Der Mörder ist immer ein Narr - Heiko Mittelstaedt - E-Book

Der Mörder ist immer ein Narr E-Book

Heiko Mittelstaedt

0,0

Beschreibung

Paris, 29. Februar 1928: Vor den Toren der Stadt wird im Wald von Armainvilliers die verbrannte Leiche des Diamantenhändlers Gaston Truphème gefunden. Der junge Inspektor Georges-Victor Massu, der die Ermittlungen in diesem Mordfall leitet, ist verzweifelt. Die Beweislage gegen seinen einzigen Verdächtigen, den verrufenen Juwelier Charles Mestorino, ist mehr als schlecht. Dennoch erhält der Inspektor wider Erwarten freie Bahn für ein Verhör, das sich zum längsten und nervenaufreibendsten Verhör in der Geschichte der Pariser Kriminalpolizei entwickelt. Der Roman "Der Mörder ist immer ein Narr" erzählt die wahre Geschichte der Aufklärung des Mordes an Gaston Truphème durch den echten Kommissar Maigret vom Quai des Orfèvres Nummer 36.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 196

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Autor

Heiko Mittelstaedt wurde 1971 in der Lüneburger Heide geboren. Er lebt seit 16 Jahren mit seiner Familie in der Nähe von Heidelberg. „Der Mörder ist immer ein Narr“ ist sein erster Roman über den erfolgreichen Pariser Ermittler Georges-Victor Massu – den echten Kommissar Maigret vom Quai des Orfèvres Nummer 36.

Sehr viele Menschen leben davon, dass die Wahrheit auf Erden so schwer zu finden ist: die Detektive, Rechtsanwälte, Richter, Schriftsteller, Wissenschaftler, Philosophen, Geistlichen und viele andere.

(Georges Simenon)

L’assassin est toujour un imbécile!

Der Mörder ist immer ein Narr!

(Georges-Victor Massu)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Nachwort

Danksagung

Prolog

Dienstag, 4. März 1930; 13:00 Uhr

Pont Neuf; Île de la Cité

An diesem sonnigen Nachmittag, an dem die Luft prickelte und flimmerte wie Champagner, standen zwei unscheinbar aussehende junge Männer dicht nebeneinander auf der Pont Neuf und rauchten schweigend ihre Pfeifen.

Kein einziger Pariser und schon gar keine Pariserin, die sich hektisch nach einem geeigneten Picknickplatz auf dem Square du Vert-Galant umsahen, hatten einen Blick für die majestätische Reiterstatue Heinrich IV. übrig oder betrachteten gar die in der Sonne glänzende Spitze des Eiffelturms, der sich auf dem vier Kilometer entfernt befindlichen Champ de Mars imposant in den blauen Februarhimmel reckte.

Weil sich kaum ein Pariser Zeit für die Sehenswürdigkeiten seiner Stadt nahm, und noch viel weniger Zeit für seine Mitmenschen, beachtete auch niemand die beiden Männer auf der Brücke, die qualmend einem dampfenden Lastkahn hinterherblickten, der langsam Seine aufwärts tuckerte und von Zeit zu Zeit einen gequälten Ton seines Signalhorns hören ließ. Und so entging den vorbeieilenden Parisern an diesem Tag ein Treffen von ganz besonderer Art und Ausmaß.

Einem der beiden Männer wollte mancher Pariser nicht gerne persönlich begegnen, doch auf ein Treffen mit dem anderen Mann waren viele Menschen nahezu versessen.

Bei dem ersten Mann – einem elegant gekleideten und freundlich lächelnden 40 Jährigen mit glatten und exakt seitengescheitelten, schwarzen Haaren und einem ebenso exakt gestutzten schwarzen Schnurrbart – handelte es sich um Inspektor Georges-Victor Massu von der Pariser Kriminalbrigade am Quai des Orfèvres.

