Der Haß - Heinrich Mann - E-Book

Der Haß E-Book

Heinrich Mann

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Beschreibung

Laut dem Germanisten Joost Hermand eines der wichtigsten antifaschistischen Werke. Nachdem Mann 1933 mit 62 Jahren erst aus der Berliner Akademie der Künste ausgestoßen und danach als einer der ersten ins Exil gezwungen wurde, entstand diese Essay-Sammlung. Mit seiner, wie es im Untertitel heißt, Darstellung der "Deutschen Zeitgeschichte", steuerte Mann eines der wichtigsten antifaschistischen Werke bereits zu Beginn des Nazi-Faschismus in Deutschland bei. In den Titeln "Der große Mann", "Göring zittert und schwitzt" und "Der Haß" rechnet der Schriftsteller mit wichtigen Nazi-Persönlichkeiten ab. Der Essay-Band handelt von dem Hass der Nazis auf Vernunft, Humanität und Aufklärung, auf alles Intellektuelle.-

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Heinrich Mann

Der Haß

 

Saga

Der Haß

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1933, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726885729

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

Deutsche Zeitgeschichte Vor der Katastrophe. Das Bekenntnis zum Übernationalen

I. Ablauf eines Zeitalters

Racine fühlte, lebte und schrieb in völliger Einigkeit mit dem Reich Ludwigs des Vierzehnten, seinen Handlungen, seinen geistigen Grundlagen. Er hing von der Gunst des Königs ab, aber empfangen wurde sie mit dem besten Gewissen, und erst nachdem sie ihn verlassen hatte, verlor er auch sich selbst. An dieser Zerreißung der inneren Übereinstimmung, mehr als an enttäuschtem Ehrgeiz, starb er.

Goethe sprach: »Wodurch ist Deutschland groß, als durch eine bewundernswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reiches gleichmäßig durchdrungen hat? Sind es aber nicht die einzelnen Fürstensitze, von denen sie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger sind?« Er war für die Eigenstaatlichkeit der sechsunddreißig Länder. Bestehende Machtverhältnisse empfand er nicht im Gegensatz zur eigenen Aufgabe. Seine schöpferische Kraft kannte Antriebe jeder Art, aber der geringste unter ihnen war der Widerspruch gegen die herrschende Welt; oder er ließ doch den Widerspruch so wenig wie möglich einwirken auf sein Genie. Natürlich war er nicht restlos Klassiker wie Racine.

Der klassische Friede zwischen der Wirklichkeit und dem Gedanken war immer schwerer zu schließen. Das Reich jedenfalls, das 1871 anfing, hat ihn nie erlebt, keinen Augenblick, weder als es Kaiserreich noch als es Republik war. Hauptsächlich darum verfiel es dann auch endlich der Diktatur. Die Diktatur ist der gegebene Zustand für gesellschaftliche Gebilde, in denen Gedanke und Wirklichkeit einander überhaupt nicht mehr kennen. Es ist nachgerade so weit gekommen, daß es nur ein Entweder-Oder gibt. Wem gehört die Zukunft, wer wird sie gestalten eine Gewalt, die sich zum Schein auf abgelebte Ideen beruft, aber es genügt ihr, daß sie Gewalt ist? Oder das bessere Wissen der Lebenden? Das Wissen war bisher noch entschlußlos. Die Gewalt fürchtet es und treibt sich selbst auf die Spitze. Das zwingt zuletzt das bessere Wissen, Ernst zu machen. Ein anderer Ablauf der Dinge wurde selten festgestellt.

Die Wirklichkeit des Reiches von 1871 hat nie anders ausgesehen, als die Vorbereitung auf den Krieg aussieht. Es war Rüstung, und nach der Niederlage war es der immer lautere Ruf nach Wiederaufrüstung. Es war die künstliche Erhaltung eines fortwährend lebensunfähigen Großgrundbesitzes. Es war die Verschwörung des Staates mit den Konzernen, mit der Klasse der Verdiener, die Abneigung des regierenden Personals, irgend etwas unmittelbar mit dem Volk zu tun zu haben, sein Widerwille, irgend jemand einzulassen in den geschlossenen Kreis der wirtschaftlichen und politischen Mitschuldigen – dies nach 1918 wie vorher. Keine geistige Kontrolle zugestehen über das öffentliche Geschäft, das in den Hauptsachen streng verschwiegen war, vorher wie nachher!

