Die Riesin und der Schatzmeister des Wetters - Heiko Mittelstaedt - E-Book

Die Riesin und der Schatzmeister des Wetters E-Book

Heiko Mittelstaedt

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Beschreibung

Irgendwo ins grüne Meer Hat ein Gott mit leichtem Pinsel, Lächelnd, wie von ungefähr, Einen Fleck getupft: Die Insel! Und dann hat er, gutgelaunt, Menschen diesen Fels gegeben Und den Menschen zugeraunt: Liebt die Welt und lebt das Leben! James Krüss Der berühmte deutsche Dichter und Schriftsteller James Krüss schrieb diese poetischen Worte als Liebeserklärung an seinen hart aber herzlichen Felsen; die Nordseeinsel Helgoland. Ebenso schöne Worte kann man auch über die grüne Mittelmeerinsel Sámos im Osten Griechenlands verlieren, so gänzlich anders ihre klimatischen Bedingungen und ihr äußerliches Erscheinungsbild im Vergleich zu Helgoland auch sind. Beide Inseln verbindet auf alle Fälle, dass sie den Autor dieses Buches zum Schreiben uriger, lustiger, ungewöhnlicher und vor allem spannender Geschichten inspiriert haben und immer wieder aufs Neue inspirieren. Die Riesin und der Schatzmeister des Wetters... Das vorliegende Buch wartet mit sieben (kriminell) spannenden Geschichten auf. Die Betonung liegt dabei vor allem auf dem Wort spannend, wenngleich das Kriminelle keinesfalls zu kurz kommt. Die Leserinnen und Leser erleben einen Orkan, der das Gesicht Nordfrieslands nachhaltig verändert hat und begeben sich auf eine Zeitreise ins nordfriesische Rungholt, wo sie den Blanken Hans zu spüren bekommen. Sie werden auch auf Helgoland von einem Sturm durchgeschüttelt und erleben dort eine Trennung, die sich bis heute auf den rauen Fels in der Nordsee auswirkt. Außerdem schlüpfen sie, im wahrsten Sinne des Wortes, in die Haut eines Seehunds und begeben sich zum Jagen in die dunklen Tiefen der Nordsee. Sie lösen ferner einen schrägen Kriminalfall auf Helgoland und ermitteln dann noch gemeinsam mit einem charismatischen Kommissar auf der sonnigen Ferieninsel Sámos in Griechenland, denn etwas Erholung muss schließlich sein, oder?

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Der Autor

Heiko Mittelstaedt – geboren 1971 in der Lüneburger Heide – studierte und lebte mehrere Jahre lang in Wilhelmshaven. Dann zog es ihn beruflich in den Süden Deutschlands. Dort lebt er mit seiner Familie seit mehr als 20 Jahren in der Nähe von Heidelberg. Er verbringt nach wie vor viel Zeit an der Nordseeküste und besucht dabei vor allem oft seine Lieblingsinsel Helgoland. Man findet ihn aber auch auf der griechischen Insel Sámos, die ihm längst zu seiner zweiten Heimat geworden ist. Beide Inseln liefern ihm viel Stoff für seine Geschichten vom und am Meer...

Der Berg

Würden sämtliche Berge der ganzen Welt, zusammengetragen und übereinandergestellt und wäre zu Füßen dieses Massivs, ein riesiges Meer, ein breites und tiefs. Und stürzte dann, unter Donnern und Blitzen der Berg in dieses Meer – na, das würd' spritzen!

Heinz Erhardt

Die Handlungen der Kurzgeschichten in diesem Buch sind fiktiv, auch wenn sie teilweise mit dem Verlauf echter Ereignisse verwoben sind. Alle im Buch dargestellten Schauplätze gab (oder gibt) es in der Wirklichkeit und manche der in den Geschichten vorkommenden Personen haben tatsächlich gelebt oder leben sogar noch. Und dennoch: Ihr Handeln, Reden und Denken ist frei erfunden.

Inhalt

Nordfriesland

Trotz nu, blanke Hans!

