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Der gute Cop E-Book

Scott Thornley

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Beschreibung

Detective Superintendent MacNeice ist alles andere als ein gewöhnlicher Ermittler: Er redet mit Vögeln und mit seiner verstorbenen Frau Kate, ohne deswegen eine Psychomacke zu haben. Er ist ein rasend guter Beobachter, lebensklug und vor allem liebenswürdig und empathisch. Sein feines Feeling für Menschen macht ihn zu einem gnadenlos guten Cop, der allerdings auch riskant und unkonventionell arbeitet. Er kann durchaus ruppig werden, wenn man ihn dazu zwingt. Und er hat ein loyales Team um sich herum, allen voran DI Fiza Aziz.

Als im Hafen von Dundurn, Ontario, einbetonierte Leichen auftauchen, zwei Biker-Gangs sich bekriegen und ein Mörder erfolgreiche Frauen mit ethnischem Hintergrund jagt, bedeutet das Dauerstress für MacNeice und seine Truppe. Nicht zuletzt deshalb, weil auch Fiza Aziz in den Fokus des Killers gerät. MacNeice läuft zur Hochform auf ...

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Scott Thornley

Der gute Cop

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet und Andrea O’Brien

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Der gute Cop

»Zeig mir einen Helden, und ich schreibe dir eine Tragödie.«

F. Scott Fitzgerald

Prolog

Das Hafenbecken des Stahlwerks, von den Einheimischen nur als »das Grab« bezeichnet, fiel zwanzig Meter zum dicken Schlick am Seegrund ab. Der Name war eine nicht unbedingt subtile Anspielung auf Dundurns Geschichte oder zumindest auf die Geschichte eines Mythos, der bald nach der Fertigstellung des Beckens 1926 begründet wurde. Rivalisierende Mafiagruppierungen hätten hier angeblich ihre einbetonierten Toten versenkt. Wegen der zunehmenden Verschmutzung der Bucht mit menschlichen Fäkalien und Industrieabfällen wollte sich später allerdings keiner mehr freiwillig in das Gewässer wagen, um das nachzuprüfen. So ließ es auch die Polizei beim Mythos bewenden.

Abgeschirmt vom Lärm der Saugpumpen, die seit vier Monaten Tag und Nacht liefen, saß Howard Ellis, der Leiter des Hamilton-Scourge-Projekts, in seinem »Zimmer mit Aussicht« – so nannte er den einzigen der sechs Baucontainer auf der Baustelle, von dem aus die Dundurn Bay zu sehen war. Von den anderen Containern waren nur das rot-braune Wirrwarr der Kräne, Förderbänder sowie die dreckverkrusteten Männer und Dieselwolken ausstoßenden Schwertransporter zu erkennen, die die Tagesausbeute an Schlamm weiß Gott wohin abtransportierten.

Seit der Fertigstellung der Sky-High-Bridge 1958 hatte die Stadt kein Projekt mehr in dieser Größenordnung erlebt. Und davor musste man schon bis zu den Anfängen der Industrialisierung im Hafenbereich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgehen. An einem Ende des langen Arbeitstisches, der den Großteil von Ellis’ Container einnahm, lagen drei schwere Bücher aufgeschlagen. Eines enthielt die Baupläne, ein weiteres – das größte der drei – Unterlagen zur Ausschreibung des Vorhabens, und den letzten Band blätterte Ellis durch, so wie er früher den Eaton-Katalog durchgeblättert und sich gewünscht hatte, seine Eltern würden ihm das blaue CCM-Rad schenken. Anders als die Pläne und Scans des Seebodens erfüllte dieser letzte Band das Projekt aber erst mit Leben. Er hatte ihn so oft aufgeschlagen, dass er den ersten Absatz beinahe auswendig kannte:

Es war kurz nach Mitternacht, Sonntag, der 8. August 1813; die Schoner Hamilton und Scourge ankerten – gefährlich buglastig, da sie mit Männern und Munition überladen waren – meilenweit vor der Mündung des Forty Mile Creek. Das amerikanische Geschwader, zu dem sie gehörten, hatte sich hier versammelt, um am nächsten Tag gegen die vor Burlington liegende britische Flotte loszuschlagen. Die Männer lehnten an den Kanonen, an den Kisten mit Kanonenkugeln und den Schießpulverfässern, sie schliefen an und unter Deck, als in der ansonsten ruhigen Nacht mit einem Mal eine Sturmbö aufzog. In weniger als fünf Minuten sanken beide Schiffe und rissen bis auf etwa ein Dutzend Soldaten sämtliche Besatzungsmitglieder mit sich in das nasse Grab, wo sie bis auf den heutigen Tag ruhen – in einhundert Metern Tiefe auf dem Boden des Ontario-Sees.

Ellis sah wieder zur Bucht hinaus und versuchte sich den Tag vorzustellen, an dem die zwei Kriegsschiffe aus der Tiefe geborgen und endlich wieder an der Oberfläche auftauchen würden. Feuerlöschboote, stellte er sich vor, sprühten dann hohe Wasserfontänen, Frachter und Schlepper ließen ihre Signalhörner ertönen, Wimpel flatterten an der Burlington Bridge und an den rostigen Kränen des Stahlwerks, und die Bucht wäre voll mit den Segel- und Motorbooten des Royal Dundurn Yacht Club. In das Tröten der Schiffshörner mischten sich der Applaus und die Jubelrufe der tausendköpfigen Menge. Und natürlich wäre er mittendrin und würde die Schoner an ihren Bestimmungsort lotsen.

Vielleicht, dachte er, würde eine ganze Flotte von Großseglern auflaufen – eine ganze Begleitarmada aus Segelschiffen –, falls die Typen ganz oben mal ihren Arsch hochkriegen würden. Sicherlich ein historischer Tag für Dundurn, dachte er, aber vor allem ein Tag beispiellosen Ruhms für Howard Ellis …

Als er die Thermosflasche mit dem Kaffee aus seiner Aktentasche nahm, stürzte ein junger Mann vom Technik-Container zur Tür herein. »Hier, Mr Ellis«, sagte er, reichte ihm einen großen braunen Umschlag und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Einmal in der Woche erhielt Ellis das Ergebnis der Sonarabtastung, mit der erfasst wurde, was seit fast zweihundert Jahren ungestört in der giftigen Brühe vor dem östlichen Hafenbecken lag. Der Schlick dort war so dicht, dass lediglich Strukturen bis etwa einen Meter unterhalb der Oberfläche sichtbar wurden. Er hatte die grobkörnigen Ausdrucke an einer Wand aufgehängt und überflog sie nun noch einmal, bevor er den Umschlag mit den neuen Scans öffnete.

Er schenkte den Becher voll, lehnte sich zurück, genoss den ersten Kaffee des Tages und betrachtete die neuesten Ausdrucke. Bei ihrem Anblick zuckte er zusammen und verschüttete seinen Kaffee. Er sprang auf, griff sich die Ausdrucke und rannte zwei Container weiter, zu Nummer vier, um den dortigen Leiter zu sprechen. Wenn er das, was er hier vor sich hatte, wirklich glauben wollte, musste er es mit eigenen Augen auf dem Computermonitor sehen.

1

»Biker-Morde – Ermittlungen in Cayuga ausgeweitet.« Die Schlagzeile war kurz und prägnant, der Artikel knapp an Details, weil man den Tatort auf der Farm in Cayuga abgesperrt hatte, bis das ganze Ausmaß des Gemetzels klar war. Bislang hatte die Polizei sieben tote Biker gefunden, zwei waren durch einen aus nächster Nähe ins Gesicht abgegebenen Gewehrschuss getötet worden, einer durch einen etwas weniger unschönen Schuss aus einer kleinkalibrigen Waffe. Drei starben an stumpfer Gewalteinwirkung oder an Genickbruch, einem wurde die Kehle bis zur Wirbelsäule aufgeschlitzt. MacNeice’ Kollege Detective Superintendent John Swetsky war der Fall übertragen worden, wenige Stunden später hatte er die meisten verfügbaren Leute aus der Mordkommission damit betraut. Die meisten, aber nicht alle. Swetsky und sein Team waren mittlerweile seit mehr als zwei Wochen dran, und für MacNeice war es an der Zeit, mal nachzufragen, ob sie seine Unterstützung gebrauchen könnten.

Der Streifenwagen, der den Weg zum Anwesen blockierte, fuhr zur Seite, als der Uniformierte den schweren Chevy erkannte. MacNeice, der langsam über die lange Zufahrt fuhr, zählte drei weitere Streifenwagen, zwei Polizeibusse und vier Zivilwagen, von denen einer Michael Vertesi gehörte, dem jungen Detective Inspector, der ihm unterstellt war. Hinter dem Farmhaus stand ein großer schwarzer Trailer – die mobile Spurensicherungseinheit, die sie sich von den Mounties geliehen hatten, die aber mit Leuten von der Spurensicherung aus Dundurn besetzt war. Und wiederum dahinter der einzige Rettungswagen der Stadt mit einer Kühleinheit, wenig respektvoll Eislaster genannt. MacNeice hielt an. DI Vertesi und DI Montile Williams, sein anderer Untergebener, kamen aus dem Farmhaus.

»Dafür, dass das Biker waren, ist das Haus ziemlich aufgeräumt«, sagte Vertesi und streifte die Latexhandschuhe ab. »Was führt Sie hier raus, Boss?«

»Wollte bloß sehen, ob ich helfen kann. Swetsky hat die ganze Abteilung leergeräumt – heute Morgen dachte ich fast, ich hör die Grillen zirpen. Wo finde ich ihn?«

»In der Scheune, er sieht sich den Lagerbestand an«, sagte Williams. »Die haben da mehr Geräte rumstehen als die ganze Müllabfuhr und Stadtreinigung von Dundurn zusammen.«

Auf dem Weg zur Scheune sah MacNeice die Polizisten, die in zwei Linien ein offenes Feld nach Beweisen absuchten. Laut den täglichen Berichten waren bislang fast vierhundert Geschosshülsen aus einer Vielzahl unterschiedlicher Waffen gefunden worden, die meisten davon in und um den Gebäuden und auf der Zufahrt.

