeckt, der Portier seinen Bourbonkonsum im Griff, und der Koch ein paar französische Gerichte auf der Pfanne haben, die gerade so en vogue sind, hofft Moose. Was er nicht ahnt: Soeben hat ein Mann unter dem Namen Roy Walsh in Zimmer 629 eingecheckt und dort eine Bombe platziert, die genau in 24 Tagen detonieren soll ... Jonathan Lee verwebt Fakten und Fiktion, Komödie und Tragödie zu einem eindringlichen Roman um Gewalt, Gewissen und Loyalität – von großer Aktualität.

Zum Autor

Jonathan Lee, geboren 1981 in Surrey, studierte englische Literatur, lebte eine Zeitlang in Südamerika und arbeitete in einer Anwaltskanzlei in London. 2007 wurde er nach Tokio versetzt. Zurück in England ließ er sich beurlauben und schrieb seinen ersten Roman »Wer ist Mr Satoshi?«, der Leser und Presse gleichermaßen begeisterte. Inzwischen lebt Jonathan Lee in New York City, arbeitet nebenbei für das das Literaturmagazin A Public Space. Seine Texte und Geschichten erscheinen unter anderem in Granta, Tin House & Narrative, im Guernica Magazine und The Paris Review Daily; eine seiner Kurzgeschichten war auf der Longlist für den Sunday Times Short Story Award. Sein zweiter Roman »Joy« wird derzeit von der BBC verfilmt. Der Guardian nennt Jonathan Lee »eine bedeutende neue Stimme der englischen Literatur«.

Jonathan Lee

High Dive

Roman

Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »High Dive« bei William Heinemann, an imprint of Penguin Random House Ltd., London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright © 2015 by Jonathan Lee

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2018

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: picture alliance/empics

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-16352-5V002

www.btb-verlag.de

Inhalt

Initiation

ERSTER TEIL

Menschen im Naturzustand

ZWEITER TEIL

Flugphase

DRITTER TEIL

Abteilung Herz

VIERTER TEIL

Das Grand

Anmerkungen des Autors

Dank

Für Alfreda May Lee(1915 –1996)

… wie schwer es ist, nur eine Person zu bleiben, denn unser Haus steht offen, die Tür ist schlüssellos, und unsichtbare Gäste gehen ein und aus.

Czesław Miłosz, »Ars Poetica?«

Initiation

1978

Als Dan achtzehn war, holte ihn ein Mann, den er nicht kannte, zu einem Ausflug über die Grenze ab. Es war 1978, in der letzten Juniwoche, sechs Tage, nachdem die britische Armee an der Ballysillan Road drei Katholiken erschossen hatte. Im Auto roch es nach Essig von Fish and Chips, und der Mann mit der narbigen Glatze hatte zwei Witze auf Lager, einen über Brits und einen über Priester. Er schien Dan irgendwo in die Nähe von Clones zu bringen. Seine mächtigen, eckigen Finger trommelten aufs Lenkrad, und in seinen Augen blitzte manchmal Überraschung auf, wenn die Straße sich ihren Weg suchte. Er hatte ein enorm hässliches Blumenkohlohr, das er beim Fahren öfter berührte. Die dicht stehenden grauen Häuser des protestantischen Ulster machten Platz für Licht und Farbe. Hier konnte man den Wind spüren und das Gras riechen. Aus Fenstern von Bussen voller Derry-Fans flatterten rot-weiße Schals. Grün-weiß-goldene Fahnen hingen in Bäumen.

Der glatzköpfige Mann ließ einen prachtvollen Rülpser los, als er auf einen Feldweg abbog. Der Feldweg führte zu einer von Ulmen umgebenen Wiese. Dan sah Gänseblümchen, Heuballen. Das Glitzern einer Colaflasche im Unkraut. Jenseits der Flasche, in einem Schattenstreifen, parkte ein Land Rover.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte der Glatzkopf. »So ein Auto hält keiner an. Zu Weihnachten gönnt er sich vielleicht sogar einen Saracen.«

Dan schaffte es zu lächeln. »Dann ist das …«

»Was denn?«

»Das ist Mr McCartland, oder?«

»Oh«, sagte der Glatzkopf, »würd ich doch mal annehmen.« Den Gurt noch immer umgelegt, kramte er jetzt in seiner Jeanstasche, wobei sich sein bulliger Körper wand, als wäre er auf einem Folterstuhl gefangen. Doch alles, was seine Hand zutage förderte, war ein platt gedrücktes Päckchen Kaugummi. Er sah Dan an und lachte. »Hätte dir eine Dose Bier spendieren sollen, was? Hilft immer gegen Hose-voll-Scheißeritis.«

An diesem Vormittag herrschte reinstes Bilderbuchwetter. Große gelbe Sonne. Gleichmäßig blauer Himmel. Eine einzige weiße Wolke, wie von einem Kind gemalt. Es sah nach einem Tag aus, an dem nichts Ernsthaftes passieren konnte. Ein Tag, um acht Pints zu trinken und sich einen Sonnenbrand zu holen. Ein irisches Jahr hatte nicht viele solcher Tage, deshalb wollte jeder in Erinnerung bleiben. Der Glatzkopf und er traten mit ihren Stiefeln scharfkantiges Gras nieder, als sie auf den Land Rover zugingen. In dieser Gegend standen verstreute Cottages, einzelne Häuser mit schiefen Zaunpfählen, offenen, niedrigen Toren, in müden Angeln hängenden Fensterläden. Häuser, die die Idee geschützter Privatsphäre vermittelten, aber der Schutz war nur symbolisch, und auch er fühlte sich ungeschützt, offen. Furchtbar schlecht vorbereitet. Niemand hatte ihm angekündigt, dass er abgeholt werden würde. In seinem Kreuz sammelte sich bereits Schweiß. Seine Lederjacke war kühl, aber schwer. Er hatte so viele Geschichten über diese Initiationen gehört: Was man durchstehen musste, bevor sie einen richtig aufnahmen. Aber er wusste auch, dass Lügengeschichten zum Belfaster Leben gehörten, dass das Wahre oft mit Erfundenem angereichert wurde.

Ein dünner Typ stieg aus dem Land Rover. Er trug eine Brille und ein adrettes Hemd, sandfarbene Hosen. War das wirklich Dawson McCartland? Er sah aus wie ein Buchhalter. Er zog zwei große Hunde an einer langen Doppelleine aus dem Rover. Der eine war golden, der andere braun. »Guten Morgen«, sagte er in näselndem, gleichförmigem Ton und nickte, wie um zu zeigen, dass er es ernst meinte.

In Erwartung eines Händedrucks ging Dan auf ihn zu. Stattdessen bekam er die Hundeleine. »Ich bin Dan.«

»Ah«, sagte Dawson und nahm die Brille ab, »da bin ich ja froh.« Seine formlosen Augenbrauen waren zusammengewachsen, ein Sims, unter dem er hervorblickte. In den Augen ein flimmerndes Funkeln. Die Mundwinkel nach oben gezogen. Mit einem Taschentuch putzte er seine Brille. Die Hunde bellten und zerrten an der Leine. Er sah aus, als bemühte er sich, ein rätselhaftes Amüsement über die Welt im Zaum zu halten, und blickte jetzt seufzend auf seine Hunde hinab. »Sind schon ganz verrückt, die beiden. Ich liebe sie mehr als meine Frau, diese Tiere. Ist das falsch? Die Tiere mehr zu lieben als sie?«

»Hundeliebhaber«, sagte Dan.

»Gibt’s noch mehr davon?«

»Mehr?«

»In Irland, Leute, die ihre Hunde lieben. Klang, als meinten Sie’s als Kategorie.«

Dan wartete kurz. »Ist nur so ein Ausdruck«, sagte er.

»Insgesamt halte ich uns eher für Katzentypen, Dan. Unabhängig. Die Loyalisten sind die Hunde. Haben Sie Haustiere?«

»Ich?«

»Du.«

»Nein.«

»Kein Kaninchen oder was?«

»Nein.«

»Chinchilla vielleicht? Wellensittich? Wird schwer, dich als Volunteer aufzunehmen, ganz ohne irgendwas. Freiheitskämpfer brauchen ein Maskottchen.«

Lange Pause.

»Ich ziehe dich nur auf, Dan. Du bist hier unter Freunden. Dieses Aufnahmegespräch wird sehr informell verlaufen.«

Der Glatzkopf gähnte zufrieden, wobei sein Blick verrutschte und in die Bäume ging, und die nervösen Krämpfe in Dans Magen ließen etwas nach. »Ist kein großer Redner, der Junge, Dawson.«

»Was Sie nicht sagen«, sagte Dawson. »Dann vielleicht eher ein Macher?« Er zog ein Päckchen Newport aus der Tasche. »Auch eine, Dan? Ich bin sehr fürs Schweigen.«

»Nein, danke.«

»Sie?«

Der Glatzkopf kaute Kaugummi. »Hab doch damit aufgehört.«

»Zu leben?«

»Zu rauchen.«

Dawson zündete sich eine an und tat einen Zug. »Ein und dasselbe, würde ich sagen.« Er stand da und rauchte, knisternd von diesem eigentümlichen Charisma, jener Art Selbstsicherheit, die vorzutäuschen Dan erst vor Kurzem gelernt hatte. Jede Bewegung mit der Zigarette war elegant, bewandert, wohlüberlegt und effizient, wie dafür bestimmt, Gerüchte zu entkräften, er sei womöglich ein grausamer Unmensch. Mit allem Feingefühl klopfte Dawson ein wenig Asche ab, während Dan sich in den Wind zurücklehnte, und ließ dann Rauch durch ein Lächeln entweichen. »Also«, sagte er zu dem Glatzkopf. »Zur Sache. Erzählen Sie mir von unserem jungen Freund Dan. Was hat er zu bieten, außer seinem hübschen Gesicht und seiner Größe? Wer hat ihn empfohlen?«

»Mad Dog«, sagte der Glatzkopf.

