Der Hausmann - Wlada Kolosowa - E-Book

Der Hausmann E-Book

Wlada Kolosowa

4,0

Beschreibung

»Plötzlich Randlage.« Bei Tim und Thea verdient sie das Geld, er macht den Haushalt. Kein Problem eigentlich, bis ihr günstiger Mietvertrag gekündigt wird und sie an den Stadtrand ziehen müssen. Das neue Haus ist voller Kippenstummel und prekärer Existenzen. Zuerst läuft es ganz gut. Tim kehrt das Treppenhaus, freundet sich mit Maxim, dem jungen Mann aus der Ostukraine an, und richtet der 80-jährigen Frau Birkenberg das Internet ein. Doch dann klingelt es an der Tür. Als Tim öffnet, schlägt ein fremder Mann ihm unvermittelt ins Gesicht. Was, zur Hölle, ist da schiefgelaufen? »Der Hausmann« ist ein unkonventioneller Roman. Er kombiniert traditionelle und außergewöhnliche Erzählweisen und zeichnet so eine Geschichte über Gentrifizierung und Liebe, über Armut und schiefe Bahnen, exzessive Start-up- Kultur, Klimaerwärmung, veganes Hundefutter, Doktorwurst und Darknet. Es ist das Portrait eines Hauses, einer Stadt, einer Gesellschaft – einer Zeit, die sich noch wie das Jetzt anfühlt, aber schon bald verschwunden sein könnte. Das ist virtuose, lustvolle Gegenwartsliteratur.

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leykam:seit 1585

Wlada Kolosowa

DER HAUSMANN

Roman

Mit Illustrationen von Raúl Soria

Inhalt

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Danksagung

Der Autor

Kapitel 01

Tim

DAS TIER

In der ersten Nacht starb draußen ein Tier. Seine Schreie waren schrill und leidgeplagt. Manchmal gab es fünf Minuten keinen Laut von sich, und das war fast noch schlimmer als sein Kreischen: Ich hoffte jedes Mal, es sei nun ein für alle Mal Ruhe, aber dann ging es wieder los. Eeeee. Meooo-Weeeee. Es war wie mit Mücken: Das Warten auf das Surren ist schlimmer als das Geräusch an sich.

Ich kletterte aus dem Schlafzimmerfenster auf die Feuertreppe, weil ich hoffte, von dort aus besser sehen zu können, was unten im Hof los war. Vielleicht war es ein verletzter Vogel oder eine Katze, die nicht mehr vom Baum herunterkam. Doch es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Die einzige Laterne im Innenhof war eingeschlagen. Die Luft roch süßlich nach Lindenblüten und gärendem Müll.

In der Ferne lärmten Kinder in einer mir unbekannten Sprache, obwohl es weit nach Mitternacht war. Ich hatte mir Berlin außerhalb des S-Bahn-Rings immer still vorgestellt, aber die Wolffstraße war genauso laut wie das Maybachufer, wo wir vorher gewohnt hatten. Es war nur ein anderer Lärm: nicht das Rattern von Rollkoffern auf Pflastersteinen, nicht das deutsch-englisch-spanische Geplapper vor Bars und Spätis. Hier dröhnte Chartmusik oder Deutschrap aus offenen Autofenstern wie aus riesigen Jukeboxen. Ein paar Stockwerke unter mir weinte ein Baby – ein verzweifeltes, einsames Wimmern, das sich wie ein Feinbohrer in mein Gehirn grub. Insekten kreisten um die nackte Glühbirne auf der Feuertreppe und verglühten mit einem Sirren. Die Treppe und das Fensterbrett waren übersät mit ihren angesengten, knusprigen Leichen. Ich machte mir eine mentale Notiz, morgen hier zu fegen, und vermisste unsere alte Wohnung auf einmal mit einer Intensität, mit der ich bisher nur Exfreundinnen vermisst hatte.