Die Leichen waren zwischen den Scheunen in zwei Meter tiefen Gruben verscharrt, übereinandergestapelt und jeweils in Plastikplanen eingeschweißt. Die Spurensicherung untersuchte sie erst auf DNA, bevor sie ins Labor der Rechtsmedizinerin gebracht würden. Er hörte das hochfrequente Sirren der Trailer-Lüftung. Weil er noch nichts gegessen hatte, vermied er es, sich dem Fahrzeug zu nähern.

Die Maschinen waren in der großen Hauptscheune in drei Reihen abgestellt – es fand sich dort alles, von Geländewagen bis zu Kompaktladern, Traktoren und Erdbohrern –, und das waren nur die Dinge, die er von der Schwelle aus erkennen konnte. Dann hörte er den Großen auch schon kommen, bevor er ihn sah. Swetsky tauchte aus der entferntesten Reihe auf, in der Hand hatte er ein Klemmbrett.

»Mac! Was führt Sie in den Sherwood Forest? Hat man Sie dazu gedrängt?«

»Nein, aber nachdem Sie sich das ganze Dezernat gekrallt haben, dachte ich mir, ich könnte ebenfalls zur Hand gehen. Wie kommen Sie voran?«

»Wir gehen gründlich vor. Ich hab jedem eine Etage im Farmhaus zugewiesen und Palmer in den Keller geschickt, wo er hingehört.«

»Schon festgestellt, mit wem die Damned Two Deuces im Clinch liegen?«

»Nein – bislang gehören alle Toten zu den D2D. Die anderen haben die Toten verscharrt und sich aus dem Staub gemacht. Ich hab gehört, eine Gang aus Quebec war hier, aber dafür hab ich noch keine Beweise.«

»Ich hab die Berichte gelesen. Bis auf die eingeschweißten Leichen scheint alles ziemlich sauber zu sein.«

»Na ja, wir inventarisieren den ganzen Scheiß« – Swetsky deutete mit einem Nicken zum Traktor neben sich –, »in der anderen Scheune steht noch mehr davon rum. Ob Sie es glauben oder nicht, manches davon ist sogar rechtmäßig erworben. Außerdem wollen wir sichergehen, dass wir keine Leiche übersehen.«

MacNeice’ Handy klingelte, er warf einen Blick aufs Display. »Ich muss ran.« Draußen im Sonnenlicht meldete er sich.

»Mac«, war eine vertraute Stimme zu hören. »Mein Gott, wie lang ist das her? Alles klar bei dir?«

Er hörte im Hintergrund kreischende Möwen und den am Mikrofon zerrenden Wind. »Mir geht’s gut, Bob. Wo steckst du?«

»Was weißt du über das Hamilton-Scourge-Projekt?«

Das letzte Mal hatte er Bob Maybank, Dundurns allseits beliebten Bürgermeister, auf Kates Beerdigung getroffen – daran dachte MacNeice nun auf der Rückfahrt in die Stadt. Kaum ein Tag schien zu vergehen, an dem er den Bürgermeister nicht im Fernsehen oder in der Zeitung sah, persönlich aber waren sie sich das letzte Mal auf dem Friedhof begegnet. MacNeice war beeindruckt gewesen, dass er die Fahrt in den Norden auf sich genommen hatte, um der Urnenbeisetzung beizuwohnen. Es war ja nicht so, dass er den Bürgermeister nicht mochte – im Gegenteil. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten in denselben Mannschaften gespielt und waren zuweilen mit denselben Mädchen ausgegangen. Er bewunderte sogar, was Bob für Dundurn leistete. Aber vier Jahre waren eine lange Zeit zwischen zwei Anrufen. Es gab Freunde von ihm und Kate, die sich nach ihrem Tod rargemacht hatten, zu ihnen gehörte auch Maybank. Jetzt war die Dringlichkeit in seiner Stimme nicht zu überhören – er hatte angerufen, weil er etwas brauchte.

MacNeice schlängelte sich durch den Verkehr, fuhr den Berg hinunter und dachte an das vom Bürgermeister erwähnte Hafenerneuerungsprojekt. 2012 würde das Land den zweihundertsten Jahrestag des Krieges von 1812 begehen, und wenn Maybank sein Projekt wirklich hinbekam, würden damit neue Einnahmen für die Stadt generiert, sowohl durch die Baumaßnahmen als auch nachher, wenn die Touristen kamen. Was konkret geplant war, wusste MacNeice nicht so genau. Wie viele in Dundurn war er äußerst skeptisch, dass die Bundesregierung und die Provinz im großen Stil in eine Stadt investierten, die landesweit vor allem für ihre bereits tote oder sterbende Schwerindustrie bekannt war. Die Schwerindustrie, so die allgemeine Auffassung, die den einzigen Daseinsgrund für die Stadt bildete. Für die heißbegehrte »New Economy« schien es ausgemachte Sache, dass Dundurn unter die Kollateralschäden fiel.

Maybank hatte schräge Anweisungen gegeben, wie der Baucontainer zu finden sei: »Fahr am Hochofen vorbei, vorbei an den verrosteten roten Gebäuden, die ganze lange Reihe, bis das Leben, wie du es kennst, endet – dann biegst du links ab.« MacNeice hielt neben dem glänzend schwarzen Lincoln Town Car und sah hinaus auf die Bucht, in der Kormorane nach Fischen tauchten, die so blöd gewesen waren, durch den Kanal zu schwimmen. Er stieg aus seinem Chevy, ging zur Holztreppe des ersten Containers, und erst da bemerkte er die Gerüche, Öl und Chemikalien, vermischt mit dem Modergeruch des Meeres – das alles war nicht unangenehm. Aber der Wind blies den Schwefeldunst des Stahlwerks ja auch über die Stadt und nicht übers Wasser.

Die Containertür ging auf, und Bürgermeister Maybank begrüßte ihn mit einem gewinnenden Lächeln, festem Händedruck und einem Schlag auf die Schulter. »Mac, willkommen in der Zukunft – willkommen im Museum der Großen Seen. Komm rein, hier draußen riecht es nach Scheiße. In zwei Jahren, das verspreche ich dir, hast du hier den Duft von Zuckerwatte und Kokosöl in der Nase.«

»Spar dir dein Wahlkampfgequatsche, Bob. Ich bin da, und die Wahl hast du schon gewonnen.«

»Ja, aber das Geheimnis ist doch – der Wahlkampf hört nie auf.« Er lächelte breit und ließ MacNeice den Vortritt.

Drei Leute warteten drinnen auf sie, die ihm als Julia Marchetti, Maybanks PR-Managerin, Terence Young, Architekt des Projekts, und Howard Ellis, der Projektleiter, vorgestellt wurden. MacNeice gab ihnen die Hand, sah zu Maybank und wartete auf eine Erklärung.

»Dieses Projekt ist für uns eine Riesenchance, Mac. Wir haben die Unterstützung aller drei Regierungsebenen sowie des US-Kongresses und des Senats und der US Navy – die ist zuständig für die Grabstätten auf See gefallener Marinesoldaten. Sie alle wissen um die Einzigartigkeit dieser Sache, in Nordamerika und auf der Welt.«

»Die Bergung der beiden Schiffe und ihre Überstellung in den Besitz von Dundurn wurde schon vor zwanzig Jahren gesetzlich geregelt«, erläuterte Young äußerst enthusiastisch, »nur war damals die Technik noch nicht so weit. Dass die beiden Schiffe und alles an Bord erstklassig konserviert sind, liegt an der Temperatur – die ist da unten das ganze Jahr knapp über dem Nullpunkt. Wenn man sie hochholt, würde sich alles in wenigen Wochen vor unseren Augen einfach auflösen.« Puff, schien er mit einer Geste zum Ausdruck zu bringen. »Heute sind wir aber in der Lage, sie während der gesamten Bergung vom Seegrund bis zur Wasseroberfläche kühl zu halten. Stellen Sie sich ein riesiges Aquarium vor – drei Zentimeter dicke Glasplatten, in bläuliches Licht getaucht. Alles wird exakt so aussehen wie jetzt, allerdings als Ausstellungsobjekt, das man jederzeit besichtigen kann.«

Maybank schob MacNeice auf dem Tisch eine Luftaufnahme des Geländeabschnitts hin und schlug die Pläne des Architekten auf. »Sorry, Bob«, sagte MacNeice, »ich bin von der Mordkommission. Komm mal allmählich auf den Punkt – was mache ich hier?«

Kurz wirkte der Bürgermeister verärgert, dann lächelte er. »Okay, Mac, Folgendes. Bei einer Routinekontrolle der Scans vom Boden des Hafenbeckens hat Ellis heute etwas entdeckt.« Er nickte dem Projektleiter zu.

Ellis trat neben MacNeice. »Wir haben das Hafenbecken zur Seeseite hin mit einer Wand abgetrennt und pumpen innen das Wasser ab, dazu erstellen wir wöchentlich Aufnahmen von unseren Fortschritten. Wir scannen den Boden des Hafenbeckens. An der Wand hinter dem Bürgermeister hängen die Aufnahmen der letzten vier Monate. Wie Sie sehen, findet sich dort nichts Ungewöhnliches.«

MacNeice sah zur Wand. Die verschwommenen blau-grauen Bilder sahen alle gleich aus.

