Der große Schlaf - Raymond Chandler - E-Book

Der große Schlaf E-Book

Raymond Chandler

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Beschreibung

General Sternwood ist steinalt, steinreich und hat zwei schöne, wilde Töchter. Die aufreizende Carmen wird erpresst, und Privatdetektiv Philip Marlowe soll die Sache aus der Welt schaffen. Der erste Großstadtdetektiv überhaupt findet sich wieder zwischen Banditen und Blondinen. Alle haben ihre Waffen: Kurven, Kugeln – und Marlowe seine Cleverness. Achtzig Jahre nach Erscheinen originalgetreu übersetzt in einer modernen Sprache, mit Dialogen wie Schusswechsel. Neuedition der berühmten ›Marlowe‹-Romane. Neuübersetzung von Frank Heibert. Mit einem Nachwort von Donna Leon.

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Seitenzahl: 314

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Raymond Chandler

Der große Schlaf

Roman

Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert

Mit einem Nachwort von Donna Leon

Diogenes

Der große Schlaf

1

Es war gegen elf Uhr vormittags, Mitte Oktober, keine Sonne am Himmel, und die klare Luft am Fuß der Berge sah nach hartem, nassem Regen aus. Ich trug meinen taubenblauen Anzug mit dunkelblauem Hemd, Schlips und Einstecktuch, schwarze Budapester und schwarze Wollstrümpfe mit dunkelblauem Uhrenmuster. Ich war sauber, rasiert, korrekt und nüchtern, egal, wer das merkte. Ich war hundert Prozent der gutangezogene Privatdetektiv. Ich hatte einen Termin mit vier Millionen Dollar.

Das Entree der Sternwoods ging über zwei Stockwerke. Über der doppelflügligen Eingangstür, durch die eine Herde Indischer Elefanten gepasst hätte, prangte ein Buntglasfenster. Da rettete ein Ritter in dunkler Rüstung eine Dame, die an einen Baum gefesselt war und statt Kleidern über sehr lange, zweckdienliche Haare verfügte. Der Ritter, das Visier zum Zeichen seiner guten Absichten hochgeklappt, fummelte an den Knoten der Seile herum, kriegte es aber nicht hin. Ich dachte, wenn das mein Zuhause wäre, würde ich früher oder später da raufsteigen und etwas nachhelfen. Er schien sich nicht mal richtig anzustrengen.

Am anderen Ende der Eingangshalle führte eine Terrassentür auf eine weite smaragdgrüne Rasenfläche hinaus. Vor der weißen Garage gegenüber polierte der junge Chauffeur, ein schlanker, dunkelhaariger Mann in schwarzglänzender Überhose, emsig ein weinrotes Packard Cabrio. Hinter der Garage standen ein paar Zierbäume, adrett getrimmt wie Pudel. Und dahinter ein großes Treibhaus mit Glaskuppel, weitere Bäume und hinter allem die stabile, anheimelnde Silhouette der welligen Vorberge.

An der Ostseite der Halle schwang sich eine geflieste Freitreppe zu einer Galerie mit schmiedeeisernem Geländer und noch mehr Buntglaskitsch empor. An den übrigen Wänden standen große, hohe Stühle mit schwellenden roten Plüschpolstern. Sie sahen nicht aus, als hätte da jemals wer drauf gesessen. Unbenutzt wirkte auch der große Kamin gegenüber der Treppe mit seinem vierteiligen Messingschirm und dem Marmorsims, das ein Cupido an jeder Ecke zierte. Weiter oben an der Wand hingen ein großes Ölgemälde und darüber, unter Glas, zwei gekreuzte Kavallerie-Standarten mit Einschuss- oder Mottenlöchern. Auf dem Bild posierte ein Offizier, ungefähr aus der Zeit des Mexikokrieges, steif in vollem Wichs. Er hatte einen gezwirbelten schwarzen Schnäuzer mit Mouche und harte schwarze Augen wie glühende Kohlen, ein Mann, mit dem man sich besser nicht anlegte. General Sternwoods Großvater? Er selbst konnte es kaum sein, andererseits hatte ich gehört, er sei schon ziemlich alt für einen Mann mit zwei Töchtern in den gefährlichen Zwanzigern.

Ich starrte immer noch auf die zwei glühenden Kohlen, als sich ganz hinten unter der Treppe eine Tür auf‌tat. Da kam nicht der Butler zurück. Da kam eine junge Frau.

Sie war gerade mal zwanzig, klein und zierlich, aber sie wirkte strapazierfähig. Die blassblaue Hose stand ihr. Sie schien darin zu schweben. Ihr falber, in Wellen gelegter Pagenkopf war noch kürzer geschnitten als gerade in Mode. Ihre schiefergrauen Augen sahen mich fast ausdruckslos an. Sie rückte nah an mich heran und verzog den Mund zu einem Lächeln. Scharfe Raubtierzähnchen, so weiß wie die Haut der Orange und so glänzend wie Porzellan, glitzerten zwischen ihren schmalen, angespannten Lippen. Sie hatte kaum Farbe im Gesicht, besonders gesund sah das nicht aus.

»Sie sind aber groß«, sagte sie.

»War keine Absicht.«

Ihre Augen wurden rund. Sie war perplex. Sie dachte nach. Ich kannte sie erst kurz, aber es war schon klar, dass das Denken ihr immer Mühe machen würde.

»Und attraktiv«, sagte sie. »Das wissen Sie natürlich.«

Ich schnaubte.

»Wie heißen Sie?«

»Reilly«, sagte ich. »Lusche Reilly.«

»Komischer Name.« Sie biss sich auf die Unterlippe, neigte ganz leicht den Kopf und warf mir einen schrägen Blick zu. Dann senkte sie die Wimpern, bis sie fast mit den Wangen kuschelten, und hob sie langsam wieder, wie einen Theatervorhang. Diesen Trick hatte ich nicht zum letzten Mal gesehen. Der sollte dafür sorgen, dass ich mich auf den Rücken warf, alle viere in die Luft.

