Der Handkoffer von der Waterloo Station - Heiko Mittelstaedt - E-Book

Der Handkoffer von der Waterloo Station E-Book

Heiko Mittelstaedt

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Beschreibung

London, 2. Mai 1924. Kurz nach sechs Uhr abends: Ein junger, gut gekleideter Mann betritt durch einen Seiteneingang die Waterloo Station und schlendert zur Gepäckaufbewahrung. Dort lässt er sich einen blutigen Handkoffer aushändigen und macht sich auf den Weg zum Ausgang. Chef-Inspektor Percy Savage von Scotland Yard stellt sich dem Mann in den Weg und verhaftet ihn. Er freut sich über seinen schnellen Erfolg, doch gleichzeitig beschleichen ihn große Zweifel. Vielleicht ist ihm soeben ein großer Fang gelungen. Vielleicht ist die Festnahme des Verdächtigen der Auftakt zu einem großen, sensationellen Fall. Vielleicht ist die Festnahme aber auch der Auftakt zu einer ganz harmlosen Geschichte, die ihn und das Scotland Yard bis auf die Knochen blamiert. Denn vorläufig weiß Savage nichts, aber auch rein gar nichts! Der Roman „Der Handkoffer von der Waterloo Station“ basiert auf einer wahren Begebenheit, die das vereinigte Königreich vor mehr als 80 Jahren monatelang in Atem hielt – Der Fall Patrick Herbert Mahon. Der Roman erzählt die Geschichte eines gescheiterten „Liebesexperiments“, das mit dem brutalen Tod einer jungen Frau in einem Bungalow in den Dünen von Pevensey Bay (East Sussex) endet. Die Schuld des Angeklagten steht schnell fest und so kann die aufsehenerregende Verhandlung im Grunde nur zu einem einzigen Urteil führen: Die gerechte Todesstrafe für den Angeklagten! Doch es ist nicht immer, wie es scheint…

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Autor

Heiko Mittelstaedt, geboren 1971 in der Lüneburger Heide, lebt heute mit seiner Familie in der Nähe von Heidelberg. Er ist Sicherheitsingenieur und Schriftsteller. Der Handkoffer von der Waterloo Station ist sein zweiter Roman

Bereits erschienen:

Der Mörder ist immer ein Narr – Erster Fall des echten Kommissar Maigret

It is a natural thing for the humanitarian to say, of any man convicted of the awful crime of wilful murder, that he could not have been sane when he performed the dreadful act…

Für einen Menschenfreund ist es eine natürliche Sache zu äußern, dass jeder Mann, der eines vorsätzlichen Mordes für schuldig befunden wurde, nicht gesund gewesen sein kann, als er die Tat beging…

(Edgar Wallace zum Mahon-Prozess)

Be fair but fearless.

Sei gerecht, aber furchtlos.

(Percy Savage)

Dieser True-Crime-Roman basiert auf einer wahren Begebenheit; dem „Crumbles Mord“ im Jahr 1924. Alle im Buch handelnden Personen hat es tatsächlich gegeben und dennoch… Dies ist kein Sachbuch, sondern ein Roman. Der Autor hat einige Szenen in diesem Buch seiner Fantasie entspringen lassen beziehungsweise hat er reale Szenen hier und da behutsam mit etwas Farbe versehen.

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Danksagung

Erstes Kapitel

Donnerstag, 01. Mai 1924; 09:00 Uhr

New Scotland Yard; London

Chef-Inspektor Percy Savage stand am offenen Fenster. Er blickte schlecht gelaunt durch den strömenden Regen über den ausgestorben vor ihm liegenden Victoria Embankment hinweg auf das aufgewühlte braune Wasser der Themse, die vollkommen geräuschlos am viktorianischen Curtis Green Building, dem Sitz von New Scotland Yard, vorbeifloss.

Savage atmete die feuchte Luft tief ein und ließ den würzigen Duft des Flusses in seine Lungen strömen. Er hatte seit dem Aufstehen schlechte Laune und hoffte, seine Wutgefühle mit ein paar Atemübungen in den Griff zu bekommen. Die Übungen halfen ihm jedoch nicht. Seine miese Stimmung steigerte sich sogar noch mehr, als die Bürotür mit einem gewaltigen Krachen aufflog.