Ellis breitete mehrere Ausdrucke auf dem Tisch aus. »Das hier sind die letzten Scans – der Zeitraum beträgt sieben Tage.« Er ordnete sie in der zeitlichen Reihenfolge an. Die ersten beiden sahen genauso aus wie die an der Wand, Nummer drei bis fünf allerdings waren anders. »Sie sehen, hier zeichnen sich allmählich die Umrisse ab, hier, hier, hier und hier.« Er legte einen weiteren Ausdruck daneben und deutete auf eine rundliche Erhöhung. »Der Schlick wird rund um die Uhr abgepumpt. Diese Aufnahme ist von gestern Morgen, der Umriss ist immer deutlicher zu erkennen. Ich meine, das Ding liegt immer noch unter der Oberfläche, aber morgen wird der Boden trockengelegt sein.« Wie eine Trumpfkarte warf er den letzten Ausdruck auf den Tisch. »Das hier ist von heute Morgen.« MacNeice spürte Maybanks Blick auf sich. Der Bürgermeister wartete auf eine Reaktion.

Die Aufnahme zeigte vier liegende Säulen, zwei mit runder, zwei mit quadratischer Grundfläche. Zu erkennen war jetzt, dass die rundliche Erhöhung ein Automobil war – ein altes Automobil. MacNeice nahm den Ausdruck zur Hand und betrachtete ihn eingehend. »Sieht aus wie ein Wagen aus den Dreißigern.«

»Sehr gut, Mac«, kam es vom Bürgermeister. »Man sagte mir, es ist ein Packard 120 Sedan, Baujahr 1935.«

»Und diese Säulen hier, die sind an die zwei Meter lang?«, fragte MacNeice an Ellis gewandt.

»Die quadratischen sind aus Beton – ein Meter achtundneunzig nach dem Maßstab des Ausdrucks. Und bei den runden – auf denen man ganz schwach ein Spiralmuster erkennen kann – handelt es sich um zwei Meter vierzig lange, mit Beton ausgegossene Schalungsrohre.«

»Schalungsrohre?«

»Na ja, die äußere Hülle, die man braucht, wenn man Betonsäulen gießen will. Solche Säulen aber« – Ellis zeigte auf das Ende einer dieser runden Säulen – »sind normalerweise mit Eisengitter verstärkt, diese hier scheinen aber nur aus Beton zu bestehen.« Er trat zurück und ließ MacNeice selbst die Schlussfolgerungen ziehen, zu denen alle anderen im Container längst gekommen waren.

MacNeice sah zum Bürgermeister, der nickte. »Howard meint, die eckigen Säulen liegen schon seit einem halben Jahrhundert oder noch länger auf dem Grund des Beckens. Aber die in den runden Schalungsrohren sind neueren Datums. Wenn Sie die ganz rechts ansehen, erkennen Sie, dass sich das Verschalungsmaterial im Dreck ablöst.«

»Und was hat das alles mit mir zu tun, Bob?« MacNeice ließ den Blick über die Bilderfolge schweifen.

»Julia, Ellis und Young, könnten Sie uns bitte einen Moment allein lassen?« Der Bürgermeister wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Du bist der Beste, und ich brauche dich. Dieses Projekt ist für die Stadt viel zu wichtig, es darf durch so eine absurde Sache nicht behindert werden. Die Finanzierung beruht darauf, dass alles glattläuft.«

»Befehlskette, Bob.«

»Ich bin der Bürgermeister, verdammte Scheiße«, blaffte Maybank. »Sag mir, was du brauchst, und ich leite alles in die Wege. Und am besten fängst du an, indem du mir sagst, was wir jetzt tun sollen. Wenn das hier zum Tatort erklärt wird, stürzt sich die Presse auf uns.«

»Wenn es ein Tatort ist, ist es die Aufgabe der Presse, sich auf euch zu stürzen. Und dann habt ihr auch eine Menge Polizisten hier.«

»Ich will keine Polizisten hier haben. Ich will dich.« Der Bürgermeister beugte sich über den Tisch zu ihm. »Ich will nur das Beste für die Stadt, Mac. Aber was hilft es Dundurn, wenn diese Karre und ein paar Säulen länger als ein halbes Jahrhundert hier liegen und jetzt ein Riesen-Medienwirbel darum veranstaltet wird? Wir waren unser Leben lang Kanadas Stiefkind. Dieses Projekt wird uns wieder auf die Beine helfen und zurück ins Spiel bringen.«

»Hör mir mit deinen Metaphern auf und nimm mal lieber diese Luftbildaufnahme des Geländes zur Hand.«

Maybank breitete den großen Farbausdruck vor sich aus, und MacNeice legte den Finger auf ein Eisenbahngleis in der Nordwestecke des Hafenbeckens. »Lass dir vom städtischen Bauamt so schnell wie möglich ein Zelt errichten, sagen wir zehn auf zwanzig Meter, genau hier. Alle Seiten müssen abgedeckt sein, dazu brauchen wir eine Klimaanlage, und dann besorgst du noch einen Kühllaster, den parkst du hier« – er deutete auf eine Stelle im Bild. »Du brauchst eine Security rund um die Uhr, der du vertrauen kannst, nimm dafür nicht die Polizei.« Er griff sich einen Stift und zeichnete das Zelt und den LKW ein. »Mit den Kränen holst du die Säulen hoch, verlädst sie auf die Waggons und rollst sie auf dem Gleis ins Zelt. Den Packard schaffst du ebenfalls mit rein.«

Er zeigte mit dem Stift auf seine Zeichnung. »Noch eins. Das Spiel mit den Medien hast du schon verloren, Bob. Jedem Arbeiter, der in der Gegend aufgewachsen ist, sind diese Gerüchte zu Ohren gekommen. Dieselben, mit denen auch wir groß geworden sind – über die Mafia, die Bucht, die einbetonierten Toten. Du kannst diese Gerüchte vielleicht von deinem Gelände fernhalten, aber du kriegst sie nicht aus den Köpfen.«

»Was rätst du mir also?«

»Ich würde an deiner Stelle Julia Marchetti bitten, eine tolle Story dazu zu verfassen: Das alles ist Teil der großartigen Geschichte von Dundurn – einer harten Stahlstadt, in der der gleiche Geist, der gleiche Wagemut, der gleiche Durchhaltewille herrscht, der zweihundert Jahre zuvor unserem Land zum Sieg im Krieg von 1812 verholfen hat. Dundurn ist unsere Bronx, unser Brooklyn; sie war nie eine beschauliche, unschuldige Stadt.«

»Den Scheiß hast du dir jetzt aus den Fingern gesogen?«

MacNeice schmunzelte, sah kurz zum Fenster und ging zur Tür.

»Aber, Mac, du übernimmst für mich die Ermittlungen, ja?«

»Das kann ich nicht versprechen. Wir sind unterbesetzt, wie du weißt – du hast den Kürzungen im Polizeietat zugestimmt. Ich kann dir nichts zusagen. Bau das Zelt auf, schaff die Sachen ran, besorg ein paar Leute mit Presslufthämmern, dann ruf mich an.«

Als MacNeice wieder am Schreibtisch saß, informierte er sich im Internet über die Hamilton und die Scourge. Einer der Schoner war ursprünglich ein britisches Schiff gewesen, aber wie so häufig in Kriegszeiten war er gekapert und umbenannt worden. Seine Herkunft konnte er aber nicht verleugnen, denn die Galionsfigur der Scourge zeigte nach wie vor den ursprünglichen Namensgeber Lord Nelson. Die Galionsfigur der Hamilton sollte die Göttin Diana darstellen, erinnerte MacNeice aber eher an eine Figur aus Stolz und Vorurteil. Bemerkenswert an den Fotos der beiden Wracks war, dass von Schäden nichts zu sehen war. Beide Schiffe standen aufrecht auf dem Seegrund, die Masten ragten in die Höhe, Entermesser, Säbel und Enterbeile waren ordentlich verstaut. Die Kanonen waren durch die Einwirkung der Windbö zwar aus ihren Pforten gerollt, sahen aber aus, als könnten sie jederzeit wieder ausgefahren werden, sofern nur der Befehl dazu gegeben würde.

Für die Männer auf den unteren Decks hatte es keine Hoffnung gegeben. Das Wasser drang durch die Stückpforten, schlug über das Oberdeck herein, schwappte die Niedergänge hinunter und blockierte damit jeden Fluchtweg. Wer auf Wache gewesen war oder an Deck geschlafen hatte, wurde vermutlich über Bord gespült. Es überlebten nur die, die schwimmen konnten oder ins einzige Rettungsboot kletterten, das ebenfalls voller Wasser war. Manche konnten schwimmen, viele nicht, und weil das einzige Treibgut aus anderen Besatzungsmitgliedern bestand, die sich selbst nur mit Mühe über Wasser halten konnten, war die Zahl der Opfer hoch.

Er suchte nach Informationen über die Bergungs- und Konservierungsarbeiten und stellte überrascht fest, dass unter den ersten Treffern dazu die Mary Rose auftauchte, das Flaggschiff des englischen Königs Henry VIII. Während ihrer Flitterwochen in Großbritannien hatte Kate ihn zu dem Schiff geschleppt – oder dem, was von ihm unter einem riesigen Zelt noch erhalten war. Das gewaltige Gerippe wurde beständig mit Polyethylenglykol befeuchtet, einer Wachslösung auf Wasserbasis. Wissenschaftler und Mitarbeiter standen in gelbem Ölzeug auf den Gerüsten, gingen dort ihrer Arbeit nach, überprüften das Wrack auf seinen Verfall, während die Besucher auf der anderen Seite einer Plexiglaswand standen und dem Treiben zusahen. »Ohne diesen Nieselschauer würde sich das Schiff in null Komma nichts auflösen«, hatte ihnen ein junger australischer Seemann erklärt. »Die Würmer sind im Moment nicht aktiv, aber wenn es dort drinnen nicht mehr regnet, vermehren sich die wie Maden auf einem Kadaver.«

MacNeice fuhr den Computer herunter. Er hatte keine Lust, an seine Flitterwochen zu denken.