Der unveränderten Wirklichkeit gegenüber blieb auch der Gedanke im Grunde sich selbst gleich, 1890 wie 1930. Der Gedanke hat fortwährend bestanden auf der Sicherung – nicht der Grenzen und Herrschaftsgebiete, die ihm nur gleichgültig sein können, sondern des Lebens. Es sollte unter weniger Schmerzen gelebt werden, an der Idee der Gerechtigkeit sollte das Leben endlich gemessen werden, und die Masse der Menschen sollte nicht mit ihrem unwiederbringlichen Leben die Fehler und die Interessen ganz weniger bezahlen.

Das Jahr 1890 erstrebte die Lösung aller Fragen vom Sozialen her. Gegen 1930 wurde daran gearbeitet, auf internationalem Wege an ein vorläufiges Ziel zu kommen. Es ist niemals in greifbare Nähe gelangt, trotz einigen Hoffnungen, und heute scheint es ganz fern. Der Grund ist, daß die Kraft und die Ehrlichkeit des Denkens ihren tiefsten Stand erreicht und nächstens überschritten haben. Der Grund ist auch, daß die ehrlichen Bemühungen immer weniger gern gesehen werden und daß sie Gefahr bringen – weit größere als früher, je mehr die Wirklichkeit und ihre Mächte verkommen.

Denn es ist nicht so, daß der schlimmste Feind des Gedankens eine machtvolle Wirklichkeit wäre. Erbittert und unduldsam wird die Wirklichkeit vielmehr, wenn sie anfängt, Boden zu verlieren. Ein Reich, das gerade erst gesiegt hat, läßt in seiner Überfülle auch dem einsamen Denker einiges hingehen. Ein Reich dagegen, das sich vor dem Chaos in die Diktatur flüchtet – es erstreckt seine Säuberungsaktionen auf den Gedanken und gerade auf ihn.

Im Bismarckschen Reich gab es ein Sozialistengesetz, aber nicht einmal im entferntesten gab es den Begriff des Kulturbolschewismus. Von der Seite der Denkenden fühlte das Reich sich nicht bedroht. 1894 erschien das Werk Darwins in der billigen Ausgabe bei Reclam und begann das gesamte öffentliche Bewußtsein zu durchdringen. Auch in die Schulen fand sein Geist und galt nicht für unerlaubt. In zwei aufeinanderfolgenden Lehrstunden konnte die biblische Schöpfungsgeschichte gelesen und die natürliche Entwicklung der Arten vorgetragen werden; man ließ es darauf ankommen, welche Anschauung sich stärker erwies.

Die geistige Grundlage eines so kriegerischen Reiches durfte, genau genommen, einzig der Glaube an Autorität und Macht sein. Gott bürgt für die Herrschenden, Gott gibt ihnen Macht über euch, und auch das Leben habt ihr nur, damit sie darüber verfügen. Das wäre das Richtige gewesen. Dennoch versuchte Wilhelm der Zweite vergeblich, für seine Person die Doktrin ganz ernst zu nehmen; er wirkte verspätet. Die Geistesfreiheit war in das Reich mit übernommen worden vom Tag seiner Gründung an. Die Geistesfreiheit und die geistig unkontrollierte Macht, beide behaupteten ihren Platz im Reich. Man könnte sogar meinen, daß jede der beiden für die andere einstand.