Ich tat nichts dergleichen. Als Nächstes fragte sie: »Sie sind Ire. Also Boxer?«

»Knapp daneben. Ich bin Schnüff‌ler.«

»Ein – ein –« Ärgerlich warf sie den Kopf in den Nacken, ein schillernder Farbschwung im trüben Licht der Halle. »Sie nehmen mich auf den Arm.«

»Nö.«

»Was?«

»Ab ins Körbchen«, sagte ich. »Sie haben richtig gehört.«

»Sie haben gar nichts gesagt. Alles nur Bluf‌f.« Sie reckte einen Daumen und biss hinein. Seltsam geformt war der, dünn wie ein zusätzlicher Finger, ohne Krümmung. Sie biss hinein und lutschte langsam daran, drehte ihn im Mund wie einen Schnuller.

»Sie sind furchtbar groß«, sagte sie. Dann kicherte sie, merkwürdig belustigt. Und dann drehte sie sich langsam und geschmeidig auf den Zehenspitzen und ließ sich rückwärts in meine Arme fallen. Ich musste sie auf‌fangen oder zusehen, wie sie sich auf dem Mosaikboden den Schädel brach. Kaum hatte ich ihr unter die Achseln gegriffen, gaben ihre Beine nach. Wenn ich sie halten wollte, musste ich sie an mich ziehen. Als ihr Kopf an meiner Brust lag, schraubte sie ihn herum und kicherte mir ins Gesicht.

»Sie sind süß«, kicherte sie. »Ich bin auch süß.«

Ich sagte nichts. Und genau da, wie passend, trat der Butler durch die Terrassentür und sah sie in meinen Armen.

Es schien ihn nicht zu stören. Er war groß, dünn und silbern, sechzig oder fast sechzig oder knapp darüber. Seine blauen Augen waren so fern, wie es Augen nur sein können. Er hatte glatte, helle Haut und bewegte sich wie ein Mann mit geschmeidigen Muskeln. Während er langsam näher kam, riss sich die Kleine los. Sie sauste quer durch die Halle zur Treppe und huschte nach oben wie ein Reh. Bevor ich auch nur Luft holen konnte, war sie weg.

Tonlos sagte der Butler: »General Sternwood wird Sie jetzt empfangen, Mr. Marlowe.«

Ich zog meine Kinnlade von der Brust hoch und nickte. »Wer war das?«

»Miss Carmen Sternwood, Sir.«

»Sie sollten sie abstillen. Kommt mir alt genug vor.«

Er sah mich ernst und höf‌lich an und sagte seinen Satz noch mal.

2

Wir traten durch die Terrassentür auf einen gepflegten, rotgeklinkerten Weg, der abseits der Garage die Rasenfläche umrundete. Jetzt hatte der jungenhafte Chauffeur eine große Limousine in Schwarz und Chrom draußen und polierte die. Der Weg führte zum Treibhaus, wo der Butler mir eine Seitentür aufhielt. In dem Windfang dahinter war es so warm wie in einem Ofen bei niedriger Hitze. Der Butler folgte mir, schloss die Tür, öffnete eine zweite. Drinnen war es richtig heiß. Die Luft war dumpf, feucht, dunstig und vom süßlichen Geruch tropischer Orchideen geschwängert. Wände und Dach des Treibhauses waren stark beschlagen, dicke Kondenstropfen platschten auf die Pflanzen. Das Licht war unwirklich grün, wie in einem Aquarium. Ein Dickicht aus scheußlichen fleischigen Blättern und Stengeln wie frisch gewaschene Leichenfinger überwucherte den Raum. Sie rochen so überwältigend, als würde man unter einer Pferdedecke Schnaps brennen.

Der Butler tat, was er konnte, damit ich durchkam, ohne von den triefenden Blättern geohrfeigt zu werden, und nach einer Weile erreichten wir eine Lichtung mitten im Dschungel, unter der Glaskuppel. Auf einem gefliesten Sechseck lag ein alter roter Orientteppich, darauf stand ein Rollstuhl, und aus dem Rollstuhl sah uns ein alter, offenkundig sterbenskranker Mann entgegen: Das Feuer der Augen war vor langem erloschen, und doch hatten sie noch immer den kohlschwarzen, direkten Blick wie auf dem Gemälde in der Halle. Ansonsten war sein Gesicht eine bleierne Maske, mit den blutleeren Lippen, der spitzen Nase, den eingesunkenen Schläfen und den nach außen gekrümmten Ohrläppchen des nahenden Verfalls. Sein langer hagerer Körper war – bei dieser Hitze – in einen ausgeblichenen roten Bademantel und ein Plaid gehüllt. Die dünnen Klauenhände mit ihren violetten Nägeln ruhten locker gefaltet auf der Decke. Auf seinem Schädel klebten ein paar trockene weiße Haarsträhnen, als kämpf‌ten Wildblumen auf einem kahlen Felsen ums Überleben.

Der Butler stellte sich vor ihn und sagte: »General Sternwood, Mr. Marlowe ist da.«

Der alte Mann rührte sich nicht, kein Wort, nicht mal ein Nicken. Er blickte mich nur leblos an. Der Butler schob mir einen feuchten Weidenstuhl in die Kniekehlen, und ich setzte mich. Beherzt griff er nach meinem Hut.

Der alte Mann holte seine Stimme aus einem tiefen Brunnen. »Brandy, Norris. Wie trinken Sie Ihren Brandy, Sir?«

»Wie er kommt«, sagte ich.

Der Butler verschwand zwischen den abscheulichen Pflanzen. General Sternwood sagte wieder etwas, langsam, sorgsam mit seinen Kräften haushaltend wie ein arbeitsloses Showgirl mit seinen letzten guten Nylons.

»Früher nahm ich meinen mit Champagner. Den Champagner so kalt wie der Eisberg der Titanic, mit einem Drittel Brandy drunter. Legen Sie ruhig ab, Sir. Es ist zu heiß hier drin für einen Mann mit Blut in den Adern.«

Ich stand auf, streif‌te das Jackett ab, zog ein Taschentuch heraus und wischte mir über Gesicht, Nacken und Handgelenke. St. Louis im August war nichts dagegen. Ich setzte mich wieder, tastete reflexhaft nach einer Zigarette und hielt inne. Der alte Mann bemerkte es und lächelte schwach.