Auf der Heimfahrt über die Main Street und die schmale Bergstraße hinauf zum Cottage schwirrten ihm Erinnerungen an frühere Zeiten durch den Kopf. Sobald er die eine Erinnerung dingfest gemacht und aus dem Gedächtnis verbannt hatte, tauchte eine neue auf. Als er den Wagen abstellte, musste er plötzlich daran denken, wie er mit Kate auf einer Insel in der Georgian Bay geschlafen hatte. Ihre Haut hatte sich so lebendig angefühlt, so glatt und geschmeidig, so anders als das Moos, die Flechten und der graue Felsen. Sie war so unversehrt gewesen, so frisch und weiß unter dem Wacholder, dessen untere Äste abgedorrt waren und von dessen Stamm sich die Rinde schälte. Die Schatten der Zweige hatten Linien auf ihren Bauch und ihre Beine gezeichnet, einen Arm hatte sie erhoben, um die Augen zu beschatten. Sie waren schwimmen gewesen, Wassertröpfchen perlten noch auf ihrem Bauch – die küsste er als Erstes. Er erinnerte sich an ihr Stöhnen, das ganz tief aus ihr kam …

Er musste sich anstrengen, um die Erinnerungen auszublenden. Wenn solche Bilder auftauchten, half es, an dunklen, krustigen Schorf zu denken. Nie fällt es einem leicht, den Heilungsprozess allein der Natur zu überlassen. Immer ist man versucht, zu kratzen und an den Schorfrändern zu zupfen, und wenn man einmal damit anfängt, hört man erst wieder auf, wenn es erneut blutet – dann dauert es noch länger, bis die Wunde verheilt. In der Küche öffnete er eine Weinflasche, setzte sich an den Tisch mit Blick auf den Kühlschrank. Er fürchtete, wenn er in den hinter dem Haus ansteigenden Wald hinaussah, würde er wieder von diesen Bildern von Kate in jener nördlichen Landschaft überfallen werden und keinen Schlaf mehr finden. Und wenn doch, würden ihm die nur allzu vertrauten Albträume wieder wachrütteln.

MacNeice hatte alles im Haus weggeräumt oder entfernt, was ihn an seine verstorbene Frau denken ließ, aber es gab kein Versteck vor den Erinnerungen, die seine skrupellos genaue Beobachtungsgabe heraufbeschwor. Er erinnerte sich an den Geruch der Sonnencreme auf ihrer Haut, als er sich vorbeugte, um ihren Bauch zu küssen … Er versuchte an die gesunkenen Schiffe zu denken, an die Ertrinkenden, das half, ebenso Charlie Haden mit »Wayfaring Stranger«, das auf der Stereoanlage im Wohnzimmer lief. Allmählich vertrieb die Musik die Bilder von Kate, bis er so müde war, dass er ins Bett gehen konnte.

Um sechs Uhr morgens kam der Anruf.

»MacNeice.«

»Bob hier. Wollte bloß Bescheid geben, bis Mittag ist alles an Ort und Stelle. Ich halte mich raus, aber ich will regelmäßig Berichte.«

»Ich gehe davon aus, dass du mit dem Deputy Chief gesprochen hast?«

»Ja. Wallace hat mir erzählt, wie viel ihr zu tun habt. Ich sag das bloß dir, Mac, wenn du bei der Sache Unterstützung brauchst, frag mich, und du bekommst alles, was du willst – versprochen.«

»Deine Worte werden dir vielleicht noch mal leidtun.«

»Räum einfach auf.«

»Ich tue, was ich kann.«

Er setzte sich im Bett auf, gähnte und stellte fest, dass er es wohl gerade noch vermieden hatte, nicht von Kate zu träumen. Dann schwang er die Füße auf den Boden, überlegte, ob er Swetsky anrufen und ihn bitten sollte, Vertesi wieder ihm zu überstellen, aber falls der Wagen und die Säulen nur versenkter Müll waren, bestand keine Notwendigkeit dafür. Er würde es einfach herausfinden müssen.

2

MacNeice parkte an der Südseite des großen Party-Zeltes. Die Seitenwände waren nach unten gerollt, drei stämmige Typen in Pseudo-Polizeiuniformen standen davor und starrten ihn an. Zwei von ihnen sahen wie Rausschmeißer vom Boogy Bin aus, die sich nebenbei was dazuverdienten.

Sein Handy klingelte. DC Wallace war in der Leitung. »Also, was brauchen Sie da unten?«

»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht handelt es sich bloß um jahrzehntelange extreme Müllentsorgung.«

»Womit steht der Bürgermeister bei Ihnen in der Kreide?«

»Das weiß ich nicht, ehrlich, Sir, aber ich werde es herausfinden.« MacNeice stieg unterdessen aus, öffnete den Kofferraum und nahm aus seinem verbeulten Aktenkoffer eine kleine Maglite und eine Sony-Digitalkamera.

»Geben Sie mir Bescheid – solange es ungefährlich ist, dass ich davon weiß. Ich habe auch nichts dagegen, nichts zu wissen.«

»Ich rufe an.« Er steckte die Kamera und die Taschenlampe in die Jackentasche und schloss den Kofferraum. Als er sich dem Zelt näherte, traten zwei der Security-Leute vor. Sie erklärten ihm, dass nicht jeder reinkönne.

MacNeice zeigte seine Polizeimarke. »Detective Superintendent MacNeice. Ich suche Howard Ellis.«

»In Ordnung. Sie werden schon erwartet.«

Der Typ sah aus, als hätte er zu viel Gewichte gestemmt. Aber wenn es sein Job war, andere einzuschüchtern, dann gelang ihm das ziemlich gut. Sein Gefährte glich eher einem Eishockeyspieler und füllte seine Uniform so sehr aus, dass alle Nähte zu platzen drohten, wenn er mal niesen musste. Der dritte Security-Typ lehnte an einem Schienenwagen und telefonierte. Sein Wanst hing ihm über den Gürtel, auf dem Hemd zeichneten sich Schweißflecken ab. Mit leerem Blick sah er zu MacNeice, als sich dieser dem Eingang näherte, dann wandte er sich wieder ab.

»Das da hinten, das ist sein Container, oder?« Er sah zu den im Morgenlicht gleißenden Containern, dann auf seine Uhr: 8.43 Uhr.

»Ja, der ganz am Ende. Aber er wartet hier drinnen auf Sie.«

»Sie sind Rausschmeißer im Boogy Bin, oder?«

»Ja, Pete Zaminsky. Kenne ich Sie?«

»Nein.«

»Das hier mach ich tagsüber – genau wie Donny.« Mit einem Nicken wies er zu dem Security-Mitarbeiter links von MacNeice.

Zaminsky zog die Zeltklappe auf, und MacNeice lief gegen eine Wand aus kühler Luft; es war, als würde er in eine riesige weiße Blase treten. In dem weiträumigen Zelt nahmen sich die Säulen auf ihren Schienenwagen geradezu winzig aus. Sie waren mit einem Hochdruckschlauch gereinigt worden und leuchteten wie bleiche Knochen, das Kartonagematerial der Schalungsrohre war entfernt. Der gesäuberte Packard, völlig verrostet, zeigte noch kleine Spuren der ursprünglichen schwarzen Lackierung. Hinten im Zelt, links, stand ein Kühllaster mit laufendem Motor. Ein Schlauch lief vom LKW-Auspuff unter der Zeltwand ins Freie. Die Beschriftung auf der Fahrerkabine lautete LeBlanc Bros. Fish Company. MacNeice lächelte – Maybank musste festgestellt haben, dass der einzige Wagen der Stadt mit einer Kühleinheit, in der man Leichen konservieren konnte, bereits rappelvoll mit den Bikern aus Cayuga war. Luc und Patrick LeBlanc waren Freunde von ihm und Bob, sie kannten sich noch aus der Highschool. Er fragte sich, was Maybank ihnen versprochen hatte, um ihren LKW zu bekommen.

»Ellis ist drüben beim Wagen, der Typ mit dem weißen Helm.«

»Wer ist der neben ihm?«

»Den kenne ich nicht. Ist vor etwa einer Stunde mit einem Schweißbrenner gekommen.«

Der Rausschmeißer machte kehrt und ging, während Ellis schon ganz aufgeregt auf ihn zukam. Er sah aus wie ein Kind, das es kaum erwarten konnte, endlich mit der Ostereiersuche zu beginnen.

»Mr Ellis«, fragte MacNeice, »hat hier irgendjemand die Sachen angefasst, außer um sie hierherzuschaffen und zu reinigen?«

»Nein, Sir. Wir haben den Schlick weggespritzt, das war alles. Der Kofferraum des Packard ist zugeschweißt – deswegen ist er hier.« Er deutete zum Schweißer. »Er ist von der Feuerwehr. Irgendwas ist auch noch auf der Rückbank – durch die Fenster ist das aber nur schwer zu erkennen. Ich hab auf Sie gewartet.«

Der Wagen war nach wie vor in bemerkenswert gutem Zustand. Selbst die Fenster waren zwar dreckverschmiert, ansonsten aber unversehrt. »Von den platten Reifen mal abgesehen, habe ich auf der Straße schon schlimmere Wagen gesehen. Haben Sie eine Erklärung dafür?«

»Bei unseren ersten hier entnommenen Bodenproben sind wir auf eine etwa drei Meter dicke Dreckschicht gestoßen – sie besteht aus Kohlenteer, Öl und Schmierstoffen. Mitte des vorigen Jahrhunderts haben alte Frachter ihr Bilgewasser einfach ablaufen lassen. Das war zwar illegal, aber damals hat sich noch keiner um die Umwelt geschert. Der Wagen war seit mehr als siebzig Jahren in diesem Zeug eingelagert.«

»Aber steigt Öl nicht nach oben?«

»Klar, aber da drin treibt so viel Dreck, und von der Bucht wird täglich noch mehr eingeleitet … Jedenfalls hat sich das alles mit der Zeit in diesen schweren Schlick verwandelt.«

»Wie die Dinosaurier in den Teergruben?«

»Genau.« Ellis schien beeindruckt von dem Gedankensprung. Er wirkte sehr viel lebhafter als am Tag zuvor beim Treffen mit dem Bürgermeister.