Der alte Vermieter hatte unserer abgeschabten Bude eine Fußbodenheizung und eine Regenwalddusche verpasst und dann die Miete gleich verdoppelt. Diese Zweizimmerwohnung, vier Haltestellen hinter dem S-Bahn-Ring, war das Beste, was wir innerhalb der Kündigungsfrist finden konnten. Freier Illustrator und NGO-Mitarbeiterin in Teilzeit – wir waren nicht gerade Traumkandidaten auf dem Wohnungsmarkt.

Ich leuchtete mit der Handytaschenlampe in die Baumkrone hinein, dann runter in den Innenhof, entdeckte jedoch kein Tier, sondern nur eine ältere Dame. Sie beobachtete mich aus dem offenen Fenster ein Stockwerk tiefer, die Ellbogen auf einem gefalteten Handtuch. Ich grüßte zu ihr runter, aber sie huschte schnell wieder ins Innere ihrer Wohnung.

Die Hausbewohner hatten, weil es keine Balkone gab, ihre Kinderfahrräder und Kugelgrills auf der spiralförmigen Feuertreppe abgestellt, ich musste beim Hinuntersteigen höllisch aufpassen. Manche Fenster waren mit Handtüchern statt Gardinen verhangen.

Auf der ersten Stufe saß ein Kerl mit kurzgeschorenem, rundem Kopf und einem derart breiten Kreuz, dass sein Umriss fast aussah wie ein Piktogramm für Männertoiletten. Er streichelte eine Katze, die auf seinem Schoß laut schnurrend eine Pommes fraß. Ich sah mit Bewunderung dabei zu, wie seine Trapezmuskeln sich unter dem T-Shirt bewegten. Ich war ziemlich stolz auf meine eigene Rückenmuskulatur, aber was ich da sah, war eine ganz andere Nummer.

„Hallo“, rief ich.

Der Kerl drehte sich zu mir um. „Guten Abend“, erwiderte er mit einem starken osteuropäischen Akzent, zeigte dann auf die Katze. „Name Diesel. Weil immer sehr laut, wie Motor.“

„Ich bin Tim“, sagte ich. Diesel beäugte mich misstrauisch, ohne mit seinem Schnurren aufzuhören. Er war definitiv nicht das sterbende Tier.

„Maxim“, stellte sich der Kerl vor und gab mir einen fleischwolfartigen Händedruck. „Angenehm.“

„Ich bin der neue Nachbar. Fünfter Stock.“ Ich deutete mit dem Finger nach oben, eine völlig überflüssige Geste, für die ich mich gleich schämte.

„Ich aus Ostukraine. Erste Stock“, sagte Maxim.

„Oh.“ Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. „Also, ähm, wenn ich irgendwie helfen kann oder du was brauchst, sag Bescheid.“

„Danke.“ Er schüttelte wieder meine Hand. „Angenehm. Sehr angenehm.“

„Sag mal, weißt du, was für ein Tier hier so schreit?“

Maxim zuckte mit den Schultern. „Vielleicht Schmerz? Vielleicht einsam. Vielleicht will Liebe.“ Dann sagte er ganz lange nichts. Als die Stille aufhörte, gemütlich zu sein, verabschiedete ich mich und ging wieder nach oben – diesmal über die Haustreppe, wie ein normaler Mensch.

Thea hatte meine Abwesenheit gar nicht bemerkt.

Sie kramte im Wohnzimmer in den Kisten und schaffte es, dabei gleichzeitig ein Stück kalte Pizza zu essen und einen Joint zu rauchen. Sie leerte eine Box direkt auf den Boden aus, fischte einen Stift und ein Haargummi daraus und ließ beides in ihrem Rucksack verschwinden. Sie versuchte wohl, die Tasche für ihren ersten Arbeitstag in dem Start-up zu packen. Süß, sie war aufgeregt wie vor ihrem ersten Schultag.