Der Chef-Inspektor fuhr erschreckt herum und sah sich unvermittelt einer dunkelhaarigen, hysterisch lamentierenden, jungen Frau gegenüber. Ihr folgte mit etwas Abstand ein kräftiger Mann vom Typ Hafenarbeiter.

Der Mann in seinem Büro war jedoch kein Hafenarbeiter, wie Savage sofort erkannte. Es handelte sich vielmehr um John Beard, einen erfolgreichen Privatdetektiv und ehemaligen Kollegen des Chef-Inspektors.

„Meine Dame! Beard! Was ist hier los?“, stieß Savage wutschnaubend aus und hielt sich die zeternde Frau mit ausgestreckten Händen vom Leib.

„Dieser elende Schuft!“, schrie die Frau aufgebracht, bevor sie sich plötzlich abrupt umdrehte und ein paar Schritte nach hinten machte. Schwer atmend ließ sie sich in einen der Besucherstühle fallen.

Savage folgte ihr. Er setzte sich auf seinen Stuhl und zeigte mit der rechten Hand auf einen weiteren Besucherstuhl vor seinem Tisch. Der Privatdetektiv lächelte Savage entschuldigend zu und setzte sich.

„Immer schön der Reihe nach. Wer ist ein elender Schuft, Ma’am?“, fragte Savage betont ruhig.

„Pat!“, stieß die Frau empört aus.

„Welcher Pat?“

„Patrick Herbert Mahon! Mein Mann!“

„Soso, Ihr Mann… Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Seine Ehefrau natürlich!“

„Das gaben Sie mir bereits durch die Blume zu verstehen, Ma’am. Wie lautet jedoch ihr werter Name?“

„Ich heiße Jessie Mahon. Ich wohne in der Pagoda Avenue in Richmond… Das hier ist Mister John Beard. Er ist Privatdetektiv und war ein Kollege von Ihnen.“

„Ich kenne Mister Beard sehr gut, Ma’am.“, antwortete Savage lächelnd.

Die Frau nickte.

„Oh, ja, natürlich… Ähm, ich habe Mister Beard engagiert, Sir.“

„Engagiert? Wofür, Misses Mahon?“

„Nun, ich…“

„Was kann die Metropolitan Police für Sie tun, was Mister Beard nicht für Sie leisten könnte?“, fragte Savage leicht angesäuert. Er hatte eine gewisse Abneigung gegen den Berufsstand der Privatermittler und gegen abtrünnige Kollegen, obwohl es einstmals gerade die Privaten waren, die der Einführung eines staatlichen Polizeiapparats gewaltig auf die Sprünge geholfen hatten.

„Wieso die Metropolitan Police?“, fragte Misses Mahon unsicher. „Sind wir hier nicht bei Scotland Yard?“

„Doch, wir werden gemeinhin als Scotland Yard bezeichnet, Ma’am. Offiziell handelt es sich bei uns jedoch um den MPS, den Metropolitain Police Service.“

„Aha.“

„Sie sind ganz sicher bei Scotland Yard, Ma’am. Mister Beard wird Ihnen das bestätigen können.“, sagte Savage beruhigend und riskierte dabei gleichzeitig einen kurzen Seitenblick in Richtung seines ehemaligen Kollegen. John Beard bemerkte dies und nickte bestätigend.

„Gut, in Ordnung.“, sagte Misses Mahon erleichtert. „Wo soll ich beginnen, Sir?“

„Am Anfang, Ma’am.“, gab Savage sanft lächelnd zurück. „Immer am Anfang.“

„Ich habe bislang viel ertragen, Sir… Ich muss am Samstag ins Krankenhaus… nur ein Routineeingriff, aber… Ich habe mich nie beschwert… Pat und ich haben vor 14 Jahren geheiratet. Bereits im ersten Jahr hat er mich auf der Isle of Man mit einer Anderen betrogen. Was sagen Sie dazu, Sir?“

Ein untreuer Ehemann und eine gekränkte Ehefrau! Savage schürzte die Lippen. Einen solchen Fall konnte er beim besten Willen nicht gebrauchen. Dieser Tag war definitiv ein Reinfall.

„Soso, die Isle of Man… Nun ja, das spricht eindeutig gegen Ihren Mann, Misses Mahon.“

Die Frau durchschaute die Ironie des Chef-Inspektors sofort und warf ihm einen bösen Blick zu. Dennoch fuhr sie unbeirrt mit ihrer Erzählung fort.