MacNeice sah zum Nummernschild. Jemand hatte mit einem Lappen bereits darübergewischt.

»Massachusetts 1936«, sagte Ellis.

Ein dumpfer Knall war zu hören, die schmale blaue Flamme des Schweißbrenners fauchte. »Wir können loslegen«, sagte der Schweißer.

»Dann legen Sie los«, sagte MacNeice.

Wenige Minuten später war der Kofferraumdeckel gelöst. Der Schweißer schloss das Ventil am Brenner und hob den Deckel von der Karosserie. Der Inhalt war im ersten Moment kaum zu erkennen.

»Lumpen?«, fragte Ellis.

»Nein. Kleidung an einer Leiche. Oder Leichen. Schauen Sie hier.« MacNeice zeigte auf eine Hand neben dem Radkasten. Er zückte seine Maglite und beleuchtete ein Stück ledrige weiße Haut und blassgraue Knochen in tödlicher gegenseitiger Umklammerung. Er streifte sich Latexhandschuhe über. Bevor er irgendetwas anfasste, machte er mehrere Fotos vom Kofferrauminhalt. Während der Schweißer um den Wagen herumging und sich vergewisserte, dass sich alle Türen öffnen ließen, sagte MacNeice: »Sie wurden darüber unterrichtet, was Sie hier zu sehen bekommen?«

»Ja, ich habe nicht das Geringste gesehen.«

Nachdem er fort war, sagte MacNeice: »Mr Ellis, können Sie mir eine Plane besorgen, so sauber wie möglich?«

»Kein Problem.«

»Bringen Sie sie mir, dann können Sie mich allein lassen. Es wird eine Weile dauern.«

MacNeice wandte sich wieder dem Packard zu und machte Aufnahmen vom Fahrzeug, von den Nummernschildern und dem Kofferraum. Als der Kleiderhaufen vor ihm allmählich Gestalt annahm – zu erkennen war das Zickzack der Beine, ein gekrümmter Torso –, klingelte sein Handy.

»MacNeice.« Er erhob sich und sah zu den Säulen auf den Schienenwagen.

»Williams, Sir. Wallace hat angerufen, er meint, Sie bräuchten Vertesi. In Cayuga geht’s ziemlich hoch her, aber ich bin heute in der Stadt. Kann ich vielleicht helfen?«

»Ja. Ich bin ganz am Ende vom östlichen Hafenbecken des Stahlwerks. Dort steht ein großes Zelt mit einem privaten Sicherheitsdienst. Sagen Sie den Leuten dort, dass Sie mit mir verabredet sind. Wie schnell sind Sie hier?«

»In einer Viertelstunde.«

»Perfekt.« MacNeice wählte Mary Richardsons Nummer, aber bevor die Verbindung hergestellt wurde, kam schon der nächste Anruf.

»Mac, hier ist Bob. Was haben wir bislang?«

»Zu den Säulen kann ich noch nichts sagen, aber im Kofferraum des Packard liegt eine Leiche, vielleicht sind es auch zwei. Ich ziehe Mary Richardson hinzu.«

»Wer ist die noch mal wieder?«

»Die Rechtsmedizinerin der Stadt.«

»Ist das eine gute Idee? Ich meine, ich möchte das alles, wenn möglich, unter Verschluss halten.«

»Das kannst du nicht, Bob. Wir halten Morde nicht unter Verschluss.«

»Kannst du mir wenigstens etwas Zeit geben, bevor das an die Öffentlichkeit kommt?«

»Ich kann nicht für die Rechtsmedizinerin sprechen.«

»Dann halte mich auf dem Laufenden. Und bitte, Mac, behandle alles so diskret wie möglich.«

Als er Mary Richardson in der Leitung hatte, erklärte sie sich bereit, vorbeizukommen.

Ellis kehrte mit einer leuchtend gelben Plane zurück. Er legte sie auf dem Beton ab und wischte sich mehrmals über sein Hemd, obwohl MacNeice darauf keinerlei Schmutz- oder Staubspuren erkennen konnte. Ellis wartete, vielleicht wollte er hören, dass er bleiben durfte. MacNeice richtete sein Augenmerk wieder auf den Kofferraum, kurz darauf hörte er Ellis mit einem Seufzen weggehen.

Williams blieb nach seinem Eintreffen hinter dem Eingang zum Zelt stehen, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich verwundert um. MacNeice lehnte mit verschränkten Armen am hinteren Kotflügel des Packard.

Williams kratzte sich am Kopf. »Was ist das hier, Boss? Und was machen wir hier? Hübsche Karre, bräuchte bloß eine neue Lackierung und einen Satz Reifen.«

»Ein Packard 120, ist vom Grund des Hafenbeckens hochgeholt worden.«

»Und was hat das mit uns zu tun?«

»Absolut nichts. Im Kofferraum liegen ein oder zwei Leichen, aber da liegen sie schon, hübsch in den Schlick gepackt, seitdem das Ding neu war.« Als er sah, dass Williams immer noch nicht kapiert hatte, fuhr er fort: »Die Säulen da drüben – in denen sind vielleicht weitere Leichen.«

»Ohne Scheiß?«

»Uns geht es nicht um die quadratischen Säulen. Die beiden runden Säulen ganz hinten sind jüngeren Datums.«

»Okay, verstanden, wir haben hier also einen Tatort. Aber wir haben doch schon einen Haufen Übeltäter an der Backe, warum sind wir also hier?«

»Wir erweisen jemandem eine Gefälligkeit, vorerst.«

»Eine Gefälligkeit? ›Kannst du mir die Wäsche von der Reinigung holen‹, das ist eine Gefälligkeit. ›Komm und wirf mal einen Blick auf die Leichen, die wir in der Bucht gefunden haben?‹ Mann, das geht zu weit. Gut, was soll ich tun?«

»Ziehen Sie sich Handschuhe an. Dann rollen wir die Plane aus.« MacNeice hatte sich an den Humor des jungen schwarzen Detective gewöhnt und ließ ihn gewähren, weil er ihn für intelligent hielt und ihm eine gewisse Intuition zusprach. MacNeice ergriff ein Ende der gelben Nylonplane, Williams das andere, und so breiteten sie sie auf dem Pier aus.

Beide Männer zogen ihr Jackett aus, falteten es ordentlich zusammen und legten es am hinteren Rand der Plane ab. Dann krempelten sie die Hemdsärmel hoch und traten an den Kofferraum.

»Hübscher Anzug. Nadelstreifen, glaube ich«, sagte Williams.

MacNeice ergriff die rechte Seite, wo die Hand lag, während Williams die angewinkelten Beine packte. »Bei drei.« Der Leichnam war überraschend leicht, aber schwierig hochzuheben, weil die Knochen im Kleiderstoff hin und her schlackerten. Der linke Fuß, der noch im Schuh steckte, riss ab und fiel in den Kofferraum zurück.

Williams sah zu MacNeice. »Sorry, Sir, mir ist ein Fuß abhandengekommen.«

»Kein Problem. Ich hab den Kopf verloren. Schauen Sie – er war nicht allein.« Mit einem Nicken wies er auf das zweite Skelett.

Sie legten den Leichnam, immer noch in seiner Fötusstellung, behutsam auf die Plane. Die Knochen sackten mit einem dumpfen Klacken zu Boden, dann war Stille. Sie gingen zum Kofferraum zurück. Der Schädel des Mannes lag mit weit aufgerissenem Kiefer gegen die Karosserie gelehnt. Von der Haut und den Haaren war nichts mehr zu sehen, nur noch graue Knochenmasse. MacNeice hob ihn heraus, legte ihn in die korrekte Position oberhalb des Torsos und kehrte zum Wagen zurück. Williams hatte den Fuß mit dem Schuh herausgenommen und neben das Hosenbein gelegt.

Die anderen Überreste stammten von einer Frau, die, nach allem, was noch zu erkennen war, ein rot-gelb gestreiftes Sommerkleid getragen hatte. Nach den Schuhen zu schließen – vermutlich waren sie dunkelrot gewesen – war sie noch jung, um die zwanzig. An Armen und Beinen hingen noch ledrige weiße Hautfetzen. Ihre Hände glichen, wie die seinen, erstarrten Klauen.

Williams neigte den Kopf, um sich den Leichnam anzusehen.

MacNeice neben ihm sagte: »An einem Sommermorgen, vor langer Zeit, ist dieses Mädchen aufgewacht, hat sich ihr hübsches Kleid angezogen, hat den Tag begonnen und sich ganz großartig gefühlt.«

»Wahrscheinlich hat sie auch gedacht, dass sie vorn mitfahren darf«, sagte Williams leise.

MacNeice beugte sich in den Kofferraum. Der Stoffbezug im Kofferraumdeckel war zerrissen – oder zerkratzt worden –, er hatte sich nicht erst unter Wasser so zersetzt. Der Wagen war wunderbar gearbeitet; sie waren noch am Leben gewesen, als sie in den Kofferraum verfrachtet wurden.

»Löffelchenstellung«, sagte Williams.

»Löffelchenstellung? Ah ja … Gut, schaffen wir sie raus.« Unter dem Leichnam lag eine kleine rote Handtasche mit intakten Riemen.

Als die beiden so nebeneinander auf der Plane lagen, konnte man sie sich tatsächlich als ein junges Pärchen bei einem Sommerausflug vorstellen – allerdings musste man dabei die Augen schon arg zusammenkneifen.