Thea war der lebendigste Mensch, den ich jemals getroffen hatte. Sie ging zum Späti, um eine Packung Milch zu holen – und kam zurück mit einer Einladung auf eine Alpakafarm in Moldawien. Und mit Plänen, im nächsten Monat dorthin zu reisen. Sie hatte so viel Hunger nach Leben, dass banale Details sie nicht weiter beschäftigten. Unordnung hatte Thea noch nie etwas ausgemacht. Wenn ich nicht wäre, würde sie sich zu Hause ausschließlich in ihrem Bett aufhalten, dort arbeiten, essen, schlafen – auf Bergen von dreckigen Klamotten und Cornflakes-Krümeln.

Als wir vor vier Jahren das erste Mal miteinander schliefen, zeigte sie mir fast mit Stolz die mehrspurige Straße aus Kaffeetassen und leeren Flaschen, die ihr Bett umrundete wie eine Verkehrsinsel. Für sie waren diese Flaschen der Beleg ihrer Lässigkeit. Der Beweis dafür, dass sie es aus ihrem behüteten, puppenhaften Elternhaus in Berlin-Dahlem herausgeschafft hatte. Dabei bewies es eigentlich genau das Gegenteil, wie ich später herausfand: Thea wusste einfach nicht, wie man Pfandflaschen zurückgibt. Das hatte bei ihnen zu Hause immer die Putzfrau erledigt.

Vielleicht erklärte dieser Umstand auch unser Verhältnis zu Unordnung: Theas Mutter hatte eine Putzfrau. Meine war eine. Ich konnte nur arbeiten, wenn alles schön war. Stand irgendwo ein Teller herum, spürte ich ihn im Nacken. Ich wusste, ich würde mindestens eine Woche lang die neue Wohnung schrubben müssen, bevor ich anfangen konnte, an „Der kälteste Ort der Welt“ zu zeichnen, meiner Graphic Novel.

Ich umarmte Thea von hinten und vergrub mein Gesicht in ihrem Nackenflaum.

„Lieb, ich gehe jetzt schlafen“, murmelte ich in den Hinterkopf hinein. „Kannst du bitte versuchen, beim Auspacken wenigstens einen Trampelpfad zum Badezimmer zu lassen?“

Thea drehte sich um, sprang hoch, umklammerte mich mit ihren Beinen und hing an mir wie ein Affe. In solchen Momenten hatte ich das Gefühl, dass sie meinem Leben Gewicht gab. Dass ich Bedeutung hatte.

„Hör auf zu nölen“, sagte sie, steckte mir ihre kalte Pizza in den Mund und lachte, wie nur Thea lachen konnte: mit dem ganzen Körper, laut und ein wenig dreckig. Ich liebte dieses Lachen. Sie wog kaum mehr als ein mittelgroßes Schimpansenexemplar, und wenn sie so an mir hing und Grimassen schnitt, hatte ihr Gesicht tatsächlich etwas Äffchenhaftes.

Thea war keine typische Instagram-Influencerin-Schönheit, aber sie konnte es sein, wenn sie wollte. Sie hatte riesige grüne Augen mit Sommersprossen darin und ein altersloses Gesicht, das sie je nach Make-up wie achtzehn oder wie dreiunddreißig aussehen ließ, Straßenbengel oder Neunziger-Model. Sie hatte etwas viel Besseres als Hübschheit: nämlich das Talent, alles, was sie tat, so wirken zu lassen, als sei es das aufregendste Ding, das man gerade in seinem Leben anstellen könnte. Egal, ob es sich um einen Termin beim Bürgeramt handelte oder das Schlangestehen vor einem Club im fiesesten Januarregen.

Thea zauste in meinen Haaren, sprang von mir herunter, gab mir den Joint und setzte sich auf eine der Kisten, um die Pizza zu Ende zu essen.

Sogar jetzt, mitten in diesem verwüsteten Wohnzimmer, während draußen eine Kreatur auf grausame Art und Weise verreckte, wirkte der Umzug dank Thea wie ein Neuanfang und nicht etwa wie eine verzweifelte Notwendigkeit.