»Rauchen Sie ruhig, Sir. Ich mag den Geruch von Tabak.«

Ich zündete die Zigarette an und blies ihm eine Lunge voll zu. Er schnüffelte wie ein Terrier an einem Rattenloch. Das schwache Lächeln zerrte an seinen verschatteten Mundwinkeln.

»Schöner Zustand, wenn man seinen Lastern nur noch stellvertretend nachgehen kann«, sagte er trocken. »Sie haben die mickrigen Reste eines ziemlich wilden Lebens vor sich, einen an beiden Beinen gelähmten Krüppel mit halbem Unterleib. Ich kann nur sehr wenig essen, mein Schlaf hat seinen Namen kaum verdient, so ähnlich ist er dem Wachsein. Ich überlebe nur noch in der Hitze, wie eine frisch geschlüpf‌te Spinne, so siehts aus, die Orchideen sind reiner Vorwand. Mögen Sie Orchideen?«

»Nicht besonders.«

Er schloss halb die Augen. »Widerliches Zeug. Ihr Fleisch ähnelt zu sehr dem Fleisch der Menschen. Ihr Duft hat die faulige Süße einer Hure.«

Mir stand der Mund offen. Die weiche, feuchte Hitze legte sich auf uns wie ein Leichentuch. Der alte Mann nickte leicht, als fürchtete sein Nacken das Gewicht seines Kopfes. Dann kam der Butler mit einem Teewagen durch den Dschungel, mixte mir einen Brandy-Soda, hüllte den kupfernen Eiskübel in eine feuchte Serviette und entfernte sich sacht zwischen den Orchideen. Eine Tür ging auf und schloss sich wieder hinter ihm.

Ich nahm einen Schluck. Der alte Mann ließ mich nicht aus den Augen, leckte sich immer wieder den Mund und zog grabesversunken eine Lippe über die andere, wie ein Bestatter sich die Hände abwischt.

»Erzählen Sie mir von sich, Mr. Marlowe. Ich darf doch fragen?«

»Klar, aber da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin dreiunddreißig, war mal auf dem College und kann immer noch britisches Englisch, bei Bedarf. Besteht in meinem Metier aber kaum. Ich habe mal für den Bezirksstaatsanwalt Mr. Wilde ermittelt. Sein Chefermittler, ein Mann namens Bernie Ohls, rief mich an und sagte, Sie wollten mich treffen. Ich bin nicht verheiratet, weil ich Polizistenfrauen nicht leiden kann.«

»Ach, zynisch ist er auch.« Der alte Mann lächelte. »Haben Sie ungern für Wilde gearbeitet?«

»Ich wurde gefeuert. Wegen Unbotmäßigkeit. Da schneide ich immer sehr gut ab.«

»Freut mich zu hören, Sir. Das ging mir auch immer so. Was wissen Sie über meine Familie?«

»Wie ich höre, sind Sie Witwer und haben zwei junge Töchter, beide hübsch und beide wild. Eine war dreimal verheiratet, zuletzt mit einem früheren Alkoholschmuggler namens Regan, Spitzname Rusty. Das wars schon, General Sternwood.«

»Fanden Sie irgendwas davon merkwürdig?«

»Vielleicht den Rusty-Regan-Teil. Aber mit Alkoholschmugglern hatte ich nie Probleme.«

Wieder sein sparsames Lächeln. »Ich offenbar auch nicht. Ich mag Rusty sehr. Ein stämmiger irischer Lockenkopf aus Clonmel mit traurigen Augen und einem Lächeln so breit wie der Wilshire Boulevard. Anfangs hielt ich ihn für genau das, wofür Sie ihn wahrscheinlich halten, einen Abenteurer, der einen fetten Vogel geschossen hatte.«

»Sie müssen Rusty gemocht haben«, sagte ich. »Sie haben sogar seine Sprüche übernommen.«

Er steckte seine dünnen, blutleeren Hände unter die Decke. Ich drückte meinen Zigarettenstummel aus und leerte das Glas.

»Er war für mich der reinste Jungbrunnen – solang er durchhielt. Er saß stundenlang bei mir, schwitzte wie ein Schwein, trank literweise Brandy und erzählte mir Geschichten vom irischen Bürgerkrieg. Er war Offizier in der IRA gewesen. Er war nicht mal legal in den USA. Die Ehe war natürlich eine Farce und hielt als Ehe wahrscheinlich nicht mal einen Monat. Ich erzähle Ihnen hier die Familiengeheimnisse, Mr. Marlowe.«

»Sie bleiben auch geheim«, sagte ich. »Was ist aus ihm geworden?«

Das Gesicht des alten Mannes versteinerte. »Vor einem Monat ist er weggegangen. Einfach so, ohne ein Wort. Ohne sich von mir zu verabschieden. Das tat ein bisschen weh, aber er hat viel hinter sich. Irgendwann meldet er sich schon. Unterdessen werde ich wieder erpresst.«

»Wieder?«

Er zog die Hände unter der Decke hervor, mit einem braunen Umschlag. »Als Rusty noch da war, hätte mir jeder leidgetan, der das versucht. Ein paar Monate, bevor er kam – also vor einem guten Dreivierteljahr –, bezahlte ich einem Mann namens Joe Brody fünf‌tausend Dollar, damit er meine jüngere Tochter Carmen in Ruhe ließ.«

»Ach.«

Die dünnen weißen Augenbrauen zuckten. »Will sagen?«

»Nichts.«

Er starrte mich weiter an, mit einem leichten Stirnrunzeln. Dann: »Hier. Schauen Sie da mal rein. Und bedienen Sie sich beim Brandy.«

Ich nahm den Umschlag von seinen Knien, setzte mich wieder und drehte ihn um, nachdem ich mir die Hände abgewischt hatte. Er war adressiert an General Guy Sternwood, 3765 Alta Brea Crescent, West Hollywood, California. Die Adresse war mit Tinte geschrieben, in der schrägen Druckschrift der Ingenieure. Der Umschlag war aufgeschlitzt. Ich griff hinein und zog eine braune Karte und drei Pappstreifen hervor. Die Karte war aus dünnem braunen Leinen, in Gold bedruckt: »Mr. Arthur Gwynn Geiger«. Keine Adresse. In der unteren linken Ecke, sehr klein: »Seltene Bücher und Deluxe-Ausgaben«. Ich drehte die Karte um. Schräge Druckschrift auch hier. »Sehr geehrter Herr: Obwohl Beiliegendes rechtlich nicht einklagbar ist, da es sich zugegebenermaßen um Spielschulden handelt, gehe ich davon aus, dass Sie diese beglichen sehen möchten. Hochachtungsvoll, A.G. Geiger.«