MacNeice machte weitere Fotos. »Schauen Sie nach, was Sie sonst noch im Wagen finden«, wies er Williams an. Er selbst kauerte sich neben den verdreckten grauen Anzug mit den weißen Knochen und tastete die freiliegende Jackett-Tasche ab – nichts. Nichts in den Innentaschen oder in den Taschen der Hose, deren Stoff bei der Berührung zerfiel.

»Auf der Rückbank liegt ein großer Koffer«, rief Williams.

MacNeice öffnete die Handtasche. Es war nicht viel drin. Mit seinem Stift kramte er darin herum – eine Zigarettenpackung, ein Schildpattfeuerzeug zum Aufklappen, ein Lippenstift, ein kleiner Handspiegel und eine Mitgliedskarte. Er nahm sie heraus. Sie war braun, sehr fleckig, sehr brüchig und auf eine Rosemary McKenzie ausgestellt für das Wonderland, einen Tanzpalast unter freiem Himmel, der sich viele Jahre lang in Parkdale and Maine befunden hatte, einem Viertel im Osten der Stadt. Keine Brieftasche, keine Schlüssel oder andere Personaldokumente außer der Karte für das Tanzlokal.

»Großer Gott – Boss, in diesem Ding ist ein Kind.«

Williams wich von dem offen auf dem Beton liegenden Koffer zurück und lief auf und ab.

MacNeice trat hinüber. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich wie ein fünf- oder sechsjähriges Kind aus. Aber dann betrachtete MacNeice es sich genauer und brach in Lachen aus.

»Was ist daran so komisch?« Williams war richtig sauer.

»Das ist eine Puppe, Williams. Die Puppe eines Bauchredners.«

»Was zum Teufel …« Williams kam näher. Er war so erleichtert, dass er keinerlei Versuch unternahm, die Peinlichkeit zu überspielen.

MacNeice klappte den Koffer zu und rieb an dem mit Nieten auf dem Deckel angebrachten Namensschild. »Die Puppe heißt Archie. Und hier – schauen Sie, gleich darunter – der Bauchredner …« Er beugte sich zur Seite, damit sein Schatten nicht auf die kleinen Kapitälchen fiel. Charlie »Chas« Greene. Boston, Mass.

»Der Typ da drüben ist also wahrscheinlich Chas Greene.«

»Sie haben von ihm schon mal gehört?«

»Nein.«

»Den kann ja mal jemand recherchieren. Aber das machen nicht wir.«

Keiner der beiden hatte die Ankunft von Mary Richardson mitbekommen. Sie war nur noch wenige Meter von der Plane entfernt, als sie die beiden ansprach. »Gentlemen, vielleicht mögen Sie mich Ihren Freunden hier vorstellen?«

MacNeice sprang auf. Es war ihm unangenehm, dass sich jemand so dicht nähern konnte, ohne dass er etwas bemerkt hatte. »Ich denke, bei dieser Frau handelt es sich um Rosemary McKenzie, und wenn das da drin seine Puppe ist, haben wir hier Charlie Greene vor uns liegen. Sie waren zusammen im Kofferraum des Packard.«

»Wie lange?«

»Ich vermute, seit 1936 oder 1937. Ich habe gehofft, Sie würden uns das sagen.«

»Das ist nicht mein Job.« Sie stellte ihren schwarzen Koffer ab und wandte sich den Säulen hinter ihm zu. »Was haben Sie da noch, Detective?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber wahrscheinlich stecken in den Säulen weitere Leichen.«

»Was soll ich machen?«

»Na ja, für den Anfang könnten Sie sich mit den beiden hier befassen. Und wir knacken unterdessen die Säulen. Die beiden runden ganz hinten sind sehr viel jünger.«

»Die beiden sind höchstwahrscheinlich ertrunken oder erstickt. Ich sehe sie mir mal an, aber, um es gleich klarzustellen, ich schätze es nicht besonders, wenn Sie mich deswegen rufen. Ich wundere mich über Ihre Prioritäten, Detective.« Sie öffnete ihre Tasche und holte eine große Schere heraus.

»Es ist eine Gefälligkeit für einen Freund.« MacNeice ging zum Zelteingang und bat den Rausschmeißer, Ellis und den Presslufthammer-Typen aufzutreiben.

»Sagen Sie ihnen, sie sollen jetzt kommen.«

Williams war über den Beifahrersitz des Wagens gebeugt, als MacNeice zurückkam. »Ein Borsalino, eine Straßenkarte des Staates New York und, halten Sie sich fest, die Registrierung des Wagens, das alles war im Handschuhfach«, rief er. »Wenn das sein Wagen war, dann ist er nicht Charlie Greene, sondern Chaim Greenblatt.«

»Dann war Greene sein Künstlername«, sagte MacNeice.

»Ja, scheint so. Chas oder Chaim – da musste man nicht lange überlegen, besonders damals.«

Richardson hatte die Krawatte abgeschnitten und die Überreste des Hemdes, der Hose und der noch vollständig erhaltenen Unterhose entfernt. Vor ihnen lag ein Skelett, das – so sah es zumindest aus – teilweise mit weißem Leder überzogen war, an dem hier und da noch schwarze, eingetrocknete Fleischreste klebten.

»Bemerkenswert«, sagte Richardson.

»Wieso?«

»Na ja, ich hätte ein Skelett erwartet, aber Fleisch … und Innereien in jeglicher Form« – sie zeigte mit ihrer Schere auf die schwarze Masse im Unterleib – »das ist wirklich bemerkenswert. Der Kofferraum muss luftdicht verschlossen gewesen sein.«

»War er.«

»Sie ist in einem etwas besseren Zustand.« Mit einem Nicken zeigte Richardson auf die Überreste der jungen Frau. »Ein interessantes Studienobjekt für Sheilagh Thomas, die Medizinanthropologin in Brant.«

MacNeice wollte nach seinem Notizbuch greifen und merkte erst dann, dass es sich in seinem Jackett befand.

»Keine Sorge, Detective, ich rufe sie schon an. Ich schneide nur noch das Kleid auf, und wenn Sie nicht noch mehr für mich haben, wartet im Labor Arbeit auf mich.«

»Nur die runden Säulen noch, Frau Doktor.« Wie aufs Stichwort erschien im Zelteingang Ellis, im Schlepp einen Hünen, der so mühelos einen Presslufthammer geschultert hatte wie ein Teenager sonst seinen Baseball-Schläger. MacNeice zeigte in Richtung der beiden weitestentfernten Säulen. »Wir fangen mit den beiden ganz hinten an.« Ellis konnte sich kaum vom Anblick des Packard und der Leichen auf der Plane losreißen, während sich der Typ mit dem Presslufthammer keinen Deut dafür zu interessieren schien. MacNeice kehrte zu Richardson zurück, die mit der Schere in der Hand vor dem Leichnam der Frau kniete.

»Sie trägt so ein reizendes Höschen. Jammerschade, das zu zerschneiden«, sagte sie.

»Sie dürfte es sich auch anders vorgestellt haben, wie ihr das Höschen ausgezogen wird, als sie es angezogen hat«, flüsterte MacNeice. Teile der Spitze fielen in ihren Schoß, wo sich eine schwarze, tauartige Masse kräuselte. Danach durchtrennte sie die brüchigen BH-Träger und beugte sich näher heran. »Fünfundsiebzig B. Man sieht das Etikett durch den Rippenbogen.«

»Seit wann gibt es denn BH-Größen?«

»Gute Frage. Ich hab keine Ahnung.«

»Was ist das, was sie da um den Hals hat?«

»Ein Anhänger. Den überlasse ich Ihnen. In Herzform. Wie nett. Und diese Masse da unten auf ihrem Kleid …«

»Ja?«

»Ist ihr Herz. Die Klumpen links und rechts davon, die wie große eingetrocknete Teebeutel aussehen, sind die Lungenflügel. Recht viel mehr gibt es nicht zu sagen, denke ich, aber Dr. Thomas wird von den beiden zweifellos fasziniert sein.«

3

Der Litauer mit dem ernsten Blick, der lediglich als August vorgestellt worden war, rollte den Kompressor zur ersten Säule und drückte MacNeice einen dicken schwarzen Marker in die Hand. »Sie zeigen, wo soll ich machen Schnitt.«

MacNeice zog mit dem Stift eine Linie quer über die Mitte der Säule. August klappte die Abdeckung des Bedienfelds am Kompressor hoch, setzte Brille und Helm auf und winkte MacNeice und Ellis zur Seite. »Zurück. Wenn ich aufhöre, Sie können kommen.«

»Wollen Sie meinen Helm, Detective?«, fragte Ellis.

»Nein, danke.« Sie traten etwa fünf Meter zurück. August befestigte den Druckluftschlauch, dann dröhnte der Presslufthammer los. MacNeice widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Mit dem auf Brusthöhe gehaltenen Hammer nahm August den ersten Einschnitt vor.

»Unglaublich, was? Er geht damit um wie mit einem Skalpell«, schrie Ellis im Getöse.

MacNeice lächelte und nickte.

Eine Minute später löste August den Presslufthammer und ließ ihn vor sich hin tuckern. Er winkte MacNeice heran. Für MacNeice war im Beton nichts zu erkennen als Be-ton.

»Nichts da?«

»Doch, da ist was.« August zeigte auf die Säule.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Zu weich, stimmt nicht. Kommt raus wie Biskuitkuchen. Vielleicht Lady besser fortschicken?«

»Nein, nein. Sie ist hier, um sich das anzusehen. Keine Sorge, es ist ihr Job.«

»Schlechter Job«, sagte er und sah zu Richardson. »Okay, zurück. Ich arbeite an beiden Seiten.«

Manche Szenen könnte man brüllend komisch finden, wären sie nicht der blanke Horror. Beim Anblick des allmählich freigesetzten großen männlichen Torsos, der zwischen zwei angebohrten Betonklötzen eingespannt war – im einen steckten noch Kopf und Schultern, im anderen verschwanden die aus Bermuda-Shorts herausragenden Beine –, brach Montile Williams in schallendes Gelächter aus. Was ihm allerdings schnell verging, als ihm der Fäulnis- und Verwesungsgeruch in die Nase stieg.