Ich zog eine Kiste heran und setzte mich neben sie, der Schlaf konnte noch ein bisschen warten. Wenn wir das Ochsenblut abziehen würden, wäre der Dielenboden wahrscheinlich ganz schön. Unsere Möbel, die ich jahrelang in Zu-verschenken-Inseraten auf Ebay und Facebook zusammengesammelt hatte, würden sich gut darauf machen. In der linken Ecke sah ich schon unser Danish-Modern-Sofa, das mir eine ältere Dame vermacht hatte, kurz bevor sie ins Altersheim gezogen war. Die Stringregale kämen an die gegenüberliegende Wand. Und meine Pflanzen würden sich über das großzügige Dachgeschoss-Licht freuen.

So wie ich über die Feuertreppe. Ich hatte noch nie in einem Haus mit Garten oder Balkon gewohnt. Zum ersten Mal hatte ich ein Stück Himmel für mich.

„Sag mal, weißt du, was für ein Tier hier so rumschreit?“, fragte ich.

„Keine Ahnung. Scheint ihm aber nicht besonders gut zu gehen.“

„Freust dich auf morgen?“

„Hm. Glaub, ja“, sagte sie. „Nicht gerade mein Traum, Social Media für veganes Hundefutter zu machen. Aber es ist schon nice, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die zur Abwechslung mal nicht zwanzig Jahre älter sind als ich. Und Anna jeden Tag zu sehen. Ein bisschen wie früher in der Schule.“

„Ich habe unten einen Nachbarn getroffen“, sagte ich. Ich wollte mein Feuertreppen-Abenteuer so beiläufig wie möglich erwähnen. Wie jemand, für den es nichts Besonderes war, nachts aus dem Fenster zu klettern.

„Ah ja? Cool“, meinte Thea und setzte ihren Monolog fort. „Und das Office ist echt krass, mit Trampolin und Playstation und allem Drum und Dran. Sehr Google. Nicht einmal der CEO hat sein eigenes Büro, dafür aber einen Laufbandschreibtisch …“

All das hatte sie mir schon nach ihrem ersten Bewerbungsgespräch erzählt, und dann noch mal, als sie den Job bekam, und dann noch ein oder zwei Mal. Je länger Thea sich über die Hunde im Büro und das Spielzimmer ausließ, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass sie es vor allem sich selbst zuliebe erzählte, als müsse sie sich vergewissern, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich unterbrach sie nicht. War eh kindisch, aus dem Feuertreppen-Ausflug so ein Ding zu machen.

Als wir den Joint fertig geraucht hatten, war es fast halb zwei Uhr nachts.

„Mach nicht mehr so lange“, sagte ich und küsste ihre Stirn. „Du musst morgen früh raus, nicht ich.“

„Ja, ich weiß … Ich muss nur dieses dämliche iPhone-Ladekabel finden“, gab sie zurück und leerte die Kiste, auf der sie gerade gesessen hatte. Unterwäsche flatterte auf den Boden. Ich beschloss, dankbar dafür zu sein, dass es nicht die Kiste mit unserem Geschirr war, und ging ins Bett.

Ein besonders lautes Eeee-ehhh weckte mich auf. Ich öffnete die Augen, und als ich mich auf die Seite drehte, lag neben mir mein Schwiegervater in spe, den Rücken mir zugewandt. Er trug, wie immer, ein dünngestreiftes Hemd.

Ich schrie auf.

„Tim, was ist los? Alpträume?“, sagte der Schwiegervater-Rücken mit Theas Stimme.

„Gott! Thea! Warum trägst du das Hemd deines Vaters?“

„Lag ganz oben in dem Karton.“

Mein Gehirn, im Halbschlaf und adrenalinwach zugleich, erinnerte sich: Theas Vater hatte mir vor ein paar Monaten ein abgelegtes Hemd vermacht. Wahrscheinlich eine leise Kritik daran, dass ich immer im gleichen verwaschenen H&M-Hemd zum Samstagsessen bei ihnen aufkreuzte. Ich trug es nie, hatte mich aber auch nicht getraut, es abzulehnen.