»Aber welcher Mad Dog?«

Jetzt kicherte der Glatzkopf. Paddy war still, zierlich, immer darauf aus, Dinge zu verstehen, ein Mann mit einem sorgfältig getrimmten Schnurrbart und kleinen blauen Augen, die die Gabe hatten, ruhig und stet zu bleiben. Er war zehn Jahre älter als Dan, und wenn er wirklich Mad Dog genannt wurde, musste es ein Witz sein, dachte Dan. Wie wenn man einen besonders kleinen Mann Big Tony nannte. Oder einen Weiberhelden Gay Sam.

Dawson sagte: »Du musst entschuldigen, Dan. Die besten Spitznamen werden zu oft verwendet. Wie in jeder Armee. Man vergisst die Entstehungsgeschichte, und dann ist da dieser Mangel an Fantasie. Ein Mangel, an dem die ganze Welt leidet. Woher kennst du Paddy Magee?«

»Vom Einsammeln der Kugeln«, erklärte Dan.

»Ach?«

»Ja.«

Er hatte Cousins, die ganz in der Nähe von Ballymurphy wohnten. Als die RUC dort auf Republikaner schoss, kamen Nachrichtenteams aus aller Welt zum Zuschauen. Italiener, die im Europa Hotel wohnten, zahlten fünf US-Dollar für ein Plastikgeschoss. Sie wollten einem zuerst Lire geben, aber dann lachte man und sagte, so eine große Tasche habe man nicht; sie mochten dieses Geplänkel. Die Amerikaner zahlten über zehn. Wenn die Geschosse noch warm waren, konnte man Namen einritzen, was den Japanern gefiel – Souvenirs von einem gefährlichen Trip, dem aufregenden Abenteuer, Gewalt aus nächster Nähe mitzuerleben. Ein personalisiertes Geschoss, auf Bestellung für einen Asiaten besorgt und wunschgemäß graviert, brachte bis zu fünfzehn Dollar. Andererseits konnte der Auftraggeber leicht verschwinden, und dann blieb man auf unverkäuflicher Ware sitzen. Dans Freund Cal hatte seine halbe Jugend damit verbracht, nach einem zweiten Haruto Ausschau zu halten. Von Ballymurphy aus sah man den Black Mountain, tausend Schattierungen von Grün, die durch den Regen dunkel wirkten.

»Kein schlechtes Geschäft, würde ich meinen, Dan.«

»War ganz okay. Bin aber kaum noch dabei.«

»Nein?«

»Ich konzentriere mich jetzt auf Gelegenheitsjobs, Elektrik.«

»Das habe ich gehört. Du und ein anderer Bursche, richtig? Von der Geschosssammelei?«

»Ja.«

»Jemand, den ich kenne?«

»Cal.«

Dawson legte den Kopf schief. »Hat er auch einen Nachnamen, dieser Cal, oder hält er’s wie Cher, weil sie eure Eier zum Vibrieren bringt?«

Dan lachte. »Von Cher hat er echt nichts, Mr McCartland.«

»Dawson.«

»Er heißt Cal Doherty.«

Dawson betrachtete den Himmel. »Klingelt nichts«, sagte er. »Ich bin unkeuschen Bildern von singenden Engeln erlegen, das ist es.«

»Er leidet an –«

»Oh, ich kenne Cal. Netter Bursche, alles in allem. Gesicht wie eine Ladung Hämorrhoiden, aber trotzdem nett, oder? Ich bin hübschen Burschen gegenüber äußerst misstrauisch, Dan, ich sag’s dir ehrlich. Ein hübscher Bursche oder ein hübsches Mädchen hat immer was, worum er oder sie fürchtet, verstehst du? Meine Frau ist prima – du wärst froh, sie um dich zu haben, Dan –, aber sie hat nur ein Auge, das ist der Punkt.« Er ging in die Hocke, um seine Zigarette am Boden auszudrücken. Er packte die Kippe sorgsam in ein Papiertaschentuch, steckte sie in die Tasche und zündete sich eine neue Newport an. »Trägt eine Augenklappe. Schottin von Haus aus. Ich, ich habe sogar etwas englisches Blut. Bisschen walisisches auch. Manche Leute sagen, es disqualifiziert mich für diesen Job, aber das ist genau die Art verkorkstes Denken, die Kriege verursacht, oder? Kein Vertrauen ins menschliche Einfühlungsvermögen. Und du? Stehst du darauf?«

»Auf Einfühlungsvermögen?«

»Genau.«

»Ich weiß nicht. Wohl schon.«

Dawsons Lippen pressten sich aufeinander, widersetzten sich einem neuerlichen Grinsen, und seine Augen schienen wieder zu glitzern. »Lohnt sich, mal drüber nachzudenken. Wenn man keins hat, kein bisschen, kann man sich nicht in andere Leute reinversetzen. Kann sich beispielsweise nicht vorstellen, dass ich mich voll und ganz in dich reinversetzen kann.«

Er bückte sich, um seine Hunde zu streicheln, musterte ausgiebig Dans Stiefel und richtete sich dann wieder auf. »Nein«, sagte er. »Mangelndes Einfühlungsvermögen ist ein tragischer Charakterfehler. Schon mal was von Shakespeare gelesen, Danny?«

»Warum? Ist er der Erfinder der Charakterfehler?«

»Ha. Ich mag dich jetzt schon. Du taust ja richtig schön auf. Aber nein, ist er nicht. Nicht mal Gott, der alte Sack, könnte sich damit brüsten.« Er inhalierte und blies einen Rauchring aus. »Frage mich manchmal, wo der gerade Urlaub macht. Um Irland kümmert er sich nicht sonderlich, oder?«

»Hat wahrscheinlich viel um die Ohren.«

»Hängt deprimiert oder besoffen rum wie alle anderen. Aber nein, ich mag Shakespeare, Danny, das ist alles. Ich lese ihn heute nicht mehr, aber er ist in mir, wie der irische Slang. Seirbhís. Slán. Also. Mick. Würden Sie bitte die Taschen aus dem Rover holen? Die mit dem Zubehör. Das wäre großartig.«

Mick. Zubehör.

Dan sah Mick davongehen, dann wiederkommen und die Taschen im Gras abstellen. Ein Hemdsärmel war ein bisschen hochgerutscht, und ein Stück von einem blauen Tattoo blitzte hervor. Zunge einer herabhängenden Schlange vielleicht oder ein peitschender Meerjungfrauenschwanz.

Dawson sagte: »Tu uns einen Gefallen, ja, Dan? Spiel ein bisschen mit den Tieren. Die kommen nicht viel raus, geht ihnen wie unserem guten Mick hier. Und Mick und ich haben tiefgründige Dinge zu bereden.«

Auf Dawsons Anweisung öffnete Dan die grüne Tasche. Sie enthielt drei Tennisbälle, einen Baseballschläger, ein warmes Sixpack Bier. Er nahm den am wenigsten zerkauten Tennisball und ging zu den Bäumen hinüber.

Äste, die sich bogen und wieder entspannten. Der wispernde Widerstand von Blättern. Er dachte: Stufe eins des Aufnahmegesprächs war wohl vorbei. Tat, wie ihm geheißen.

Er warf den Ball hoch und nahm ihn den Hunden aus dem Fang. Wahnsinn, wie viel Sabber diese Tiere produzierten. Der braune Hund hatte gelbe Flecken auf der Zunge, bewegte sich aber im Ganzen flinker als sein goldener Kumpel. Sie konkurrierten darum, den Ball zu schnappen, wenn er aufprallte, lieferten sich ein geschicktes Rennen – Windschatten, Überholen, Windschatten, Überholen –, ohne je zu kollidieren, obwohl es immer aussah, als müsste das gleich passieren.

Hätte er mehr Fragen stellen sollen? Mehr Initiative zeigen? Cal hatte ihm geraten, nur zu reden, wenn er gefragt wurde. War vermutlich richtig.

Alle paar Minuten drehte er sich um. Dawson und Mick beachteten ihn gar nicht, was doch bestimmt ein gutes Zeichen war. Als er noch Heftchen las, hatte er sich nie gewünscht, fliegen oder mühelos Fassaden hinaufklettern zu können. Unsichtbarkeit war für ihn die höchste Superkraft gewesen.

Er hatte keine Lust mehr auf den feuchten Tennisball, nahm stattdessen ein Stück trockene Baumrinde. Die Hunde jagten hinterher und brachten es zurück. Dan rannte mit den Hunden los, das Rindenstück in der Hand, stoppte und rannte wieder los, hielt das Ding hoch, tief. Nach einer Weile brannte seine Lunge. Er ging in die Knie, um ihnen die Ohren zu kraulen und ihre Hechelzungen zu beobachten. Manche Leute sagten, Hunde seien dumm, nichts als dumpfe Bedürftigkeit und dumpfe Dankbarkeit, aber er sah im Funkeln ihrer Augen eine spezielle Intelligenz. Wie Fußballer, die Winkel berechneten, genau wussten, wie sie sich zu bewegen hatten.

»Wir sind so weit!«, rief Dawson. »Bring sie her.«

Dan nahm die Hunde an die Leine und joggte zurück. Die beiden Männer nickten und lachten und blinzelten in die Sonne.

Dawson sagte: »Habe gerade eine kleine Geschichte erzählt, die mir ein gewisser Clinkie erzählt hat. Ist ein Durchstarter, unser Clinkie. Willst du sie hören?«

»Klar«, sagte Dan.

»Also, Clinkies Geschichte geht so, Jesus, geht die Geschichte, hängt am Kreuz und die beiden Typen rechts und links von ihm sind keine Diebe. Was sind sie dann?«

Dan schüttelte den Kopf.