MacNeice bemerkte, dass Ellis auf dieses seiner Ansicht nach respektlose Verhalten bestürzt reagierte, also bat er ihn zu gehen. Ellis hatte hier sowieso nichts mehr verloren.

»Wie eine Torte, aus der einer rausspringt«, sagte August. »Wie weiter? Oben oder unten? Oder nächste Säule?«

»Erst die Füße, dann den Kopf. Ellis hat gesagt, Sie gehen mit dem Ding um wie mit einem Skalpell – jetzt können Sie uns das beweisen. Wenn er freigelegt ist, machen wir uns an die nächste Säule.«

August meißelte die Beine frei, um die herum der Beton wie von allein wegplatzte. Erst sackte das eine Bein, dann das andere nach unten, worauf der gesamte Torso in sich zusammenfiel. Schwer zu sagen, ob es sich um einen dicken Mann mit dünnen Beinen gehandelt hatte oder um einen schlanken Mann, dessen Oberkörper sich durch die Fäulnisgase ungeheuer aufgebläht hatte. Aber da die Bermudas nicht spannten, ging er vom Ersteren aus, wenngleich der Geruch nahelegte, dass beide Theorien zutreffen könnten. Überall lagen mittlerweile große Betonbrocken herum.

Williams musste den nächsten Lachanfall unterdrücken. MacNeice drehte sich zu ihm um. »Nicht schon wieder«, warnte er ihn. Er nahm seine Kamera und machte mehrere Aufnahmen. An Richardson gewandt sagte er: »Was meinen Sie, wie lange er da drin war?«

»Nicht lange – ein Jahr vielleicht, vielleicht ein wenig länger. Ich werde hier keine Autopsie durchführen, MacNeice. Wir schaffen ihn ins Labor.«

»Wenn in der anderen Säule ebenfalls eine Leiche steckt, bringen wir sie im Fischkühllaster ins Leichenschauhaus.«

August setzte erneut den Presslufthammer an und zog einen kontrollierten Schnitt entlang des Körpers. Beim zweiten Durchgang bröckelte die rechte Seite weg, Brustkorb, Schultern, Arme und Teile des Halses wurden sichtbar. Er hämmerte weiter, und ein paar Minuten später lag der Leichnam flach auf dem Schienenwagen. August wischte die größeren Brocken weg, legte den Presslufthammer ab und rollte den Kompressor zur zweiten runden Säule.

Die Stirn des großen dicken Mannes, der Mitte bis Ende fünfzig gewesen sein musste, wies eine großkalibrige Eintrittsöffnung auf. Er trug ein gelbes, blutverschmiertes Hemd über Bermuda-Shorts mit Dschungelmuster. Die Handgelenke waren mit einem Seil gefesselt, das auch um den Hals geschlungen war und über dem Kopf weiterlief – vermutlich war er damit fixiert worden, während der Beton gegossen wurde. Die Zunge steckte ähnlich einem dicken braunen Kaugummiknäuel zwischen den Lippen des geöffneten Munds.

»Kennen Sie den?«, fragte Williams und musterte das Gesicht.

»Nein, aber ich glaube nicht, dass er Zahnarzt war«, antwortete MacNeice und machte weitere Fotos, Nahaufnahmen und vom Körper insgesamt.

»Was soll das heißen?«, fragte Richardson.

»Das soll heißen, dass er wie die Idealbesetzung für eine Schlägertype aussieht.«

Richardson stellte ihre Tasche ab, vermaß die Eintrittsöffnung – .44er Kaliber – und inspizierte Mund, Augen und Ohren. »Achtzehn Monate, würde ich sagen.«

»Sie markieren nächste Säule?«, fragte August, als MacNeice und Williams sich der zweiten Säule näherten.

»Nein, gehen Sie genauso vor wie bei der ersten«, sagte MacNeice.

»Der Stadt sei Dank für die Klimaanlage, Boss, aber wenn da auch eine drin liegt, muss ich mir was vor die Nase halten«, sagte Williams. Bei dem fürchterlichen Gestank war ihm nicht mehr zum Scherzen zumute. August sah zu MacNeice. »Ich mach andere zwei später. Muss erst Mittagessen, aber nicht hier.«

»Danke, August. Und reden Sie bitte nicht über das, was Sie hier gesehen haben.«

»Kein Interesse. Kein gutes Gespräch.« Er streifte die Brille über und begann zu hämmern.

Den zweiten Leichnam hatte es übler erwischt. Der freigelegte Mann trug ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Hose. Nach den langen schwarzen Haaren und der schlaksigen Statur zu urteilen, schien er etwa Mitte dreißig gewesen zu sein. Vom Gesicht war nicht mehr viel übrig – alles bis zu den Ohren war abgeschert worden. Keine Stirn, keine Augen, keine Nase, kein Mund oder Kinn; sogar der Schädelinhalt war ausgelaufen. Das Seil, mit dem er beim Eingießen des Betons hochkant gestellt worden war, war um die auf den Rücken gedrehten Arme gebunden, so dass ihm beide Schultern nach vorne gezogen und ausgekugelt wurden. Auch Hände und Füße hatte man entfernt, und an beiden Unterarmen war das Fleisch bis auf die Knochen weggeschnitten.

»Tattoos?«, fragte Williams.

»Vielleicht. Identifikationsmerkmale, genau wie Gesicht und Hände.« MacNeice wandte sich an Richardson, die ein wuchtiges Vergrößerungsglas aus ihrer Tasche zog. »Komisch – beim ersten hatten sie nichts dagegen, dass wir ihn identifizieren, bei ihm aber wollen sie nicht, dass wir erfahren, wer er war.«

»Wir tun, was wir können, mit dem, was wir haben.« Richardson besah sich den Arm, hob ihn an und betrachtete die Wunde am Handgelenk näher. »Ein elektrisches Messer.«

Williams fuhr zu ihr herum.

»Ein Tranchiermesser mit Doppelklinge, mit dem man einen Truthahn zerteilen würde. Gezahnte Klinge, die mit hoher Geschwindigkeit hin- und herfährt. Wahrscheinlich hat man ihn vollständig ausbluten lassen, bevor man ihn in das Schalungsrohr gepackt hat. Im Gegensatz zu dem anderen.«

»Mitsamt Kleidung geschlachtet«, sagte Williams.

Wieder machte MacNeice Fotos, dokumentierte sowohl die einzelnen Verstümmelungen als auch den Leichnam im Ganzen.

»Wenn ich Sie unterbrechen darf, Gentlemen, ich muss zurück. Ich habe keinen Wagen – Junior hat mich abgesetzt –, aber ich bin für jeden Vorschlag zu haben.«

MacNeice wies Williams an, Richardson seinen Autoschlüssel zu geben und im Fischlaster zu folgen, sobald die Leichen verladen waren. Die Rechtsmedizinerin packte zusammen und verließ ohne ein weiteres Wort das Zelt. MacNeice tastete die Hosentaschen des Toten ab. Natürlich fanden sich keine Ausweispapiere. Sie schnitten zwei Abschnitte von der Plane, wickelten die Toten so sorgfältig wie möglich ein und packten sie in den Fischlaster, in dessen Laderaum die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt lag. Als Zaminsky die Zeltklappe öffnete, um den LKW durchzulassen, klingelte MacNeice’ Handy. Er trat durch den nördlichen Eingang ins Freie und atmete zum ersten Mal seit einer geraumen Weile wieder durch.

»MacNeice«, meldete er sich und sah hinaus zu einem Frachter, der langsam durch den Kanal glitt, sah zu den Möwen, die in seinem Fahrwasser kreisten und darauf hofften, dass die Schrauben irgendetwas aufwühlten.

»Was habt ihr?«, fragte der Bürgermeister.

»Zwei noch nicht so alte Tote in den runden Säulen. Man könnte also annehmen, dass wir in den quadratischen Säulen auch welche finden, nur wären die wesentlich älter. Dr. Sheilagh Thomas von der Universität wird sie und die beiden aus dem Kofferraum des Packard abholen.«

»O Gott, unzählige Beteiligte. Bleibt mir noch ein bisschen Zeit, bevor mir alles um die Ohren fliegt?«

»Nein. LeBlancs Fischlaster ist gerade mit den frischesten Leichen abgefahren. Es wird bald die Runde machen, wenn es nicht sowieso schon geschehen ist. Also einfach versuchen, vorndran zu bleiben. Und nichts verschleiern.«

»Oder alles verharmlosen.« Der Bürgermeister hatte es kapiert.

»Es gibt bei den zwei Typen nichts zu verharmlosen. Einer hat ein großes Loch in der Stirn, der andere hat überhaupt keine Stirn mehr – und auch kein Gesicht und keine Hände oder Füße. Richardson meint, sie liegen seit etwa eineinhalb Jahren da drinnen. War das nicht der Zeitpunkt, zu dem du dieses Projekt angeleiert hast?« Sein Blick fiel auf den aufgeplatzten Beton am Kai, und er bestaunte die kleinen Pflanzen, die in den Rissen blühten.

»Mein Gott, ja. Okay, versuch doch, noch für einen Tag oder so den Deckel draufzuhalten.«

MacNeice steckte das Handy ein und hielt nach dem Frachter Ausschau, der mittlerweile verschwunden war. Ihm ging durch den Kopf, was passierte, wenn die Polizei LeBlancs LKW mit Williams anhielt und im Kühlraum statt der Seeforellen zwei Leichen fand. Grinsend kehrte er ins Zelt zurück. Die Klimaanlage surrte, schien aber mit dem strengen Fäulnisgeruch überlastet zu sein. Als er sein Jackett holte, sah er zu den beiden Leichen auf der Plane. Sie schliefen, tief und fest.

