Der gute Killer - Scott Thornley - E-Book

Der gute Killer E-Book

Scott Thornley

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Beschreibung

Zwei Leichen werden in einem Herrenhaus in Dundurn, Ontario, gefunden: Howard Terry und sein Sohn Matthew wurden beide mit zwei Schüssen in die Brust getötet. Unter Matthews Körper liegt eine Puppe, aus deren Kopf blutrote Watte herausquillt. In der Nähe liegt eine Schaufensterpuppe in einem Nachthemd, ebenfalls mit zwei Einschusslöchern in der Brust. Auf der anderen Seite der Stadt wird eine weitere Leiche entdeckt: An einen riesigen Felsen gelehnt liegt ein Mann im Baumwollnachthemd, der einen Eselskopf aus Pappmaché trägt. Wieder zwei Kugeln in der Brust. Irgendetwas an der Art, wie die Leichen arrangiert wurden, löst in Detective Superintendent MacNeice eine Erinnerung an ein Bild aus, das er Jahre zuvor gesehen hat ...

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Seitenzahl: 457

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Titel

Scott Thornley

Der gute Killer

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Andrea O’Brien

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5193.

Deutsche Erstausgabe© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© Scott Thornley 2018Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlagabbildungen: Maurizio Distefano / Alamy Vektorgrafik (Risse); FinePic(c), München (Pinsel, Blut, Hintergrund, Komposition)

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

eISBN 978-3-518-76996-6

www.suhrkamp.de

Der gute Killer

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Cover

Titel

Impressum

Der gute Killer

Prolog

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Epilog

DANKSAGUNG

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Der gute Killer

When you turn the corner And you run into yourself Then you know that you have turned All the corners that are left.

Langston Hughes, Final Curve

Prolog

Father Howard Terry war kurz vorm Einschlafen, als an seiner Wohnzimmerdecke orangefarbene Lichtsplitter aufblitzten und mit ihren messerscharfen Spitzen auf sein Buchregal einhieben. Genervt schlug er seine eselsohrige Ausgabe von »König Salomos Schatzkammer« zu und wartete geduldig, bis das seltsame Bild verschwunden war.

Kurze Zeit später ertönte allerdings der dumpfe Knall einer zuschlagenden Transportertür, gefolgt von Schritten und dreimaligem, zackigem Klopfen an der Haustür. Terry legte das Buch auf den Beistelltisch und sah auf die Uhr: fast zehn vor zehn, ziemlich spät für einen Hausbesuch. Er hatte sich tief in seinen Sessel gekuschelt und musste sich nun mühselig daraus hervorhieven. Mit steifen Beinen schlurfte er zur Tür.

Sein Sohn rief von oben: »Gehst du, Dad?«

Durch das geriffelte Glas erkannte Terry das reflektierende Kreuz auf dem Rücken des Mannes in der orangefarbenen Warnweste. Lichtsplitter zerbarsten an seinem Helm und zerstoben in alle Richtungen. Beim Geräusch des Riegels fuhr der Mann herum.

Howard Terry öffnete die Tür weiter. »Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?« Der Mann spähte durch seine getönte Schutzbrille.

»E-Werk Dundurn, Sir. Bin ich hier richtig bei …«, er hielt inne und kramte ein Notizbuch hervor, »… Matthew Terry?«

Sein Sohn, auf halber Treppe, rief von oben: »Ich bin Matthew Terry. Sie sprechen mit meinem Vater, Father Terry. Worum geht es denn?«

Der Mann erklärte, dass es wegen der starken Regenfälle der letzten Tage in der Gegend zu Überspannungen gekommen sei, und im Umspannwerk in der Duke Street habe man herausgefunden, dass die Quelle dafür offenbar in diesem Haus liege. Er würde deswegen gern mal im Stromkasten nachsehen. Ob er reinkommen dürfe?

»Im besten Fall müssen wir einfach alles zurücksetzen, Sir. Und wenn es ganz schlimm kommt, muss eben eine neue Messuhr rein.« Er schlang sich die orangefarbene Nylontasche über die Schulter und schnappte sich den großen Werkzeugkasten, bevor er das Haus betrat.

Father Terry schloss die Tür hinter ihm und schob aus Gewohnheit den Riegel vor. »Das sieht nach schwerem Geschütz aus, mein Sohn.«

Der Mann schob sich an ihm vorbei. »Das hier? Nee, ist alles nur Show.« Er setzte sich auf die Bank neben der Tür, öffnete die Tasche und zog zwei transparente Plastikbeutel heraus. Die zog er sich über die Schuhe und erhob sich wieder. »Damit ich keinen Schmutz reintrage.«

Father Terry war sehr angetan von der Umsicht seines Besuchers. »Sie machen wohl Überstunden, hm?«

»Nee, hab jetzt Schicht.«

»Möchten Sie was trinken, wenn Sie fertig sind? Kaffee oder Tee?«

Matthew Terry hatte keine Lust, sich lange mit dem Mann aufzuhalten, und das zeigte er auch. »Dad, er hat sicher eine Menge …«

Doch der Mann fuhr dazwischen. »Richtig. Ich hab tatsächlich viel zu tun, aber gegen einen Kaffee hätte ich nichts einzuwenden.« Mit diesen Worten nahm er seinen Werkzeugkasten und folgte Matthew zur Kellertür. Dort wandte er sich noch einmal um. »Schwarz, mit einem Löffel Zucker.« Mit einem Lächeln stieg er die Treppe hinab.

Father Terry ging in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein und setzte den Kessel mit Teewasser auf. Dann holte er drei Becher aus dem Schrank, obwohl er sicher war, dass sein Sohn nicht mittrinken würde. Matthew hatte keine Zeit für Leute, die er abschätzig als »gewöhnlich« bezeichnete. Vermutlich würde er sich sofort verziehen, sobald er wieder aus dem Keller kam.

Während der Kaffee durchlief, fragte sich Terry, warum sein Sohn zu einem derart verbitterten Menschen geworden war. Er stand an der Spüle und lächelte seinem Spiegelbild im Fenster traurig zu, denn genau dort lag sicher der Grund. Wie es so weit gekommen war und wann, war ihm allerdings schleierhaft. Er selbst hatte Matthew schon immer als missmutig erlebt, von Anfang an. Darin kam er nach seiner Mutter, und wie sie hielt er Terry für einen Schwächling und Versager. Dagegen hatte er selbst allerdings wenig einzuwenden. Er hängte einen Beutel Kamillentee in seinen Becher und griff nach dem Kessel.

Plötzlich wurde in der Küche alles dunkel. Kurze Zeit später ertönten von unten zwei gedämpfte Knallgeräusche. Defekte Sicherungen, vermutete Terry. Abgesehen vom pulsierenden, orangefarbenen Blinklicht des Transporters herrschte in der Küche totale Finsternis. Er tastete sich bis zur Tür vor und war schon auf halbem Wege, die Hände vor sich ausgestreckt, als es in der Küche wieder hell wurde.

1

»Wissen Sie, warum Sie hier sind?«

MacNeice lächelte und holte tief Luft. Die durchsichtigen Vorhänge vor dem offenen Fenster bauschten sich lässig in der Brise und brachten die grauen, rechteckigen Schatten von den Kassettenfenstern auf dem Stoff zum Tanzen. Dr. Audrey Sumner saß davor und sah ihn an. Stundenlang könnte er den Vorhängen bei dieser fließenden Bewegung zusehen, am besten mit einem geschmeidigen Stück von Miles Davis als Soundtrack. Obwohl Sumner sehr geduldig wirkte, wartete sie offensichtlich auf eine Antwort.

MacNeice atmete erneut ein. »Die letzten beiden Fälle haben mein Team ziemlich erschüttert … und mich auch.« Im Garten rief ein Blauhäher, es klang so laut und hoch, dass man glauben könnte, er säße im Zimmer. MacNeice wandte sich Sumner zu und lächelte wieder. Dieser Ruf ist ein gutes Omen, dachte er, als er zwischen Sonne und Vorhängen nach dem Aufblitzen eines Flügels Ausschau hielt. »Wenn man bedenkt, welche körperlichen Schäden ich während meiner Arbeit bei der Mordkommission davongetragen habe, halte ich es für durchaus gerechtfertigt, dass sich Wallace auch um meine psychischen Verletzungen Sorgen macht.«

Sie zuckte nicht mal mit der Wimper. »Und haben Sie eine Meinung zu diesem Thema?«

Selbstverständlich hatte er das. MacNeice wusste, dass seine Träume nicht normal waren. Neben einem sprechenden Vogel durch die Lüfte zu fliegen – das war nicht normal. Außerdem führte er Gespräche mit Kate, die seit Jahren tot war. Zwar sprach er nicht laut, aber in Gedanken redete er mit ihr, und sie antwortete ihm. Er vermutete auch, dass sein zunehmender Konsum von Grappa als Schlafmittel die Grenze erreicht hatte, wo er nicht mehr unterscheiden konnte, ob er Lust auf das Getränk hatte oder es brauchte.