Der andere Mann, dessen sprichwörtliche Spitzbübigkeit sich in wild und spärlich vom Kopf abstehenden dunkelbraunen Haaren und einer noch wilderen Kleidungsauswahl zeigte, war der 27 jährige, beliebte Polizeireporter und aufstrebende Schriftsteller Georges Simenon.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in Wahrheit waren seit ihrem Zusammentreffen gerade einmal fünf Minuten vergangen, straffte sich Simenon und drehte sich zum rechts von ihm stehenden Inspektor um, der völlig regungslos und mit ausdrucksloser Miene auf das sanft und braun dahinfließende Wasser der Seine starrte.

„Das ich das noch erleben darf. Das Sie und ich einträchtig nebeneinander auf der Pont Neuf stehen... Was ist mit Ihnen los, Massu? Werden Sie alt?“, lachte der Schriftseller laut.

„Erinnern Sie sich an den Fall Mestorino?“, antwortete Massu leise, ohne auf die Anspielung Simenons einzugehen.

„Sie meinen den gewaltsamen Tod von Gaston Truphème? Der junge Diamantenhändler, den man vor ein paar Jahren tot im Wald von Armainvilliers gefunden hat?“

„Ja, den meine ich.“, sagte Massu, ohne seinen Blick von der gekräuselten Wasseroberfläche zu lösen.

„Und?“, fragte Simenon gespielt gleichgültig und stieß eine dicke Rauchwolke aus.

„Charles Mestorino ist tot.”

Simenon zuckte mit den Schultern.

„Charles Mestorino ist also tot... Der Mörder von Gaston Truphème ist gerichtet. Besser spät als nie, Massu.“

„Vielleicht, Simenon... Charles Mestorino starb vor zwei Stunden im Gefängnis.“

„Da ihm seinerzeit vor Gericht die Todesstrafe erspart blieb, starb er wohl kaum am Galgen, oder irre ich mich?“

„Nein.“

„Das dachte ich mir. Ich nehme ebenfalls nicht an, dass er an den Folgen einer Auseinandersetzung unter den Strafgefangenen gestorben ist?“

„Nein, er ist an einem Mückenstich gestorben, Simenon.“

„Kaum zu glauben, Massu! Und da soll noch einer behaupten, dass man aus einer Mücke keinen Elefanten machen soll.“

„Sie kleiner Scherzbold.“

„Sagen Sie, Massu, war der Fall Mestorino vor zwei Jahren nicht ihr erster großer Fall bei der mobilen Kriminalbrigade?“

„Ja.“

„Wissen Sie eigentlich, dass Sie mir zum Fall Mestorino bislang nichts Verwertbares erzählt haben?“

„Ich hatte meine Gründe dafür, Simenon.“, brummte der Inspektor.

„Ach kommen Sie, Massu! Ich bin Schriftsteller, auch wenn Sie das bisweilen nicht einsehen wollen.“, schimpfte Simenon.

„Das ist nicht das Problem, Simenon, obwohl ich Ihre Kriminalromane zugegebenermaßen für Schund halte. Es ist vielmehr... Nun, mein erster großer Fall verlief nicht ganz nach meinen Vorstellungen.“

„Schund?“, schnaubte Simenon. „Sie sollten sich Ihre Worte gut überlegen, Massu. Immerhin kommen Sie in meinen Schundromanen vor. Wenngleich ich den liebenswerten Jules Maigret ein wenig runder machen musste… und das nicht nur im körperlichen Sinne.“

„Pah.“, knurrte Massu.

„Und hören Sie um Himmels Willen mit der Tiefstapelei auf, Massu! Gut, es gab damals keine Verfolgungsjagden und keine Schießereien. Sie mussten sich noch nicht einmal mit einem betrunkenen Zuhälter prügeln, was Sie und Ihre Jungs vom Quai des Orfèvres sonst gerne machen.“

„Machen wir das?“

„Ja, aber das tut jetzt nichts zur Sache… Ihr erster Fall ist nämlich längst in die Annalen der Police Judiciaire eingegangen.“

„Ist er das?“

„Ja, sie haben das bislang längste Verhör der Pariser Polizei geführt. Ihr Rekord wurde bislang nicht gebrochen, Massu*.“