Dies betrifft nicht die Denker und die Dichter, die wichtigsten haben das kriegerische Reich gerade auf seiner Höhe durchaus als fragwürdig betrachtet. Ihm angepaßt, freudig angepaßt, waren gleichwohl jene Politiker und Parteien, die ihr ganzes Recht doch nur aus dem Gedanken schöpften; die Demokratie nahm schon damals die Gewohnheit an, Erkenntnisse zurückzustellen um der unverzüglichen Vorteile willen. Der Streit der Sozialdemokratie mit der herrschenden Macht wurde dadurch beendet, daß sie ihre Sozialgesetzgebung bekam, und im Wege des Ausgleichs wurde sie eine nationalistische Militärpartei wie jede andere. Sie wurde es in ihrem Innern, bei äußerer Opposition. Sie gewöhnte sich, dem Nationalen heimlich den Vorrang zu geben, sogar vor jedem sozialen Anspruch. Ihren internationalen Kundgebungen präsidierten Unglaube und schlechtes Gewissen. Wäre es so nicht gewesen zur Zeit des Kaisers, dann wäre es auch nachher anders gekommen mit der Republik.

Übrig ist die Erinnerung, daß die neunziger Jahre eine gute Gelegenheit der reinen Geistigkeit waren. Man gab sich nicht die unehrenhafte Mühe, zu rechtfertigen, was geistig unhaltbar war. Man wußte, daß der Handelnde unsittlich war, und liebte die politisch Handelnden, die man vor Augen hatte, um so weniger. Man stand auf seiten der Leidenden, mit dem Verstand, mit dem Gefühl. Der Dichter, der damals aufstieg, Hauptmann, verdankte das Beste seiner Gabe mitzuleiden.

Um 1900 verringerte sich bei den Denkenden die menschliche Teilnahme. Man nennt sich dann gern unpolitisch. Was dafür eintrat, war Schönseligkeit – die nicht wertlos ist, sie hat auch große Werke ermöglicht, sie würde Kraft des Charakters nicht ausschließen. Gefährlich wurde eine Kombination, bestehend aus Ästhetizismus und der Bezweiflung der Vernunft. Die Vernunft hatte fast das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch zu groß dagestanden, noch länger wurde es einfach nicht ertragen. Die Gottlosigkeit des gebildeten Bürgers und der arbeitenden Masse war zu selbstverständlich geworden. Wenn die Naturwissenschaft schließlich fast den ganzen Raum der Religion mitsamt der Philosophie einnahm, schien ihre Stellung angemaßt. Der große Helmholtz war vorsichtig gewesen, er hatte jedesmal an den Beginn seiner Vorlesungen ein einschränkendes Wort gesetzt; es besagte: wenn die Natur überhaupt erkennbar sei –.

Das verhinderte nicht, daß die mittleren Intelligenzen sie als restlos verständlich voraussetzten, denn sie waren keine Philosophen mehr, wie noch Helmholtz. Viel eher hatten sie am Ausgang des Jahrhunderts für alle Metaphysik nur Mißachtung und Gelächter. Man muß das gesehen haben: vor dem Sieg Nietzsches stellte jeder mitlebende Philosoph den mittleren Intelligenzen einen veraltenden oder abseitigen Typ dar, und für Geschwätz wurde genommen, was später als Denken, dem naturwissenschaftlichen gleichberechtigt, wiederentdeckt werden mußte – so im Falle Wilhelm Diltheys. Auf diese Verarmung des Denkens erfolgte um 1900 der Gegenschlag; nur war leider nicht durchaus die Bereicherung des Denkens gemeint. Man bemühte sich, es überhaupt zu entwerten. Wozu sonst legte man alles Gewicht auf das Irrationale.

Wir haben nur unsere Vernunft, und selbst was wir von unseren unbewußten Abgründen ans Licht ziehen, wird erreichbar nur durch unsere Vernunft. Kunst vor allem gibt es nicht ohne vernünftiges Denken. Die Anschauung wird erst lebendig, wenn sie durchdacht ist. Gestaltung ist eine besonders sinnliche Form des Denkens – nicht als ob seine anderen Formen unsinnlich wären. Aber der Gegenschlag gegen den Intellektualismus bediente sich der Kunst auch nur als des auffallendsten, wenn auch falschen Beispiels für das Irrationale in allen großen Mächten des Lebens. Die Unterlegenheit der Vernunft wurde ebensowohl betont hinsichtlich der triebmäßigen, tiefen Bereiche, die Nation, Traum, Krieg, Liebe heißen sollten.