„Findest du nicht, dass Männerhemden mir stehen?“ Thea kicherte. „Darin sieht man immer so frisch gefickt aus.“

Ich drückte mich an Theas Rücken und rechnete nach, wann wir das letzte Mal Sex gehabt hatten. Sie presste ihren Hintern gegen meinen Schritt. Ich atmete ihren Geruch nach gerösteten Sonnenblumenkernen ein, der immer besonders intensiv war, wenn sie geschwitzt hatte, wie heute beim Auspacken. Normalerweise machte mich das an.

Doch stattdessen drängten sich Gedanken an Theas Vater auf, den ich im Stillen immer den „Generalissimus“ nannte. Obwohl er Anwalt war, sah er aus wie ein alternder Offizier: die Haltung kerzengerade, die Haare so makellos frisiert wie eine Playmobil-Perücke. Thea hatte mir mal erzählt, dass er eine wilde Jugend hinter sich hatte, mit Demos für den Weltfrieden und Protestaktionen gegen Atomkraft. Es war nicht einfach, sich das vorzustellen.

Jedes Mal, wenn wir uns sahen, erkundigte er sich: „Und, wie viele Seiten?“ Er machte das wahrscheinlich nicht, damit ich mich wie ein fauler Loser fühlte, der seit seinem Kunststudium keine größere Veröffentlichung oder Ausstellung auf die Reihe gekriegt hatte. Er wusste einfach nicht, wie man über Bücher sprach oder worüber er überhaupt mit mir reden sollte. Trotzdem schwang für mich in seinem Tonfall stets mit: „Sie sind ein arbeitsmarktuntauglicher Eunuch.“

Das Ding war: Der Arbeitsmarkt war mir egal. Ich wollte nicht morgens irgendwohin gehen müssen, wo ich meine Lebenszeit gegen Geld tauschte. Ich wollte nicht stumpf in irgendeinem Büro sitzen, vor irgendeinem Bildschirm, und den Arbeitstag so schnell wie möglich hinter mich bringen, um zu Hause mit Netflix, Abendessen und sieben Stunden Schlaf meine Batterien aufzuladen, nur damit ich am nächsten Tag erholt und stumpf wieder im Büro saß.

Ich blieb lieber zu Hause, kaufte nichts, was ich nicht brauchte, und tat dafür, was mir wirklich wichtig war: an meiner Graphic Novel zeichnen. Nachdenken. Pornos gucken. Politische Bücher und nordische Mythen lesen. Oder auch gar nichts. Früher war ich in einer Umweltgruppe aktiv gewesen. Aber nach der Uni waren die meisten, die ich dort kannte, weggezogen und ich hatte keine Lust mehr, mit Erstsemestern Demobanner zu malen.

Das Tier hatte seit einer halben Stunde keinen Laut mehr von sich gegeben.

„Denkst du, das Tier ist nun endgültig tot?“

„Vielleicht“, sagte Thea mit wenig Interesse in der Stimme und führte ihren Monolog von vorher fort. „Instagram für veganes Hundefutter. Veganes Hundefutter! Noch vor einem Jahr hätte ich mich dafür ausgelacht. Ich bin ja nicht mal Vegetarierin.“

„Kannst ja nach ein paar Wochen kündigen“, sagte ich. „Wir müssen jetzt keine Hausverwaltungen mehr mit Arbeitsverträgen beeindrucken. Wir haben die Wohnung.“

„Und wer zahlt die Miete?“, fragte Thea.

„Wir haben’s auch vorher irgendwie hingekriegt.“

„Mein Vater hat seine monatliche Zahlung storniert.“

„Was? Wann?“ Ich war fassungslos.