Helgoland

Der Blindgänger Oder: Aller guten Dinge sind mehr als drei

Sámos

Ein Ouzo zum Mord

Helgoland

Die Riesin und der Schatzmeister des Wetters

Sámos

Eine griechische Tragödie

Helgoland

Vollmondzauber

Sámos

Morchelmord

(Düne – Helgoland; ©C.R.-M.)

Nordfriesland

Trotz nu, blanke Hans!

Die große Gestalt stand aufrecht und breitbeinig auf dem 4 Ellen1 hohen Holzdeich. Der kräftige Mann stemmte sich mit aller Macht dem stark auffrischenden Wind entgegen und dennoch ließ ihn jeder Windstoß wie einen frisch gepflanzten Baum hin und her schwanken.

Es war früher Nachmittag. Die Sonne versank bereits am Horizont blutrot im Meer und von Land aus zeichneten sich die Umrisse des Mannes deutlich vor dem hellen Hintergrund des Himmels ab.

Nach einem besonders heftigen Windstoß hob die massige Gestalt unvermittelt einen langen Hirtenstab über ihren Kopf und schrie dem tosenden Sturm mit tiefer und vor Überzeugung bebender Stimme energische Worte entgegen.

„So Gott steh‘ uns bei! Trotz nu, blanker Hans!“

Nach diesen gebrüllten Worten wartete der Mann mit noch immer erhobenen Händen angespannt auf eine Reaktion des Himmels und für einen kurzen Augenblick schien es tatsächlich so, als würden die Worte des Mannes ihre Wirkung nicht verfehlen. Der Wind hielt für einen kurzen Moment die Luft an.

Dann aber wurde der Rufer jäh von einer noch heftigeren Windböe erfasst und in hohem Bogen vom aufgeweichten Deich hinuntergeschleudert.

Der Himmel hatte dem Mann ein klares Zeichen gegeben – die Natur hatte mit Urgewalt zurückgeschlagen. Der blanke Hans hatte dem Mann deutlich zu verstehen gegeben, dass ihn die wütenden Worte eines gottesfürchtigen Mannes nicht interessierten.

Am Fuß des Holzdeiches blieb der arg Gebeutelte mit geschlossenen Augen und keuchend auf dem Rücken im Schlamm liegen. Als er sich schließlich ein wenig von dem Schrecken erholt hatte, hob er langsam seine schweren Augenlider und erblickte plötzlich eine kleinen Jungen, der sich über ihn beugte. Der Kleine gehörte zu seinem Kirchenspiel in Rungholt.

„Bist du Moses?“, fragte der Kleine leise.

„Wer? Moses? Ich?“, stammelte der am Boden liegende Mann verdattert. „Wie kommst du denn darauf? Ich bin es... Ich bin der Priester.“

„Ich dachte nur... Na, weil du einen Stock wie Moses hast“, entgegnete der Kleine und warf einen schiefen Seitenblick auf den zerbrochenen Hirtenstab des Mannes. „Na ja, du hattest zumindest bis eben einen Stock wie Moses.“

Der Priester setzte sich langsam auf und befreite seine kräftigen Hände von Lehm und kleinen Steinen.

„Du bist doch der kleine Nis, oder irre ich mich?“ Der Kleine schüttelte den Kopf.

„Nein.“

„Du bist nicht Nis?“, fragte der Priester erstaunt.

„Nein, du irrst dich nicht... Ich bin Nis.“

„Ah, danke... Nun, kleiner Nis, wäre ich Moses, müsste ich den Herrn nicht um unseren Schutz bitten und den blanken Hans nicht anschreien, oder?“

Der Kleine schüttelte erneut den Kopf.

„Nein, Priester, dann würdest du den bösen Wellen mit deinem Stock Einhalt gebieten und sie teilen.“

„Die Wellen teilen?“, hakte der Priester erstaunt nach. „Warum sollte ich die Wellen teilen? Ist etwa der Pharao hinter uns her?“

„Nein, aber dann könnten wir trockenen Fußes über die Flussmündung nach Pellworm gelangen“, gab der Kleine schelmisch grinsend zurück und zeigte in Richtung Pellworm, das auf der anderen Seite des Heverflusses lag. „Dort säuft sich gerade mein Vater zu und Mutter braucht ihn so dringend, um das Haus sturmfest zu machen.“

Die Priester nickte dem Jungen verständnisvoll zu.