Die neue Wendung des Geistes von 1900 verdient Achtung, solange sie Forschung ist und der Erkenntnis neue Quellen öffnet. Sie hat keinen Anspruch auf Nachsicht, sobald sie dem Denken andere Mittel des geistigen Erlebens entgegenhält. Diese nennt man Gefühl oder Ahnung, es bleibt aber immer das Nichtdenken. Einen anderen Gegensatz als das Nichtdenken kennt das Denken nicht. Das ist auch vollkommen begriffen worden von der gesamten Mittelmäßigkeit. Denn was die Vornehmen erfinden, bekommt erst seinen schließlichen Sinn, wenn es bei den Kleinen anlangt. Die haben gewittert: jetzt geht es uns gut! Das Vernünftige muß redlich erarbeitet werden, aber das Irrationale hat jeder von selbst. Es hat immer die Neigung, sich auszubreiten und alle die so ungesicherten Bauten der Vernunft hinwegzuschwemmen. Die Wiedereinführung des Irrationalen war die gute Gelegenheit der menschlichen Schwäche, sich gehenzulassen, sich auszuverschenken an Instinkte, die nicht nachgeprüft werden, weil sie tief sind, und nicht nachgeprüft werden dürfen, weil ihre Tiefe sie heiligt.

Nur so hat die entscheidende Bewegung dieses halben Jahrhunderts, der Nationalismus, weiterlaufen können bis ins Äußerste und darüber hinaus. Der vierjährige Krieg schien wahrhaftig das letzte, was der Nationalismus leisten konnte; aber die Muskeln des Amokläufers haben seither nicht gelitten, und sein Schwung hat zugenommen. Er kann nicht früher zum Stillstand kommen als beim Abschluß des irrationalen Zeitalters. Denn das hat ihn zu seinen Taten erst reif gemacht; und es dauert, es dauert –!

Die geistige Haltung des öffentlichen Körpers verändert sich mit furchtbarer Langsamkeit. Wenn ihre Unerträglichkeit allseitig feststände, sie behielte noch lange ihr herkömmliches Recht. Ja, der öffentliche Körper macht von einer gewissen geistigen Haltung erst dann den abscheulichsten Gebrauch, wenn sie im Grunde vorbei ist. Das ist der heutige Fall des Irrationalismus. Man weiß, daß er vorbei ist, alle Tatsachen des Lebens sind gegen ihn. Man weiß, aber will nicht wissen. Der öffentliche Körper und seine barbarische Langsamkeit erdrücken das Bewußtsein der einzelnen.

Das neunzehnte Jahrhundert, eine große Zeit des Denkens, mußte absteigen und sich verflachen, bis jeder kleinste Monist persönlich die ewigen Rätsel überwunden hatte. Dann wurde endlich die Geisteshaltung des alten Jahrhunderts beendet, und Mißachtung traf mit der Vernünftelei auch gleich die Vernunft. Die seitdem heraufgekommene Unvernunft hat sich erhoben zu den großartigsten Katastrophen. Zuerst ein geistiger Umschwung, dann ein Ereignis! Das Irrationale – und erst nach seinem Durchbruch der Krieg. 1890 wäre er auf alle Fälle aufgehalten worden; wenn durch sonst nichts, dann durch den herrschenden Intellektualismus. 1914 hatte sich die Unvernunft hoch genug aufgeschwungen.