„Oh, wie schön. Dafür kann ich mir etwas kaufen, Simenon.“

„Und wo Sie bereits zu Lebzeiten eine Legende sind, wofür ein gewisser Charles Mestorino zuerst morden und dann an einem harmlosen Mückenstich sterben musste, könnten Sie mir endlich ein paar delikate Einzelheiten aus Ihrem ersten Fall schildern.“

„Ach, könnte ich das, Simenon?“

„Kommen Sie, Massu! Sie wollen es doch auch.“

„Nein, ich will das ganz und gar nicht, Simenon. Doch bevor Sie in Ihren Romanen noch mehr Unsinn über mich und meinen ersten Fall schreiben, erzähle ich Ihnen die Geschichte besser ausführlich aus meiner Sicht.“, gab Massu trocken zurück.

„Ich bin ganz Ohr, Massu.“

„Also, es war so...“

* Das Verhör dauerte 17 Stunden. Georges-Victor Massu hält den Rekord noch heute im Jahr 2014.

Kapitel 1

Mittwoch, 29. Februar 1928; 07:30 Uhr

Landstraße zwischen Gretz-Armainvilliers und Ozoir-la-Ferrière

Genauso wenig wie der 42 jährige Auslieferungsfahrer René Fauvel in der Lage war, aus feuchter Wellpappe einen rustikalen Eichenschrank zu zimmern, konnte er diesem eiskalten, stockdunklen und nebligen Wintertag etwas Angenehmes entlocken.

Seine Lunge füllte sich bei jedem Atemzug mit kleinen, messerscharfen Eiskristallen und er hatte das beklemmende Gefühl, an der undurchsichtigen Brühe zu ersticken.

Fauvel starrte mit weit aufgerissenen und brennenden Augen durch ein handtellergroßes Guckloch, dass er vor einer Viertelstunde in die zugefrorene Windschutzscheibe des alten Lieferwagens gekratzt hatte, angestrengt auf die vereiste Straße. Zwischen seinen Zähnen klemmte eine längst erloschene Pfeife.

Der rostige Lieferwagen schlingerte, wie von einer unsichtbaren Hand geführt, von links nach rechts. Fauvel hatte große Mühe, das altersschwache Vehikel mittig auf dem löchrigen Asphalt der schlüpfrigen Landstraße zwischen Gretz-Armainvilliers und Ozoir-la-Ferrière zu halten.

Glücklicherweise kam ihm bei seiner lebensgefährlichen Fahrweise niemand entgegen. Das graue und eisig glitzernde Asphaltband und die grasbewachsenen Gräben am Straßenrand lagen an diesem frühen Mittwochmorgen völlig verlassen da.

„Verdammter Mist! Was für ein gebrauchter Tag!“ fluchte Fauvel leise, damit seine Mitfahrer, der 32 jährige Lucien Bernard, der 28 jährige Georges Coquillon und das Nesthäkchen der Truppe, der 25 jährige André Trémouilles nichts von seinem Wutausbruch hörten. „Und der Alte drückt mir ausgerechnet heute auch noch die drei Pflaumen aufs Auge… Scheiße!“

Fauvel grunzte aufgebracht und kurbelte das Seitenfenster herunter, um in hohem Bogen aus dem Wagen zu spucken. Das Vehikel kam bei dieser sportlichen Einlage erneut ins Schlingern.

Er fing den Lieferwagen ab und konzentrierte sich ab sofort voll und ganz auf die Straße. Dennoch, oder gerade weil er sich derart angestrengt konzentrierte, wurde er von Sekunde zu Sekunde müder. Immer wieder fielen ihm für den Bruchteil einer Sekunde die geröteten Augen zu.

Gerade als er von der großen Anspannung auf die Straße zu starren, einzunicken drohte, kam ihm in einer langgezogenen Rechtskurve ein großes Auto mit chromblitzendem Kühlergrill auf seiner Fahrspur entgegen.

Fauvel riss erschreckt den Mund auf. Die Pfeife entglitt seinen gelben Zähnen und landete irgendwo im Fußraum.