„Ich habe ihm damals verziehen und er hat mir hoch und heilig geschworen, nie wieder eine andere Frau in sein Leben zu lassen.“

Savage hob fragend die Augenbrauen.

„Und Sie haben ihm geglaubt, Misses Mahon?“

„Ja, natürlich habe ich ihm geglaubt, Sir! Wo denken Sie hin?“, antwortete die Frau

Das war eine gute Frage und Savage wusste ganz und gar nicht, wo er im Augenblick hindachte. Er wusste daher keine Antwort auf die Frage der Frau. Ihm wurde jedoch schlagartig bewusst, dass es Misses Mahon mit ihrem Besuch bei ihm aber scheinbar sehr ernst war. Savage schämte sich für sein unmögliches Betragen.

„Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit, Misses Mahon. Es ist früh am Morgen und ich habe seit Tagen schlechte Laune. Das macht es aber keinesfalls besser.“

Misses Mahon winkte ab und lächelte den Chef-Inspektor an. Sie wirkte mit einem Schlag wie ausgewechselt.

„Schon gut, Sir. Mir schlägt das schlechte Wetter auch auf mein Gemüt.“

„Warum glauben Sie Ihrem Mann jetzt nicht mehr, Ma’am?“, fuhr Savage erleichtert fort.

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Sir. Pat ist attraktiv. Er ist schlank, sportlich und hat lockiges Haar. Was weiß denn ich, wer seinem Charme diesmal nicht widerstehen konnte?“

„Wie kommen Sie darauf, Misses Mahon?“

„Nun, ich wollte gestern Morgen seine Wäsche waschen und habe seine Jackentaschen ausgeräumt. Ich habe in einer Jacke einen Gepäckschein der Waterloo Station gefunden… Mein Mann ist gerade auf Geschäftsreise, müssen Sie wissen. Er ist bereits seit Wochen unterwegs. Er schickt uns…“

„Wer ist uns, Misses Mahon?“, unterbrach Savage den Redeschwall der Frau.“

„Wir haben eine Tochter, Sir… Also, er schickt uns Telegramme aus Eastbourne, Hastings und Bexhill. Mal bleibt er für ein oder zwei Tage zu Hause. Dann fährt er wieder für ein paar Tage fort.“

„Was macht ihr Mann beruflich?“

„Er ist Verkaufsleiter bei Consols Automatic Aerators Ltd. Die Firma ist in der Hanworth Road in Sunbury.“

„Ist er immer derart häufig unterwegs?“

„Ja, aber nicht so wie in den letzten Wochen… Wir haben doch ein kleines Kind… Er war sogar über Ostern fort, Sir!“

„Denken Sie, dass er eine Geliebte hat, Misses Mahon?“

„Ich habe nicht so sehr Bedenken, dass er eine andere Frau haben könnte. Ich bin eigentlich nicht eifersüchtig.“

„Eigentlich sind Sie nicht eifersüchtig. Aber?“

„Nein, Sir. Ich kenne das von ihm… Ich bin auch nicht neugierig.“

„Sie sind auch nicht neugierig?“

„Nein, Sir, ich habe vielmehr Angst, dass mein Mann in krumme Geschäfte verwickelt ist. Vielleicht in Buchmachergeschäfte. Er wettet gerne und… vielleicht hat ihn die Vergangenheit eingeholt. Mein Mann war…“

Die Frau verstummte schlagartig und Savage horchte interessiert auf.

„Ihr Mann war was, Misses Mahon?“

„Nun, mein Mann war schon einmal im Gefängnis. Aber er hat sich verändert, seit er den Job als Verkaufsleiter hat.“

„Seit wann arbeitet er als Verkaufsleiter?“

„Er arbeitet seit 1921 bei Consols Automatic Aerators Ltd.“

„Seit drei Jahren also… Wie kommen Sie darauf, dass Ihr Mann in Schwierigkeiten stecken könnte?“

Misses Mahon schluckte schwer. Sie schaute den ehemaligen Polizisten neben sich verlegen an und senkte den Blick.

„Also, ich kenne Mister Beard von Früher, Sir. Sie wissen schon… Als mein Mann ins Gefängnis musste… Ich bin gestern Nachmittag zu Mister Beard gegangen und habe ihm den Abholschein gezeigt. Ich habe ihn gebeten, mit mir zur Waterloo Station zu gehen und…“

Misses Mahon brach erneut unvermittelt ab und kramte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche hervor, mit dem sie sich ein paar Schweißperlen von der Stirn tupfte.