»Na ja, Dan, wenn man Clinkie kennt, würde man tippen, dass sie schwul sind. Aber nein. Clinkie hat mir erklärt, es sind politische Aktivisten, die gegen die römischen Machthaber kämpfen. Da sind also zwei Republikaner, die rechts und links von Jesus ans Kreuz geschlagen werden. Und Clinkie sagt –«

»Kenne ich.«

Dawson zog seine mächtige Augenbraue hoch. »Wie bitte?«

»Ich habe die Geschichte schon gehört«, sagte Dan, »von ein paar Leuten. Jetzt weiß ich’s wieder. Die Römer sind die Brits. Die Samariter sind die Katholiken. Die Juden sind die Protestanten. Der Erste, der heute in den Himmel käme, wäre ein paramilitärischer Kämpfer, so wie Jesus zu Dimas dem Dieb sagt, heute wirst du mit mir im Paradies sein, und so weiter.«

Schweigen.

»Hm«, sagte Dawson. »Das nenn ich eine Pointe verderben.«

Das träge Summen einer Hummel war zu hören. Mick kratzte sich ausgiebig im Gesicht. Als Dan aufs Gras hinabschaute, sagte Dawson: »War schön, dich mit ihnen zu beobachten, Dan. Meinen Hunden. Herrliche Tiere, was?«

»Ja.«

»Ich selbst bin nicht so sportlich. Bisschen kurzatmig, musst du wissen. Ich brauche so eine Patrone mit spezieller Luft.« Er nahm einen Asthma-Inhalator aus der Tasche und drehte ihn in der Hand. Einen Moment lang wirkte er abwesend. »Aber jetzt muss ich wirklich los. Habe leider noch eine Verabredung mit jemand, der schon zu lange lebt.« Er wartete einen Moment, schüttelte den Inhalator, verabreichte sich einen Sprühstoß und behielt die Luft im Mund. »Geburtstagsparty. Vierzigster. Ist total verrückt, der Kerl, aber wir haben ihm einen Pingpongtisch besorgt.«

»Und?«

Dawson lachte. »Na ja, wir legen natürlich noch zwei Schläger und einen Ball drauf.«

»Nein, ich meine –«

»Ja, was?«

»Ich – ich kriege doch Bescheid, oder? Ob ich aufgenommen bin? Ich will von ganzem Herzen, Mr McCartland. Ich werde alles tun. Ich – ich möchte der Sache dienen.« Er fühlte, wie sich wieder eine Zukunft verdüsterte.

Dawson hob das Kinn und blinzelte. »Hör zu, Dan. Ich habe gehört –« Der eine Hund bellte, und der andere jaulte. »Ich habe gehört, du seist brauchbar. Stimmt doch, oder? Jungs in diesem Matt-Talbot-Jugendclub. Die sagen, genau wie Patrick, das ist mal einer, der was draufhat.«

»Pool«, sagte Dan. »Snooker. Die haben wahrscheinlich nur das gemeint.«

»Ach, komm. Keine Spielchen. Irland ist schon zu lange bescheiden. Was kannst du noch, außer Pointen verderben? Meine Frau zum Beispiel, die Einäugige, ist ein echtes Genie am Herd.«

Hatten sie ihn wirklich hierhergebracht, um über Hobbys zu reden? Er kaute auf der Unterlippe, suchte ein paar Gedanken zusammen.

In der Schule war er nicht gut gewesen, aber es gab schon ein paar Dinge, die er konnte. Zum Beispiel konnte er sich gut Sachen merken. Er traute sich zu, die richtigen Stellen aus dem Grünen Buch herzusagen, wenn das hier gut ging und sie ihm den Eid abnahmen. Er konnte ihnen auch ganze Passagen aus der Bibel aufsagen. Bibelsprüche von der Kanzel schienen sich in seinem Kopf einzunisten, er mochte den komischen Klang der altertümlichen Sprache. Er konnte eine Karte aus dem Gedächtnis zeichnen, einen Reifen ohne Wagenheber wechseln, hundert Yards in einer passablen Zeit laufen und ziemlich schwere Gewichte heben. Er konnte dreimal am Tag masturbieren und sich vor dem Einschlafen trotzdem noch einen runterholen. Er war gut im Garten, gut im Sortieren der Pillen seiner Mutter, gut im Wetten mit anderen Jungs und die Hälfte der Zeit gut im Gewinnen. Er machte Handwerksarbeiten für die Nachbarschaft: Klempnern, Dachrinnenarbeiten, Elektrosachen, wie sie sein Vater gemacht hatte, nachdem sein Job bei Gallaher eingestampft worden war. Er war stolz auf sein Land, und er fand, es war okay, stolz zu sein.

»Ich bin nicht bescheiden«, sagte er. »Ich bin nur schüchtern, wenn ich Leute noch nicht lange kenne.«

Sie beschlossen, das als Witz zu nehmen. Einer der Hunde biss den anderen spielerisch in die Fellfalten am Hals.

»Kannst du mit einer Auto umgehen, Dan?«

Er merkte, wie er Mick ansah und darauf wartete, dass der antwortete. »Nein«, sagte er.

Schusswaffen. Viele Jungs, die er kannte, wollten zu den Provos, um mit Schusswaffen spielen zu können. Seine Gründe hingegen waren … Was waren seine Gründe? Etwas zu bewirken, langfristig. Der Besetzung ein Ende zu machen, das Denken der Menschen zu verändern. Mitzuhelfen, ausgebrannte Betriebe wieder flottzumachen und die katholischen Eckläden zu schützen. Zeigen, dass er nie vergessen würde, wie sein Vater gestorben war, und dass zwei Freunde seines Bruders, James Joseph Wray und Gerry McKinney, am Blutsonntag von der britischen Armee erschossen worden waren. Gerry, als er unbewaffnet und mit erhobenen Händen »Nicht schießen, nicht schießen« rief. James Joseph, als er bewegungsunfähig am Boden lag.

»Hab eine Pistole zu Hause«, sagte er. »Zur Selbstverteidigung. Ist aber keine Auto, und ich habe noch nie damit geschossen.«

»Interessant. Hören Sie das, Mick? Sammelt lieber Kugeln ein, als welche abzufeuern. Ich wette, unser Danny ist auf einer Party der Typ, der sich ans pure H2O hält.«

Mit einem Lachen, das wie aus dem Fernsehen geklaut klang, machte Mick die Tasche, in der die Bälle gewesen waren, wieder zu. Er öffnete die andere, entnahm ihr eine Flinte und eine Pistole. Die Pistole gab er Dan.

»Fühl mal«, sagte Dawson. »Liegt gut in der Hand, was? Neigen zur Ladehemmung, die Autos, ist das einzige Problem. Und jetzt, wenn’s recht ist, erschieß die Hunde.«

Dan lachte. Niemand lachte mit. Ihre Gesichter waren gerötet und aufmerksam, aber ohne jede Spur von Humor.

»Oder«, sagte Dawson, »du kannst auch nur einen von ihnen erschießen. Fünfzig Prozent. Du bist offenbar Linkshänder – stimmt das, Dan? Um einen Hund könnte ich mich wahrscheinlich kümmern. Aber für zwei habe ich einfach nicht die Zeit, verstehst du? Es ist Tierquälerei, sie zu halten.«

Ihre Gesichter verrieten noch immer nichts. Dawson schnäuzte sich die Nase.

»Ich würde mit der anderen Hand die Leine festhalten«, sagte Dawson. »Beim Schießen, meine ich. Sonst haben wir einen Hund, der durch die Gegend rennt und Unfug macht und voller Fetzchen von dem anderen Hund ist. Wäre doch hässlich.«

Mick klappte die Flinte auf. Er sah rein und klappte sie wieder zu. Seine Augen richteten sich auf den Boden, und seine Glatze glänzte.

»Ist das ein Scherz?«, fragte Dan.

Dawson zuckte die Achseln. »Ich bitte dich, zwei Hunde für mich zu töten, mein Freund. Ich könnte es selbst tun, aber es sind meine Hunde, und ich habe sie jetzt genau ein Jahr. Also tu mir den Gefallen und erspar’s mir, sie selbst zu töten, ja?«

»Ist sie geladen?«

Dawson lächelte wieder. »Man hat mir gesagt, du seist brauchbar, Dan. War das eine Fehlinformation?«

»Wie gesagt, ich hab noch nie mit einer Auto geschossen.«

»Gleiches Prinzip. Automatisch. Manuell. Die Gemeinsamkeit ist, man zielt damit auf etwas, drückt ab, und das Etwas ist kein Problem mehr.«

»Diese Hunde sind doch kein Problem.«

»Sie sind ein Problem für mich, Dan.« Hart und tief jetzt, die Stimme. Ernst. »Ich frage mich jetzt doch, wie es um deine Teamfähigkeit bestellt ist. Ob es dir nicht ein bisschen an zwischenmenschlichen Tugenden fehlt.«

Dan blickte auf die beiden Hunde, und sie sahen ihn an. Feuchte Augen. Feuchte Nasen. Aufgeregt. »Ich könnte einen mit zu mir nehmen. Oder beide. Ich habe Zeit, mich um sie zu kümmern, Mr McCartland, und Geld für Futter auch.«

»Ich nehme immer gerne einen Schluck, aber deswegen bin ich noch lange kein armer Schlucker.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Du bist gerade in eine Armee eingetreten. Zeit, mal zu gehorchen, statt die Klappe aufzureißen, Dan.«

»Ich meine ja nur –«

»Du willst dir noch mehr abhängige Wesen zulegen, gerade jetzt? Reicht dir deine Ma nicht? Der Bruder im Heim?« Dawson schüttelte den Kopf. »Glaubst du, die britische Armee zögert auch nur eine Sekunde, Hunde auf unseren Straßen zu erschießen? Kadaver auf der Falls zu hinterlassen, um uns zu demonstrieren, dass sie wachsam sind? Zart besaitete Männer haben noch nie etwas verändert, Dan. Die Geschichtsschreibung wäscht das Blut weg, verzeichnet nur die Ergebnisse, aber das heißt nicht, dass da kein Blut war. Ein Irland unter britischer Besetzung wird nie frei sein. Und ein unfreies Irland wird nie Frieden haben. Oder bist du anderer Meinung? Möchtest du lieber Abstand halten und zuschauen? Bist du ein Zuschauer, Dan, ist es das, schaust du gern zu?«

Mick wirkte jetzt, als wäre es ihm irgendwie unangenehm, hier zu sein. Wieder fasste er sich ans deformierte Ohr. Um seine hängenden Mundwinkel lag jetzt etwas Mildes, das da vorher nicht gewesen war. Eine Form von Empfindsamkeit, das musste es sein. Dawson war jetzt der Rohere von beiden. Sein dünner Hals hatte sich gerötet, die dünnen Lippen waren geöffnet, seine silbrige Zunge arbeitete an einem neuen Schwall Wörter.