Ich betrachtete die weißen Pappstreifen. Es waren mit Tinte ausgefüllte Schuldscheine, auf verschiedene Tage Anfang September datiert, gut vier Wochen alt. »Hierfür ist Mr. Arthur Gwynn Geiger oder Überbringer die Summe von eintausend Dollar ($ 1000,00) zinsfrei auszuzahlen. Gegenwert erhalten. Carmen Sternwood.«

Die Handschrift war ausladend und dümmlich, mit Unmengen fetter Schnörkel und Kringel statt Punkten. Ich mixte mir noch einen Drink, nahm einen Schluck und legte das Asservat beiseite.

»Was sagen Sie?«, fragte der General.

»Noch nichts. Wer ist dieser Arthur Gwynn Geiger?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Was sagt Carmen?«

»Hab sie nicht gefragt. Hab ich auch nicht vor. Sie würde nur an ihrem Daumen lutschen und neckisch gucken.«

»Ich bin ihr in der Eingangshalle begegnet. Da hat sie genau das getan. Und wollte gleich auf meinen Schoß.«

Er verzog keine Miene. Die gefalteten Hände ließ er friedlich auf der Decke. Die Hitze, in der ich schmorte wie Irish Stew, schien ihn nicht mal anzuwärmen.

»Muss ich höf‌lich sein?«, fragte ich. »Oder reicht natürlich?«

»Sie nehmen doch auch sonst kein Blatt vor den Mund, Mr. Marlowe.«

»Ziehen die beiden Mädchen zusammen los?«

»Ich glaube nicht. Ich glaube, jede von ihnen geht ihren eigenen, etwas anderen Weg in die Verdammnis. Vivian ist verwöhnt, anspruchsvoll, clever und ziemlich skrupellos. Carmen ist ein Kind, das gern Fliegen die Flügel ausreißt. Keine von ihnen hat mehr Sinn für Moral als eine Katze. Ich übrigens auch nicht. Wie alle Sternwoods. Weiter.«

»Die beiden haben eine gute Erziehung genossen, nehme ich an. Sie wissen, was sie tun.«

»Vivian war auf teuren Schulen für Snobs und auf dem College. Carmen war auf einem halben Dutzend Schulen von zunehmend freizügiger Auf‌fassung und stand am Ende wieder da, wo sie angefangen hatte. Ich vermute, sie hatten beide alle gängigen Laster und haben sie bis heute. Sollte das von einem Vater etwas finster klingen, dann deshalb, Mr. Marlowe, weil ich dem Leben schon zu fern bin, ich habe keine Zeit für viktorianische Heuchelei.« Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, dann riss er sie wieder auf. »Ich brauche nicht zu betonen, dass ein Mann, der sich die Freuden der Vaterschaft erst im Alter von vierundfünfzig Jahren leistet, es nicht besser verdient hat.«

Ich trank einen Schluck und nickte. An dem dünnen grauen Hals war das Pochen seines Pulses zu sehen, doch so langsam, dass man es kaum als Puls bezeichnen konnte. Ein alter Mann, zu zwei Dritteln tot, und doch glaubte er fest an sein Durchhaltevermögen.

»Was sagen Sie?«, blaffte er plötzlich.

»Ich würde bezahlen.«

»Warum?«

»Es ist wenig Geld und spart viel Ärger. Bestimmt ist an der Sache was dran. Doch das wird Ihnen nicht gleich das Herz brechen, wenn es nicht schon geschehen ist. Und es würde sehr viele Schwindler sehr viel Zeit kosten, Ihnen genug Geld abzunehmen, dass Sie es überhaupt merken.«

»Man hat seinen Stolz, Sir«, sagte er kalt.

»Ja, darauf zählt hier einer. Und das ist womöglich eine gute Spur. Oder Sie gehen zur Polizei. Geiger könnte diese Schuldscheine einlösen, es sei denn, Sie weisen ihm Betrug nach. Stattdessen schenkt er sie Ihnen und gibt noch zu, dass es Spielschulden sind, womit Sie etwas gegen ihn in der Hand haben. Wenn er ein Ganove ist, dann kennt er sich aus, und wenn er ein ehrlicher Mann ist, der sich mit Geldverleihen was dazuverdient, dann soll er sein Geld kriegen. Wer ist dieser Joe Brody, dem Sie fünf‌tausend Dollar bezahlt haben?«

»Irgendein Spieler. Kann mich kaum erinnern. Norris wüsste das. Mein Butler.«

»Haben Ihre Töchter eigenes Geld, Sir?«

»Vivian ja, aber nicht sehr viel. Carmen nicht, sie steht zwar im Testament ihrer Mutter, ist aber noch nicht volljährig. Sie kriegen beide großzügig Taschengeld.«

»Wenn Sie wollen, General Sternwood, kann ich Ihnen diesen Geiger vom Hals schaffen«, sagte ich. »Wer immer er ist und was immer er weiß. Es könnte Sie ein bisschen was kosten, neben dem, was Sie mir bezahlen. Und natürlich wird es Ihnen gar nichts bringen. Die können Sie nie genug schmieren. Bei denen stehen Sie längst auf der Liste der Großzügigen.«

»Verstehe.« Unter dem ausgeblichenen Bademantel zuckten seine breiten, knochigen Schultern. »Eben sagten Sie noch, bezahlen. Jetzt sagen Sie, es bringt mir nichts.«

»Unterm Strich ist es vielleicht billiger und einfacher, wenn Sie erst mal mitspielen. Ausnehmen lassen, aber in Maßen. Das meinte ich.«

»Ich fürchte, Mr. Marlowe, ich bin ein ziemlich ungeduldiger Mensch. Was ist Ihr Tarif?«

»Fünfundzwanzig am Tag plus Spesen – wenns hochkommt.«

»Verstehe. Klingt angemessen, wenn Sie einem dafür das Geschwür wegmachen, das einem im Nacken sitzt. Eine heikle Operation, das ist Ihnen hoffentlich klar. Sie sorgen dafür, dass der Patient möglichst wenig davon merkt? Es könnte auch mehr als eines geben, Mr. Marlowe.«

Ich trank mein zweites Glas aus und wischte mir Mund und Gesicht ab. Der Brandy machte die Hitze auch nicht besser. Der General blinzelte und zupf‌te an seiner Decke.