Er trat reflexartig heftig auf die Bremse und das Heck des Wagens brach mit Urgewalt nach links aus. Fauvel riss das Steuer herum und lenkte mit aller Kraft dagegen. Aus dem Laderaum hörte man ein dumpfes Poltern und wüste Beschimpfungen.

Fauvel hatte große Mühe, den Wagen zu bändigen und auf der Geraden wieder halbwegs auszurichten. Schließlich bekam er die gefährliche Situation in den Griff. Er atmete erleichtert auf und schlug gleichzeitig vor Wut mit der flachen Hand auf das Steuerrad.

„Was zum Teufel sollte denn das? Verdammte Sauerei!“, brüllte Fauvel aufgebracht

„Bist du irre, Mann? Verdammt!“, ertönte eine tiefe Stimme aus dem Laderaum.

„Schnauze, Trémouilles! Da war so ein Spinner auf meiner Fahrspur!“

„Pass‘ gefälligst auf, du Idiot. Ich bin frisch verheiratet.“, entgegnete Trémouilles keine Spur besänftigter.

„Du mich auch!“, schnaubte Fauvel und richtete seinen Blick aufmerksam in die Ferne. Wenige Sekunden später riss er erneut, diesmal aber mehr verwundert als erschreckt, die Augen auf. In etwa einem Kilometer vor dem Fahrzeug loderte am rechten Fahrbahnrand ein Feuerschein.

Fauvel trat erneut abrupt auf die Bremse. Der Wagen rutschte über den Asphalt und kam erst nach einhundert Metern zum Stillstand. Der Motor soff ab und aus dem Laderaum hörte er erneut wüste Beschimpfungen.

Diesmal reagierte er nicht auf die rüden Worte seiner Mitfahrer. Er saß wie versteinert hinter dem Steuer und rieb sich die, mittlerweile stark geröteten und tränenden, Augen. Schließlich kurbelte er das Seitenfenster herunter und steckte den Kopf hinaus. Es war niemand zu sehen. Es war absolut nichts zu hören.

„Seltsam… Es riecht ja gar nicht nach Rauch.“, murmelte er verwundert.

Fauvel entriegelte die Holzklappe hinter sich und schob sie zur Seite. Im gelblichen Schein des Feuers blickte er in die verwunderten und zugleich erbosten Gesichter seiner Mitfahrer, die inmitten der umgestürzten Ladung hockten.

„Was ist mit dir los, Fauvel? Du fährst wie ein Idiot! Willst du uns alle umbringen?“, brüllte Trémouilles sofort.

„Schnauze!“

„Von wegen, Schnauze! Ich gebe' dir gleich was auf die Schnauze! Warum hast du gebremst wie ein Irrer? Hast du ein Reh erlegt, oder was?“, zischte nun Coquillon an Trémouilles Stelle.

„Ich hab‘ nichts und niemanden überfahren! Der Wald brennt!“

Die drei Männer im Laderaum schauten sich erstaunt an. Bernard tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

„Spinnst du, Fauvel? Ein Waldbrand um diese Jahreszeit?“, fragte er frech grinsend.

Fauvel sagte nichts. Er zeigte wortlos nach vorne durch die Windschutzscheibe.

„Was ist das?“, flüsterte Coquillon erstaunt.

„Keine Ahnung... Steigt aus und schaut es euch an.“

Die drei Männer öffneten die Heckklappe und stiegen aus. Sie traten an der Fahrerseite neben den Wagen und blieben im Angesicht des hellen Feuerscheins wie angewurzelt stehen.

Fauvel blieb im Wagen. Er suchte seine Pfeife, fand sie unter dem Beifahrersitz und steckte sie sich in den Mund. Dann nahm er seine schweißnasse Mütze ab und rieb sich mit einem dreckigen Taschentuch die feuchte Stirn trocken.

„Glaubt ihr mir nun?“, hauchte er.

„Das ist wirklich seltsam…“, murmelte Trémouilles.

„Das sage ich doch! Was machen wir jetzt?“, fragte Fauvel in die Runde.

Bernard und Coquillon zuckten gleichzeitig mit den Schultern und schwiegen. Trémouilles kratzte sich nachdenklich am Kinn.