1932 ist der Irrationalismus seinerseits klein und niedrig geworden. Er hält noch immer die ganze Wirklichkeit besetzt, er wäre auch für die Wiederholung der Katastrophe; aber darin widersteht die Wirklichkeit ihm schon. Die Welt ist für den Krieg zu schwach geworden, obwohl ihre Unvernunft ihm gerade jetzt durchaus genügen würde. Statt dessen erhält sie sich in Unordnung, Elend und Haß, wie wir wissen. Wir fühlen auch, daß inmitten dieses Chaos das Zeitalter des Irrationalismus früher bis an sein Ende laufen wird, als wenn noch Krieg sein könnte. Der letzte Abschnitt jedes geistigen Zeitalters ist der lauteste. Man trumpft noch einmal auf, heimlich beschlichen von der Verzweiflung. Dann ruft 1932 irgend jemand in den Sender: Das intellektuelle Denken lehnen wir ab! Allerdings. »Wir« kämen sonst auch in Verlegenheit. Das »intellektuelle Denken« ist lange nicht geübt worden, und damit müssen andere anfangen.

Das Zeitalter des Irrationalen wird gegen 1940 ablaufen. Die Vernunft darf sich vorbereiten, wieder einzuziehen.

II. Unfall einer Republik

Die deutsche Republik von 1918 ist in die dichte Mitte eines irrationalen Zeitalters hineingestellt worden. Von Anfang an hatte sie es schwer, zu atmen und zu leben. Eine Aufgabe der höchsten Vernunft, aber eine Atmosphäre keuchender Leidenschaften, die vom Krieg nur ermüdet, nicht gesättigt sind: das war die Lage der entstehenden Republik und ist ihre Entschuldigung, wenn sie unterlegen ist. Niemand hat damals und später etwas anderes von ihr verlangt, als daß sie das zusammmengebrochene Kaiserreich ablöste und es mit ihren schwächeren Kräften ersetzte. Die bisherigen Feinde machten nur die Bedingung, daß sie ungefährlich sei. Die Deutschen waren schon zufrieden, wenn nur das Reich blieb.

Aber jede neue Republik erhält innere Berechtigung als Erscheinungsform eines durchaus neuen geistigen Zustandes. Es genügt nicht, daß sie neu ist für das einzelne Volk, das es gerade mit ihr versucht, und eine verspätete Nachahmung der »westlichen Demokratien« rechtfertigte keineswegs die deutsche Republik. Sie hatte den Inhalt ihrer Zeit aufzunehmen, ihn sogar vorwegzunehmen. Das Geringste wäre gewesen, wenn sie soziale Fortschritte verwirklichte. Ganze Parteien des Landes hatten Jahrzehnte damit verbracht, solche Fortschritte zu fordern und sie vorzubereiten. Als es soweit war, geschah freilich nichts – schlimmer als nichts. Der fideikommissarisch gebundene Großgrundbesitz, dieser Rest einer überlebten Wirtschaftsepoche, ist mit Hunderten von Millionen unterstützt worden von Regierungen der Republik, die Verrat begingen an ihrer Sendung.

Diese Republik erfüllte nicht einmal im Sozialen ihre selbstverständliche Pflicht, um so weniger handelte sie zeitgemäß im Internationalen – und doch war ihr als eigenste Sendung mitgegeben: Völkerversöhnung. Das überhaupt wichtigste, weil neueste Wort der Weimarer Verfassung beruft den Geist der Völkerversöhnung. Die deutsche Republik würde als erste daran gearbeitet haben, und ihre Tat wäre niemals wieder aus der Welt verschwunden. Sie hätte es den Menschen leichter gemacht, und obwohl in der Geschichte bis jetzt nur die verzeichnet werden, die es ihnen besonders schwer gemacht haben, war der Platz schon angewiesen, wo die Namen der Führer zum Frieden stehen sollten. Sie kommen in jedem Fall, ob früher oder später; und wären sie rechtzeitig aufgetreten, dann hätten sie der Welt, besonders diesem Weltteil, diesem Land, den größten Teil seines heutigen Leidens erspart. Die deutsche Republik hätte die Führer zum Frieden stellen sollen, und auf die Einigung Europas hinzuarbeiten, war ihr Anteil am Unvergänglichen. Dieser Begriff eines Staates von sich selbst wäre in der Gegenwart ihre Größe und wäre ihr geschichtlicher Ruhm geworden. Natürlich sind das Träume und vergebliche große Worte.