»Kann ich mit dem Typen verhandeln, wenn ich den Eindruck habe, er ist minimal ehrlich?«

»Ja. Die Angelegenheit liegt jetzt in Ihrer Hand. Ich mache keine halben Sachen.«

»Ich schaffe ihn aus dem Weg«, sagte ich. »Der wird denken, ihm sei eine Brücke auf den Kopf gefallen.«

»Ganz sicher. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich bin müde.«

Er griff nach einer Klingel auf der Armlehne. Sie war mit einem schwarzen Kabel verbunden, das sich an den tiefen dunkelgrünen Kästen entlangschlängelte, wo die Orchideen wucherten und schwärten. Er schloss die Augen, ließ sie noch einmal auf‌leuchten und lehnte sich in seine Kissen zurück. Die Lider klappten wieder zu, mich gab es nicht mehr.

Ich nahm mein Jackett von dem feuchten Weidenstuhl und trat zwischen den Orchideen den Rückweg an, öffnete die beiden Türen und stand wieder draußen. Endlich frische Luft. Der Chauffeur bei der Garage war gegangen. Geschmeidig und zügig kam der Butler über den roten Weg, sein Rücken so gerade wie ein Bügelbrett. Ich schlüpf‌te in mein Jackett und ließ ihn kommen.

Einen halben Meter vor mir blieb er stehen und sagte ernst: »Mrs. Regan würde Sie gern sprechen, bevor Sie gehen, Sir. Und in Sachen Geld hat mich General Sternwood angewiesen, Ihnen einen Scheck über jede Summe auszustellen, die Ihnen wünschenswert erscheint.«

»Angewiesen, wie das?«

Er schaute verblüfft drein, dann lächelte er. »Ach, ich verstehe, Sir. Sie sind Detektiv, natürlich. Durch die Art, wie er geklingelt hat.«

»Sie stellen seine Schecks aus?«

»Dieses Recht habe ich, ja.«

»Das bewahrt Sie vor dem Armengrab. Jetzt noch kein Geld, danke. Weshalb will mich Mrs. Regan sprechen?«

Ein fester Blick aus seinen blauen Augen. »Sie hat eine falsche Vorstellung vom Zweck Ihres Besuchs, Sir.«

»Wer hat ihr von meinem Besuch erzählt?«

»Ihre Fenster gehen zum Treibhaus. Sie hat uns gesehen. Ich musste ihr sagen, wer Sie sind.«

»Das gefällt mir nicht.«

Seine blauen Augen vereisten. »Wollen Sie mir sagen, wie ich meine Arbeit zu tun habe, Sir?«

»Nein. Aber es ist ein hübsches Ratespiel, was wohl alles dazugehört.«

Er hielt meinem Blick stand. Ein böses blaues Funkeln, dann wandte er sich ab.

3

Das Zimmer war zu groß, die Decke war zu hoch, die Türen auch, und der weiße Teppichboden sah aus wie frisch gefallener Schnee am Lake Arrowhead. Überall Ankleidespiegel und Kristallklimbim. Die cremefarbenen Möbel hatten Chrom dran, und die gigantischen cremefarbenen Vorhänge bauschten sich einen Meter vor den Fenstern auf dem weißen Teppich. Neben Weiß wirkte Creme schmuddlig, neben Creme wirkte Weiß blutleer. Die Fenster starrten auf die dunkel werdenden Vorberge. Es würde bald regnen. Die Luft war drückend.

Ich setzte mich auf die Kante eines tiefen weichen Sessels und starrte Mrs. Regan an. Sie war es wert. Sie war eine Bombe. Sie lag auf einer modernistischen Chaiselongue, ohne Pantöffelchen, ich konnte also ihre Beine in hauchfeinsten Seidenstrümpfen anstarren. Zum Anstarren arrangiert. Man konnte bis zum Knie sehen, beim einen Bein weit darüber hinaus. Die Knie hatten Grübchen, waren aber nicht knochig oder kantig, die Waden wunderschön, und die Melodielinie der schlanken Fesseln war das reinste Tongedicht. Diese große, langgliedrige Frau wirkte kraftvoll. Der Kopf lehnte an einem cremefarbenen Satinkissen. Die Haare waren schwarz und kraus, mit Mittelscheitel, die Augen waren die glühenden Kohlen vom Bild in der Halle. Mund und Kinn waren gut. Ihre Lippen hatten eine schmollende Schwere, die Unterlippe war voll.

Vor ihr stand ein Drink. Sie nahm einen Schluck davon und sah mich kühl über den Glasrand an.

»Sie sind also Privatdetektiv«, sagte sie. »Ich dachte, die gibt es nur in Büchern. Oder als schmierige kleine Typen, die in Hotels herumschnüffeln.«

Ich fühlte mich nicht angesprochen und ließ es an mir vorbeiziehen. Sie setzte ihr Glas auf die flache Armlehne der Chaiselongue und strich sich durchs Haar, ein Smaragd blitzte auf. »Wie fanden Sie Dad?«, fragte sie gedehnt.

»Ich fand ihn nett«, sagte ich.