Vielleicht den Braunen mit den Flecken auf der Zunge. Vielleicht ist der ja krank. Er will, dass ich den kranken Hund töte. Hinterher wird er mir sagen, dass er krank war, Leukämie oder was, und dann habe ich den Test bestanden.

Mit ruhiger Hand, der linken, hob Dan die Waffe und zielte auf den Kopf des braunen Hunds. Sei jemand, der handelt, statt zu reden. Mit der Rechten fasste er die Hundeleine fest. Los jetzt.

Es wäre leichter, dachte er, wenn der Hund hässlich wäre, wenn der Hund eine Ratte wäre, wenn der Hund wütend oder unfreundlich aussähe, und diese Gedanken sagten ihm, dass er schwach war.

Wenn er ihn zwischen die Augen träfe – die intelligenten Augen, wach, wässrig –, wäre es ein schneller Tod. Aber wenn er auf den Körper zielte, war das Risiko, danebenzuschießen, geringer. Ein Schuss in den Körper, dann sofort ein zweiter hinterher? So machte es die RUC gern bei Leuten, die sie zu Terroristen erklären konnte. Aber der andere Hund würde an der Leine zerren, versuchen, sich loszureißen, vielleicht blutbespritzt? Panisch.

Der braune Hund sah Dan erwartungsvoll an, atmete durchs offene Maul. Der andere hatte sich flach hingelegt, die Nase im Gras vergraben. Mick schien sich – konnte das sein? – Klopapierfetzen in den Mund zu stecken. Dann stopfte er sich die feuchten Klumpen in die Ohren.

»Ich werde dich jetzt motivieren«, sagte Dawson. »Wenn du nicht einen meiner Hunde erschießt, wird Mick hier so nett sein, dich zu erschießen.«

»Nett?«

»Er kann sehr nett sein. Du müsstest ihn mal in den Bars von Belfast sehen. Was der schon alles geküsst hat!«

»Das ist ein Scherz.«

»Ach ja?«

»Warum sollten Sie mich erschießen wollen? Ich will doch beitreten!« Es war ein Scherz. Musste einer sein. Er senkte die Waffe. »Ich erschieße keine Hunde.«

»Deine Entscheidung«, sagte Dawson. »Ich habe dir die drei Optionen klar und deutlich aufgezeigt.«

»Drei?«

»Du erschießt einen Hund, Nummer eins. Du lässt dich erschießen, Nummer zwei. Und Nummer drei, du erschießt uns. Aber dafür musst du dich beeilen.«

»Das ist doch Blödsinn.«

»Wir geben dir drei Sekunden, dir eine endgültige Meinung zu bilden, Dan.«

»Aber das – welchen Sinn sollte das haben?«

»Drei.«

»Nicht doch.«

»Zwei.«

»Bitte.«

»Eins.«

Mick hob die Flinte. Er richtete sie auf Dans Brust und schoss.

Die Wucht des Treffers. Ein Schlag, der seinen Körper hintüber warf. Ein Krachen, das ihn tief in sich selbst hinabschleuderte.

Als er auf dem Boden aufschlug, versagten seine Sinne den Dienst. Dunkel, Stille. Nur ein winziges bisschen Licht, das sich schlierig durch die Finsternis wand, so langsam wie die Sahne, die seine Mutter in den Kaffee tat.

Er tastete nach der Wunde. Die Wunde. Das Blut abdrücken. Hätte die Hunde töten sollen.

Das Leder seiner Jacke fühlte sich gleichmäßig glatt an. Nichts Nasses. Nichts Zerrissenes. Eintrittsloch. Wo war das Eintrittsloch? Langsam tauchten Dinge auf, stellten sich scharf: windgeblähte Bäume, ein Vogel am blauen Himmel.

Er rollte sich auf einen Ellbogen. Der Land Rover fuhr gerade an, die Reifen wühlten Staub auf. Mick stand über ihm, streckte ihm eine mächtige Hand hin. Da waren Sand und weißes Zeug auf dem Boden. Körner? Reis? Auf seiner Jeans auch. Roher weißer Reis.

Micks kühler Schatten. Sein Gesicht sah aus, als ob er brüllte. Ein Kiefermuskel sprang. »Kanone poliert«, schien er zu sagen. Das Klingeln in Dans Ohren nahm eine andere Tonhöhe an. Seine Brust tat weh, sein Schädel auch.

»Wir haben die Patrone manipuliert. Bisschen Basmati reingestopft.«

»Was?«

»Ruiniert den einheimischen Grundnahrungsmittelmarkt, der Reis, also stehlen wir ihn den Indien-Importeuren. Fliegt erheblich langsamer. Sorry, wenn du mit dem Kopf aufgeschlagen bist.«

Dan spuckte aus. »Ich hätte ihn töten können. Ich hätte es tun können.«

Mick lachte. »Yeah, aber als Initiation nicht schlecht, oder? Wenn das nächste Mal jemand mit einer Waffe auf dich zielt, wirst du einen Tick schneller sein.«

Er hatte keine Ahnung, wo die Pistole war. Sie war nicht in seiner Hand und auch nicht in der Nähe seiner Hand. Die Hunde sprangen wild und fröhlich herum, die Leine schlängelte sich durchs Gras.

»Ganz brauchbar, um seinen ersten Eindruck zu überprüfen«, sagte Mick. »Dazu dient es auch. Macht dich eher zu einem Mann für die Distanz. Deine handwerklichen Fähigkeiten. Sprengsatzbau. Er hat mehr und mehr die Hauptinsel im Auge. Du bist der Erste, der’s drauf ankommen hat lassen.« Er zog Dan hoch und schloss ihn herzlich in die Arme.

Dan blinzelte und versuchte, seine zitternden Hände zu verstecken.

»Es ist vorbei.«

»Was?«

»Willkommen in deinem neuen Leben.«

ERSTER TEIL

__________________

Menschen im Naturzustand

1984

1

Nach ihren mittwochmorgendlichen Bahnen im Schwimmbad lief Freya Mr Easemoth über den Weg. Er war ihr alter Geschichtslehrer von der Blatchington Mill, der wohlwollende Diktator von Klassenzimmer 2D, ein Mann, für den Fakten das Höchste waren. Man hatte den Eindruck, dass es ihn befriedigte, falsch oder gar nicht verstanden zu werden.

Sie wechselten ein paar Worte über das Hotel. Er grinste matt in die Sonne und sagte, ihr stünden ja jetzt alle Möglichkeiten offen. Erwähnte auch verlegen, dass ihr Vater ihn angerufen habe. Sie hätten über die Frage der Universitätswahl geredet.

»Er ist sehr stolz auf Sie«, sagte Mr Easemoth. »Mit Recht.«

»Danke, Mr Easemoth.«

»In einigen Fächern dürften Sie mit Ihren Abschlussnoten wohl unter den Besten in ganz Brighton sein.«

Sie lächelte. »Danke, vielen Dank.«

»Nein«, sagte er.

»Was?«

»Ich danke Ihnen. Es war ein Vergnügen, Sie zu unterrichten.«

Über ihnen kreiste eine Möwe und schrie. »Also, ich muss dann mal …«

»Oh, natürlich.«

»Ist nur, weil …«

»Nein, nein, lassen Sie sich von mir nicht aufhalten.«

Die Art, wie er lächelte, machte sie traurig. »Bis bald, Mr Easemoth.«

»Und grüßen Sie Ihren Vater von mir.«

Zu Fuß unterwegs. Der Wind an ihren Beinen. Salz in der Luft. Sie trug einen nagelneuen neonblauen Minirock. Aber würde sie Mr Easemoth je wiedersehen? Was seine Autorität auf den Schulfluren in erster Linie untergraben hatte, war weder seine Sinusitis noch seine fleckige Krawatte, ja nicht einmal sein Anti-Charisma. Es war das unselige Gerücht, er habe einen Mikropenis, was wahrscheinlich gar nicht stimmte.

An raren Septembertagen wie diesem trödelten die Leute in Brighton nicht unentschlossen herum. Sie warfen ihre nieselfeuchten Regenmäntel ab und kramten in Schubladen nach farbenfrohen Shorts. Sie ließen sich auf Handtüchern braten und von Wellen auf und ab tragen. Möwen staksten über Steine, wobei sie die Köpfe senkten und die Füße umso höher hoben, die Bewegung gespiegelt von einem Kind, das nachsah, ob unter seinen Schuhsohlen Kaugummi klebte. Alte Männer betrachteten durch wellige Eisengeländer das Wasser, und alte Frauen tranken draußen vor Cafeterias Tee.

Das lila-rosa Schild des Friseursalons kam jetzt in Sicht. Und der Eiswagen. Sie hatte Riesenlust auf ein Softeis mit zwei Borkenschokoladenröllchen, aber da war eine lange Schlange auf der linken Seite des Eiswagens.