»Ungeachtet der Tatsache, dass ich nicht qualifiziert bin, Ihre Frage zu beantworten, kann ich nur anmerken, dass ich so langsam eine Theorie entwickle. Sie lautet ungefähr so …«

Sumner legte ihren Stift ab, faltete die Hände und spähte über den Rand ihrer Brille. Er war nicht sicher, ob sie amüsiert oder neugierig war, vielleicht sogar beides. Er erzählte ihr von den Polizisten, die sich am Schießstand die Mordmüdigkeit auszutreiben versuchten, indem sie Schuss für Schuss auf Papierscheiben ballerten. Andere tranken, schlugen mit den Fäusten Löcher in die Wände oder stritten sich mit ihren Partnern. Die wenigsten suchten ihr Heil beim Psychologen.

»Das mag stimmen«, sagte Sumner sanft, »aber Sie haben sich sehr schnell in den nächsten Fall gestürzt.« Sie sah auf ihre Notizen. »Zuerst haben Sie zwei Leichen aus der Bucht gefischt. Dann gab es ein weiteres Opfer bei einer Explosion im Gage Park. Darauf folgend haben Sie die Leiche der jungen Ehefrau dieses Mannes gefunden. Er hatte sie gefoltert und im Keller verscharrt. Bei der Rettung ihres Sohnes sind Sie fast ertrunken.« Wieder lächelte sie kurz und wartete geduldig.

Er erwiderte das Lächeln, ließ sich aber nicht ködern. »Hier ist meine Erklärung. Ich spreche mit meiner Frau, die seit zehn Jahren tot ist. Lange Zeit habe ich geträumt, dass sie irgendwo in der Nähe ist, ich sie aber ständig verpasse. Das waren Albträume, aus denen ich schweißgebadet hochgeschreckt bin.« MacNeice legte die Hand an die Schläfe, als wollte er sich vor dem grellen Licht schützen. »Und jetzt führe ich im Geiste Gespräche mit Kate.«

Er spähte vorsichtig zu Sumner hinüber, um zu erkennen, ob sich ihre Augen geweitet hatten, sie grinste oder irgendwie besorgt aussah, doch er sah nur die Miene einer aufmerksamen Zuhörerin. »Irgendwie stelle ich mir vor, dass sie bei mir ist und ich gar keine Selbstgespräche führe. Bei diesen Unterhaltungen befreie ich mich von allen Gewaltszenen, wasche mich rein von dem vielen vergossenen Blut, mit dem mich meine Arbeit konfrontiert. Und so gelingt es mir, am nächsten Tag weiterzumachen.« Er wollte eigentlich den Mund halten, um sich nicht am Ende noch selbst davon zu überzeugen, dass er nicht richtig tickte. »So ist das. Das ist meine Erklärung. Was daraus folgt? Dass ich keine posttraumatische Störung habe, weil es in meinem Leben jemanden gibt, mit dem ich jederzeit reden kann. Und ich kann ihr wirklich alles erzählen.«

Eigentlich hatte er eine Gardinenpredigt zum Thema Wunschvorstellungen erwartet, aber Sumner spielte nicht mit. Lächelnd ergriff sie ihren Stift und verkniff sich jegliche Reaktion, weil sie offenbar ahnte, dass er noch nicht fertig war.

Als Ermittler wusste MacNeice um die Macht der Stille – dieses Vakuum, das mit Sprache gefüllt werden will. Aber er schlug seine Vorbehalte in den Wind und fuhr fort: »So geht es mir nicht nur mit Kate. Ich sehe einen Vogel oder einen Kojoten, und wenn sie den Blick erwidern – was oft vorkommt –, stelle ich mir vor, dass ich mich mit ihnen unterhalte. Wir führen ernsthafte Gespräche, und oft kommt es mir vor, als würde mir ein höheres Wesen Rat erteilen.« Bei diesen Worten huschte ihm ein eher untypisches Grinsen übers Gesicht.

»Führen Sie diese Unterhaltungen im Eifer des Gefechts?«, fragte Sumner.

»Nein. Wenn es drauf ankommt, konzentriere ich mich auf das, was vor mir ist. Ich sehe Dinge – ein nervöses Zucken, einen ausgefransten Ärmel, das Spiel der Kiefermuskeln, ein minimales Zukneifen der Augen oder Lippen.«

Diese Liste ließ sich mühelos fortsetzen: die Art, wie Sumner mit Daumen und Zeigefinger den Stift ergriff und ihn langsam zurück auf den Schreibtisch legte. Er vermutete, dass es sich dabei um eine Art Ritual handelte, ein Zögern, ähnlich dem Betätigen der Kupplung, bevor man den Gang einlegte. Er bemerkte außerdem, dass sie zu diszipliniert war, um auf ihr Handy zu sehen, wenn es aufleuchtete, weil sie eine Nachricht erhalten hatte. Auf der Fensterbank hinter ihr erkannte er Cremespuren, ungefähr dort, wo sie ihre Hände gehabt hatte, als sie dort gestanden und den Blick in den Garten genossen oder ihre Gedanken entwirrt hatte.

Wenn sie die Hände flach auf den Schreibtisch legte, betrachtete er ihre Finger. Sie waren gerade und elegant, aber zupackend wie die eines Gärtners. Die Nägel waren kurzgeschnitten und nicht lackiert. Sie hob leicht die Finger beider Hände. Womöglich wollte sie ihm damit zu verstehen geben, dass er sich wieder konzentrieren oder etwas beitragen solle.

»Deputy Chief Wallace hat zwar große Hochachtung vor Ihnen, Detective Superintendent MacNeice, doch er sorgt sich um Ihre Gesundheit. Daher sind unsere Therapiestunden in der Tat verpflichtend. Es war ihm allerdings sehr wichtig, Sie wissen zu lassen, dass es sich hier nicht um Mitleid oder gar eine Bestrafung handelt.«

MacNeice zog die Brauen hoch und schenkte Sumner seine volle Aufmerksamkeit. Obwohl ihre Worte überhaupt nicht nach Wallace klangen, musste er lächeln, als ihm aufging, dass sie seine Aussage auf ihre Weise interpretiert hatte. »Verstehe«, sagte er. »Danke.«

»Befinden Sie sich momentan in einer Beziehung, Detective MacNeice?«

»Nein.«

2

Am nächsten Morgen, die Sonne spitzte eben über die Berge, trat MacNeice vor sein Cottage. Das ehemalige Pförtnerhäuschen eines längst verschwundenen Landsitzes schmiegte sich in eine Baumgruppe unterhalb der Niagara-Schichtstufe und lag am Ende einer einsamen Zufahrtsstraße. Er stieg in seinen Chevy und fuhr auf die Erhebung zu, die Kate »Busen der Schönheit« getauft hatte. Dieser Ausflug war schon lange überfällig. Vor ihrem Tod hatte MacNeice feierlich geschworen, sie jeden Monat zu besuchen, allerdings war er das letzte Mal im Dezember dort gewesen, also vor mehr als vier Monaten. Kate mochte geahnt haben, dass es so kommen würde, denn sie hatte ihre letzte Ruhestätte mit Bedacht so ausgewählt, dass MacNeice sowohl die Mordkommission als auch Dundurn hinter sich lassen musste, um bei ihr zu sein.

Damals, als sie auf der Suche nach der richtigen Stelle gen Norden gefahren waren, hatte Kate, von mehreren Kissen gestützt, bei weit zurückgestellter Lehne auf dem Beifahrersitz gelegen. MacNeice wusste noch wie heute, wie sie ihm unter Schmerzen zugeflüstert hatte, sie könne verstehen, wenn er irgendwann nicht mehr kommen würde. Das hatte sie auch so gemeint. Ihm war die Vorstellung zuwider gewesen, doch er hatte geschwiegen. Stattdessen hatte er Kates Hand ergriffen und so lange gehalten, bis sie wieder weggedämmert war.

Als MacNeice auf die schmale Straße einbog, fiel sein Blick auf das saftig grüne Blätterdach, das sich auf der Motorhaube spiegelte. Sonnenlicht blitzte durchs Laub und brachte alles zum Glitzern. Er musste langsam fahren, denn im Winter hatte der Belag Frostschäden davongetragen und war an manchen Stellen aufgebrochen. Aber er erfreute sich an der Sonne, dem Sturm und Drang der hereinbrechenden, neuen Jahreszeit. Das alles bot eine willkommene Abwechslung zu den Gedanken, die um Kates letzte Tage kreisten.