»Er fand Rusty nett. Wer Rusty ist, wissen Sie ja?«

»Hm-hmm.«

»Rusty war manchmal ordinär, aber sehr bodenständig. Dad hatte viel Spaß mit ihm. Rusty hätte nicht einfach so abhauen dürfen. Das macht Dad sehr zu schaffen, obwohl er es nicht zugibt. Oder doch?«

»Er hat so etwas gesagt.«

»Sie sind nicht gerade der übersprudelnde Typ, Mr. Marlowe, stimmts? Aber er will ihn doch finden, oder?«

Ich saß die Frage erst mal aus. »Ja und nein.«

»Das ist keine Antwort. Könnten Sie ihn denn finden?«

»Das habe ich nicht versprochen. Wie wärs mit einer Vermisstenanzeige? Die haben das Personal dafür. Das ist kein Solojob.«

»Ach, die Polizei, davon wollte Dad nichts hören.« Sie schickte mir den nächsten glatten Blick über ihr Glas hinweg, leerte es und läutete. Eine Hausangestellte trat durch eine Seitentür. Sie war nicht mehr jung, hatte ein langes freundliches gelbliches Gesicht, eine lange Nase, kein Kinn, große feuchte Augen. Sie sah aus wie ein braver altgedienter Gaul auf der Weide. Mrs. Regan winkte mit ihrem leeren Glas, das Dienstmädchen mixte einen neuen Drink, servierte ihn und verließ das Zimmer wieder, ohne ein Wort, ohne einen Blick in meine Richtung.

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, fragte Mrs. Regan: »Also, wie wollen Sie es angehen?«

»Wie und wann hat er sich verdrückt?«

»Hat Dad Ihnen das nicht gesagt?«

Ich hielt den Kopf schief und grinste sie an. Sie wurde rot. Die glühenden Kohlen glommen wütend. »Kein Grund, so herumzudrucksen«, blaffte sie. »Ihre Manieren gefallen mir nicht.«

»Ihre sind auch nicht mein Fall«, sagte ich. »Ich habe nicht um dieses Treffen gebeten. Sie haben mich herbestellt. Ich habe kein Problem damit, dass Sie mich ansnobben oder dass Ihr Mittagessen aus der Flasche kommt. Ich habe kein Problem damit, dass Sie mir Ihre Beine zeigen. Sie haben erstklassige Beine, und es ist mir ein Vergnügen, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe kein Problem damit, dass Ihnen meine Manieren nicht gefallen. Da habe ich nicht viel zu bieten. An langen Winterabenden trauere ich ihnen nach. Aber versuchen Sie erst gar nicht, mich ins Kreuzverhör zu nehmen. Reine Zeitverschwendung.«

Sie knallte ihr Glas so hart auf, dass der Drink auf ein Cremekissen spritzte. Sie schwang die Beine auf den Boden und erhob sich mit feuersprühenden Augen und geblähten Nüstern. Offener Mund, glänzende Zähne. Und weiße Knöchel.

»So redet keiner mit mir«, sagte sie mit schwerer Zunge.

Ich saß da und grinste. Ganz langsam machte sie den Mund wieder zu und betrachtete den verschütteten Drink. Sie ließ sich auf der Kante der Chaiselongue nieder und stützte ihr Kinn auf eine Hand.

»Gott, Sie großes dunkles Prachtvieh! Ich sollte Ihnen einen Buick an den Kopf werfen.«

Ich riss ein Streichholz über meinen Daumennagel, ausnahmsweise klappte es. Ich blies Rauch aus und wartete.

»Ich hasse Männer, die es draufhaben«, sagte sie. »Ich hasse sie einfach.«

»Wovor genau haben Sie Angst, Mrs. Regan?«

Ihre Augen wurden weiß. Dann dunkel, bis sie nur noch Pupille waren. Die Nase wirkte zusammengekniffen.

»Darum ging es ihm gar nicht«, sagte sie mit rauher Stimme, in der noch letzte Fetzen Wut mitklangen. »Um Rusty. Stimmts?«

»Fragen Sie lieber ihn.«

Sie flammte wieder auf. »Raus jetzt! Verdammter Kerl, raus!«

Ich stand auf. »Hinsetzen!«, schnauzte sie. Ich tat es, schnippte einen Finger gegen meine Hand und wartete.

»Bitte«, sagte sie. »Bitte. Sie könnten Rusty doch finden – wenn Dad es wollte.«

Das funktionierte auch nicht. Ich nickte und fragte: »Wann ist er weg?«

»Eines Nachmittags, vor einem Monat. Ist einfach ohne ein Wort in seinem Wagen weggefahren. Das Auto haben sie irgendwo in einer Parkgarage gefunden.«

»Sie?«

Jetzt wurde sie listig. Ihr ganzer Körper schien sich zu entspannen. Dann lächelte sie mich gewinnend an. »Er hat es Ihnen also nicht erzählt.« Sie klang fast hämisch, als hätte sie mich ausgetrickst. Hatte sie vielleicht auch.

»Doch, er hat mir von Mr. Regan erzählt. Aber das war nicht der Grund, warum er mich treffen wollte. Sollte ich das die ganze Zeit sagen?«

»Was Sie sagen, ist mir herzlich egal.«

Ich stand wieder auf. »Dann verzieh ich mich mal.« Sie schwieg. Ich ging zu der hohen weißen Tür, durch die ich gekommen war. Als ich mich umdrehte, hatte sie ihre Lippe zwischen den Zähnen und kaute daran herum wie ein Hündchen an einer Teppichfranse.

Ich ging hinaus, die geflieste Treppe in die Halle hinunter. Von irgendwoher kam der Butler mit meinem Hut an, den ich aufsetzte, während er mir die Tür aufhielt.

»Sie haben sich geirrt«, sagte ich. »Mrs. Regan wollte mich gar nicht sprechen.«

Er neigte sein Silberhaupt und sagte höf‌lich: »Das bedaure ich, Sir. Ich irre mich oft.« Er schob mir die Tür in den Rücken.

Ich stand auf der Eingangsstufe, atmete Zigarettenrauch aus und ein und schaute über terrassierte Blumenbeete und getrimmte Bäume bis hin zu dem hohen Eisenzaun mit den vergoldeten Speeren, der das Anwesen umschloss. Ein Fahrweg führte in Serpentinen zwischen Stützmauern bis zu dem offenen Eisentor hinunter. Hinter dem Zaun ging der abschüssige Hügel noch einige Kilometer weiter. In flauer Ferne, auf geringerer Höhe, konnte ich gerade noch einige der alten hölzernen Bohrtürme des Ölfeldes erkennen, das den Sternwoods ihr Geld eingebracht hatte. Mittlerweile war es zum größten Teil ein öffentlicher Park, saniert und der Stadt überschrieben von General Sternwood. Aber ein bisschen Ölförderung gab es noch, pro Tag wurden fünf, sechs Barrel aus ein paar der Ölquellen gepumpt. Da die Sternwoods weiter nach oben gezogen waren, konnten sie den muffigen Pumpensumpf und das Öl nicht mehr riechen, aber sie konnten immer noch aus ihren Fenstern schauen und sehen, was sie reich gemacht hatte. Falls sie das wollten, was nicht anzunehmen war.