Wendy Hoyt war die zweitbilligste Friseuse im Curl Up & Dye, eine vollbusige Hypochonderin, deren eigene wasserstoffblonde Locken – Werbung, Warnung – eine Menge Luftraum einnahmen. Bei Wendy waren Kopfschmerzen immer gleich Tumore. Rückenschmerzen wurden zu Osteoporose. Sie hatte schon so ziemlich alle Arten vermeintlichen Organversagens durchlebt, litt an einem trockenen Husten, der vom Kontakt mit Tieren kam, und im Nacken hatte sie einen Haarspray-Ausschlag, den sie lieber dem Seewind anlastete. Freya schenkte Wendys Katalog erfundener Katastrophen keine große Beachtung, hegte aber gleichzeitig spontane Sympathien für Leute, deren Katastrophen keine große Beachtung fanden, sodass das Ganze unterm Strich dazu führte, dass sie immer wiederkam.

»Noch mal drüber nachgedacht?«, fragte Wendy, während sie den Umhang um Freyas Hals zumachte. Vorangegangen waren die Erörterung der Frage, warum ihr Haar schon »vorbefeuchtet« war, die daran anknüpfende Warnung vor der austrocknenden Wirkung von Chlorwasser und als Dreingabe noch die Geschichte von einem Mädchen, das beim Schwimmen schwanger geworden war, weil ein Junge ins flache Beckenende masturbiert hatte. Die Trockenhauben liefen. Wendy atmete schwer. Die Neonperlen ihrer Halskette wogten auf ihrem Busen. Von den oberen Ecken des Spiegels hingen zwei silberne Geschenkbandschlangen, die die neun Monate seit Weihnachten überdauert hatten.

»Ich glaube eher nicht«, sagte Freya.

»Bringt aber mehr Spaß«, sagte Wendy augenzwinkernd. »Wirkt in der Disco wie Katzenminze.«

»Hm.«

»Ich kann mich kaum retten. Außerdem würde Blond auch toll zu deinem Hautton passen.«

»Kann sein.«

»Mal was anderes, das wolltest du doch, oder? Aber wenn’s weiterhin das unauffällige Braun sein soll, bleibt uns ja immer noch ein seitlicher Pferdeschwanz oder ein Pony. Deine Freundin Sarah – an der Uni jetzt, oder? –, der hab ich eine tolle Cyndi-Lauper-Frisur gemacht.«

Wendy nahm einen Schluck Cranberrysaft, ein Getränk, von dem sie behauptete, es sei gut für die Infektabwehr. Die Wand hinter dem Spiegel war limettengrün. Eine andere Wand war pink, eine dritte lila. Ein Mädchen, das abgeschnittene Haare zusammenfegte, summte eine reine Refrain-Version von Madonnas »Borderline«, unbestreitbar ein Wahnsinnssong, und auf ihrem T-Shirt stand »All the Way to Wembley« unter dem Bild einer segelnden Möwe. Freya schloss die Augen und stellte sich einen Moment lang vor, in Mr Easemoths Alter hier zu sitzen, das gleiche Gespräch zu führen, dieselben Neonperlen um Wendys Hals zu zählen: drei überlappende Reihen, zwanzig Perlen in der unteren, achtzehn in der mittleren und sechzehn in der oberen.

Eine Menge Zeit verging. Mindestens eine halbe Minute.

»Okay«, sagte sie. Da war eine neue Wärme unter ihrer Haut. Lebe gefährlich, richtig? »Schneiden Sie alles ab, Wendy, und machen Sie mich blond.«

Wendy hob eine intensiv nachgezogene Augenbraue. Eine Kundin aus Hove kam herein. Es gab eine ganze Reihe Sachen, die einem verrieten, dass jemand aus Hove kam. In diesem Fall war es die Explosion von Seidentüchern um den Hals der Frau.

»Sicher?«, fragte Wendy.

»Jepp.«

»Ganz ab?«

»Nein! Bis hier so, und dann blondieren. Oder Highlights. Jepp, Highlights. Aber nichts, was rötlich aussieht.«

Wendys Gesichtszüge formten eine Grimasse. In Grimassen war sie spitze.

»An einem dünnen kleinen Ding wie dir«, sagte Wendy. »Einem Mädel mit dieser zerbrechlichen Note …« Sie trank noch einen Schluck Saft. Stellte das Glas supervorsichtig auf einen Sims. »Ich sag dir, was ich denke. Ich frag mich eins. Ob du dafür den Hals hast, Freya. Weil, als deine Beraterin muss ich dir sagen, dass der Hals da ganz schön prominent ist, und mit deinem netten kleinen Gesichtchen, also, was Kurzes wäre vielleicht ein bisschen sehr, wie soll ich sagen …«

»Jungenhaft?«

»Äthiopisches Waisenkind«, sagte Wendy.

Freya blickte auf und musterte sich. Welche waisenkindhaften Eigenschaften könnte ein Kurzhaarschnitt zum Vorschein bringen? Sie war blass, braunhaarig, braunäugig, ganz normal, aber aus dem Spiegel sah sie jetzt ein halb verhungertes äthiopisches Waisenkind an. Sie überkreuzte die Beine nach rechts, dann nach links. Spitze Bemerkungen waren Wendys Art von Freundschaftsbekundung, aber sie konnten auch infektiös sein. Dann ging man hier raus und schlug sich mit Problemen herum, die man wahrscheinlich gar nicht hatte.

Sie dachte ans Grand, ihre bald beginnende Schicht an der Rezeption. Ihr Vater, der stellvertretende Direktor, konnte es meistens arrangieren, dass sie mittwochs nur nachmittags arbeiten musste. Er war auch Kunde bei Wendy Hoyt. Einmal im Quartal ließ er sich Haar, Augenbrauen und Ohren machen, ein 3-zum-Preis-von-1-Deal, den der Herrenfriseur verweigerte.

»Wissen Sie was?«, sagte Freya. »Einfach nur Nachschneiden wie immer.«

»Echt?«

»Echt.«

Die Entscheidung wirkte wie ein Zauber: Ihr Herzschlag verlangsamte sich. Sie fühlte, wie sie sich wieder in den gemütlichen Enttäuschungszustand entspannte, der ihr Leben war, seit sie die Schule beendet hatte.

»Vorsehen ist besser als Nachsehen, was?«

»Wahrscheinlich«, sagte Freya.

»Dann waschen wir jetzt mal, mit dem Erdbeershampoo, das du so magst, und du kannst mir von euren Plänen für Maggie Thatcher erzählen.«

2

Philip Finch, allen außer seiner alten Mutter unter dem Namen Moose bekannt, fuhr in seinem unverwüstlichen Škoda 120, der die Farbe kalkig gewordener alter Schokolade hatte, zum Hotel. Sein Seitenfenster war heruntergekurbelt, damit er die Asche nach draußen abklopfen und den Rauch aus dem Mundwinkel hinausblasen konnte. Es war wichtig, dass seine Tochter nicht seine Unvernunft einatmen musste. Sie saß auf dem Beifahrersitz, in ihrem typischen Frühmorgens-Look: schwarzer Rock, weiße Bluse, ein adretter Leichnam. Ihr Haar hatte sie gestern schneiden lassen. Er konnte keinen Unterschied erkennen. Er sagte ihr, es sehe toll aus.

Sie kamen am Dyke Road Park und am Booth Museum vorbei. Freya begann, im Handschuhfach zu kramen: ein kleinerer Erdrutsch von Kassetten. Es gab da ein System, und sie warf es gerade über den Haufen. »Was suchst du?«

»Musik.«

»Wir sind in fünf Minuten da, Frey.«

Sie gähnte. Blinzelte. Musterte die Windschutzscheibe. »Es ist heiß«, sagte sie.

»Da ist was von Wayne Fontana and the Mindbenders. Die Kassette, die ich laufen hatte, wo waren wir?«

Sie seufzte.

»Du seufzt.«

»Ein Wayne hat noch nie was Gutes zustande gebracht, Dad.«

»Stimmt nicht«, sagte er und verfiel in eine längere dunkle Absence, aus der er mit dem Namen Wayne Sleep wieder auftauchte.

»Wer?«

»Oder …« Wo waren all die anderen berühmten Waynes? »John Wayne.«

»Nachname«, sagte sie.

»Das macht ihn erst recht zum Wayne. Sein Waynetum liegt in den Genen.«

»Wahrscheinlich ein Künstlername«, sagte sie. Na ja, jetzt, wo er drüber nachdachte …

Er schaltete einen Gang zurück – diese Gespräche waren kostbar – und erklärte, sie solle nichts ablehnen, ohne es probiert zu haben.

»Reisen zum Beispiel, meinst du das?«

»Studieren zum Beispiel«, sagte er. »Reisen, Frey, daran ist doch nichts Besonderes. Was wir gerade tun, ist reisen – du packst die doch alle wieder zurück? Sich finden und sich verlieren kann man auch hier in diesem Auto, dieser Stadt.«

»Irre aufregend«, sagte sie, aber er glaubte, den Anflug eines Lächelns zu sehen.

Sie war jetzt achtzehn Jahre und ein Dutzend Tage alt. Erst gestern, so schien ihm, war sie aus einer linkischen, bebrillten Pubertät herausgekommen – einer Phase, in der sie zeitweilig jede Fähigkeit zur Dankbarkeit, Rücksichtnahme und Selbstkritik verloren und dabei gleichzeitig eine Fülle von Anlässen zur Anwendung eben dieser Fähigkeiten produziert hatte. In letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass sich die Zahl der Männerblicke, die an ihrer Kleidung klebten, ebenso sprunghaft erhöht hatte wie die Zahl der Bereiche, in denen sie ihn nicht mehr brauchte. Sie konnte allein mit schwierigen Gästen umgehen. Würde ihn so oder so bald hinter sich lassen. Ihre Stimmungsschwankungen hatten sich auf dem Niveau gelangweilten Desinteresses eingependelt, eine sehr viel engere Bandbreite als vorher. Manchmal sehnte er sich nach ihrer früheren Wut zurück und ertappte sich dabei, wie er sie unnötig provozierte. Universität! Karrieremöglichkeiten! Wann lernst du endlich, die Tür abzuschließen?