Kurz vor der Auffahrt zum Highway kramte MacNeice eine CD aus der Sammlung im Handschuhfach – Sonny Criss: Saturday Morning. Er kannte keinen besseren Soundtrack für den Beginn einer langen Fahrt, noch dazu war heute tatsächlich Samstag. Er schob die CD ein und wartete auf die ersten Töne, bevor er sich in den Verkehr Richtung Norden einfädelte.

Bis jetzt hatte er nicht aufs Handy gesehen, er beschloss aber, sich schnell im Büro abzumelden, bevor er die Stadt verließ. In den letzten Wochen war es eher ruhig gewesen und sein Team hatte eine wohlverdiente Pause eingelegt. Das war gut und schön, hatte jedoch eine Kehrseite, die Swetsky wie immer geistreich auf den Punkt gebraucht hatte: »Hoffentlich gehen sich die Leute mal wieder an die Gurgel, sonst werden wir noch zur Verkehrspolizei abgestellt.«

Kurz nach acht traf die Putzfrau ein. An der Tür empfing sie Stille – kein Frühstücksradio in der Küche, kein »Guten Morgen, Luisa« von Father Terry.

Mit dem Schlüssel in der Hand verharrte sie auf dem Absatz und lauschte nach dem Geräusch einer laufenden Dusche oder einem Dielenknarren von oben. »Hallo, hier ist Luisa!«, rief sie. Ihr letzter Besuch lag drei Tage zurück, und soweit sie wusste, hatten die beiden Terrys nicht vorgehabt zu verreisen. Krampfhaft überlegte Luisa, ob sie vielleicht was vergessen oder missverstanden hatte, betrat dann aber doch das Haus und schob die Tür hinter sich ins Schloss.

Schon beim nächsten Atemzug bemerkte sie den entsetzlichen Gestank. Hatte sich was ins Haus geschlichen und war hier verendet? Als sich ihre Augen an das trübe Licht im Flur gewöhnt hatten, fielen ihr die Blutspuren auf dem Parkett auf, die von der Kellertreppe zur Küche führten und von dort in den ersten Stock. Luisa hielt sich den Schal vor Mund und Nase, machte auf dem Absatz kehrt und lief zur Tür hinaus, die sie sachte hinter sich schloss.

Nach wenigen Minuten waren zwei Streifenwagen vor Ort, sie parkten rechts und links vor der Auffahrt zum Haus. Zwei Uniformierte gingen ums Haus und suchten nach Einbruchspuren, während sich die anderen beiden bemühten, die aufgelöste Putzfrau zu beruhigen.

Michael Vertesi und Fiza Aziz von der Mordkommission trafen kurze Zeit später ein. Auf dem Weg zum Haus fiel Vertesis Blick auf den schwarzen Mercedes in der Auffahrt. »Nette Karosse!«, bemerkte er. Aziz führte Luisa zu ihrem Wagen, während Vertesi sich mit den Uniformierten unterhielt und alles absperrte, um eventuelle Reifenspuren in der Auffahrt zu sichern.

MacNeice stand vor dem Haus der Terrys und zog sich Handschuhe, Maske und Plastiküberschuhe an. Aziz stand breitbeinig über einem großen blutigen Schuhabdruck in der Küchentür und machte Fotos von einem zusammengefalteten Tuch auf dem Tisch. »Du kommst wie gerufen, Mac! Wir haben zwei Opfer im Schlafzimmer. Erschossen. Father Howard Terry und sein Sohn Matthew. Aber es steckt offenbar mehr dahinter. Wie es aussieht, wurde der Sohn im Keller erschossen und dann nach oben geschleppt.« Sie wies auf die Blutspur. »Das getrocknete Blut und der Gestank lassen vermuten, dass das Ganze schon ein paar Tage her ist.«

Vertesi erschien auf dem Treppenabsatz im ersten Stock. Er schob seine Maske hoch. »Boss, bis jetzt sieht’s nicht so aus, als wäre was gestohlen worden. Geldbörse und Inhalt, Schlüssel zum Mercedes – alles noch da. Aber wie Fiza schon gesagt hat: seltsame Sache. Die Spuren kommen aus dem Keller, und da unten, beim Stromkasten, gibt es eine große Blutlache. Der Mörder hat die Leiche von dort hochgetragen.«

MacNeice machte einen großen Schritt über den Schuhabdruck und ging in die Küche. Er lächelte Aziz verhalten zu, richtete seine Aufmerksamkeit dann aber gleich auf den großen, blutigen Handabdruck am Türrahmen.

Aziz hatte etwas anderes im Blick. »Dieses Tuch … das ist kein Handtuch, auch kein Waschlappen … lag ordentlich zusammengefaltet auf dem Tisch. Der Täter hat damit das Blut aufgewischt, aber er war nicht besonders gründlich.«

»Vielleicht wusste er, dass die Putzfrau kommt«, sagte Vertesi.

MacNeice beugte sich vor, um den Handabdruck genauer in Augenschein zu nehmen. »Sparen Sie sich die Scherzchen, Vertesi«, sagte er, hielt seine Hand daneben, um die Größe abzumessen. Die Finger waren breit aufgefächert und erinnerten an Abdrücke in prähistorischen Höhlen in Frankreich, obwohl die im Vergleich zu dieser Hand winzig gewesen waren.

»Wahrscheinlich war der Täter allein. Wir haben zumindest keine anderen Schuh- oder Handabdrücke gefunden.« Aziz zückte ihren Stift und zeigte auf eine unruhige Linie im Abdruck. »Er hat Handschuhe getragen.«

Die Kanne des Kaffeeautomaten stand noch auf dem Herd, eine Untertasse mit Teebeutel und zwei leere Becher in der Spüle. Ein weiterer Becher, unbenutzt, auf der Arbeitsplatte. Zwei Gläser auf dem Tisch. In beiden war Wasser, eines war fast leer.

Von der Putzfrau hatten sie erfahren, dass Howard Terry Pfarrer im Ruhestand und sein Sohn Matthew Terry ein erfolgreicher Geschäftsmann war. Luisa arbeitete schon seit sechs Jahren für die beiden, zwei Mal die Woche putzte sie das Haus. »Sie bezeichnet es als schön, aber ich sehe hier nur ein trauriges graues Gemäuer, in dem jedes Zimmer in brauner Wandvertäfelung erstickt.«

Im vergangenen Jahrhundert hätte man das Anwesen wohl für luxuriös und elegant gehalten, doch jetzt wirkte es lediglich wie ein Überrest aus einer anderen Zeit, ein überkommenes Denkmal für Dundurns alten Geldadel. Im Inneren waren Glanz und Gloria schwer in die Jahre gekommen, und auch das Äußere gab keinen Anlass zur Hoffnung auf bessere Zeiten.

»Diese hohen Zedernhecken und Tannen da draußen machen die Sache auch nicht besser. Die Schotten haben dafür ein schönes Wort, dour. Ich würde es als trübsinnig bezeichnen.« Fiza wandte sich MacNeice zu. »Ich dachte, du wärst auf dem Weg nach Norden?«

»War ich auch. Ich fahr später oder vielleicht in ein paar Tagen. Zeig mir, was du da hast.«

Auf dem Parkett am Treppenabsatz im ersten Stock prangte ein deutlicher blutiger Stiefelabdruck. Bei genauerem Hinsehen erkannte MacNeice auch hier die Falten im Abdruck, die vermuten ließen, dass der Täter sich Überschuhe angezogen hatte. Er fragte sich allerdings, wozu, denn die scharfen Umrisse der Sohle waren trotzdem zu erkennen.

Vertesi beobachtete ihn. »Neue Stiefel, Größe dreiundvierzig, vierundvierzig. Dem Täter ist es egal, ob wir seine Stiefel bestimmen können, er will sie einfach nicht sauber machen müssen.«

Vorsichtig umrundete MacNeice die Blutlachen und trat ans Schlafzimmerfenster, um sich den Tatort genauer anzusehen. Sein Blick blieb am toten Matthew Terry hängen. »Interessant«, murmelte er. Wenn der Mann im Keller umgebracht wurde, konnte er hier oben nicht einfach aus dem Bett gefallen sein. Aber genau so sah es aus: als wäre er wie ein Betrunkener aus dem Schlaf hochgeschreckt und hätte sich noch an die graue Bettdecke geklammert, die sich jetzt unter seinem Hintern spannte. Sein Kopf war leicht nach rechts gedreht und auf die Brust gefallen, so dass Matthew Terry in dieser verrenkten Stellung nicht mehr hätte atmen können – wäre er noch am Leben gewesen. Die Nachtmütze war ihm in den Nacken gerutscht und wurde nur von der Bettdecke festgehalten. Zwischen dem Bett und seiner linken Schulter lag ein umgekippter Sessel. Unter dem blutgetränkten Nachthemd ragten die gespreizten Beine hervor.