„Und?“

„Ich… Wir… Bitte sagen Sie es ihm, Mister Beard.“

Savage schaute seinen ehemaligen Kollegen fragend an.

„Was haben Sie gefunden, John?“

Der Angesprochene holte tief Luft. Savage hatte das Gefühl es, als laste ein unglaublicher Druck auf dem Mann.

„Nun, Sir, wir bekamen eine braune Reisetasche aus Leder ausgehändigt. An der Tasche klebte brauner Dreck und ich habe hineingeschaut… Nachdem ich in der Tasche ein paar Dinge…. Also, da habe ich gedacht… Ich habe Misses Mahon vorgeschlagen, Sie aufzusuchen, Sir.“

Savage seufzte auf.

„Herrgott nochmal, Beard! Sie waren mal einer von uns! Sie müssen schon konkreter werden! Scotland Yard ist für einen einfachen Ehebruch nicht zuständig und für dreckige Reisetaschen in Schließfächern eines Bahnhofs schon gar nicht!“

„Ich weiß, Sir, aber…“

„Wenn ich aktiv werden soll, muss ich mehr Informationen von Ihnen haben, Beard!“

„Ich weiß, Sir.“, gab der Privatdetektiv kleinlaut zurück. „Es ist nur so, dass es nicht leicht für Misses Mahon und für mich ist.“

„Was ist an einer verdreckten Tasche bitteschön nicht leicht? Soll ich mir den braunen Dreck einfach nur mal anschauen und danach einen untreuen, wettenden und schlampigen Ehemann verhaften und zur Rede stellen?“

John Beard schüttelte den Kopf.

„Nein, Sir, natürlich nicht… Mit dem Dreck verhält es sich so, Sir… Bei diesem Dreck handelt es sich um Blut!“

Savage fiel die Kinnlade herunter. Mit einem ruhigen Tag im Büro war es mit einem Schlag aus und vorbei. Er notierte sich die Nummer J.2413, die auf dem Abholschein stand. Dann bat er Misses Mahon eindringlich darum, sich nichts anmerken zu lassen.

„Stecken Sie den Schein wieder in die Jackentasche ihres Mannes zurück und warten Sie bitte ab.“, sagte er eindringlich zu ihr. „Sie können jetzt nach Hause gehen. Und Sie auch, Beard.“

Gegen sieben Uhr am Abend machte er sich gemeinsam mit Inspektor Hall auf den Weg zur Waterloo Station, um sich die Tasche und den Inhalt persönlich anzuschauen.

Die Reisetasche war fest verschlossen. Er ließ sich vom Inspektor ein scharfes Messer geben und machte einen kleinen Schnitt in die Naht an der Seite der Tasche. Vorsichtig bog er das Leder zur Seite und schaute hinein. Was er entdeckte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er zog ein Stück Seidenstoff aus dem Riss und schnitt eine Probe von dem blutigen Stück ab.

„Sie bleiben hier, Inspektor, und lassen das gute Stück ab jetzt nicht mehr aus den Augen! Und verschließen Sie den Riss wieder halbwegs unsichtbar.“

„Ja, Sir.“

„Morgen früh lasse ich Sie ablösen. Ich fahre derweil zu Doktor Spilsbury und lasse die Probe untersuchen.“

Ohne das Ergebnis der Untersuchung zu kennen, war für Savage bereits jetzt klar, dass Mister Mahon in großen Schwierigkeiten steckte. Die vermeintliche Privatangelegenheit von Mahons neugieriger Ehefrau war vermutlich zu einem Kriminalfall geworden. Er musste nur einen Tag lang warten, um seine Vermutung bestätigt zu sehen…

Zweites Kapitel

Freitag, 02. Mai 1924; 18:15 Uhr

Waterloo Station; London

Ein warmer Tag ging zu Ende und ein milder Abend senkte sich sanft über den geschäftigen Stadtbezirk London Borough of Lambeth. Die schweren Regenwolken der letzten Tage waren am frühen Morgen endlich einem azurblauen Himmel gewichen und hatten den Londonern den lange herbeigesehnten Frühling gebracht.

Es war kurz nach 18 Uhr, als Constable Mark Thompson und Sergeant Thomas Frew aus ihrem Versteck heraus einen vielleicht 35 Jahre alten, recht gut gekleideten Mann beobachteten, der scheinbar vollkommen sorglos durch die weitläufige Südhalle der Waterloo Station schlenderte.