Mit ihrer blassen Haut, den dunklen Augen und der Stupsnase, dieser fatalen Art, bei Streitgesprächen die linke Augenbraue hochzuziehen, war Freya zunehmend eine Kopie von Viv, damals, als sie zusammengekommen waren. Wie schrecklich pathetisch das doch war: Die eigene Tochter wurde die eigene einstmals vollkommene Ehefrau und stahl sich in eine Zukunft davon, in der sie die Beute gewisser draufgängerischer, von einem starken Geschlechtstrieb gesteuerter Individuen werden würde, die wiederum auffrisierte Versionen des einstigen eigenen Selbst waren. Manchmal hörte er zufällig mit, wie sich Sommeraushilfen in einem Fachjargon für Fortgeschrittene über sexuelle Wagnisse unterhielten, und er nahm an, dass es dabei wohl um neue Stellungen oder Techniken ging. Die kambodschanische Posaune. Der wagemutige Maler. Das südostenglische Doppeleistütchen. Praktizierte noch irgendjemand die Missionarsstellung? Die Zukunft entblößte ihre Brüste und lachte, ein einziger schriller Jahrmarkt.

Tatsache war, dass Moose schon eine ganze Weile keinen Sex mehr gehabt hatte. Das einzige richtige Problem an seinem Job war, permanent von Leuten umgeben zu sein, die geschlechtlich miteinander verkehrten. Gäste trieben es an Wänden und auf schallschluckenden Teppichen, in Besenschränken und auf Seeblick-Balkonen, in freistehenden Schwanenhalshahn-Badewannen und bodengleichen Duschen und wahrscheinlich nur gelegentlich mal in Betten. Fünfundvierzig. Definitiv zu jung, um sich diesbezüglich zur Ruhe gesetzt zu haben. Aber es war ja eher eine Art Arbeitslosigkeit, oder? Der Trieb, der ohne Betätigungsmöglichkeit immer weiterlebte, so wie ein kopfloses Huhn weiterflatterte. Noch immer bekam er manchmal Bemerkungen über sein Aussehen zu hören – Sachen, die man als Kompliment verstehen konnte –, aber er war oft zu beschäftigt, um auszuprobieren, was sich daraus machen ließ. Er hatte nur eine Handvoll flüchtiger Affären mit Frauen gehabt, seit Viv ihn wegen eines gewissen Bob verlassen hatte; damals war Freya dreizehn gewesen. Vielleicht müsste er seine Mit-Gästen-auf-keinen-Fall-Regel lockern. Es gab immer jemanden, der einsamer war als man selbst. Manchmal musste er gegen den Gedanken ankämpfen, dass sein Leben früher aus einem Übermaß an Sex und dem Gefühl brachliegenden Potenzials bestanden hatte, und dass daraus, wie das Leben mit seinem merkwürdigen Humor nun mal spielte, die Abwesenheit von Sex und das Gefühl vergeudeten Potenzials geworden war.

»Neuer Rock«, sagte er.

»Nein.«

»Aber neuer Haarschnitt.«

»Das hatten wir schon.«

Er setzte den Blinker. Nahm sich vor, das Beifahrerfenster abzudichten. Abdeckband, bevor es richtig Herbst wurde. Sie kamen an einem Labrador vorbei, der eine leichtgewichtige Frau Gassi führte.

Freya murmelte etwas.

»Du entwickelst einen Hang zum Murmeln«, sagte er.

»Ich soll dich von Wendy grüßen.«

»Ach? Ist ja nett. Wie geht’s ihr? Immer noch dem Tod nahe?«

»Klar. Jedes Mal ein bisschen näher.«

»Aber starke Frisur.«

»Hmm.«

»Bin ihr vor ein paar Wochen bei Woolworth begegnet. Hab ganz vergessen, es dir zu erzählen. Sie beklagte sich über einen eingewachsenen Zehennagel. Ich dachte schon, das wäre vielleicht ein Zeichen für eine Hinwendung zum Realismus.«

»Nein«, sagte Freya. »Von Zehen war nicht die Rede. Sie war wieder bei Hirntumoren und Operationen.«

»Schade.«

Sie rollten durch die luftigen, geraden und sicher wirkenden Straßen von Brighton mit den regelmäßig angeordneten Laternenpfählen und den sich paarweise reimenden Dachlinien. Dahinspazierende Mädchen in weißem Denim, mit schwingenden Pferdeschwänzen. Frauen in schicken dunklen Jacken, tailliert und mit breiten Schultern. Schräge, überweite T-Shirts, die staksigen Kids Platz boten, sich zu verstecken. Der Sommer noch nicht vorbei. Dieses spezielle Sommervibrieren. Die Premierministerin würde in ein paar Wochen herkommen. Er wusste, ihr Besuch war für ihn der Weg zur Beförderung. Zu einem Direktorenposten in Oxford oder Bristol oder Durham, wo auch immer Freya schließlich studieren würde. Und zu Geld. Die 14 000 Pfund, die er jetzt verdiente, waren wirklich nicht die Welt. Er hatte schließlich Verpflichtungen. Als Portier oder Hotelpage würde er mehr verdienen – diese Typen bauten sich Häuser aus Ein-Pfund-Münzen –, aber wenn man Portier oder Hotelpage war, blieb man sein Leben lang Portier oder Hotelpage, süchtig nach Trinkgeld und ohne Aufstiegsmöglichkeiten; er hatte das oft miterlebt. Im Management hatte man eine Zukunft. So jedenfalls die Theorie.

Links ab auf die King’s Road, wo ein Elektro-Milchwagen an ihnen vorbeischnurrte. Rechterhand das weite glitzernde Meer. Spätsaison-Urlauber überquerten, Handtücher über der Schulter, die Straße, um ein warmes Stück Strand zu erreichen. Graue Steine und beige Steine, manche schlüpfrig, manche trocken. Die britische Haltung zum Sonnenbrand war simpel: Geh da raus und aktualisiere die fleckige Röte von gestern auf einen gleichmäßig verteilten höheren Schweregrad. Das Draufgängertum seiner hitzesuchenden Landsleute machte Moose seltsam stolz. An Zuckerwattekiosken blätterte die Farbe ab, verblassender Seaside-Glanz.

Das Grand kam in Sicht, eine der Lieben seines Lebens, eine riesige weiße Hochzeitstorte von einem Gebäude mit Blick auf den Ärmelkanal. Die geräumigen Glasvorbauten, die Gesimse, die reichen Steinornamente. Der hoch droben wehende Union Jack. Er liebte all die verspielten Details und ihre kryptischen Namen. Hundertzwanzig Jahre Nadelstichregen, korrosive Sonne, salziger Sturm und ätzende Vogelkacke – das Kreuz, das jeder Küstenort zu tragen hatte.

Am schönsten fand er es, das Grand zusammen mit seiner Tochter zu betreten. Ja, diese Person habe ich erschaffen, schaut alle her. Ein winziger Ego-Moment in einem Gewerbe, in dem es darum ging, anderen einen angenehmen Aufenthalt zu bieten. Sein Lieblingsportier George winkte, als sie ausstiegen. George, der immer einen Schirm in der Hand hatte, immer auf Regen gefasst war, und der jedes Gepäckstück berührte, sobald sich die Kofferraumklappe öffnete, weil einem, wenn man erst mal die Hand am Koffergriff hatte, ein Trinkgeld so gut wie sicher war. Dann Dave, der Concierge mit dem breiten freundlichen Gesicht und dem stets nach Anis riechenden Atem, was seine Liebe zum Scotch überdecken sollte. Er verbeugte sich theatralisch vor Freya, was sie jedes Mal zum Lachen brachte. Derek, der Page, nickte einfach nur. Es hieß, er habe auf seiner Dartscheibe zu Hause ein Foto von Bernard Sadow, dem Erfinder des Rollkoffers.

Innerhalb dieser viktorianischen Mauern war Mooses Verhaltensstil exzessiv. Das Grand war Exzess. Es herrschten exzessive Zeiten. Er hatte weder Lust noch das nötige Geld, teure Anzüge zu tragen oder sein grau meliertes Haar mit Designergel aufzuwerten, und obwohl ihm Mathematik durchaus lag, fehlte ihm doch dieser gewisse innere Eissplitter, den man wohl brauchte, um durch Finanzgeschäfte reich zu werden. Also trug er stattdessen seinen marineblauen Burton-Anzug – gemacht für jemanden, der weder groß noch klein, weder dick noch dünn war – und ließ sich kleine Stegreif-Vorstellungen einfallen, Worte und Gesten, die seinen Gästen das Gefühl gaben, etwas Besonderes zu sein. Dabei hing sein Schlips über dem Teil seines Schildchens, auf dem STELLV. stand, sodass nur DIREKTOR sichtbar war, eine Beförderung ohne die zugehörige Gehaltserhöhung oder den entsprechenden Stolz. Seine Bühne war der Perserteppich in der Lobby. Er mochte die cremefarbenen Stuckschnörkel an der Decke, das Chromfunkeln des Gepäckwagens, die dekorativen Holzpaneele, die ihn an Malzmilchkekse erinnerten, das sanfte Licht eleganter Lampen. Er mochte die merlotfarbenen Vorhänge, die die Salons gegen Geräusche abschirmten. Das Herz des Hauses waren schmuddelige Gänge und Berge von dreckiger Wäsche, aber der Frontteil, der Bereich, den die Gäste sahen, wenn sie die blitzblanke Drehtür passiert hatten, war erfüllt von der Wärme der Opulenz, der beruhigenden Ausstrahlung des Antiken, dem Duft frischer Blumen. Das Erste, was man wahrnahm, wenn man – aus der jetzt langsamer drehenden Tür – in die Halle trat, war die Ruhe, die das klug gewählte Mobiliar ausstrahlte. Sitzbänkchen und Ohrensessel. Das Gainsborough-Sofa unter dem ersten dramatischen Schwung der Treppe. Es war mit edlem Leinen-Woll-Karostoff von Colefax and Fowler bezogen.