„Ganz einfach!“, sagte er schließlich. „Wir machen, was du gesagt hast. Wir gehen hin und schauen uns die Sache an. Da hat vermutlich jemand alte Gartenabfälle angezündet.“

„Um diese Uhrzeit, Trémouilles? Und vor allem bei diesem beschissenen Wetter… und noch dazu mitten im Wald in einem Straßengraben?“

Trémouilles verdrehte genervt die Augen.

„Ja, was weiß denn ich, Fauvel? Bin ich Jesus, wächst mir Gras aus der Tasche? Wir sind hier auf dem Land und nicht in Paris. Hier ist alles anders… Lasst uns endlich nachsehen gehen!“

Fauvel hob resigniert die Schultern.

„Ich würde ja viel lieber schnell von hier verschwinden, aber wenn du meinst.“, sagte er schüchtern.

Fauvel stieg langsam aus. Als er endlich auf der Straße stand, setzten sich die vier Männer sofort in Bewegung. Sie gingen vorsichtig auf das lodernde Feuer zu. Die Männer blieben zwei Meter vor dem Straßengraben stehen.

Das Feuer war im Grunde nicht mehr als ein etwas größeres Lagerfeuer. Die Flammen schlugen etwa drei Meter in die Höhe. Zwischen den brennenden Holzscheiten lag etwas, das wie ein verbogener Baumstamm aussah.

Trémouilles löste sich aus der Gruppe. Er trat ein paar Schritte näher heran und prallte entsetzt zurück.

Im Feuer lag ein menschlicher Körper! Der Leichnam starrte Trèmouilles aus einem grässlich verzerrten Gesicht an.

„Oh, mein Gott!“, rief er und hielt sich erschreckt die Hand vor den Mund, bevor er sich angeekelt abwendete.

Fauvel und die beiden anderen Männer traten daraufhin ebenfalls näher an den Straßengraben heran. Als auch sie den brennenden Körper sahen, machten sie auf dem Absatz kehrt und rannten in Richtung Lieferwagen davon.

Sie ließen den entsetzten Trémouilles allein am brennenden Straßengraben stehen.

„Halt! Bleibt sofort stehen! Wo wollt ihr hin, verdammt noch mal?“, brüllte er den Männern wütend hinterher.

Fauvel blieb als Einziger stehen und drehte sich um.

„Weg von hier! Die Bullen aus Paris holen!“, schnaufte er.

„Das hat Zeit, Fauvel! Hol' zuerst einen Eimer aus dem Wagen. Wir müssen schnell löschen, was noch zu löschen ist. Andernfalls gibt es hier in ein paar Minuten nichts mehr, was die Flics aus Paris untersuchen können.“

Kapitel 2

Zwei Tage zuvor…

Montag, 27. Februar 1928; 19:00 Uhr

Quai des Orfèvres Nummer 36; Île de la Cité

Die gertenschlanke und gut gekleidete 62 jährige Madame Van Severen löste sich vom Anblick des düsteren Polizeigebäudes und dem hell erleuchteten und geöffneten Fenster im 2. Stockwerk, aus dem bis eben ein Pfeife rauchender Mann zu ihr heruntergeschaut hatte.

Sie überquerte zügig die Straße und betrat selbstbewusst die Boîte – die Box –, wie der Palais de Justice auf der altehrwürdigen Île de la Cité im 1. Arrondissement von den Eingeweihten genannt wurde.

Madame Van Severen sah sich im Eingangsbereich des Polizeipräsidiums kurz um. Sie erblickte die spärlich erleuchtete Pförtnerloge, ließ sie jedoch links liegen und setzte ihren Weg durch das düstere Gebäude unbeirrt fort.

Der 74 jährige Concierge Ludovic Baptiste hörte die Schritte der Frau auf dem ausgetretenen Steinboden. Er blickte kurz von seinem Abendessen auf und eilte sofort aus seiner Loge. Er kam jedoch zu spät. Der diensteifrige Concierge sah gerade noch, wie die elegante Dame auf der breiten Treppe des Treppenhauses nach oben verschwand.