Thompson und Frew folgten dem Mann unauffällig durch den Bahnhof. Der Verfolgte bemerkte nichts von seinen Beschattern und spazierte gemütlich zur Gepäckaufbewahrung. Dort reichte er einen gefalteten Schein über den abgewetzten Tresen.

„Bitte geben Sie mir meinen Koffer!“, bat er freundlich und mit sanfter Stimme den Bediensteten, der sich müde den Abholschein besah.

J.2413 stand deutlich lesbar auf dem Papier. Der Mann blickte seinem Gegenüber offen ins Gesicht und nur für den Bruchteil einer Sekunde flatterten ihm dabei nahezu unmerklich die Augenlieder.

Mit einem Schlag war die Müdigkeit des Angestellten verschwunden. Er nickte dem eleganten Mann wortlos zu und drückte gleichzeitig auf einen versteckten Klingelknopf an seinem Pult.

Das leise Summen ließ den Chef-Inspektor im Hinterzimmer der Gepäckaufbewahrung aufschrecken. Savage stand vorsichtig auf. Er hielt sich hinter dem Türrahmen versteckt und lauschte mit gespitzten Ohren dem Gespräch am Schalter.

„Einen Augenblick bitte, Sir. Ich hole Ihren Koffer sofort.“

Rasch zog sich der nervöse Bedienstete in den Gepäckraum zurück. Er ging langsam an Savage vorbei und warf ihm einen fragenden Seitenblick zu. Savage nickte ihm aufmunternd zu.

„Bleiben Sie ganz ruhig, Mann. Wir sind in der Nähe.“, flüsterte Savage dem Bediensteten zu. „Und lassen Sie sich bitte ein wenig Zeit beim Suchen. Ich werde jetzt nämlich nach vorne in die Schalterhalle gehen und bin nicht der Schnellste.“

Der arme Mann schluckte schwer.

„Ich werde mir Zeit lassen, Sir.“, hauchte er dem Chef-Inspektor nervös zu.

Savage lächelte und verließ leise die Gepäckaufbewahrung durch die Hintertür. Den rumpelnden Geräuschen nach zu urteilen, tat der Schalterbeamte tatsächlich so, als suchte er fieberhaft nach dem gefragten Gepäckstück.

Der gutaussehende schlanke Mann mit den gelockten schwarzen Haaren, die an den Spitzen ein wenig ergrauten, wartete indessen geduldig. Schließlich konnte der Bahnbedienstete nicht länger sinnlos herumsuchen. Zögernd kam er aus dem Lagerraum zurück.

„Ihr Koffer, ja? Bitte, Sir…“

„Ja, danke. Das ist für Sie.“

Der elegante Mann gab dem Bediensteten ein fürstliches Trinkgeld und nahm das Gepäckstück in die rechte Hand. Dann drehte er sich um und durchquerte zügig die Eingangshalle. Als er die Ausgangstür zur York-Road öffnen wollte, berührte ihn jemand sanft aber mit Nachdruck mit der Hand am Arm. Der Mann mit dem Handkoffer sah sich erschreckt um.

Er erblickte zwei ernst dreinblickende Männer, die sich rechts und links von ihm postiert hatten. Beide hielten ihre rechte Hand in der Jackentasche versteckt. Die Taschen beulten sich ein wenig aus, was keinen Zweifel daran ließ, was die Zeigefinger der Männer darin berührten.

Im Hintergrund entdeckte der Aufgehaltene einen weiteren Mann, einen mittelgroßen und drahtigen Mittvierziger mit aristokratischem Schnurrbart, den er aus der Zeitung kannte. Etwas entfernt von ihm stand leibhaftig der bekannte Chef-Inspektor Percy Savage von Scotland Yard.

Der Polizist auf seiner linken Seite, ein schlanker Mann mit freundlichen Gesichtszügen, riss ihn jäh aus seinen Gedanken.

„Ich bin Constable Thompson von Scotland Yard, Sir! Ist das Ihre Tasche, Mister Mahon?“

Der Angesprochene stutzte kurz. Dann nickte er liebenswürdig.

„Sicher! Das ist sie. Was ist damit? Und woher kennen Sie meinen Namen?“

Thompson ignorierte die Frage.