»Mr Barley, wie geht’s Ihrem Neffen, dem Nachrichtensprecher? Tolles Porträt im Argus.«

»Wie war der Champagner, Mrs Harding? Hat er das Garantiert-kein-Kater-Versprechen eingelöst?«

»Ich lasse diesen Konsolentisch austauschen, Mrs Mathis. Eine Frau von Ihrer Statur sollte sich nicht bücken müssen.«

»Eine Meerblick-Suite?«

»Aspirin?«

»Einen Arzt?«

»Eine Floristin?«

Duft von frischem Kaffee am Morgen. Tee und Backwerk am Nachmittag. Zahnputz-Sets hinterm Empfangstresen. Hunderte und Aberhunderte Kondome. Knoten-Manschettenknöpfe dutzendweise. Die Leute waren sehr verlässlich in dem, was sie zu Hause vergaßen, wie auch in dem, was sie hier ließen: Schlafanzüge, Handschellen, einmal eine Beinprothese. Moose war ein säkularer Mensch. Er hätte die Bibeln gern aus den Zimmern verschwinden lassen oder durch Koran-Ausgaben ergänzt, aber die Bibeln waren bei den Sommeraushilfen enorm beliebt – die dünnen Seiten eigneten sich offenbar prima dafür, Joints zu bauen –, und wenn einem etwas half, sich besser zu fühlen, und man es diskret praktizierte, wer hatte dann das Recht, es zu unterbinden?

An Tagen, an denen ihn Ehrgeiz und Reue überwältigten, an denen versäumte Gelegenheiten wie Kaugummis unter seinen Schuhen klebten und hässliche Fäden zogen, die ihn am Fortkommen hinderten, sagte er sich, dass hier das ganze menschliche Leben versammelt war. Ja, die Geschäfte. Das, wonach einen jeder fragte. Klar, diese Dinge definitiv. Aber Leute verlobten sich hier auch, heirateten. Sie bekamen Anrufe, dass ihr Vater oder ihre Mutter gestorben war. Sie zeugten Kinder. Sie bliesen Kerzen aus.

Am glücklichsten war er, wenn er mit Gästen redete. Wäre da nicht der strukturierende Einfluss von Deadlines und To-do-Listen gewesen, hätte er ganze Tage mit der Erörterung ihrer Geldmachideen und gesundheitlichen Beschwerden oder auch des idealen Kopfkissens, seiner perfekten Weichheit und Dicke, zubringen können.

Er mochte es, die Namen aller Gäste zu kennen und sich nach und nach das dazugehörige Leben zusammenzupuzzeln. Wenn Stammgäste von der Sorte waren, die gerne Hallo sagten, kannte er meist auch die Namen ihrer Kinder. Wenn sie dagegen ihren Angelegenheiten nachgingen, ohne jemals etwas von sich preiszugeben, nickte er lächelnd, spiegelte ihre Zurückhaltung. Gastlichkeit beinhaltete eine gewisse oberflächliche Schmeichelei, aber auch eine tiefe Vertrautheit. Sie war eine ganz spezielle Kombination aus Dichte und Luftigkeit. Man war permanent dabei, Menschen zu lesen, pausenlos und immerzu, und nur ganz gelegentlich war seine augenscheinliche Sympathie für Leute geheuchelt. Mal ein Lächeln gegenüber einem aalglatten Typen in Nadelstreifen, der tatsächlich nur ein glitschiger Fisch im Meer seiner eigenen Besitztümer war. Mal ein Kompliment an eine Frau, deren postoperative Brüste noch offensichtlicher unecht waren als ihre Augen – Augen wie leere Bildschirme, über die kurze Imitate gefühlten Erlebens flimmerten. Im Großen und Ganzen waren die Leute freundlich, wenn man freundlich zu ihnen war. Sie wollten eine schöne Zeit haben. Man gab sein Bestes und sein Schlechtestes. Die Riesenlüge, dass man ihre Beschwerde an die Direktion weiterleiten würde. Man sagte fast immer die Wahrheit, wenn man ihnen einen schönen Aufenthalt wünschte.

Mrs Harrington aus Zimmer 122 arbeitete sich beharrlich durch die Halle, schwenkte den Gehstock, den sie kaum je zu benötigen schien. Die alte Mrs H gehörte zu den verlässlichsten Stammgästen des Grand und bewohnte grundsätzlich nur Zimmer mit Nummern, deren Quersumme fünf ergab. Viele Rezeptionskräfte hatten diese ihre Vorliebe auf die harte Tour begreifen lernen müssen. »Die 240 ist ein sehr schönes Zimmer, Mrs Harrington.« »Lieber nicht, Kindchen.« »Dann vielleicht die 301?« »Lieber nicht.«

»Pünktlich wie immer, Mrs Harrington.«

»Sie«, sagte sie mit einer freundlichen Grimasse. »Immer noch angegriffen?«

»Angegriffen?«

»Blass.«

»Ich?«

»Achterbahn«, sagte sie und zog mit dem Gummifuß ihres Stocks eine Wellenlinie durch die Luft.

Moose versuchte zu lachen, schaffte es aber nur, sein Lächeln beizubehalten.

»Schmerzen im Arm«, sagte sie.

Er fühlte, wie ihn sein Lächeln im Stich ließ. »Woher wissen Sie das?«

»Sie haben es mir anvertraut.«

»Ach?«

Kurz schwenkte ihr Blick zu einem anderen Stammgast hin, Miss Mullan. Die war jede zweite Woche Mr Mullan, Vorstandsvorsitzender eines Toilettenartikelherstellers im FTSE 100.

»Ist wieder ganz in Ordnung, danke, Mrs H. War nur ein bisschen verrenkt. Ich bin noch nicht tot.«

»Das hat Geoffrey auch gesagt. Mein Geoffrey, bevor er starb.«

»Tut mir leid«, sagte Moose. »Das war gedankenlos von mir.«

Mrs H konnte die Schultern nicht groß bewegen, also kehrte sie, um ein Achselzucken anzudeuten, einfach die rechte Hand nach oben. »Sein Tod«, sagte sie. »Das Zweitbeste, das mir je passiert ist.«

»Was war das Beste?«

»Motorrad«, sagte sie und setzte ihre Reise in Richtung Restaurant fort. Das Frühstückspublikum wich zur Seite, als sie ihren Stock tief überm Boden hin und her schwang wie einen Blindenstock, und bildete eine Gasse zum besten Tisch.

Als Freya wohlbehalten hinterm Rezeptionstresen saß, das Kinn auf den Handballen, noch immer enttäuschend schlecht im Kaschieren ihrer Langeweile, machte er seinen üblichen Kontrollgang durch das Restaurant (ordentlich) und die Toiletten (blitzsauber). Er ging zum Abstellraum im ersten Stock hinauf, wo das Hotel Langzeitgepäck und Dinge wie Babybetten und Rollstühle lagerte. Gestern Abend hatte hier eine spontane Personalparty stattgefunden, und prompt entdeckte er nun in einer staubigen Ecke ein paar Dutzend Mini-Spirituosenflaschen. Und ein Kondomtütchen. Du liebe Güte. Einen unberührten Marathon-Riegel. Interessant. Er aß den Marathon-Riegel und suchte Mimi vom Housekeeping. Bat sie, die intakten Flaschen wieder in den Schrank mit den Minibarartikeln zu stellen und dafür zu sorgen, dass dieser doppelt abgeschlossen war. Keine 1-1-1-1-Kombinationen an Vorhängeschlössern, bitte. Dann, als er die Treppe mit dem dicken Läufer hinabstieg und es dabei sorgsam vermied, das Geländer zu berühren, um keine unnötigen Fettfingerspuren zu hinterlassen, begegnete er Küchenchef Harrys launischer Tigerkatze Barbara. Gewöhnlich bettelte sie um etwas Fressbares. In letzter Zeit war sie deprimiert. Bedachte ihn über hängende Schnurrhaare hinweg mit einem Blick, der zu besagen schien: »Was hat das alles für einen Sinn?«

»Besser wird’s nicht, Barb.«

Sie legte die Ohren an und gähnte.

Er fragte Marina, die Gästebetreuerin des Grand, ob es noch weitere Presseanfragen wegen des Parteitags oder irgendwelche Änderungen der Kontingentbuchung durch die Sekretärin der Sekretärin der Premierministerin gebe. Gab es nicht, also bestaunte er nur ihre wundersame Art, zwischen den Sätzen Luft so emporzublasen, dass ihr weicher, dunkler Pony flatterte, und nahm seine Enttäuschung und Erregung mit in das Kämmerchen, das er sein Büro nannte. Ein Memo, das es fertigzustellen galt. Eine Briefing-Mappe über die Haupt-VIPs unter den erwarteten Gästen. Genehmigungen für die Installation zusätzlicher Sicherheits- und Überwachungssysteme – neun Kameras, zwölf, die Anforderungen änderten sich ständig. Papier, das aus seiner IBM-Typenrad-Schreibmaschine wuchs. Kein natürliches Licht hier drinnen. Vorausgesetzt, der Direktor trat wie geplant in ein paar Wochen ab, und ferner vorausgesetzt, der Besuch der Premierministerin wurde ein großer Erfolg, und überdies noch vorausgesetzt, die Konzernleitung stand zu ihrem Wort, dies alles vorausgesetzt, würde Moose bald nach oben umziehen, in ein Büro mit dem Türschild »Direktor«. Gesamtleitung. Ein anständiges Gehalt. Sonne und Seeblick. Er wünschte, er wäre nicht in diesem Maß auf Anerkennung angewiesen, aber sie gab ihm nun mal die Dosis Rückenwind, die er brauchte, um jede dieser Siebzigstundenwochen hinter sich zu bringen.