»Im Nachthemd des Sohnes gibt es keine Einschusslöcher«, bemerkte Vertesi, »aber Father Terry hat zwei in seinem. Angesichts des vielen Bluts an der Tür hat man ihn dort erschossen und dann da rübergeschleift.«

Father Terry lag neben dem umgekippten Sessel auf dem Rücken in einem mit Blut und Urin besudelten Nachthemd. Er hatte Augen und Mund weit aufgerissen, als wollte er was sagen.

Aziz trat zu MacNeice ans Fenster. »Der alte Herr muss sein Nachthemd angezogen haben, bevor man ihn umgebracht hat – oder er wurde dazu gezwungen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden normalerweise so was anziehen. Die Dinger sind schwer, die Baumwolle rau, darin würdest du dich totschwitzen.«

Unter Matthews Leiche spitzte eine Puppe in einem winzigen weißen T-Shirt heraus. Der weiche Kopf war aufgeplatzt, blutrote Watte quoll daraus hervor und verteilte sich auf den blonden Locken und dem teuren Hochflorteppich, wo sie sich mit echtem Blut aus Matthews Brust mischte. Ein blaues Puppenauge glänzte über dem verkniffenen Mund.

Im Schatten links daneben lag eine weibliche Schaufensterpuppe auf dem Rücken. Wie die Opfer trug sie ein Nachthemd. Ihre glatten Füße lagen nur Millimeter von Matthew Terry entfernt. Aus zwei Löchern in der Brust quoll ebenfalls blutrote Watte.

Das blau gestreifte Kissen hing wie eine dralle Wurst über der Bettkante. Die gleichen blutroten Stiefelspuren, die Aziz im Haus gesehen hatte, waren auch hier auf dem weißen Teppich zu sehen, wenn auch verschmiert. Es sah aus, als hätte er seine Opfer mit großer Sorgfalt in Szene gesetzt. Irgendwas störte aber. Matthew Terry, mittelgroß, vielleicht etwas über siebzig Kilo schwer, war vom Keller hochgetragen worden. Getragen, nicht geschleift. Es war klar, dass das Gewicht also für den Täter keine Rolle gespielt hatte. Also hatte er die Leichen kunstvoll drapiert. Wozu?

Aziz zupfte ihre Latexhandschuhe zurecht. »Wer trägt heutzutage noch ein Nachthemd und eine Nachtmütze?«, fragte sie.

Vertesi betrachtete die Leiche des jüngeren Mannes. »Die beiden hier. Und die Schaufensterpuppe. Wie bei einem religiösen Orden. In Sack und Asche gehüllt.«

Aziz wandte sich dem Bett zu. »Und dieser Bettbezug sieht auch etwas unzeitgemäß aus. So was würdest du doch nur im Winter benutzen, wenn du keine Heizung hättest.«

Auf dem Teppich, ein paar Meter von den Leichen entfernt, lag ein kleines Stück Messing in Form des Buchstabens »B«. Es sah neu aus und hatte keinen Bezug zu irgendeinem Gegenstand im Raum. Es gab keine weiteren, ähnlichen Buchstaben und auch nichts, woher er stammen könnte. Tatsächlich deutete nichts im Zimmer darauf hin, dass die Terrys Interesse an schmalen Messingbuchstaben hätten haben können.

MacNeice ging in die Hocke und nahm den Buchstaben genauer in Augenschein, als Vertesi fragte: »Was hat es mit dem B auf sich? Will der Mörder uns damit was sagen? Blut, Betrug, BMW?«

»Bestechlichkeit, Beleidigung, bezwingen …?« Aziz betrachtete die Puppe. »Und dann sind da noch die Puppe und das Plastikmädchen hier.«

»Vielleicht steht das B für einen Namen?«

»Einen Namen? Kann sein, aber die Opfer heißen anders. Ich glaube, die beiden Puppen gehören zu einem Tableau«, sagte MacNeice. »Wie ein Bühnenbild. Sie sind Schauspieler, die ihre Rollen haben. Wir sollen das Stück erraten.«

Er zückte seine Kamera und fotografierte das B aus verschiedenen Perspektiven. Vertesi und Aziz bat er, auf die Seite zu gehen, damit er Aufnahmen von den Leichen und dem Zimmer im Hoch- und Querformat schießen konnte. Was er anschließend auf der Kamera sah, bestätigte ihn in seiner Vermutung: Der Buchstabe war absichtlich positioniert. »Ich glaube, der Mörder will uns sagen, wo wir uns am besten aufstellen sollen. Wie bei den Aussichtspunkten an den Niagarafällen oder am Grand Canyon.«

Die kleinen digitalen Bilder erinnerten ihn an etwas. MacNeice hatte das starke Gefühl, er hätte diese Szene schon mal gesehen. Es war wie ein Schatten, der im Augenwinkel vorbeihuscht, so flüchtig, dass man nicht sicher war, ob er überhaupt existiert hat.

Vertesi ging breitbeinig über Father Terrys Leiche in die Hocke und öffnete mit seinem Stift den Kragen des Nachthemds, um die Einschusslöcher genauer zu inspizieren. Mit einem Schmatzen löste sich der Stoff dann von der Wunde. »Neun Millimeter, nehme ich an. Geringe Schmauchspuren – der Lauf war also nicht weit entfernt. Vermutlich hat er einen Schalldämpfer benutzt.« Er richtete sich wieder auf. »Aber warum hat er ihn nicht in der Tür liegen lassen? Wozu den toten Mann hier rüberhieven?«

»Präzision. Um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Da drüben hätte er nicht ins Bild gepasst«, sagte MacNeice.

»Also wollte er den Tatort wie einen Tatort aussehen lassen? Irgendwas, was er schon mal gesehen oder selbst getan hat?« Vertesi klang zwar respektvoll, aber in seiner Stimme lag Skepsis.

»Könnte sein.«

3

Father Terry war dreiundachtzig, von allen erdenklichen Zipperlein geplagt, hatte zu allem Überfluss einen bösartigen Hirntumor und würde jeden Tag darum beten, dass sein Leiden ein Ende haben möge – wenn er noch an die Kraft des Gebets glauben würde. Er war kein Geistlicher mehr, der Titel »Father« hatte eigentlich seine Bedeutung verloren. Die meisten seiner Gemeindemitglieder waren bereits vor ihren Schöpfer getreten, die anderen hatten seiner wenig erfolgreichen Bewegung gegen die etablierte Kirche leise den Rücken gekehrt.

Father Terrys »Versammlung der Neuen Katholiken« war links von der Church of England und extrem links von der römisch-katholischen Kirche angesiedelt. Terry nannte sie »Gottes Heimat für liberale Katholiken«. Seine Gottesdienste wurden nicht auf Lateinisch gehalten, in seiner Kirche gab es keine Skulpturen oder Bilder, keine prächtigen gotischen Bögen, keinen mächtigen Altar, keine Buntglasfenster, keine Kollekte, keine Weihwasserbecken. Auch gab es weder Chor noch Orgel. Auf die könne er, so sagte Terry oft, gern verzichten, denn das einzige Instrument, auf das es ankomme, sei »Gottes Chor« – seine Gemeinde. In diesen finanziell angespannten Zeiten senkte Terry mit seinem Verzicht auf derlei Brimborium natürlich auch die Kosten. Man könnte seine Sparsamkeit als pragmatischen Schachzug eines versierten Buchhalters deuten, doch Father Terry hatte keine Ahnung von den finanziellen Gegebenheiten seiner Kirche. Im Gegensatz zu seiner Frau Harriet, die zwar auf Gott und Religion pfiff, aber froh war über das gesellschaftliche Ansehen, das sie als Gattin eines Geistlichen genoss. Ihr war Geld sehr wichtig, und sie nahm ihrem Mann gern die Entscheidung über alle Ausgaben ab.

Obwohl er zum anglikanischen Priester geweiht wurde, war Terrys Glauben Jahr für Jahr wackliger geworden. Sogar nach seinem Bruch mit der Church of England und der Gründung seiner »Versammlung der Neuen Katholiken« hatte er zunehmend Schwierigkeiten, seine Schäfchen – oder sich selbst – mit dem alten Feuereifer von seiner Botschaft zu überzeugen. Dem Glauben abzuschwören war für Terry nicht mehr nötig gewesen, denn dieser hatte sich vorher einfach in Luft aufgelöst.