Madame Van Severen stieg die ausgetretenen Stufen bis in die dritte Etage hinauf, in dem die Büroräume der Crim, der mobilen Kriminalbrigade, untergebracht waren. Der alte Ludovic folgte ihr, so schnell es seine müden Beine zuließen.

Madame Van Severen erreichte das dritte Stockwerk. Sie zögerte kurz und bog dann nach links ab. Sie ging forschen Schrittes den breiten und ausgestorbenen Flur entlang. Nach wenigen Metern gelangte sie zu einem verschlossenen Büro, das die Nummer 315 trug.

Sie blieb stehen, straffte sich und betrat, ohne vorher angeklopft zu haben, das verqualmte Büro des 55 jährigen Kommissars Marcel Guillaume, dem Leiter der mobilen Kriminalbrigade.

*

Inspektor Massu stand im Büro seines Chefs am offenen Fenster und starrte fröstelnd auf den Quai des Orfèvres und die träge dahinfließende Seine. Beide Männer rauchten; Kommissar Guillaume eine seiner übel riechenden Zigaretten und Massu seine Pfeife.

„Woran denken Sie, Massu?“, fragte Guillaume interessiert.

„Das man aus feuchter Wellpappe beim besten Willen keinen rustikalen Eichenschrank zimmern kann, Chef.“, sagte Massu.

„Wie bitte, Massu? Wo nehmen Sie immer Ihre Sprüche her?“

„Von den Auslieferungsfahren in den Hallen, Chef… Ich will damit sagen, dass man einem eiskalten und nebligen Winterabend nichts Angenehmes entlocken kann.“

„Das ist im Winter nun einmal so, Massu… Was sehen Sie sich da draußen eigentlich die ganze Zeit an?“

„Ich sehe von hier aus die Bouquinisten am Quai des Grands Augustins recht gut. Die Verkäufer schließen gerade ihre Stände, Chef.“

„Wollten Sie nicht auch mal Bouquinist werden, Massu?“

„Das ist richtig. Ich war aber von Jugend an zu anfällig für Erkältungen und außerdem werden Standgenehmigungen seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitervererbt. In meiner Familie gibt es keinen einzigen Bouquinisten.“

„Also gaben Sie gottlob diese Idee auf und wurden Polizist am Quai des Orfèvres.“

„Ja, so in etwa… Immerhin bin ich ein begeisterter Leser. Aufgrund meiner vielen langweiligen Fahrten mit der Métro bin ich ein gern gesehener Kunde bei den Bouquinisten geworden.“

„Schön für Sie, Massu… Eigentlich möchte ich Ihre Meinung zu einem interessanten Fall hören. Ich möchte wissen, was Sie darüber denken.“

Massu antwortete nicht. Er drehte sich wieder um und schaute erneut aus dem Fenster.

„Dort unten steht eine elegant gekleidete Dame.“

„Elegante Damen gibt es viele in Paris, Massu.“

„Ja, aber diese Dame schaut seit fünf Minuten zu mir hoch.“

„Das kommt bei Ihnen und eleganten Damen scheinbar selten vor, oder?“

„Wie meinen Sie das, Chef?“

„Egal, Massu, wenn die Dame was von uns will, wird sie sich beim Concierge melden. Jetzt schließen Sie endlich das vermaledeite Fenster! Mir wird kalt und außerdem lassen Sie den ganzen kostbaren Rauch aus dem Zimmer, ohne den ich nicht nachdenken kann.“

Massu schloss die beiden Fensterflügel und setzte sich in einen der Besuchersessel.