Absätze, die Gestalt annahmen. Manchmal blockierte die Tastatur. Klack, klack, klack und nur vier Tippfehler. Die Legasthenie immer ein irritierendes Etikett in seinem Kopf, das sein Bemühen um Eloquenz hemmte. Der Wandkalender mit tief stehender Sonne hinter Feldern und dem Wort September, laubumkränzt. Er hatte die Gewohnheit, jeden beendeten Tag durchzustreichen, Kästchen ausgeixten Lebens, mit Bleistift, nicht mit Tinte, als könnte er irgendwann einen längst vergangenen Dienstag wieder aktivieren wollen. Auf dem Aktenschränkchen standen seine kleinen goldenen Statuetten, Männer mit Oberkörpern, die auf der Spitze stehende Dreiecke waren, an Sprungbrettkanten. Sie und der Hutständer waren seine Lieblingsstücke im Büro.

Besaß er überhaupt Hüte? Nein, bislang nicht. Aber er hatte eine Reihe fester Grundsätze – niemals ein Taxi nehmen, sich niemals scheuen, Kohlenhydrate zu kombinieren –, und einer davon lautete, dass ein Hutständer etwas war, was jeder Mann besitzen sollte. Man wusste ja nie, wann man sich einen Hut zulegen wollen würde. Freya hatte gesagt: »Warum nimmst du ihn so lange nicht für Mäntel?« Aber da entging seiner Tochter das Wesentliche: Er hob den Hutständer für eine Kopfbedeckung auf. Er sah es vor sich: das köstliche erste Mal, wenn er über einen dieser schön geschwungenen Arme eine Ascot-Schirmmütze, eine Schottenmütze, eine Baskenmütze, einen Strohhut, einen Fes oder einen Fedora werfen würde. Ein magischer Moment, den er für die Zukunft aufsparte.

Er griff sich einen Ordner mit der Aufschrift »Aufenthalt Konservative Partei« und machte sich ans Ausfeilen seiner Strategien, das er nur dafür unterbrach, Universitäten anzurufen und um die Zusendung weiterer Prospekte zu bitten.

Am Nachmittag fand ein Meeting mit folgender Agenda statt:

Wecker-Bereitstellung. 201 + Reserve. Testkommission. Eigenschaften. LED-Licht? Geeignet für Weitsichtige, Langschläfer etc. (PF) Servietten für Anlässe während des Parteitags. Schottischer Lieferant. Problem? Parteitagsblau? (PF) Anfrage wg. Engpass vom Cameron House. (PF) Trainingsprogramm für zusätzliche Aushilfen. (PF)Canapé-Favoriten (PF)Installation Faxgerät (PF)Ärgernis Überwachungssystem für Nicht-Parteitagsgäste entschärfen? (MV)Handtücher nicht weich genug – was soll es bringen, mit Weichspüler zu knausern? (DN)Ausschreitungen (PF)Irische Demonstranten (PF)SicherheitsbedrohungenSonstiges

Unter »Sonstiges« – dem Tagesordnungspunkt, der so selten für etwas anderes als Geburtstagsglückwünsche genutzt wurde – kam es zu einem Gespräch darüber, dass im Hotel schon fast neun Monate lang keine Badewanne mehr übergelaufen war, was als Rekord gewertet wurde. Außerdem beschwerte sich ein Zimmermädchen über neuerliche Spermaspritzer auf blumengemusterten Vorhängen. Wer waren diese Vorhangficker? Was trieb sie an?

Als Punkt 12 abgehandelt war, richtete der stets frivole Peter Samuels eine spitzbübische Frage an Fran. Sie war die Housekeeping-Leiterin für die Nachmittagsschicht, eine Schwarze mit hervorstechenden Augen. Gute-Nacht-Service, Beschaffung, Dienstpläne. Das Regiment über zweiunddreißig Housekeeping-Kräfte.

Fran sagte zu Peter: »Na-ah, nee, nee, falsch. Ich erzähl jetzt, wie’s wirklich war. Okay. Also. Die Frau kommt aus dem Bad, okay? Nass und splitterfasernackt.« Fran machte eine Effektpause. Stille im Raum. Nur Marina lächelte. Vielleicht kannte sie die Geschichte schon. »Also, sie hat nichts an, diese Frau, außer einem kleinen weißen Handtuch ums Haar. Ich bin an dem Tag eingesprungen, für eins von diesen faulen Sommermädchen, Veronica Vomita, ihr wisst schon, die Kotztante.« Nervöses Lachen aus der Schar der Versammelten, von denen mindestens zwei Veronica persönlich empfohlen hatten. »Und sie, die Frau, mit blanken Titten und blankem Hintern – einfach alles blitzeblank –, sie lächelt mich an und sagt total lässig, ›Machen Sie weiter, meine Liebe, aber ziehen Sie die Vorhänge zu, ja? Ich will nicht, dass mich die Nachbarn nackt sehen.‹«

Schweigen rund um den Tisch. Männer beugten sich begierig vor. »Und was haben Sie gemacht, Fran?«

»Na ja«, sagte Fran, »ich hab weiter das Bett gemacht, was sonst? Und dann hab ich ihr superhöflich erklärt, dass die Nachbarn, wenn sie sie nackt sähen, ihre eigenen Vorhänge verdammt schnell zuziehen würden.«

Der ganze Raum brach in schallendes Gelächter aus. Fran arbeitete schon fast dreißig Jahre in der Hotellerie. Ihre Hauptkritik am Grand war, dass es zur Uniform keine Strumpfhosen stellte.

Als der Himmel über dem Kanal dunkellila wurde und nur noch ein paar zarte korallenrote Schnörkel hoch droben überdauert hatten, ließ Moose sich für seine Aperitif-Kombination aus Bier und Zigarette an der Bar nieder. Sein Zippo trug die eingravierten Worte »Für Viv, in Liebe, Phil«. Seine Ex-Frau war keine besonders passionierte Raucherin gewesen. Marina kam herüber, ein Päckchen Menthol-Zigaretten in der Hand. Moose gab ihr Feuer. Das Beste am Rauchen war, dass einen manchmal Leute wie Marina um Feuer baten.

Er ließ ein 20-Pence-Stück in die Kasse fallen, riss einen Beutel Chips auf, zog ihr einen Sessel heran. Bilder berühmter Gäste schmückten eine Wand: Napoleon der Dritte, John F. Kennedy, Harold Wilson.

»Mach mal frei, Moose«, sagte Marina. »Zwei, drei Tage sind doch wohl drin, oder?« Sie hob die Arme. Ein kleines rosa Gähnen, als sie sich streckte. Wieder einmal registrierte er die wundersame Profanität ihrer Ellbogen – zornige kleine Kreaturen, die zu linkisch schienen, um zu ihrem Körper zu gehören.

Formal war er, qua gepunkteter Linie, Marinas Vorgesetzter. Doch der Zusammenprall von Kontinenten in ihrer Stimme gab der Gästebetreuerin etwas Weltläufiges, das er nicht ignorieren konnte. Und: Er litt immer noch ein bisschen an der Verknalltheit von damals. Er nahm sich alles, was sie sagte, zu Herzen und respektierte die Tatsache, dass sie nicht besonders viel über ihre Vergangenheit erzählte. Viv hatte immer gesagt, es gebe zwei Sorten Menschen, Vergangenheits- und Gegenwartsmenschen. Sich selbst hatte Viv als Gegenwartsmenschen gesehen, was ihr einen Vorwand dafür lieferte, nie über ihre Gefühle in Bezug auf etwas bereits Geschehenes zu reden. Über solche Dinge grübelte sie vielmehr im Stillen. Marina hingegen war schiere Gegenwart. Sie bewohnte sie. Besaß sie. Männliche Grand-Beschäftigte wateten durch die Mythen, die Marina umgaben, und genossen das Gefühl, festzustecken. Die Geschichte, dass sie in Argentinien mit einem ehebrecherischen Game-Show-Moderator verheiratet gewesen war. Dass sie Model gewesen war und Kinderunterhalterin. Dass ihr kürzlich, an ihrem achtunddreißigsten Geburtstag, eine kurzhaarige blonde Frau in einem Café in den Lanes einen Heiratsantrag gemacht hatte. Niemand wusste, was wirklich stimmte.

»Auch einen?«, fragte er.

Marina schüttelte den Kopf.

Die ersten drei Chips aß er einzeln, um zu schauen, wie lange er sie auf der Zunge behalten konnte, bevor er dem Reiz der Knusprigkeit erlag. Den Rest stopfte er schnell in sich hinein.

3

Mit einem nagelneuen Kugelschreiber aus der Schublade begann Freya, über einen 42-seitigen Prospekt »Unsere Hotels« gebeugt, die geschlossenen Flächen der Buchstaben ›b‹, ›g‹, ›e‹ und ›o‹ auszumalen. Auf dem westlichen Ende des Rezeptionstresens harrten zehn Büroklammern einer noch unbekannten Verwendung, am Ostende lag, in einer Schattenpfütze, das Gästeregister: ein dickes Buch mit Eintragungen über Zimmerpreise und Eincheckdaten, aber auch mehreren ambitionierten Kritzelzeichnungen von Pinguinen in strömendem Regen und einer regelmäßig aktualisierten Rubrik »LÜGENDESTAGES – DIETOPFIVE«.

Unsere Einzelzimmer sind alle exakt gleich groß, Sir.

Tut mir wirklich sehr leid, Madam. Wenn es irgendwie möglich wäre, Ihnen ein besseres Zimmer zu geben, würde ich es tun.

Gern geschehen.

Der Direktor hat sich auch gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen!

Natürlich erinnere ich mich an Sie, Mr Norton. Es freut mich sehr, Sie wieder hier bei uns zu haben.