„Ja, genau das ist Problem mit euch einfachen Leuten. Ihr sauft und vernachlässigt eure Pflichten!“, flüsterte er leise, doch nicht leise genug.

„Ich saufe nicht und ich bete jeden Abend das Vaterunser!“, erwiderte der Kleine entrüstet.

„Tut mir leid, Nis... Ich wollte dich nicht kränken“, entschuldigte sich der Priester und hielt dem Jungen seine rechte Hand entgegen „Jetzt hilf einem alten Mann wieder auf die Beine.“

„Du bist viel jünger und viel kräftiger als mein Vater“, antwortete der Kleine und half dem Gottesmann gleichzeitig beim Aufstehen. „Du bist nicht alt.“

„Danke... Ich bin in der Tat nicht alt und ich bin nüchtern und gottesfürchtig. Doch geholfen hat mir das gerade eben leider auch nicht“, seufzte der Priester und klopfte sich den gröbsten Dreck von den Kleidern.

Dann stopfte er sich das heraushängende und von Schlamm triefende Holzkreuz zurück unter seinen Wams und warf einen letzten Blick auf seinen zerbrochenen Hirtenstab.

„Lass uns die Abkürzung durch den Wald nehmen und schnell zurück nach Rungholt gehen, Nis. Hier wird es bald sehr gefährlich sein. Wir können hier am Deich nichts mehr tun. Der Sturm wird uns heute Nacht übel mitspielen.“

„Bringst du mich nach Hause, Priester?“

„Ja“, bestätigte der Priester und legte seinen Arm schützend um den Jungen. „Und wenn wir da sind, werde ich deiner Mutter helfen, euer Haus sturmfest zu machen. Los jetzt!“

Den ganzen Weg zurück in die Stadt dachte der Priester an das lasterhafte Leben seiner Schäfchen. Die Rungholter waren reiche Leute. Ihr Deich war mittlerweile doppelt so hoch, wie die Deiche im Umland. Doch mit jeder Elle Deicherhöhung war ihr Glaube an Gott mindestens um zwei Ellen kleiner geworden.

Mit viel Geschick hatten sie dem Meer vor dem Bau des Deiches viel fruchtbares Land abgetrotzt und darauf schließlich eine Kirche gebaut. Das hatte ihnen zwar viel Respekt und die schönste Kirche und den höchsten Deich Frieslands eingebracht, doch sie gleichsam auch lasterhaft und überheblich werden lassen.

Überheblichkeit war sehr gefährlich, denn das Meer war seit jeher ein starker Gegner des Menschen. Meist gewann es jeden Kampf, doch wenn ein Wettstreit einmal verloren ging, war das Meer durchaus auch ein gerechter Verlierer.

Das galt allerdings meist nur für eine kurze Zeit, denn das Meer vergaß niemals eine Niederlage. Und immer dann, wenn sich die Menschen ihrer Sache zu sicher und nicht mehr gottesfürchtig und aufmerksam genug waren, holte es sich zurück, was es zuvor verloren hatte. Immer! Und immer gewann es dann dieses letzte Gefecht...

Im Grunde hatte der kleine Nis Recht gehabt, als er ihn vorhin mit Moses verglichen hatte. Zwar war es nicht sein Bestreben, die Bewohner der Stadt ins gelobte Land zu führen. Oh, nein, ganz sicher nicht!

Dennoch sah er es seit Monaten als seine Aufgabe an, die liederlichen Rungholter mit jeder seiner Predigten zurück zur Ordnung zu rufen und sie an den Bund mit dem Herrn und vor allem an den Pakt mit dem Meer zu erinnern – wenigstens die Frauen und Kinder, die so hingebungsvoll an seinen Lippen hingen, wie die Männer an ihren Humpen mit Wein und Bier.

Dabei schien ihm eine klitzekleine Plage zur Unterstützung seines Vorhabens durchaus nützlich zu sein. An ein gewaltiges Unwetter hatte er dabei jedoch nicht gedacht, vielleicht eher an eine kleine Maikäferplage oder etwas Ähnliches.