„Vor zwei Wochen. Bei dem Familienbrunch, für den du keine Zeit hattest.“

„Habt ihr euch gezofft?“

„Nee. Aber er findet, jetzt, wo ich meinen Master fertig habe, sei es an der Zeit, dass ich mich auf eigene Beine stelle.“

„Aber du hast deinen Master schon vor einem Jahr gemacht!“

„Ich weiß. Und ich bin mir ziemlich sicher, er weiß es auch“, sagte Thea. „Er hat mir nach seinem dritten Pernod einen Vortrag darüber gehalten, dass ich in die Gänge kommen und etwas Sinnvolles machen muss.“

Ich wollte fragen, inwiefern veganes Hundefutter sinnvoller sei als ihr alter Teilzeitjob in der NGO, die sich gegen weibliche Genitalverstümmelung einsetzte, schluckte die Bemerkung aber herunter. Thea wusste genauso gut wie ich, dass für ihren Vater „sinnvoll“ bedeutete: Vollzeit plus Visitenkarte.

„Und selbst wenn wir das Geld nicht nötig hätten. Was mache ich dann?“

„Etwas, das dich erfüllt.“

„Und was soll das sein?“

Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. An Versuchen hatte es nicht gemangelt. Da war die nach zwei Wochen abgebrochene Hebammenausbildung. Die Multimediainstallation mit übergroßen, anatomisch korrekten Klitoriden. Der gemeinnützige Verein, der Flüchtlingen C++ nahebrachte. Schließlich die Genitalverstümmelungs-NGO. Theas Problem war: Sie wollte eine Arbeit, die als prekär galt, aber nicht prekär war. Die Welt verbessern, aber ohne zermürbende Diskussionen in Vollversammlungen. Sie wäre gern Künstlerin, aber ohne arm zu sein. Manchmal hatte ich den Verdacht, sie wollte einfach einen Job, der auf Twitter gut neben ihrem Namen aussah.

„Liege mich!“, sagte Thea. „Bitte.“

Ich legte mich auf sie, stützte mich auf Ellbogen und Unterarme, so dass ich nicht zu schwer war, Thea aber dennoch die Sicherheit meines Körpers spürte.

„Ich liege dich“, sagte ich. „Ich liege dich sehr.“

In dieser Position schlief Thea schnell ein. Ich hingegen war plötzlich hellwach.

Im Halblicht der schmutzigen Glühbirne von der Feuertreppe wartete ich auf die Schreie des Tiers und dachte darüber nach, dass der Generalissimus nur deshalb den Geldhahn zugedreht hatte, damit seine Theresia Marie Luise sich eine solventere Partie suchte als mich.

Als es anfing zu dämmern, zwang ich mich dazu, unser Gespräch nicht mehr wiederzukäuen. Es war egal. Ich wollte sein Geld eh nicht. Es war besser so.

Stattdessen versuchte ich, an meine Graphic Novel zu denken. An Altana, das Mädchen aus Jakutien. Sie passte auf sich selbst auf, seit sie neun Jahre alt war, ließ sich von niemandem Bullshit gefallen und vergoss nie eine Träne.

Wenn ein Kind in Zazimki weinte, wurde es nach draußen geschickt. Seine Tränen gefroren augenblicklich und hinterließen eine Spur aus brennendem Eis. Tränen versiegten hier schnell, und sie versiegten für immer. Altana konnte sich nicht daran erinnern, jemals in ihrem Leben geweint zu haben. Selbst wenn ihr zum Heulen zumute war, machte ihr Körper einfach nicht mit.

Ich dachte an den altersschwachen Petrowitsch, der auf den Tod wartete, solange Altana ihn kannte. Der „Lebewohl“ anstatt „gute Nacht“ sagte, wenn er ins Bett ging, und nie Schulden machte, damit er die Welt jederzeit reinen Gewissens verlassen konnte.

Ich dachte an ihr Heimatdorf Zazimki, wo die kälteste Temperatur der Erde gemessen wurde. An die Schneelandschaften ringsum, die in einer nicht allzu fernen, global erwärmten Zukunft langsam auftauen würden. Ich dachte an weichgewordenen Permafrost und arktische Pferde, die in ihren Pelzen schwitzten.

Warum auch immer, dieses Weltuntergangsszenario beruhigte mich.

Als ich gerade dabei war, wegzudämmern, stieß das Tier wieder einen Schrei aus.