„Sie sind also Mister Mahon?“, fragte Sergeant Frew an Thompsons Stelle barsch. Mahon drehte den Kopf nach rechts in Frews Richtung

„Ja, sicher! Was wollen Sie von mir?“

„Ich bin Sergeant Frew. Haben Sie einen Schlüssel für die Tasche, Mister Mahon?“, fragte Frew weiter.

„Ja… Nein… Also, ich habe einen Schlüssel.“

„Geben Sie ihn mir bitte.“

„Dazu müssen Sie mich loslassen.“

„Bitte unternehmen Sie keinen Fluchtversuch, Sir.“, bat Frew mit erstem Gesicht. „Wir sind bewaffnet.“

„Der Schlüssel ist in meiner Hosentasche.“

„Bitte, Sir.“, sagte Frew und ließ den Gefangenen los. Mahon griff in seine Hosentasche und zog einen kurzen Augenblick später einen kleinen Schlüssel heraus.

„Bitte sehr, der Schlüssel.“

„Danke, Sir. Wir gehen nun gemeinsam zur Kennington Road Polizeistation, Mister Mahon. Wir haben ein paar Fragen an Sie, Sir.“, sagte Thompson und übernahm wieder die Gesprächsführung. „Folgen Sie uns bitte unauffällig.“

„Ihr Handkoffer wird selbstverständlich nachkommen. Der Chef-Inspektor wird ihn in der Zwischenzeit in Verwahrung nehmen.“, sagte Frew und nahm Mahon das Gepäckstück aus der Hand. Er reichte die Tasche und den kleinen Schlüssel dem Chef-Inspektor, der mittlerweile leise an die kleine Gruppe herangetreten war und beide Gegenstände wortlos entgegen nahm.

„Blödsinn! Was soll denn dieser… Bin ich etwa verhaftet?“, fragte Mahon fauchend.

„Ja, Sir. Bitte machen Sie keinen Aufstand.“, sagte Thompson.

Mahon ließ ein hochmütiges Achselzucken folgen.

„Was soll ich machen? Gehen wir also. Ist ja doch Unsinn… Ein blöder Irrtum. Na schön, bitte.“

Savage hielt sich weiterhin zurück. Er winkte Inspektor Hall zu sich, der gerade eben die Südhalle des Bahnhofs betreten hatte.

„Ja, Sir?“, fragte der Inspektor dienstbeflissen.

„Ich werde Mister Mahon noch heute Abend verhören.“, antwortete Savage seinem Assistenten.

„Natürlich, Sir. Brauchen Sie mich später?“

„Sicher, Hall. Fahren Sie derweil mit in die Kennington Road und warten Sie dort auf mich. Ich bringe die Tasche schnell zu Doktor Spilsbury. Ich brauche seine Expertise zum Inhalt und vor allem brauche ich das Ergebnis von Doktor Spilsburys Untersuchung der blutigen Kleidungsproben von gestern. Ich fahre kurz zu ihm und komme dann nach.“

„Jawohl, Sir.“

Der Inspektor schlug die Hacken zusammen und stapfte energisch los. Savage atmete tief durch. Er hatte soeben Patrick Herbert Mahon festgenommen.

Drittes Kapitel

Freitag, 02. Mai 1924; 18:45 Uhr

University College Hospital; London

Der diensthabende Fahrer von Scotland Yard fuhr den Chef-Inspektor mitsamt dem Handkoffer zum berühmten Gerichtsmediziner Sir Bernard Henry Spilsbury ins University College Hospital.

Etwas beklommen stieg Savage die steilen Stufen in die dämmrigen Katakomben des Krankenhauses hinab. Auf der ersten Stufe stieg ihm ein leicht süßlicher Geruch in die Nase und Savage fragte sich, wie der berühmte Gerichtsmediziner und seine Mitarbeiter diesen Geruch bei ihrer täglichen Arbeit aushielten.

Er blieb vor der Tür zum Sezierraum stehen und straffte sich. Einerseits war er jedes Mal aufs Neue von dem fasziniert, was er hier unten zu sehen und zu hören bekam. Andererseits spürte er in Anwesenheit der gekühlten Toten stets eine leichte Unsicherheit.

Als Savage durch die breite Eingangstür des Instituts trat, stolperte er beinahe über den großgewachsenen Doktor. „Oh, Sir Bernard…“, sagte Savage erschreckt.

„Da sind Sie ja, Savage!“, sagte der Doktor aufmunternd lächelnd. „Immer rein in die gute Stube.“

Savage nickte und rümpfte gleichzeitig die Nase.