Ich ging auf einem geklinkerten Weg von einer Terrasse zur nächsten, dann am Zaun entlang und zum Tor hinaus bis zu dem Pfefferbaum auf der Straße, unter dem ich mein Auto geparkt hatte. In den Vorbergen knisterte inzwischen der Donner, der Himmel darüber war schwarzviolett. Harter Regen war im Anzug, ein klammer Vorgeschmack hing in der Luft. Bevor ich Richtung Downtown startete, klappte ich das Verdeck meines Cabrios hoch.

Schöne Beine hatte sie. Das musste man ihr lassen. Zwei aalglatte Zeitgenossen, Vater und Tochter. Vermutlich hatte er mich nur getestet; der Auf‌trag war eher etwas für einen Anwalt. Selbst wenn Mr. Arthur Gwynn Geiger, Seltene Bücher und Deluxe-Ausgaben, tatsächlich ein Erpresser war, es blieb ein Anwaltsjob. Falls es nicht um viel mehr ging, als sich zunächst erkennen ließ. Könnte durchaus Spaß machen, das rauszufinden, dachte ich, auf den ersten Blick.

Ich fuhr zur Stadtbibliothek von Hollywood und verschaffte mir einen ersten Eindruck von einem muffigen Band namens Berühmte Erstausgaben. Eine halbe Stunde davon, und ich brauchte dringend was zu essen.

4

A. G. Geigers Adresse war ein Ladenlokal am Hollywood Boulevard, Nordseite, Höhe Las Palmas Avenue. Der mittige Eingang war weit zurückgesetzt, hinter den Fenstern mit Kupferbordüre standen chinesische Paravents, so dass man nicht hineinsehen konnte. In den Schaufenstern lag orientalischer Tinnef. Keine Ahnung, ob der was taugte, ich sammelte keine Antiquitäten außer unbezahlte Rechnungen. Die Eingangstür war aus Glas, aber viel konnte ich da auch nicht erkennen, weil es drinnen so schummrig war. Links neben dem Laden stand ein größeres Gebäude, rechts glitzerte eine Schmuck-Pfandleihe. Der Juwelier stand in der Tür und wippte mit gelangweilter Miene vor und zurück, ein großer, gutaussehender, weißhaariger Jude in schmaler dunkler Kleidung, an der rechten Hand einen Diamanten von zirka neun Karat. Als ich Geigers Laden betrat, spielte ein wissendes Lächeln um seine Lippen. Die Tür schloss sich lautlos hinter mir, ich trat auf dicken blauen Teppich. Neben blauen Ledersesseln standen Rauchtische und polierte Glastischchen, darauf zwischen Bücherstützen ein paar Bucheinbände aus geprägtem Leder. Mehr davon gab es in Vitrinen, hübsche Meterware für Ölmagnaten, nur das persönliche Exlibris müsste dann noch irgendwer reinkleben. Hinten verlief eine Trennwand aus gemasertem Holz mit einer geschlossenen Tür in der Mitte. In der Ecke, hinter einem kleinen Tisch und einer chinesischen Holzlaterne, saß eine Frau.

Sie erhob sich langsam und kam auf mich zu, ein Hüftschwung in einem engen schwarzen Kleid, das alles Licht schluckte. Sie hatte lange Schenkel und ging mit einem gewissen Etwas, das ich aus Buchläden eher nicht kannte, eine Aschblondine mit grünlichen Augen, falschen Wimpern und sanft gewellten Haaren, hinter die Ohren gestrichen, in denen große Jettknöpfe schillerten. Silberne Fingernägel. Trotz ihres Stylings rechnete man bei ihr mit einem ordinären Schlafzimmerakzent.

So sexy, wie sie sich auf mich zuschob, hätte sie jeden Businesslunch in eine Stampede verwandeln können. Sie neigte den Kopf, um eine verirrte, aber nicht allzu verirrte Strähne ihres sacht leuchtenden Haars um den Finger zu ringeln. Ihr unverbindliches Lächeln konnte ich eventuell noch zu freundlich drehen.

»Was gefunden?«, erkundigte sie sich.

Ich hatte meine Hornbrille auf, drückte meine Stimme nach oben und ließ ein Vögelchen darin zwitschern, ein britisches. »Sie hätten nicht zufällig einen Ben Hur von 1860?«

Sie sagte nicht: »Hä?«, hätte aber gerne. Sie lächelte leer. »Eine Erstausgabe?«

»Dritte Auf‌lage«, sagte ich. »Die mit dem Erratum auf Seite 116.«

»Ich fürchte, nein – derzeit.«

»Und einen Chevalier Audubon von 1840 – alle sieben Bände, versteht sich?«

»Äh – derzeit nicht«, gurrte sie rauh. Ihr Lächeln klammerte sich jetzt an Zähnen und Brauen fest, unsicher, wo es landen würde, wenn es abstürzte.

»Sie verkaufen doch Bücher?«, fragte ich in meinem höf‌lichen Falsett.

Sie musterte mich. Jetzt ohne Lächeln. Augen medium bis hart gesotten. Stocksteife Pose. Die silbernen Fingernägel wedelten Richtung Vitrinen. »Wonach sieht das aus – Pampelmusen?«, ätzte sie.

»Ach, wissen Sie, dieses Zeug interessiert mich weniger. Wahrscheinlich voll von Replikaten alter Stiche, koloriert für zwei Pence, zum Ausmalen für einen Penny. Billige Dutzendware von zu Hause. Nein. Tut mir leid. Nein.«

»Ich verstehe.« Sie versuchte, das Lächeln wieder auf ihr Gesicht zu hieven. Sie war so grantig wie ein Stadtrat mit Mumps. »Vielleicht könnte Mr. Geiger – aber der ist derzeit nicht hier.« Sie fixierte mich aufmerksam. Sie verstand so viel von seltenen Büchern wie ich von einem Flohzirkus.