Ich freute mich, dass es noch am Leben war.

Kapitel 02

Maxim

4 JUNI 2018: HEFT FÜR ÜBEN DEUTSCH

Ich glaube: Er deshalb nicht sehr glücklich. Wenn ich komme zur Tür von Tim, er sieht aus wie Überraschung. Wellen auf seine Stirn. Ein Gesicht wie „?“. Ich sage: „Du sagst helfen, wenn du kannst. Hier ich bin. Brauche Hilfe mit Deutsch. Erlaubt reinkommen?“

Er sagt: „Natürlich, natürlich, natürlich“, aber so oft und so schnell, dass anhört wie „natürlich nicht“. Ich gehe trotzdem. Immer so in Deutschland: Sagen ja, meinen vielleicht ja, vielleicht nein.

Tim fragt, will ich Wasser oder nicht.

Ich sage: „Wasser, nein danke, aber Schwarztee, ja. Bitte mit drei Stück Zucker. Ich bringe Geschenk zu Tee. Doktorwurst.“

Ich gebe Tim Doktorwurst, aber noch mehr Wellen auf seine Stirn. Ich lache. „Haha, Wurst nicht aus Doktor. Spezialität aus Laden für russische Spezialitäten in Charlottenburg. Ich fahre fünfzig Minuten mit S-Bahn dort und dann fünfzig Minuten zurück. Nur für dich.“

Die Wohnung von Tim sehr sauber. Hundert Kartons auf Boden, aber Regale und Tische sauber wie für Operation. Wenn Tim in Küche, ich öffne ein Karton. Drin Sockenrollen, ordentlich wie Sushi.

Ich sehe, dass Tim sehr arm, aber anderes arm als meine Eltern. In Ukraine wir wohnen in Haus mit zwei Kühlschrank und vier Fernseher, davon zwei Fernseher und ein Kühlschrank kaputt. Aber wir können nicht wegschmeißen, weil ist unser Besitz. Tim und seine Freundin arm mit sehr wenig Sachen und keine Tapete auf Wand.

Ich frage: „Kein Geld für Tapete? Vielleicht fragen Sozialamt?“

„Nein, nein“, er sagt. „Ich mag Beton.“

Ich sage: „Nicht nötig schämen. Ich auch arm. Aber bald ich verdiene Geld mit mein Gehirn und sende Euros zu Mutter und Vater und kaufe Adidas-Schuhe mit drei Streifen, nicht vier. Deswegen ich lerne Deutsch mit dir.“

„Und wie kann ich helfen?“

„Reden mit mir“, ich sage. „In Deutschland nur Verkäufer reden mit mir, und ich habe kein Geld. Und außerdem ‚Brauchen Sie die Quittung‘ und ‚Darf es noch etwas sein?‘ kein sehr nützlich Dialog für Leben.“

„Willst du vielleicht etwas von dir erzählen? Und ich korrigiere, wenn du Fehler machst?“

„Ganz genau“, ich sage. Er versteht! Ich will umarmen Tim, aber schwierig, weil wir Männer. Also ich boxe Tim in Schulter und erzähle: „Maxim Andreewitsch Petrenko mein Name. Neunzehn Jahre alt. Sternzeichen … männlich Kuh?“

„Stier?“

„Ganz genau. Sternzeichen Stier. Ich spiele Akkordeon und Gitarre, und ich liebe Musik hören.“

„Musik zu hören.“

„Ja, Musik zu hören: Pink Floyd, The Zombies, Love, DAF, Fehlfarben, Einstürzende Neubauten …“

„Du kennst diese Bands?“

„Ey, wir haben Internet in Ukraine. Ich liebe auch The Byrds und natürlich The Beatles, Ideal …“ Ich erzähle weiter Bands, die ich mag, aber nach fünf Minuten Tim sagt:

„Dein Musikgeschmack ist wirklich toll, aber vielleicht erzählst du etwas über dein Leben? Wie lange bist du eigentlich schon in Deutschland?“