„Wie Sie wünschen, Chef... Was wollten Sie von mir hören?“

„Schön, dass Sie mir endlich zuhören... Können Sie sich vorstellen, dass es vor wenigen Stunden jemand fertig gebracht hat, das Gefängnis von Melun auszurauben?“

„Wie bitte?“, fragte Massu. „Ich habe mich wohl verhört, oder?“

„Nein, Massu. Der oder die Unbekannten haben drei Riegel eines Fensters entfernt und sind dann mit Hilfe einer Leiter in ein Büro des Gefängnisses eingestiegen. Die Kerle haben sich aus einem Tresor die gesamten Löhne des Wachpersonals gegriffen.“

„Wieviel?“

„Insgesamt 120.000 Francs. Aber immerhin ist die Leiter wieder da. Man hat das Ding in der Seine gefunden. Von den Räubern und dem Geld fehlt dagegen jede Spur.“

„Wenn Sie mich fragen, Chef, sollten wir die Kerle unter den ehemaligen Gefangenen suchen. Nur ein Ehemaliger kennt die Gegebenheiten vor Ort.“

„Daran habe ich auch gedacht. Allerdings könnte es auch ein Wärter gewesen sein, der...“

Just in diesem Augenblick flog die Bürotür auf und Kommissar Guillaume kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden.

Im Raum stand Madame Van Severen, die elegante Dame von der Straße, die noch vor wenigen Augenblicken von der Straße aus zu Massu hinauf geschaut hatte. Hinter Madame Van Severen stand keuchend der alte Ludovic mit gerötetem Gesicht.

*

Massu fuhr erschrocken in seinem Sessel herum. Kommissar Guillaume blieb dagegen ruhig sitzen.

„Es gibt Orte auf der Welt, die die meisten unangemeldeten und verrücktesten Besuche erhalten, Massu.“, presste er zwischen seinen nikotingelben Zähnen hindurch. „Dabei handelt es sich um die Redaktionen der Zeitungen und um die Büros der Polizei.“

Massu nickte verhalten und der Kommissar drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. Er erhob sich langsam von seinem Platz.

Ludovic drängelte sich an Madame Van Severen vorbei und verbeugte sich steif vor Guillaume.

„Verzeihung, Herr Kommissar. Ich konnte die Dame nicht nach ihrem Wunsch fragen.“

„Schon gut, Ludovic.“, sagte Guillaume sanft. „Das geht schon in Ordnung. Sie können uns alleine lassen.“

Ludovic verbeugte sich erneut, drehte sich um und schlurfte missmutig davon. Der Kommissar gab Massu ein kurzes, aber unmissverständliches Zeichen, den Raum ebenfalls zu verlassen.

Massu nickte seinem Chef und Madame Van Severen kurz zu und verließ auf der Stelle Guillaumes Büro. Er ging in sein Büro und ließ die Verbindungstür zwischen den beiden Räumen einen Spalt breit offen, um alles hören zu können.

„Ein überraschender Besuch. Setzen Sie sich bitte. Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Madame Van Severen?“, fragte Guillaume galant.

„Mein Makler Gaston Truphème ist seit heute Mittag verschwunden, Herr Kommissar. Ich möchte, dass Sie nach ihm suchen.“, antwortete die zierliche Madame Van Severen mit ungewöhnlich tiefer und rauchiger Stimme ohne Umschweife.

„Wie alt ist Monsieur Truphème?“

„Er ist 35 Jahre alt. Warum fragen Sie, Herr Kommissar?“, fragte die Dame gereizt.

„Mit Verlaub, Madame, aber für die Suche nach Vermissten, noch dazu in diesem Alter, ist die mobile Kriminalbrigade nicht zuständig. Wir bearbeiten in erster Linie...“

„Es ist mir neu, dass die Kriminalpolizei keine Kriminalfälle mehr bearbeitet, Herr Kommissar.“, fiel Madame Van Severen dem Kommissar ins Wort.

„Missverstehen Sie mich bitte nicht, Madame Van Severen. Die Spezialbrigade, und ganz besonders unsere Abteilung, die mobile Kriminalbrigade, bearbeiten sehr wohl Kriminalfälle. Jedoch...“

„Wo ist das Problem, Herr Kommissar?“, unterbrach Madame van Severen den Kommissar erneut.

„Nun, Madame, bei der mobilen Kriminalbrigade liegt das Augenmerk eher auf der Aufklärung schwerer Verbrechen. Dazu zählen wir beispielsweise Entführungen, aber nicht die Suche nach vermissten Personen. Inspektor Massu wird sich Ihrem Anliegen natürlich sehr gerne…“

„Werter Herr Kommissar, genau aus diesem Grund bin ich bei Ihnen. Ich möchte Ihnen ein schweres Verbrechen melden.“

„Wieso? Wurde ihr Mitarbeiter etwa entführt?“, fragte Guillaume erstaunt.