Einunddreißig Jahre lang hatte er seine Tür offen gehalten und dabei langsam das finanzielle Erbe seines Vaters abgetragen. Freude bereitete ihm in den letzten Jahren seiner Amtszeit nur eines: das Sommercamp in Long Point am Eriesee, das er für Jungs aus der Großstadt anbot. Zwei Gruppen zu zwölf Kindern, die Dundurns Smog und Gestank für einen Monat entfliehen durften. Wenn er seine Zöglinge in Freiheit erlebte, fühlte er sich bestätigt, und seine Arbeit ergab wieder einen Sinn.

Wie viele Menschen im fortgeschrittenen Alter hatte auch er sich oft gefragt, welchen Lebensweg er einschlagen würde, wenn er noch mal von vorn anfangen könnte. Als er so alt gewesen war wie seine Zöglinge, hatte Terry Entdecker werden wollen, doch sein Vater, ein anglikanischer Bischof, überzeugte ihn, einen anderen Weg einzuschlagen, der ihm Sicherheit und spirituelle Erfüllung bescheren würde. Ganz hatte Terry seine Träume von Reisen und Abenteuer aber nie aufgegeben. Zwei Bücher hatten ihn dabei begleitet, er hatte sie wieder und wieder gelesen: Die Brunnen der Wüste und Wüste, Sumpf und Berge von Wilfred Thesiger.

Terry sehnte sich danach, in Thesigers Fußstapfen zu treten und das »Leere Viertel« zu durchqueren – eine riesige Sandwüste im Osten Saudi-Arabiens. Hätte er allerdings genauer recherchiert, wäre ihm aufgefallen, dass die von Thesiger beschriebene Welt heute so gut wie nicht mehr existierte. Im tiefsten Inneren war Terry das natürlich klar, aber er zog es vor, Thesiger bis zum Ende treu zu bleiben. Der wahre Wert der Träume ist doch, dass sie losgelöst sind von der kalten, finsteren Realität.

Zwei Tage nach seinem dreiundsechzigsten Geburtstag legte Father Terry seinen Priesterkragen ab, faltete Soutane, Chorhemd und Stola zusammen und legte sie in einen großen Karton. Die schwarze Canterbury Cap bettete er feierlich hinein, wie ein Küken, das man wieder ins Nest legt. Ein paar Dinge behielt er: die schwere Bibel, die sein Vater ihm nach der Weihe gegeben hatte, und den silbernen Messkelch, den er in eine weiße Plastiktüte packte. Die Pyxis, zwei versilberte Kollektenteller, zwei reich verzierte goldene Kerzenhalter und eine Figur von Jesus auf dem Kreuzweg aus Alabaster stellte er in einen separaten Karton. Jemand von der anglikanischen Gemeinde St. Thomas würde ihn später abholen. Dann nickte er halbherzig in Richtung Altar, verließ das Gotteshaus und schloss ein letztes Mal die Sperrholztüren hinter sich.

Kaum stand er im Freien, stellte er den Kelch am Straßenrand ab und ging zu seinem Wagen. Es war fast, als wäre ihm selbst dieses Relikt zu schwer. Im Rückspiegel sah er sie in der Sonne glitzern, diese winzige Trophäe des Versagens, die Plastiktüte hing ihr schamlos vom silbernen Stiel.

Acht Monate später verkaufte Terry das Gotteshaus und das Grundstück an einen Bauunternehmer. Er bemühte sich nicht, herauszufinden, was mit den Bänken, dem Altar, den Stühlen und seinem schweren Eichenschreibtisch geschehen war. Ein Jahr danach gab er dem Wunsch seiner Frau nach und verkaufte auch das zwölf Hektar große Ufergrundstück und beendete damit die Tradition seines Sommercamps am Eriesee. Das war sein schwerster Abschied.

Die Terrys zogen nach Mount Hope und betraten nie wieder eine Kirche. Mehrfach versuchte er, seine Memoiren niederzuschreiben, nur um sie kurz darauf in den Müll zu werfen. Sein Leben verlief in wunderbaren Bahnen – allerdings nur in seinem Kopf, dem Teil seines Körpers, den er im Stillen sein »Leeres Viertel« nannte.

Jahre später beschloss sein Sohn Matthew, mittlerweile ein erfolgreicher Anwalt und Investor, seine Verlobte zu heiraten. Da sowohl Matthew als auch seine Braut Agnostiker waren, wäre eine standesamtliche Trauung zu erwarten gewesen, doch die beiden heirateten in einer unitarischen Kirche. Matthew tat dies nicht etwa, weil ihm Religion wichtig war – schließlich war er mit einem Vater aufgewachsen, dessen Doppelmoral ihm nicht entgangen war –, sondern ausschließlich aus geschäftlichem Kalkül. Die Gästeliste und die hohe Anzahl eindrucksvoller Luxuskarossen auf dem Parkplatz zeigte dann auch deutlich, dass Matthew den richtigen Riecher gehabt hatte.

In den Jahren danach war Matthew Terry bei seinen Eltern ein selten gesehener Gast, weil seine Kanzlei und Investitionen offenbar seine gesamte Zeit beanspruchten. Wenn sich das junge Paar doch einmal blicken ließ, dann nicht etwa, weil Harriet so gut kochen konnte oder weil sie die Nähe und Zuneigung der Eltern suchten – nein, es handelte sich um reine Pflichtbesuche. Und bei diesen seltenen Gelegenheiten schien es manchmal, als bereute Matthew seinen Impuls schon, bevor er den Wagen noch auf die Auffahrt gelenkt hatte. Diese unangenehmen Treffen fanden ihr Ende, als Harriet sich eines Morgens im Bett aufsetzte und sofort wieder in ihre Kissen fiel: Sie hatte einen tödlichen Herzinfarkt erlitten.

Soweit Howard Terry es beurteilen konnte, folgte die Ehe seines Sohnes dem vertrauten Muster, das er ihm vorgelebt hatte. Es fehlte sowohl an Liebe als auch an Zuneigung. Nach nur vier Jahren folgte die Scheidung. Danach vergingen ganze Monate ohne ein Lebenszeichen von Matthew, nicht mal ein Anruf. Daher war er sehr überrascht, als sein Sohn ihn plötzlich einlud, zu ihm nach Dundurn zu ziehen. »Das Haus ist groß, und ich habe eine Putzfrau«, sagte er. »Es ist genug Platz für uns beide. Ich will mir nicht ständig Sorgen machen, dass du mir da oben auf dem Berg umkippst und dich keiner findet.«

Wer könnte eine solche Einladung ausschlagen?

4

Vertesi stand am Schlafzimmerfenster und beobachtete die Leute von der Kriminaltechnik, die den schmalen Weg zwischen der Auffahrt und der hohen Zedernhecke hinauftrotteten. Jeder von ihnen war mit einem Rucksack und einem schwarzen Metallkoffer bewaffnet. »Die Spurensicherung ist da, Boss!«

MacNeice ließ den Blick ein letztes Mal über den Tatort wandern. »Fiza, ich möchte, dass du die Befragung der Putzfrau leitest. Wir nehmen sie mit.«

»Glauben Sie, der Täter war der Familie bekannt? Es gibt keine Spuren von einem gewaltsamen Eindringen«, bemerkte Vertesi.

»Möglich, aber es könnte auch jemand gewesen sein, der sich als Bote ausgegeben hat«, sagte Fiza.

»Jemand, der eine Menge Zeug dabeihatte. Nachthemden, Kissen und Decken, die Puppen …« MacNeice trat in den Flur. »Und schwere Stiefel getragen hat.« Auf einem Tisch stand ein Silberrahmen mit Matthew Terrys Foto. MacNeice reichte es Vertesi. »Sehen Sie zu, dass Sie auch eins von Father Terry finden. Die können wir dann auf der Pressekonferenz zeigen.«

Drei Leute von der Spurensicherung kamen die Treppe hoch. MacNeice trat zur Seite. »Vertesi, schnappen Sie sich zwei Uniformierte und fangen Sie mit der Befragung der Nachbarn an.«

Als MacNeice vor die Tür trat, entdeckte er Mary Richardson, Dundurns Rechtsmedizinerin, die auf dem Weg ins Haus leicht mit der Hand am Absperrband entlangfuhr. »Hallo, Mac. Zwei Männer, durch Schüsse getötet. Korrekt?«

»Korrekt. Aber Sie werden schnell merken, dass es etwas komplizierter ist.«

»So ist es doch immer, Detective. Schön, Sie zu sehen. Tio Pepe steht schon bereit.« Als sie an MacNeice vorbeiging, fuhr ihr eine leichte Brise durchs silbergraue Haar und verdeckte so das Lächeln, das sie garantiert auf den Lippen hatte.