Leider hatte Gott der Herr andere Pläne für Rungholt, was aber niemand ahnte. Nicht einmal er als Diener Gottes hatte den Hauch einer Ahnung, dass der Herr in diesen Stunden ein mörderisches Unwetter von biblischem Ausmaß auf die Küste zurasen ließ. Der Stadt Rungholt stand weit mehr als nur eine kleine Krabbelkäferplage bevor.

*

Die Arbeit am Haus von Nis Familie war dem Priester schnell von der Hand gegangen. Die Einladung der Mutter, auf ein kurzes Nachtmahl zu bleiben, hatte er dankend abgelehnt.

Der Wind war immer stärker geworden und er wollte das Unwetter nicht bei Fremden aussitzen. Außerdem war seine Kirche ein geschützter Rückzugsort für die Bewohner der Stadt. Er wollte für sie da sein, wenn die Türen für die Schutzsuchenden geöffnet werden mussten.

Der Priester wollte sich gerade zur Ruhe begeben, als ihn ein heftiges Klopfen an der Kirchentür von seinem Vorhaben abbrachte. Waren bereits die ersten Hilfesuchenden da?

Er öffnete die schwere Holztür der Kirche einen Spalt breit und schloss für den Bruchteil eines Augenblicks genervt die Augen. Vor ihm im Regen standen drei triefnasse Männer, die für ihr unheiliges Leben mehr als bekannt waren. Der jüngste von Ihnen, ein aufgedunsener Säufer mit dem vollkommen unpassenden Namen Falke war zum Redner auserkoren worden.

„G, g, g... Guten Abend, Priester“, stotterte Falke leise.

>>Ausgerechnet der Stotterer<<, dachte der Priester und schlug schnell ein Kreuz, um sich beim Herrn für seinen unchristlichen Gedanken zu entschuldigen. Ihn beschlich ein unangenehmes Gefühl.

„Was wollt ihr von mir? Sucht ihr Schutz?“, fragte er misstrauisch in die Runde.

„D, d, d, du musst sch, sch, sch, schnell kommen, Priester!“, brabbelte Falke und seine gelallten Worte waren wegen des Sturms kaum zu verstehen.

„Um Himmels Willen! Wohin soll ich bei diesem Sturm kommen?“, schrie der Priester gegen den starken Wind an. „Jeder Gang vor die Tür ist gefährlich und kann der Letzte sein!“

„Z, Z, Z, Zu Hauke. Dem Metzger ist beim Schlachten einer Sau das Beil abgerutscht... Hauke ist hin, Priester!“

„Der Metzger ist tot?“, hauchte der Priester entsetzt. „Wer schlachtet denn bei diesem Wetter eine Sau?“

„E, e, e, er wollte vor dem großen Sturm noch was Gutes essen.“

„Ja, und jetzt ist er tot!“

„N, n, n, nein, Priester, er röchelt noch und will sein letztes Abendmahl haben.“

Der Priester nickte.

„Ich verstehe... Heute gibt es beim Metzger Oblaten statt Schweinebraten... Sehr schön!“

Das sah diesem Säufer und Spieler ähnlich. Keinen Fuß hatte Hauke bisher in die Kirche gesetzt, aber jetzt forderte er wie selbstverständlich die letzte Ölung vom Priester und das heilige Abendmahl.

>>Na, wie auch immer<<, seufzte er innerlich. >>Es ist meine Aufgabe, den Menschen mit dem letzten Abendmahl den Weg in den Himmel zu bahnen oder – wie im Fall Hauke – zumindest eine letzte Stärkung auf dem beschwerlichen Pfad hinunter in die Hölle mitzugeben... Leider auch bei einem Mistwetter wie heute.<<

„Gut, Männer, auch dem Metzger Hauke soll Gottes Gnade zu Teil werden. Möge er durch mich ins Reich Gottes kommen“, sprach er schließlich feierlich, auch wenn er das glatte Gegenteil für Haukes Seele befürchtete und den Teufel bereits das heiße Wasser zuzubereiten sah. „Ich ziehe mir nur schnell was Wasserfestes über“, sagte er laut und fügte leise hinzu. „Ich will heute Nacht nicht auch noch zum Teufel gehen wie der Metzger.“

*

Die Männer führten den Priester durch die dunklen Straßen Rungholts direkt in das Haus und weiter in die spärlich beleuchtete Schlafkammer des Metzgers. Dem Priester schwante im schummerigen Kerzenlicht endgültig Übles, als er in die feist grinsenden Gesichter der vielen Anwesenden blickte.