Draußen trat er an den Rand des Hafenbeckens, das ausgebaggert wurde. Vor der senkrecht abfallenden Wand wurde ihm schwindlig, auch das provisorisch aus Kantholz gezimmerte Geländer war wenig vertrauenerweckend. Alle Arbeiten in der tiefgelegenen Grube waren zum Stillstand gekommen. Einige größere Wasserlachen waren zu erkennen, ansonsten war das Becken mehr oder weniger flach und trocken. Graue Möwen kreisten und landeten im Schlick, wo sie nach Futter suchten. Plötzlich wurde ihm bewusst, was für ein riesiges Raumvolumen sich hier auftat. Und von diesem Gedanken war es nicht mehr weit zu der Frage, wie viel Beton nötig sein würde, um das neue Museum der Großen Seen zu errichten.

Als er ging, informierte er Zaminsky, dass er außer einer Dr. Sheilagh Thomas und August, dem Typen mit dem Presslufthammer, niemand sonst ins Zelt lassen solle. Falls es Probleme gebe, solle er sich sofort bei ihm melden. MacNeice reichte ihm eine Karte. »Apropos, von wem ist Ihre Firma beauftragt worden?«

»Wir sind von der Versicherung des Projekts angeheuert worden. Man sagte uns, man müsse der Security trauen können. Und uns kann man trauen.«

»Das bezweifle ich nicht. Bewahren Sie also Stillschweigen.«

»Mein Wort drauf.« Es sah so aus, also hätte es Zaminsky auf einen High-five abgesehen, aber dann entschied er sich doch für einen Handschlag.

4

MacNeice war am Verhungern, wie er auf der King Street merkte. Kurzerhand steuerte er Marcello’s an. An einer roten Ampel griff er sich die schwarze CD-Tasche und ging die einzelnen Fächer durch, bis er das Brahms-Klavierkonzert gefunden hatte. Kates Lieblingsstück. Er hatte es aus tausend Gründen immer bei sich, heute zumindest war er in der richtigen Stimmung für den Melodienfluss, der ihn woandershin tragen würde. Musik war ein Geschenk – er hatte ihr den Jazz geschenkt, sie ihm klassische Musik, und beides bildete einen sicheren Hafen und neutrales Terrain.

Er bog in den Parkplatz hinter dem Restaurant ein und wartete, bis das Klavier seinen Einsatz hatte. Mit der Musik noch im Kopf stieg er aus und betrat das Lokal.

»Calamari und Pasta pomodoro«, gab er bei Marcello die Bestellung auf. »Sagen Sie, March, nur unter uns. Wenn ein Mafioso jemanden umbringt, ist es dann normal oder überhaupt vorstellbar, dass er ihm Gesicht, Hände und Füße entfernt, bevor er ihn einbetoniert?«

»Manche Italiener machen das so. Kalabrier aber nicht. Wir ziehen es vor, jemanden in den Kopf zu schießen und dann einfach zu verschwinden. Wollen Sie einen Shiraz oder was Leichteres zu den Calamari? Ich lasse sie grillen, nicht fritti – einverstanden?«

»Gegrillt ist wunderbar, und Shiraz auch.«

»Ja, also, in meiner Stadt, San Giorgio, gibt es ganz viele weiße Kreise. Man sieht sie überall – vor der Bäckerei, dem Rathaus, der Polizei, der Kirche – überall.«

»Und sie stehen wofür?«

»Sie zeigen an, wo jemand erschossen wurde. Nur erschossen – peng! Der Schütze verschwindet. Aber jemanden aufschneiden, das macht man in Neapel. Neapolitaner, die zerhacken gern Leute – damit schicken sie eine Botschaft.«

»Eine Botschaft?«

»Ja, wenn Sie einen, den Sie kennen – mit dem Sie vielleicht verwandt sind, den Sie vielleicht geliebt haben –, nur noch zerstückelt sehen, dann denken Sie vielleicht noch mal über das Leben nach. Aber Sie wissen, die russische Mafia ist schlimmer als die in Neapel. Ich bringe Ihnen den Shiraz. Mineralwasser dazu?«

»Perfekt.«

MacNeice haderte mit dem Gedanken, dass sich jemand wirklich die Mühe machte, einen Toten in der Bucht zu versenken, um dann darauf zu warten, dass der Tote eines Tages an die Oberfläche kommt und die damit verbundene Botschaft übermittelt würde. Was für eine Geduld – eine einbetonierte Zeitkapsel ohne festgelegtes Öffnungsdatum – nur Geduld und ein glücklicher Zufall, auf den man hoffen muss. Wie feinsinnig. Aber falls damals die Pläne für das östliche Hafenbecken bereits bekannt gewesen waren, dann wäre auch der – ungefähre – Zeitpunkt bekannt gewesen, an dem die Zeitkapsel geöffnet würde. Ein Plan, der so brillant wie verquer war.

Als Marcello erneut vorbeikam, hielt MacNeice ihn auf. »Sagen Sie mir, wenn ich einem aus Neapel die gleiche Frage stelle, wäre es dann möglich, dass er Ihnen zustimmt? Oder könnte er auch sagen: ›Nein, wir doch nicht, wir machen so was nicht. Aber die verrückten Kalabrier – Mann, das sind die Schlimmsten‹?«

»Ja, das könnte schon sein.« Marcello brach in schallendes Gelächter aus, verpasste ihm einen Schlag auf die Schulter und verschwand in der Küche.

Später, gestärkt durch das Essen, fuhr MacNeice zum Leichenschauhaus. Weil sich bei Richardson bald die Leichen aus Cayuga stapeln würden, baute er darauf, dass seine beiden vom Hafen, die zuerst eingeliefert wurden, auch zuerst drankamen.

Ihm wurde immer etwas mulmig, wenn er durch den weißgefliesten unterirdischen Korridor ging, aber als er sich der zweiflügeligen Edelstahltür näherte, hörte er klassische Musik – Bach, eines der Brandenburgischen Konzerte. Er schob mit der Schulter einen Flügel auf und trat ein. Richardson, die an einer Rollbahre stand, drehte sich zu ihm herum. »Gerade rechtzeitig. Was, Junior?«

»Genau«, sagte Junior mit seinem gruseligen Lächeln, mit dem er deutlich zu verstehen gab, dass er seine Arbeit allzu sehr mochte. MacNeice kannte Richardsons jungen Laborassistenten nicht anders als in weißer Kleidung und hohen grauen Gummistiefeln. Klar, zu seinen Aufgaben gehörte es, allen Unrat vom rot gekachelten Boden zu spritzen, der auch jetzt makellos feucht glänzte.

Er freute sich nicht unbedingt darauf, »No-Face« zu sehen, wie Richardson ihn genannt hatte, aber diesmal lag er wenigstens mit dem Nicht-Gesicht nach unten auf der Bahre.

Nachdem sie in ihrem Büro die Musik ausgestellt hatte, sagte sie: »Wir haben etwas gefunden, was Sie interessieren könnte.« Sie strich die langen Haare an der Schädelbasis zur Seite; dort hatte sie ein Stück ausrasiert, auf dem ein kleines blaues Tattoo zum Vorschein kam: neun Ziffern – 177126619 – eine Art Personenkennziffer. Im Rücken fand sich darüber hinaus die kleine Narbe einer Eintrittswunde, wahrscheinlich Kaliber .22 . Richardson meinte, die müsse der Tote schon jahrelang gehabt haben. Sie gab eine Mutmaßung zum Mageninhalt ab – Bier und Cheeseburger –, zur Bestätigung seien aber eingehendere Untersuchungen nötig.

»Noch was?«, fragte MacNeice.

»Er besaß eine beeindruckende Kühlerfigur«, raunte Junior ihm zu und kicherte.

»Wie bitte?«

»Er war sehr gut bestückt, Detective«, erklärte Richardson und warf Junior einen vernichtenden Blick zu.

»Gut. Irgendwas zum Bermuda-Träger?«

»Noch nicht.«

Selbst brillant ausgeführte Morde, ging MacNeice beim Verlassen des Gebäudes durch den Kopf, konnten aufgedeckt werden, wenn das Schicksal eine ebenso brillante Wendung nahm. Keiner kam auf die Idee, unter den Haaren nach einem versteckten Tattoo zu suchen … Das Tattoo, kam ihm der Gedanke, war also höchstwahrscheinlich gestochen worden, als es noch sichtbar gewesen war. Ein Häftling oder ein Soldat – jemand, der unter Kahlrasierten lebte.

Im Chevy zückte er sein Handy und wählte eine Nummer. »Swetsky, hier ist Mac.«

»Was brauchen Sie, Kumpel?«

»Zwei Männer. Ich habe zwei Leichen, die aus der Bucht gezogen wurden.«

Swetsky bedeckte die Sprechmuschel und brüllte irgendwas in den Raum hinein. MacNeice riss das Handy weg. Er mochte es nicht, wenn er das Gefühl hatte, sein rechtes Ohr wäre unter Wasser.

»Sie haben Williams. Wollen Sie Vertesi auch wiederhaben?«

»Wenn möglich, ja.«

Wieder bedeckte Swetsky die Sprechmuschel, wieder brüllte er etwas, dann meldete er sich wieder. »Kein Problem. Palmer und die beiden DI vom West End müssen reichen. Ich hab sowieso so viele Polizisten hier draußen, die stehen sich alle gegenseitig auf den Füßen. Ich bin mehr Verkehrspolizist als Ermittler.«

»Kann ich mir vorstellen. Es ist ein großer Fall, Swets.«

»Wir kriegen das schon hin. Ich schicke Vertesi am Abend rein.«