In der Wirklichkeit ist nur zu verwundern, wie die paar Buchstaben von der Völkerversöhnung in die Weimarer Verfassung überhaupt hineingekommen sind. Es muß die kurze Selbstbesinnung des Besiegten gewesen sein. Mancher ahnt nach einer der Katastrophen seines Lebens, daß er zu einer Wandlung berufen wäre; aber niemand erlaubt sie ihm, die anderen sehen ihn als das an, was er immer war, und auch er selbst glaubt nicht im Ernst an seinen neuen Menschen. So die Republik von Weimar. Ihre guten Vorsätze rührten aus unzusammenhängenden Antrieben, der Geist der Zeit verband sie untereinander nicht; sie blieben vereinzelt, unwirksam und wurden vergessen, kaum daß sie aufgeschrieben waren.

Übrigens war soeben der Friede von Versailles geschlossen worden, und dieser war notwendig ein Erzeugnis desselben Nationalismus, der vorher die Völker reif für den großen Krieg gemacht hatte. Wären die Staatsmänner von Versailles fähig gewesen, einen anderen als einen nationalistischen Frieden zu diktieren, dann wäre offenbar gar nicht erst Krieg gewesen. Die Deutschen ihrerseits vergaßen es den Gegnern nie, daß sie im Augenblick des Friedens noch dieselben Menschen des Krieges waren. Das erschütterte noch mehr ihren eigenen, schwachen Entschluß, es nicht mehr zu sein. Die Mehrheit der Deutschen hat es nicht zur Kenntnis genommen, wenn die anderen seither doch wohl einiges abließen von ihrem Nationalismus. Ihren eigenen trieben sie allmählich auf eine Höhe wie im Kriege und darüber noch hinaus; dies alles aber in einer Republik, deren Sinn sie nicht verstanden, obwohl sie ihn aufgeschrieben hatten: Völkerversöhnung.

Der nationalistische Auftrieb geschah nicht gegen die Republik, sondern mit ihr; das ist die Wahrheit, was auch immer sonst behauptet wird. Die Republik hat nur wenige Tage ihres Lebens anders gehandelt als das vorige, kriegerische Reich gehandelt haben würde nach einer unfreiwilligen Verkürzung seiner Machtmittel; und den Versuch, anders zu handeln, machte ein einzelner, Stresemann. Die endgültige Einigung mit Frankreich war in erreichbare Nähe geholt worden von diesem einzelnen Mann. Aber nichts folgte. Die Nation im ganzen stand nicht hinter ihm, die Parteien duldeten ihn nur gerade, und über das sofort Nutzbringende hinaus wurde sein Ziel nicht ernstlich zur Kenntnis genommen. Davon kam sogar seine eigene Aufrichtigkeit ins Schwanken. Als er gestorben war, an seiner Verlassenheit noch früher als an der Krankheit, wurde der Verständigung nie mehr entgegengeschritten, nur immer zurück. Kein Wort oder Gedanke der Verbundenheit für den guten Willen, der auf vertragliche Rechte verzichtet hatte; dafür die Erhebung neuer Ansprüche die alle mehr oder weniger zu erlangen wären, aber doch nur wieder vom guten Willen des anderen; und nicht an ihn hat man sich gewandt, sondern an die eigene, fortwährend höher gespannte, nationale Erregung – die schon Krieg ist, insofern ein Seelenzustand ihn ersetzt.