Mit Tio Pepe linderte sie den Anblick dessen, was Richardsons Assistent Junior »M+M« getauft hatte, Masse auf Metall. Er zog normalerweise Grappa dem Sherry vor, und auch Mary Richardson war sonst eher Tee und Keksen zugeneigt. Die burschikose Sechzigjährige zeichnete sich durch ihre britisch-aristokratische Haltung aus, legte dabei einen scharfsinnigen schwarzen Humor an den Tag, der oft mit brillanten Erkenntnissen einherging. Es gab viele Gründe, warum MacNeice in ihrer Gegenwart stets in Habachtstellung war.

Der schwarze Mercedes gab ein Piepsen von sich. MacNeice fuhr herum und erkannte eine junge Frau im Schutzanzug, die einen Schlüssel in der einen und einen Metallkoffer in der anderen Hand hielt.

Zwei weitere Einheiten waren eingetroffen, um bei der Absperrung der Amelia Street zu helfen und den Verkehr umzuleiten. Als er sich einen Weg durch die Versammlung bahnte, klingelte MacNeice’ Handy. Er ging nicht gleich ran, sondern wandte sich den Leuten von der Spurensicherung zu. »Die Reifenspuren auf der Auffahrt sehen breiter aus als die einer Limousine. Sichern Sie sie so gut Sie können!«

Mit einem flüchtigen Blick auf sein Display nahm er den Anruf an. »MacNeice.«

»Wallace. Sind Sie noch in Dundurn?«

»Ja. An der Amelia Street. Doppelmord.« Es kam ihm vor, als wüsste die gesamte Dienststelle, dass er eigentlich zu Kates Grab fahren wollte. »Ich wollte gerade ins Büro, um der Putzfrau ein paar Fragen zu stellen. Sie war als Erste am Tatort. Außerdem werden wir eine Pressekonferenz ankündigen.«

»Gut. Die Sache ist wichtig. Matthew Terry kannte ich zwar nicht, aber man munkelt, er sei ziemlich reich, und sein Vater war ein wichtiger Geistlicher.«

»Pfarrer im Ruhestand.«

»Ja, okay. Trotzdem haben wir einen Doppelmord in einem Viertel voller Ärzte und Anwälte. So was macht diese Leute ziemlich nervös.« Mehr brauchte Wallace dazu nicht zu sagen.

MacNeice steckte das Handy in die Tasche und wandte sich um. Aziz kam die Stufen herunter. »Mac, ich frage mich gerade, was eigentlich mit den Sachen passiert ist, die die Männer anhatten. Im Schlafzimmer bei den Leichen lagen sie nicht, also hab ich in den anderen Zimmern nachgesehen. Sie waren fein säuberlich im Kleiderschrank des alten Mannes verstaut – als hätte die Putzfrau sie weggeräumt. Sämtliche Hosentaschen sind vorher nicht geleert worden, Geldscheine, Münzen und Taschentücher waren noch drin. Der Rest war ordentlich zusammengelegt und in derselben Reihenfolge gestapelt: Matthews Hose, Socken, T-Shirt und Pullover – alles natürlich blutverschmiert – und die Hose, Socken, Unterhemd, Hemd und Strickjacke von Father Terry.«

»Was hältst du davon?«, fragte MacNeice.

»Ehrlich gesagt ging mein erster Gedanke dahin, dass unser Mann Kleidung verkauft, in der Hotelbranche arbeitet oder vielleicht in einer Wäscherei.«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Vielleicht ist er einfach sehr ordentlich.« Aziz grinste. »Gib mir die Schlüssel. Ich lasse Luisa schon mal in deinen Wagen steigen.«

MacNeice blieb auf dem Gehsteig stehen, um die staubigen Reifenspuren zu begutachten. Es gab ein paar Risse, und an einigen Stellen fehlten kleine Stücke des Reifens, der offenbar schon ziemlich abgefahren war. Solche Spuren waren einzigartig wie ein Fingerabdruck und ließen auf ein Nutzfahrzeug schließen, wie man es in der Baubranche oder bei Handwerkern fand. Er machte ein Foto.

5

Wochen vorher, es hatte endlich aufgehört zu regnen, atmete die Natur auf, als hätte man ihr endlich ihre Sünden vergeben. Jeden Morgen stiegen Dunstschwaden auf, waberten über den klatschnassen Rasenflächen und Gehwegen. Schon ein paar Tage später flanierten die ersten Teenager in T-Shirts und Trägerhemdchen über die Straßen, ein Anblick, den man zuletzt im Herbst zu sehen bekommen hatte. Bei den hiesigen Sanitärfirmen ging keiner mehr ans Telefon. Ihre Leute hatten nämlich wochenlang rund um die Uhr mit überlaufenden Abflüssen und überfluteten Kellern zu tun gehabt und gönnten sich jetzt vermutlich eine wohlverdiente Auszeit in trockeneren Gefilden.

So ähnlich war es auch den Bestattungsunternehmen gegangen, und jetzt wurden Trauerfeiern am Fließband abgehalten, drei Monate in Kühlfächern aufbewahrte Leichen herausgeholt, in ihre Särge gebettet und unter die Erde gebracht, denn der Wasserpegel war endlich so weit gesunken, dass man sie sicher bestatten konnte. Während viele Familien von der langen Verzögerung nicht gerade begeistert waren, war ihnen die Anekdote von Wally Ecclestone jedoch Mahnung genug, um den Mund zu halten.

Walter »Wally« Ecclestone, Versicherungsmakler im Ruhestand aus Dundurn, war Mitte März beerdigt worden, und zwar mitten in der Zeit der schlimmsten Regenfälle. Die Familie hatte sich unter schwarzen, vom Bestatter ausgegebenen Schirmen vor dem offenen Grab versammelt und dem langsam hinabgleitenden Sarg hinterhergesehen. Grellgrüner Kunstrasen bedeckte die Erde, die Wally später für alle Ewigkeiten einschließen sollte. Trotz des Regens bereitete man Wally, dem vielfach prämierten Versicherungsmakler, Gatten, Vater und Großvater einen wohlverdienten und pietätvollen Abschied.

Als die Familie zum letzten Gruß Rosen und Erde ins Grab warf, geriet der Sarg plötzlich in Bewegung. Diejenigen, denen dies aufgefallen war, vermuteten, dass er einfach das letzte Stück nach unten gerutscht war. Doch langsam, aber stetig stieg der Sarg wieder nach oben. Wallys Witwe brach entsetzt zusammen und wäre glatt ins offene Grab gestürzt, wenn man sie nicht festgehalten hätte. Wallys Enkel stimmten ein Heulkonzert an, sein Sohn wandte sich ab und erbrach sich aufs Nachbargrab, was mehrere gebrechliche Freunde des Verstorbenen gefährlich ins Schwanken brachte. Ein pickelgesichtiger Sechzehnjähriger zeigte aufgeregt auf den Sarg, der immer schneller nach oben wippte und rief: »Wow! Opa ist ein Zombie!«

Die Friedhofsgärtner waren bass erstaunt, der Pfarrer stumm vor Schreck. Aber Wallys Himmelfahrt war nicht mehr aufzuhalten, neben und unter dem Sarg brodelten die braunen Fluten. »Und dann wurden dem Pfarrer und der Familie irgendwann klar, dass sie am besten rasch das Weite suchen sollten, wenn sie nicht von dem, was da aus dem Grab sprudelte, erfasst und weggeschwemmt werden wollten«, erzählte ein Trauergast später.

Das Wasser trat tatsächlich über die Ränder des Grabs, riss den Kunstrasen mit sich und trieb auch die letzten, hartgesottenen Angehörigen in die Flucht, die verzagt über Schlamm und Pfützen bis zur Straße stolperten. Irgendwann hörte zwar das Sprudeln auf, doch der Wasserpegel im Grab senkte sich nicht mehr. Die Bestatter standen wie die Ölgötzen da und sahen zu, als sich der Sarg wie ein von einem Torpedo getroffener Frachter hochkant stellte und mit dem Kopf voran unter ausgedehntem Rülpsen in den Fluten versank. Einer der Gäste, ein Veteran, schlug tatsächlich die Hacken zusammen und salutierte.