Zwar lief ihm pausenlos das Regenwasser aus den klatschnassen Haaren in die Augen und nahm ihm bisweilen die Sicht, dennoch bemerkte er sehr wohl das gehässige Grinsen der ungewöhnlich vielen Männer und Frauen in der Kammer des sterbenden Metzgers. Und auch das vereinzelte Kichern der Leute war auch nicht zu überhören.

„Was soll das? Was wollt ihr von mir?“, fragte er mit harter Stimme in die Runde.

„Die arme Sau braucht die letzte Ölung, Priester“, krächzte jemand aus dem Dunkel heraus. „Du bist doch hier im Ort der Mann Gottes. Mach‘ dich frisch ans Werk, Priester.“

„So spricht man nicht in Gegenwart des Todes!“, raunzte der Priester den frechen Sprecher an. „Hier liegt ein Mann im Sterben. Mit dem Tod treibt man keine derben Späße!“

„M, m, m, mit dem Tod sicher nicht, mit einem P, P, P, Priester aber schon“, stellte Falke belustigt fest.

„Was soll das heißen?“, fauchte der Priester wütend. „Was geht hier vor in Gottes Namen?“

Keiner der Anwesenden antwortete ihm. Irgendjemand hob jedoch die verlauste Bettdecke des verletzten Mannes an. Auf den ersten Blick hatte es den Anschein, als läge da ein Mann, denn unter der Bettdecke schaute ein Kopf hervor, der eine Schlafmütze trug.

„Tritt heran, Pfaffe, und gib‘ der armen Sau die letzte Ölung!“, forderte ihn eine dürre Frau auf, die der Priester nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte.

„Gib‘ mir eine Kerze, Falke!“, befahl der Priester dem Stotterer. Die Kerze wurde ihm gereicht und nun konnte er einen genauen Blick auf den Sterbenden werfen. Dem Priester stellten sich beim Anblick des Gesichts die Nackenhaare auf.

„Herr im Himmel!“, entfuhr es ihm. „Das ist nicht Hauke, ihr Halunken! Ihr habt eine betrunkene Sau in sein Bett gelegt und mich bei diesem Wetter aus der sicheren Kirche hierhergelockt? Was soll das, Leute?“

„Wir haben das getan, weil wir es können, Priester!“, zischte eine Stimme, die eindeutig dem noch lebenden Metzger gehörte und der sich jetzt auch aus der Menge löste und mit verschränkten Armen angriffslustig vor den Priester trat. Dieser hätte ihn mühelos mit einem einzigen gezielten Hieb zu Boden schlagen können, doch die Gegner waren in der Mehrzahl.

„Schäm‘ dich, Hauke!“, rief der Priester streng. „Du versündigst dich gegen den Herrn. Ich werde jetzt gehen. Lass‘ mich vorbei!“

„Das ist deine ganze Reaktion? Nichts als leere, gottesfürchtige Worte?“, lautete die lapidare Antwort.

„Lass‘ mich gehen, Hauke!“, knurrte der Priester. „Die Schutzsuchenden brauchen heute Nacht jemanden, der sie in die Kirche lässt.“

„Die Leute können die Kirchentür auch ohne deine Hilfe öffnen. Du wirst nirgendwo hingehen! Du kannst uns allen gestohlen bleiben mit deinem scheinheiligen Geschwafel, Priester!“, knurrte ihn der Metzger an. „Seit Wochen predigst du in der Kirche Wasser und säufst zu Hause vermutlich den Messwein aus. Unsere Frauen und Kinder sind schon ganz verwirrt von dem dummen Zeug, das du auf der Kanzel faselst!“

„Außer beim heiligen Abendmahl trinke ich keinen Wein, Metzger.“

„Das ist schön für dich, du Scheinheiliger!“, fauchte Hauke den Priester an, der dabei dessen fauligen Atem zu riechen bekam.