Der Krieg erhält sich in dem Denken heutiger Zivilisierter nicht als sichere Tatsache, der sie sich gewachsen fühlen. Er ist eine Zwangsvorstellung, und sie werden sie nur aus Ermüdung nicht los. Das Entsetzen würde sie in den Krieg treiben und nicht ihr Selbstvertrauen. Je weniger sie aber im Grunde von sich halten, um so heftiger ihr Haß auf einen anderen. Wir können nicht kämpfen, wir wollen wenigstens hassen! Wir können nicht einmal mehr unser Leben verdienen, außer wir versöhnen uns mit euch. Daher habt ihr alles verschuldet, und wir hassen euch! So sieht der Haß mancher Deutschen auf Frankreich aus, und von ihnen sind mehr in entfernten Teilen des Landes als nahe der Grenze. Der Nationalhaß darf seinem Gegenstand nicht in Person begegnen, es nähme ihm etwas von der Unwissenheit, die er braucht. Stände nicht das Gegenteil fest, der Nationalhaß sähe aus wie ein Überrest aus den Zeiten der langsamen Verkehrsmittel und unzulänglichen Informationen; – aber damals war er maßvoll, verglichen mit dem, der jetzt in den künstlich verdunkelten Köpfen festsitzt. Ein armes Einzelwesen aus der Menge haßt erstens den Konkurrenten von der Straßenecke und zweitens ein fremdes Volk, das heißt Millionen Menschen, ihre Vorgänger, ihr Erleben, Schaffen und Schicksal seit tausend Jahren. Ein wahrhaft angemessener Gegenstand für den Feind des Eckladens! Da hat er seinen zweiten Feind und kennt ihn zu seinem Glück noch etwas weniger als den Eckladen, aus dem er wenigstens Klatsch weiß. Nur so läßt sich ungestört hassen.

Aber der Nationalhaß, das leerste, unverstandenste, unerlebteste aller Gefühle, macht manchmal Geschichte und für täglich immerhin das Wetter. Die Regierenden haben es ihm, auch in der Republik, nicht nur erlaubt; sie haben den Nationalhaß benutzt und noch angetrieben, sobald Gründe der inneren Machtverteilung dafür sprachen. Den nationalsten von ihnen kam es bei allem auf die Macht im Innern an – mehr jedenfalls als den Republikanern. Die waren als Inhaber des Staates nur schwach überzeugt von sich selbst, waren ohne republikanische Ideologie, und daher fürchteten sie die der anderen, den Nationalismus. Nur darin nicht zurückbleiben! Infolge ihrer angstvollen Hochachtung vor dem Nationalismus regierten die Republikaner fast immer zusammen mit Reaktionären oder abwechselnd mit ihnen und voll Rücksicht auf sie. Gerade deshalb haben die Reaktionäre sich endlich alle Macht genommen und dulden im Staat nur noch die Ihren, das ändert nichts. Alle republikanischen Reden haben aufgehört, das ist der bemerkenswerteste Unterschied. An der Spitze der Verwaltung sind keine Minister mehr angebracht, um von Zeit zu Zeit das Wort Republik auszusprechen, ohne daß sie von seinem Sinn jemals durchdrungen gewesen wären. Das ändert nichts, da unterhalb der Minister niemals, keinen Tag lang, eine gründlich republikanische Verwaltung bestanden hat. Man muß einen hohen Beamten, der Republikaner war, erzählen gehört haben von seiner Kampfstellung die ganze Zeit, wie vereinzelt, unterwühlt, immer im tapferen Gegensatz zu den feindlichen Ränken der eigenen Untergebenen er gelebt hat; – und zur gleichen Stunde war im Lande ein Wort in Übung gekommen, das die Republik geehrt hätte, wenn es wahr gewesen wäre: System. Es gab kein System!

Schlimmer, das herrschende System war das gebrauchte, abgenutzte, das die Republik vorgefunden hatte, dieselbe Vorbereitung auf immer denselben Krieg, die unveränderte Ungerechtigkeit zugunsten von Erwerbsständen, die nichts nachließen, und von Klasseninteressen mit unversöhnlichen Ansprüchen. Die Justiz war nie republikanisch, das sah jeder; die Reichswehr war es nicht, die Universitäten. Kein Teil der Verwaltung wurde republikanisch durchdrungen, am wenigsten das Auswärtige Amt. Offene Gegenrevolutionäre von 1919 sind darin sitzen geblieben, und unbeanstandet hat dies Amt gegen die Republik weitergearbeitet. Anscheinend wurde nur niemals der einfache Schluß gezogen, daß Regierungen, die es damit gut sein ließen, selbst nicht tief überzeugt gewesen sein können, weder von der Republik noch von ihrem eigenen Recht. Die Regierungen der Republik haben sich allenfalls benommen wie Schauspieler auf einer Probe, aber nicht, als ob es Abend und ernst wäre. Sie markierten nur, wie man einen Staat verteidigt und behauptet. Bis zur entscheidenden Aufführung des Stückes sind sie dann auch gar nicht erst gekommen.