„Mein Mitarbeiter wurde nicht entführt. Er ist auch nicht einfach nur verschwunden, Herr Kommissar. Gaston Truphème wurde brutal ermordet!“

Massu setzte sich bei diesen Worten in seinem Stuhl aufrecht hin. Guillaume räusperte sich nebenan vernehmlich.

„Ihr Makler wurde ermordet? Haben Sie Monsieur Truphème tot aufgefunden, Madame?

„Nein!“, sagte Madame Van Severen schroff. „Er wurde bislang nicht tot aufgefunden, Herr Kommissar! Und genau das ist das Problem! Wenn es nämlich so wäre, müsste ich meine kostbare Zeit nicht am Quai des Orfèvres verbringen und Sie höflich ersuchen, nach ihm zu fahnden.

Dann wären Sie und Ihre Männer längst damit beschäftigt, den Tatort zu untersuchen und den Grund für sein plötzliches und brutales Ableben zu ermitteln.“

„Mit Verlaub, Madame. Es gibt keine Leiche?“

„Nein, bislang nicht, aber…“

Diesmal war es am Kommissar, den Redefluss seiner Besucherin zu unterbrechen.

„Woher wollen Sie ohne Leiche wissen, dass Monsieur Truphème ermordet wurde, Madame Van Severen? Woher wollen Sie überdies wissen, dass er sogar brutal ermordet wurde?“, fragte Guillaume leicht gereizt.

„Nun, jeder Mord ist brutal, oder etwa nicht?“

„Für gewöhnlich schon, Madame.“

„Nun denn, Herr Kommissar.“

„Seit wann vermissen Sie Monsieur Truphème genau?“

„Ich habe Gaston heute Morgen eine Menge wertvoller Steine anvertraut. Er besitzt mein vollstes Vertrauen, Herr Kommissar. Er sollte die Steine unter anderem dem Juwelier Charles Mestorino aus der Rue Saint-Augustin vorstellen und gleichzeitig eine offene Rechnung mit ihm begleichen. Gaston ist heute Abend nicht wieder bei mir erschienen. Ich traue diesem Mestorino nicht über den Weg.“

„Hat Ihr Misstrauen einen besonderen Grund, Madame? Wenn ich mich recht entsinne, ist Monsieur Mestorino ein illustrer Zeitgenosse.“

„Ja, Monsieur Mestorinos Gesicht findet man nahezu täglich in jedem Pariser Schmierblatt. Doch wenn Sie es genau wissen wollen, Herr Kommissar... Sein Aussehen ist tadellos, doch Monsieur Mestorinos Zahlungsmoral lässt dagegen sehr zu wünschen übrig. Ich traue dem Mann alles zu.“

„Auch einen Mord, Madame? Wegen der Schulden?“

„Auch einen Mord, Herr Kommissar! Wegen der Schulden!“

„Wir haben aber noch keinen Mord, Madame. Das ist eine schwere Anschuldigung, die Sie gegen Monsieur Mestorino vorbringen. Das kann Folgen für Sie haben, wenn wir dem nachgehen.“

„Das ist mir vollkommen gleichgültig, Herr Kommissar. Mein Ruf in der Stadt ist auch nicht von schlechten Eltern. Ich bleibe dabei. Diesem Mestorino ist alles zuzutrauen!“

„Gut… Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass Gaston Truphème ermordet wurde? Könnte er nicht doch vielmehr einen schlimmen Vertrauensbruch begangen haben?“

„Das ist völlig ausgeschlossen!“, rief Madame Van Severen aufgebracht.

„Aber Madame, ich bitte Sie. So etwas ist bei wertvollen Dingen wie Diamanten durchaus vorstellbar.“

„Sie kennen Gaston nicht. Ich verbürge ich mich für seine Loyalität und seine ehrliche Art.“

„Ja, sicher.“, brummte Guillaume genervt.