„Hauke“, versuchte es der Priester mit beschwichtigenden Worten. „Lass‘ uns wie vernünftige Männer miteinander reden... Ich versuche nur, euch alle zu retten, Hauke! Ihr führt seit langem ein lasterhaftes Leben! Ihr versündigt euch in einem fort an den heiligen Worten des Herrn und ihr vergesst dabei zugleich die Unbillen des Meeres!“

„Wir vergessen das Meer, sagst du?“

„Ja, leider, Hauke.“

„Hör‘ gut zu, Priester, wir sind Fischer und Bauern. Wir leben seit Generationen am und mit dem Meer! Bist du tatsächlich ein Mann Gottes oder nur ein Götzendiener, der es mehr mit dem Teufel oder mit Neptun hält, als mit dem lieben Gott im Himmel?“

„Ich bin ein Mann Gottes, Hauke!“, entgegnete der Priester. „Und in der Bibel steht geschrieben: Das Wasser unter dem Himmelsgewölbe soll sich alles an einer Stelle sammeln, damit das Land hervortritt. So geschah es. Und Gott nannte das Land Erde, die Sammlung des Wassers nannte er Meer... Gott hat das Meer geschaffen!“

Der Metzger begann schallend zu lachen.

„Ja, so steht es in deiner verdammten Bibel, die nur du lesen kannst! Wir müssen deine Worte glauben...“

„Ich lüge nicht!“, fuhr der Priester den Metzger wütend an.

„Quatsch mir gefälligst nicht dazwischen!“, schrie Hauke und schlug dem Priester mit dem Handrücken ins Gesicht. „Halt dein verdammtes Maul! Nach deiner verfluchten Bibel mag Gott das Meer geschaffen haben, doch wir Friesen schufen die Küste!“

Die Priester wischte sich das Blut von der aufgeplatzten Unterlippe und sackte entmutigt in sich zusammen, als sämtliche Anwesenden in das schallende Gelächter des Metzgers einstimmten. Als dieser seine Hand hob, verstummten die Leute jedoch sofort. Es wurde mit einem Schlag totenstill in der Kammer.

„Dein Gott kann uns mal, Priester! Halte dich ab sofort aus unserem Leben raus! Feiere deine Messen, aber verschone uns alle mit deinen Predigten.“

Der Priester richtete sich auf und schaute dem Metzger tief in die Augen..

„Ich kann das ich nicht tun, Hauke... Ich verkünde Gottes Wort... Ich...“, versuchte er zu erwidern, wurde aber von Hauke erneut barsch unterbrochen.

„Das war keine Bitte, Priester!“, raunzte Hauke den Priester scharf an. „Wir tun ab sofort unser Ding und du tust deine Dinge. Ist das klar, oder willst du mir auch deine andere Wange hinhalten?“

„Wenn dir das hilft?“, gab der Priester zurück.

„Das Angebot nehme ich dankend an“, lachte der Metzger und schlug dem Priester unvermittelt mit der Faust ins Gesicht. Blut spritzte, als die Fingerknöchel die Nase des Priesters hart trafen.

Der Priester schüttelte benommen den Kopf. Er schloss für einen Moment die Augen. Dann öffnete er sie wieder und blickte seinem Peiniger erneut direkt in die Augen.

„Ihr begeht allesamt eine weitere Sünde!“

„Wen interessiert das?“, antwortete Hauke grinsend.

„Gut, ihr lasst mir keine andere Wahl“, sagte der Priester ruhig und wischte sich erneut das Blut aus dem Gesicht.

„Nein, du hast wahrhaftig keine andere Wahl!“, lachte Hauke.

„Lass‘ mich ausreden!“, fauchte ihn der Priester an. „Ihr lasst mir keine andere Wahl, als den Herrn zu bitten, sich um euer lasterhaftes Tun höchstpersönlich zu kümmern.“

Der Metzger lachte schallend auf.

„Aber natürlich! Der Herr wird sein Angesicht auf uns werfen und uns nicht mehr gnädig sein...“

„Der Herr wird mich erhören und er wird machen, was auch immer er für richtig hält, Hauke.“