Unernst und unüberzeugt, wie sie waren, mußten sie vertuschen. Vor Enthüllungen über Staatsfeinde im Staat stellte sich jeder Minister. Jedes republikanische Ministerium trat zurück, wenn es sich offen republikanisch zu entscheiden gehabt hätte. Es machte den erklärten Feinden der Republik bereitwillig Platz, sogar, wenn jene keine Mehrheit hatten. Mögen die nur zeigen, was sie können! Sollten sie wirklich fertig werden mit der Republik, dann sind nicht wir Minister und wir Parteien verantwortlich: die Demokratie ist es. Da haben wir das rettende Wort! Die Demokratie verleiht jedem gleiche Rechte, auch denen, die sie beseitigen wollen! Müssen wir durchaus ein republikanisches Gesetz erlassen, dann nehmen wir in die Regierung um so eher Reaktionäre auf, damit wir gedeckt sind. Her mit unseren lieben Reaktionären! Sie müssen so oft als möglich dabei sein, wenn gerade nicht im Kabinett, dann im Salon, auf unseren Festen! Kein offizielles Essen, bei dem sich nicht alle wieder zusammenfanden. Der Reichskanzler, der sich parteilos genannt hatte, weil er nicht nur gegen das Wesen, sondern sogar gegen die Form des Staates gewesen war, saß neben seinen republikanischen Kollegen. Der Reichskanzler der Inflation, der Reichskanzler, der die 700 Millionen der ersten amerikanischen Anleihe sofort an die Schwerindustrie weitergegeben hatte: alle in hohen Stellungen, alle dabei. Immer dieselbe Gesellschaft, ausgeschlossen blieb, wer nicht regiert hatte in der Republik, sondern für sie nur dachte und kämpfte. Der Schriftsteller, der einiges dafür tat, die Republik mit ihrem eigenen Sinn zu erfüllen, genoß nicht einmal den Vorteil des Republikschutzgesetzes; er war nicht die öffentliche Person, wie der kleinste Landesminister. Kein System, aber ein Klüngel!

Niemals haben die Republikaner sich sicher gefühlt in ihrem eigenen Staat. Das regierende Personal aber stellte sich unentwegt, als brauchte es nur zu verwalten, nicht zu sichern, nicht zu führen. Das Höchste war, den Ruf zu haben als guter Verwalter – der Gewerkschaften oder der Schutzpolizei. Als aber beide die Republik hätten retten sollen, wurden sie gar nicht beansprucht. Dieser ganz unerprobte Staat hat Erscheinungen gezeitigt, wie eine sehr alte Demokratie, die leichtfertig wird, als ob ihr überhaupt nichts geschehen könnte, weil die letzte Entscheidung der Wahlzettel bleibt. Über diese ist auf andere Art entschieden worden, wie man weiß.

Wo alle dieselbe Denkart haben, wird auf die Dauer das Geschrei siegen. Die Minister der Linken waren wahrhaftig Nationalisten, sie ahnten gar nicht, daß man etwas anderes sein könne. Sie versäumten aber, mit ihrem abgenutzten Bestand noch groß aufzutrumpfen, und nur so kann er gerettet werden über seine Zeit hinaus. Die Rechtsregierungen waren, wie gewöhnlich, die unbedenklicheren; sie lenkten alle Aufmerksamkeit auf das Nationale, damit sie in seinem Schutz die soziale Reaktion durchbrächten. Als Reaktion und Nation in den Köpfen zur Einheit geworden waren, konnte endlich der Nationalsozialismus ausbrechen, die große neue Bewegung, die Bewegung des Stillstandes, die Neuheit einer Alterserscheinung, der Anspruch der Krüppel und der Leeren auf großen Um- und Auftrieb.