Die Geschichte verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Wallys Golffreunde fragten scherzhaft, ob Wally wohl gegen eine Zweifachbestattung versichert gewesen sei. Doch sie waren sich einig, dass es eigentlich nicht witzig war, wenn man sich vorstellte, dass der arme Mann nun ausgezogen, erneut gewaschen, frisiert, in einen trockenen Anzug gesteckt und bis auf Weiteres im Kühlfach aufbewahrt werden musste.

6

Luisa Roca war zwar ziemlich aufgelöst, saß aber trotz ihrer neunundfünfzig Jahre kerzengerade auf dem Stuhl. Sie trug eine lässige Hose, eine neutrale Bluse und einen Pullover. Dieser Tag sei der schlimmste ihres Lebens, hatte sie zwischen Schluchzen und Naseputzen auf dem Weg zur Befragung hervorgestoßen. Doch nachdem MacNeice sie in den Befragungsraum gebracht und ihr ein Glas Wasser hingestellt hatte, beruhigte sie sich etwas. Sie bedankte sich und nahm ein paar kleine Schlucke.

Aziz wartete kurz, bevor sie den Rekorder einschaltete. »Erzählen Sie uns von den Terrys.«

Luisa schüttelte langsam den Kopf. »Ich wusste, dass Father Terry todkrank war. Er hat mir letztes Jahr von seinem Hirntumor erzählt.« Sie schluckte schwer, den Blick unverwandt aufs Glas geheftet. »Aber er hat sich davon nicht unterkriegen lassen.«

Zweimal die Woche gesellte sich Luisa, nachdem sie die Wäsche in die Maschine geladen hatte, auf eine Tasse Tee zu Father Terry in die Küche. Sie unterhielten sich über ihre Kinder, die beide verheiratet waren, und über ihre große Vorfreude auf ihre Rolle als Großmutter. »Father Terry schien sich mit mir zu freuen, obwohl er meine Kinder gar nicht kannte.«

Als tiefreligiöse Katholikin fragte Luisa ihn oft nach seinem Glauben und lud ihn sogar ein, mit ihr am Gottesdienst in ihrer Gemeinde teilzunehmen. »Er lächelte, aber mitgekommen ist er nie. Ich habe ihn gefragt, ob er noch an Gott glaube, und ich kann mich noch an seine Antwort erinnern: ›Ich glaube noch an Träume, Luisa.‹ Das hat er gesagt.«

Bei Matthew war sie weniger gesprächig. Zu ihm hatte sie ein ausschließlich berufliches Verhältnis. Er brauchte eine Putzfrau, keine Gesellschafterin. Das war von Anfang an klar gewesen, deshalb bereitete es ihr auch keine Probleme.

»Können Sie uns etwas über seine Freunde sagen?«, fragte Aziz.

Luisas Blick wanderte zwischen Aziz und MacNeice hin und her. »Nein. Ich habe nie jemanden im Haus gesehen, und er hat auch nie über Freunde gesprochen.«

»Und was ist mit Freundinnen?«

»Nein. Obwohl Father Terry mir mal erzählt hat, dass Matthew sich regelmäßig mit jemandem getroffen hat. Aber ich glaube, daraus ist nicht mehr geworden.«

»Und sie ist auch nie zu Besuch gekommen?«

»Ich habe sie nie gesehen. Father Terry hat gesagt, er hätte sie bei Starbucks gesehen, in der Nähe der Bibliothek. Matthew wäre mit einer jungen Frau zusammen gewesen, und es hätte nicht nach einem geschäftlichen Treffen ausgesehen.«

Father Terry und Matthew hätten sich in den ganzen Jahren, die sie bei ihnen geputzt hatte, kein einziges Mal miteinander unterhalten, sagte Luisa. Und es habe im ganzen Haus kein Foto des alten Mannes gegeben. Sie hatte Father Terry sogar gefragt, warum dies so sei, doch er habe nur gelächelt und die Achseln gezuckt.

Matthew war eigentlich immer schon gegangen, bevor sie zum Putzen kam. Er hinterließ ihr einen Scheck auf der Heizung im Flur, meist mit Anweisungen und einem Stapel Kleidung auf dem Stuhl daneben: »Hemd bügeln, Anzug in die Reinigung, Golfschläger bitte in den Keller.«

Über Matthews berufliche Aktivitäten konnte Luisa nichts sagen, aber aus ihren Gesprächen mit Father Terry entnahm sie, dass er nicht mehr als Anwalt tätig war, sondern als Investmentmanager. »Ich wusste nicht, was das heißt, also habe ich gefragt, ob das ein Beruf ist. Father Terry hat gelacht. ›Tja, meine Liebe, er verdient Geld damit, dass er sein Geld managt.‹«

»Haben Sie den Terrys die Post sortiert, Luisa?«, fragte Aziz.

»Ja.«

»Briefe für Father Terry und Matthew, Rechnungen und so – haben Sie die getrennt?«

»Ja, aber Father Terry hat nicht viel Post bekommen. Nur ein paar Weihnachtskarten von seinen früheren Gemeindemitgliedern. Matthew wollte, dass ich Rechnungen und Briefe auf separate Stapel lege.«

»Also haben Sie die Namen der Absender gelesen?«

»Ja.«

»Versuchen Sie bitte, sich an die Namen zu erinnern. Es waren vermutlich Rechnungen für Telefon, Gas, Heizöl, Strom, Steuer dabei, aber gab es auch solche oder persönliche Briefe, die Ihnen aufgefallen sind?«

Luisa war diese Frage sichtlich unangenehm. »Ich respektiere die Privatsphäre meiner Kundschaft, Detective.«

»Das bezweifle ich überhaupt nicht. Aber so, wie es Ihnen auffallen würde, wenn im Haus etwas nicht am rechten Platz steht, würden Sie auch sicher Auffälligkeiten bei der Post bemerken, oder? Ein Firmenname oder Markenzeichen. Die Handschrift auf dem Umschlag, irgendwas Ungewöhnliches … fällt Ihnen da was ein?«

»Da muss ich überlegen.« Sie senkte den Kopf und betrachtete ihre Hände, die flach auf dem Tisch lagen. Eine Minute oder so verging, bevor sie den Blick wieder hob. »Es gab einen Brief. Der ist mir aufgefallen, weil der Name auf dem Umschlag so ungewöhnlich war: Nancy Pretty. Das war irgendwie lustig, weil der Umschlag eine hübsche cremeweiße Farbe hatte. Pretty. Er war an Matthew adressiert, in auffälliger Handschrift.«

MacNeice sah rasch auf die Uhr, es blieben ihm noch acht Minuten bis zu seinem Termin mit Wallace. »Ich muss mich entschuldigen, aber ich habe gleich einen Termin. Detective Inspector Aziz wird bei Ihnen bleiben. Wenn Sie sich noch an mehr erinnern …« Er schüttelte ihr die Hand, nahm sein Notizbuch und verließ das Zimmer.

7

Mit einem breiten Grinsen klatschte der Techniker auf den Türrahmen. »So, wie war das mit dem Kaffee?«, fragte er mit munterer, fröhlicher Stimme, nahm Helm und Schutzbrille ab, zog sich die Latexhandschuhe von den Fingern und legte sie auf den Tisch. »Darf ich mich setzen, Father Terry?«

»Aber sicher, mein Junge. Bin gleich da.« Er goss heißes Wasser über seinen Teebeutel. »Wie heißen Sie denn, junger Mann?«

»Nennen Sie mich William, Sir.« Er setzte sich an den Tisch und wischte sich mit einem Tuch das Blut vom Gesicht und vom reflektierenden Streifen auf seiner Warnweste. Das tat er völlig ungerührt und auch nicht besonders gründlich. Als Terry mit den Bechern kam, faltete William das Tuch zusammen und legte es neben den Helm. Dann trank er einen Schluck Kaffee und nickte Father Terry anerkennend zu. »Darf ich Ihnen was erzählen?«, fragte er, nachdem er den Becher abgestellt hatte.

Da erst bemerkte Father Terry, dass er sich den jungen Mann gar nicht genauer angesehen hatte. Sein kahlgeschorener Kopf glänzte wie rosafarbener Alabaster. Seine hohe Stirn wölbte sich über den ausgeprägten Wangenknochen, einem markanten Kinn und den zu einem Strich in die Breite gezogenen Lippen, die rechts und links von Lachfalten verziert wurden. Seine Augen, unverwandt auf Terry gerichtet, lagen tief unter weichen Lidern, ein sanftes Gegengewicht zu den harten Kanten des Gesichts. Obgleich er nicht lächelte, besaß er die Leichtigkeit eines Menschen, der Gott gefunden hatte. So deutlich war dieser Eindruck, dass Terry kurz neidisch war.