„Haben es die Toten denn eilig, Doktor?“

„Die Toten haben es nicht mehr eilig, Savage. Ich habe es aber eilig, denn ich habe um 20 Uhr einen Termin im Club.“

„Das ist natürlich ein Argument, Sir… Sagen Sie, Doktor, wie halten Sie es hier unten bei dem Geruch eigentlich aus? Was sagen die Leute im Club dazu?“

„Welcher Geruch, Savage?“, fragte Spilsbury und zog prüfend die Luft durch die Nase ein. „Ich rieche nichts.“

Savage erwiderte nichts. Er hob nur fragend die Augenbrauen. Doktor Spilsbury grinste breit.

„Man gewöhnt sich daran, Savage. Und die Leute im Club rauchen allesamt Zigarre. Von denen riecht niemand mehr etwas.“

„Wenn Sie es sagen, Sir… Was haben Sie für mich, Doktor?“

„Ich habe Ihre Probe von gestern untersucht, Savage.“

„Und? Ist Blut daran, Sir?“

„Ja, und es ist nicht irgendein Blut, sondern Menschenblut.“

„Das wissen Sie so genau, Sir?“, fragte Savage erstaunt. „Kein Tierblut?“

„Blut ist nicht gleich Blut, lieber Chef-Inspektor!“

„Wenn Sie es sagen, Sir.“

„Blut ist nicht gleich Blut, Savage. Ich kann tierisches Blut eindeutig von menschlichem Blut unterscheiden und an der Tasche und den darin befindlichen Sachen klebt nachweislich menschliches Blut.“

„Das höre ich gern, Doktor. Ich hatte schon befürchtet, dass uns die eingetrockneten Blutspritzer keine brauchbaren Beweise liefern würden.“

„Ich kann Ihre Befürchtungen nachvollziehen.“

„Können Sie das, Doktor?“

„Ja, denn der Täter alles mit einem Desinfektionsmittel bepudert.“

„Mit einem Desinfektionsmittel?“, fragte Savage entsetzt.

„Ja, Savage.“, gab der Doktor ernst zurück.

„Das ist nicht gut, oder?“

„Desinfektionsmittel hin oder her… Den ekelhaften Geruch mag das Zeug zwar überdecken, aber die Blutspritzer auf dem Stück Stoff liefern uns trotzdem brauchbare Beweise!“

„Gott sei Dank!“, sagte Savage erleichtert und atmete auf.

Der Gerichtsmediziner lächelte beruhigend.

„Immer ruhig Blut, Savage. Seit mehr als 20 Jahren kann man den Unterschied von Tier- und Menschenblut nachweisen und die reaktionsfähigen Bestandteile, die ich untersuche, bleiben in trockenem Blut sogar erheblich länger erhalten, als in frischem Blut. Das Desinfektionsmittel juckt uns gar nicht.“

Doktor Spilsbury ließ seine Worte wirken, um ganz sicher zu gehen, dass er die volle Aufmerksamkeit von Savage hatte.

„Sie erwarten von mir jetzt sicher eine Nachfrage, oder?“

„Ich möchte Sie bescheiden darum bitten, Savage“

„Dann schießen Sie los, Doktor!“

„Ich habe in den vergangenen Jahren viel Erfahrung auf dem Gebiet der Blutuntersuchung gesammelt, Savage. Mittlerweile kann ich jede Schutzbehauptung eines Gewaltverbrechers, dass es sich bei einer Blutspur um Tierblut handeln würde, eindeutig widerlegen.“

Savage strich sich gedankenverloren durch seinen kurzen Schnurrbart.

„Hoffentlich wissen das die Verbrecher in England noch nicht, werter Doktor! Noch sind Sie ihnen mit diesem Wissen einen Schritt voraus.“

„Seien Sie unbesorgt, Savage. Dieses Expertenwissen bleibt einstweilen allein uns Rechtsmedizinern vorbehalten. Wir wissen immer mehr über immer weniger und am Ende wissen wir alles über gar nichts.“

„Das ist sehr beruhigend… Was hat es mit dem Blut denn nun auf sich, Doktor?“

„Nun, Menschenblut unterscheidet sich im Bereich der Eiweiße ganz erheblich von Tierblut. Somit ist eine Verwechslung ausgeschlossen. Bei den gefundenen Blutspritzern handelt es sich mit absoluter Sicherheit um Menschenblut.“