»Erwarten Sie ihn vielleicht später?«

»Erst ganz spät, fürchte ich.«

»Zu dumm«, sagte ich. »Zu dumm. Dann rauche ich eben in einem dieser entzückenden Sessel eine Zigarette. Mein Nachmittag ist eher unausgefüllt. Mich beschäftigt höchstens der Satz des Pythagoras.«

»Ah«, sagte sie. »Ja. Natürlich.«

Ich machte es mir bequem und griff nach dem runden Nickelfeuerzeug vom Rauchtisch. Sie stand immer noch da, die Unterlippe zwischen den Zähnen, und blickte leicht irritiert. Schließlich nickte sie, drehte sich langsam um und kehrte zu ihrem Platz in der Ecke zurück. Beäugte mich hinter der Lampe hervor. Ich legte die Füße übereinander und gähnte. Die silbernen Nägel schwebten zu dem Tischtelefon, rührten es nicht an, sanken auf den Tisch, begannen zu trommeln.

Stille, ungefähr fünf Minuten. Die Tür ging auf, ein hungrig dreinschauender Schlaks mit großer Nase und Spazierstock kam artig herein, drückte hinter sich gegen den Schließer die Tür zu, marschierte durch den Raum und legte ihr ein Päckchen hin. Er zückte eine Brief‌tasche aus Seehundleder mit Goldecken und zeigte der Blondine etwas. Sie drückte auf einen Knopf. Der Schlaks öffnete die Tür in der getäfelten Trennwand, gerade so weit, dass er hindurchschlüpfen konnte.

Ich rauchte meine Zigarette auf und steckte mir noch eine an. Die Minuten zogen sich. Auf der Straße das Tuten und Tröten der Hupen. Eine große rote Regionaltram knurrte vorbei. Eine Ampel gongte. Die Blondine stützte einen Ellbogen auf, legte eine Hand über die Augen und linste in meine Richtung. Die Tür in der Trennwand ging auf, der Schlaks mit dem Stock glitt heraus, ein anderes Päckchen im Format eines großen Buches unterm Arm. Er trat an den kleinen Tisch und bezahlte. Und ging, wie er gekommen war, auf den Fußballen, mit offenem Mund atmend, scharfer Seitenblick.

Ich sprang auf, lüpf‌te den Hut und folgte ihm. Er lief westwärts, den Stock in einem kleinen straffen Bogen schwingend. Er war leicht zu verfolgen. Sein Mantel war aus einer ziemlich schrillen Pferdedecke geschneidert, die Schultern so breit, dass der Hals wie ein Selleriestengel herausragte, und dann wackelte er auch noch beim Gehen mit dem Kopf. Anderthalb Blocks später, bei der roten Ampel Ecke Highland Avenue, schloss ich auf, damit er mich sah. Sein beiläufiger Blick zur Seite wurde plötzlich hellwach, dann wandte er sich ab. Bei Grün überquerten wir die Highland, dann nutzte er seine langen Beine, an der nächsten Ecke hatte er zwanzig Meter Vorsprung und bog rechts ab, bergauf. Dreißig Meter weiter blieb er stehen, hängte den Stock über den Arm und fischte ein ledernes Zigarettenetui aus der Innentasche. Er steckte sich eine in den Mund, ließ das Streichholz fallen, lugte beim Bücken zurück, sah meinen Blick und fuhr wieder in die Höhe, als hätte ihn einer in den Hintern getreten. Mit langen, linkischen Schritten, den Stock ständig in den Gehsteig hackend, hetzte er weiter bergauf und links rein. Fehlte nur noch die Staubwolke. Als ich den Abzweig erreichte, hatte er mindestens einen halben Block Vorsprung (und mich zum Keuchen gebracht): Da war eine schmale, baumbestandene Straße, auf der einen Seite eine Stützmauer, auf der anderen drei Bungalowanlagen mit Innenhöfen.

Er war weg. Ich schlenderte die Straße auf und ab, spähte hierhin und dorthin. Bei der zweiten Anlage, einem ruhigen, baumbeschatteten Bungalowgeviert namens »The La Baba«, sah ich etwas. Den Hauptweg säumten stämmig getrimmte Zypressen, die aussahen wie die Ölkrüge in Ali Baba und die vierzig Räuber. Hinter dem dritten Krug bewegte sich ein schrill gemusterter Ärmel.

Ich wartete beim Eingang, an einen Pfefferbaum gelehnt. In den Vorbergen donnerte es wieder. Auf den geballten schwarzen Wolken im Süden lag der Widerschein der Blitze. Erste zögerliche Regentropfen platschten auf den Gehsteig und hinterließen münzgroße Flecken. Die Luft stand still, wie in General Sternwoods Orchideenhaus.

Der Ärmel hinter dem Baum zeigte sich wieder, dann eine große Nase, ein Auge, sandfarbenes Haar, kein Hut. Das Auge starrte mich an. Verschwand. Sein Pendant spähte von der anderen Seite des Baums her wie ein Specht. Fünf Minuten vergingen. Es machte ihn mürbe. Diese Typen haben keine Nerven. Ich hörte ein Streichholz, dann leises Pfeifen. Und ein Schatten huschte am Gras entlang zum nächsten Baum. Und dann kam er auf dem Mittelweg direkt auf mich zu, pfeifend und stockschwingend. Ein unwirsches Pfeifen mit ordentlich Schiss dahinter. Ich streckte die Nase in den dunklen Himmel. Er ging an mir vorbei, knapp drei Meter entfernt, kein Blick. Jetzt fühlte er sich sicher. Er war es los.

Ich sah ihm nach, bis er weg war, ging den Mittelweg des La Baba hoch und schob die Zweige der dritten Zypresse auseinander. Das Buchpaket. Ich klemmte es unter den Arm und ging. Keiner schrie mir nach.

5

Wieder auf dem Hollywood Boulevard, schlug ich beim Münztelefon eines Drugstores nach, wo Mr. Arthur Gwynn Geiger wohnte: Laverne Terrace, das war eine Seitenstraße, die vom Laurel Canyon Boulevard den Hang hochführte. Ich warf meine fünf Cent ein und wählte die Nummer, einfach so. Keiner ging dran. Aus dem Branchenverzeichnis schrieb ich mir zwei Buchläden in Gehweite heraus.