»Ich fürchte, meine Uniform ist versaut.« Mit diesen Worten zog er Terrys Aufmerksamkeit auf den verschmierten Blutfleck auf seiner Brust. Dann nahm er sich erneut das Tuch vom Tisch und wischte daran herum.

Das orangefarbene Blinklicht des Transporters strich an Terrys Kopf vorbei. »Ich verstehe nicht …«, stammelte er und zog so abrupt die Hand vom Becher, dass Tee auf den Tisch schwappte.

»Ja, verstehe ich. Aber das wird sich gleich aufklären.« William wischte die Pfütze mit dem Tuch ab und hinterließ dabei eine blutbraune Spur. »Sehen Sie, wie leicht man alles versaut?« Er faltete das Tuch zusammen und beschrieb Kreise über dem Fleck. »Und dann ist auf einmal alles verschwunden.«

Beim Anblick des Bluts wurde Terry schummrig vor Augen. Seine Lippen begannen zu zittern, ihm war auf einmal eiskalt. »Mir geht’s nicht so gut …«

»Das ist die Angst. Die geht gleich vorbei«, sagte William. Er trank seinen Kaffee, behielt den alten Mann aber die ganze Zeit im Blick. »Matthew ist tot. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob er Schmerzen gelitten hat, aber es ging schnell.«

Terrys Augen füllten sich mit Tränen. »Warum?«

»Ach.« William lächelte und widmete sich wieder seinem Kaffee. »Weil ein Psychopath den anderen sofort erkennt.« Als er fertig war, stellte er den Becher auf den Tisch und wischte ihn mit dem blutbesudelten Tuch ab.

Als Terry bemerkte, wie stark seine Hände zitterten, legte er sie hastig in den Schoß.

William knöpfte sich die Jacke auf und schob seinen Stuhl gegen die Wand. Als er erneut das Wort ergriff, klang er warmherzig und mitfühlend. Zuerst erklärte er Father Terry, dass er innerhalb der nächsten Stunde ebenfalls sterben werde. Er wünsche sich, so William, dass Terry seinen Tod willkommen heißen würde – oder ihn zumindest akzeptierte.

»Ihr Sohn war ein manipulativer, arroganter, liebloser Mensch. Aber ich nehme an, dass Sie das schon wussten.«

»Woher kennen Sie meinen Sohn?«

»Ich kenne ihn nicht, aber ich habe ihn beobachtet. Wir trinken unseren Kaffee im selben Laden.« William hob die Hände. »Ich muss Ihnen was beichten, Father. In Wahrheit arbeite ich gar nicht fürs E-Werk.«

Terry bemühte sich zuzuhören, doch immer wieder wurde er von Panik erfasst, in die sich zunehmend Unglauben, Traurigkeit und Bedauern mischte.

Die letzten drei Monate, erzählte William, habe sich Matthew dienstags und donnerstags um zehn Uhr vormittags mit einer jungen Frau im nahe gelegenen Starbucks getroffen. Dort gab es neben den Barhockern am Schaufenster auch etwas intimere Sitzgelegenheiten weiter hinten in der Ecke. »Dort habe ich immer einen Platz gefunden und konnte ihre Gespräche belauschen, egal wie voll oder laut es war.«

Terry sah ihn verwirrt an. »Ich konnte schon als kleiner Junge Gespräche belauschen, selbst wenn sie am anderen Ende des Zimmers geführt wurden. Außerdem habe ich ein so ungewöhnlich gutes Gedächtnis, dass ich damit auf Partys auftreten konnte. Die Leute waren begeistert. ›Okay, Willy, was haben wir gerade gesagt?‹, fragten sie mich oft, auch wenn sie meterweit von mir entfernt leise miteinander gesprochen hatten. Kein Problem. Ich habe alles Wort für Wort wiederholt. Die haben Bauklötze gestaunt. Möchten Sie noch einen Tee, Father?«

Terry schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte er.

»Dann hole ich uns etwas Wasser. Wir wollen doch nicht verdursten.« William stellte beide Becher in die Spüle, holte zwei Gläser aus dem Schrank und füllte sie mit Wasser. Eines stellte er Terry hin, bevor er sich wieder setzte. »Matthew hat mit ihr gearbeitet. Ihr Name ist Nancy, sie ist Finanzanalystin. Und weil ich Anekdoten sammle, bin ich dienstags und donnerstags angetreten, um die beiden zu belauschen. Alles schien gut zu laufen, obwohl es von außen nicht so aussah, als wäre ihre Beziehung besonders intim. Ihr Sohn investierte allerdings eine Menge in diese Frau, und das hat mein Interesse erregt. Jedenfalls bat sie ihn vor zwei Wochen, ihr mehr von seiner Familie zu erzählen.«

Father Terry schnürte es die Kehle zu. Ihm wurde ganz flau im Magen. Um bei der Sache zu bleiben, drückte er sich die Finger fest in die knochigen Oberschenkel, bis es richtig wehtat.

William trank einen Schluck Wasser, dann wischte er sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. »Die Antwort Ihres Sohnes wird Sie sicher nicht überraschen. ›Das ist eine langweilige Geschichte‹, hat er gesagt, ›über meine Familie gibt es nicht viel zu sagen.‹«

Terry nahm sein Glas und trank, dann stellte er es zitternd wieder auf den Tisch. »Nein, das überrascht mich nicht.«

»Tja, mich hat es schon gewundert. Und Nancy auch. Sie hat ihn darauf aufmerksam gemacht, dass sie beim Essen am Abend zuvor auf sein Nachfragen hin ganz freimütig über ihre Eltern gesprochen habe und er doch jetzt an der Reihe sei. Ich sollte an dieser Stelle erwähnen, dass Nancys Vater ein reicher Investor ist. Jedenfalls hat sie Ihren Sohn damit in die Bredouille gebracht. Um Zeit zu schinden, hat er sich erst mal noch einen Milchkaffee geholt.«

Father Terry hatte das Gefühl zu ertrinken. Er nickte leicht mit dem Kopf, den Blick fest auf Matthews Mörder gerichtet, und lauschte, als dieser die Litanei seines Sohnes herunterbetete:

»Mom war eine verbitterte, wütende Person. Nur im Sommer ging es ihr besser, wenn mein Vater nicht da war. Ich glaube, sie hat ihn gehasst.

Mein Vater war Priester. Er hat eine katholische Sekte gegründet, mit der er nichts verdient hat. Er hat es im Leben zu nichts gebracht und nur einmal etwas richtig gemacht, als er die Kirche und sein Seegrundstück verkauft hat.

Ich habe so viel für die Schule getan, um mich vor der Kirche und dem Sommercamp zu drücken.

Vater wäre gern ein Entdecker geworden wie Wilfred Thesiger, er ist nie aus Dundurn rausgekommen – außer, um am Eriesee zu zelten.

Er war ein Versager, als Priester wie als Vater.«

»Den Namen Wilfred Thesiger kannte ich vorher gar nicht, aber dank dieser Unterhaltung habe ich nun zwei seiner Bücher gelesen, und durch ihn habe ich auch Sie kennengelernt.« William leerte sein Glas. »Jedenfalls leierte Matthew das alles herunter wie die Gerichte auf der Speisekarte. Er war fest entschlossen, jegliche Gespräche über seine Familie im Keim zu ersticken. Es hat funktioniert. Nancy ist nie wieder bei Starbucks aufgetaucht.«

Terry musste zugeben, dass Williams Beschreibung seines Sohnes zwar kalt und unbarmherzig war, aber auch von einer bestechenden Ehrlichkeit. Aber es überraschte ihn, dass Matthew wusste, wie wichtig Thesiger für ihn war. Er dachte, niemand außer ihm hätte die vielen Fragen und Bemerkungen gesehen, die er seit siebzig Jahren in die Bücher des von ihm so verehrten Autors kritzelte, auch wenn sie die ganze Zeit offen und für jeden zugänglich auf seinem Schreibtisch gelegen hatten.

Doch das war jetzt egal. Er musste sich überlegen, wie er hier rauskam. Könnte er irgendwie ans Telefon kommen? Zur Tür hinauslaufen und um Hilfe rufen? William hatte ihn bis jetzt noch nicht mit einer Waffe bedroht, aber Terry war sicher, dass sich das freundliche Wesen seines Widersachers schnell ins Gegenteil verkehren würde, wenn er ihm dazu einen Grund gab. Zu den Schuldgefühlen und Versagensängsten setzte Terry nun auch noch Feigheit auf die Liste seiner Fehler. Aber noch mehr belastete ihn die Erkenntnis, dass ihm nicht ein Grund einfallen wollte, warum er eigentlich nicht sterben sollte.

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