„Ich lebe in Deutschland sechs Monate und in Ukraine Rest von meine Leben. In Dorf Lipetsko. 60 Kilometer neben Donezk.“

„Deswegen bist du hier? Krieg?“

„Ja, genau. Wegen Krieg und bessere Zukunft. Eltern in Ukraine. Deswegen ich hier mit Tante Tatjana Efremowna.“

„Deswegen bin ich hier mit meiner Tante Tatjana Efremowna. Im Deutschen brauchst du meistens ein Verb im Satz.“

Ich hasse Verben! Sie ändern sich immer. Und Artikel. Im Integrationskurs immer langweilig: der, die, das, Präsens, Präteritum, Partizip. Nie wirklich wichtige Dinge wie Songs von Kraftwerk oder wie machen Liebeserklärung. Ich lerne Millionen Worte und Regel, aber ich weiß nicht, wie ich daraus mache Sprache.

Ich will Tim erzählen von Tatjana Efremowna. Sehr gute Frau, intern und extern. Herz so groß wie Wassermelone, Arme breit wie Drei-Liter-Colaflaschen. Aber Tim will hören mehr über Krieg. Deutsche mit viel Bildung wollen immer hören über Krieg. Glauben: Wenn etwas hässlich, ist mehr real. Ist echtes Leben.

Aber ich will nicht reden über hässlich. Ich will kein Sozialarbeiter. Ich will Freund für reden, trinken Schwarztee und essen Doktorwurst. Aber Tim berührt Doktorwurst nicht.

Ich sage: „Bitte essen. Geschenk für dich.“

Tim lächelt und nimmt Stück Wurst in Mund, aber sieht aus wie beißen Kackwurst. Dann er kaut und Lächeln wird echt.

Ich bleibe vielleicht zwei, vielleicht drei Stunden bei Tim. Ich gern noch länger bleiben, aber ich merke irgendwann: Tim trinkt Tee schnell, also vielleicht hat er Geschäfte zu tun. Tim Illustrator. Er zeigt mir sein „Graphic Novel“. Sicher kein Bestseller. Wer will kaufen Buch über Klimawandel? Kein Mord, keine Liebe. Aber trotzdem ich will helfen Tim und gucke nützlich Fakten in russische Internet. Dann Hilfe von Tim nicht Mitleid, sondern Austausch.

Ich nicht ganz verstehe, was macht seine Freundin Thea. Ich glaube, arbeitet in Fabrik für Hundefutter. Gute Frau! Wohnung sehr sauber und arbeitet hart, damit Mann kann Kunst machen. Aber Tim nicht schämen?

Ich will auch gute Frau. Deswegen lernen Deutsch sehr wichtig. Ohne Deutsch keine gute Unterhaltung. Ohne gute Unterhaltung keine Liebe. Ich möchte Unterhaltung machen mit hübsche Frau in Trainingsjacke mit hässliche Hund. Spaziert bei uns in Wolffstraße, immer 9 Uhr und 20 Uhr.

Wolffstraße nicht schöner als Ukraine. Überall leere Chipstüten von Marke „Ja!“, Kaugummi, Zigarette-Enden und andere Müll. Nur alte Nachbarin aus vierte Stock putzt Haus. Wenn ich will helfen, sie guckt so, als ich allein schuld für Dreck.

Aber sind die andere Migranten-Jungs. Die mit Bärten. Kleben immer am Handy: „Was geht? Papa-Mama-Bruder-Schwester, alles gut?“ Immer laut, immer viel Drama. Manchmal sie wollen Drama mit mir. Sagen: „Suchst du Stress?“ Ich sage: „Nein, danke.“ Erkläre, dass ich deshalb in Deutschland, weil Ukraine sehr viel Stress. Aber sie verstehen nicht, gucken ohne Respekt. Dann kommt Wut. Sozialarbeiter sagt: Immer wenn Wut, atme aus, geh Runde um Block. Aber was denkt er? Wenn ich wütend, keine Zeit für „Runde um Block“! Ist wie Cola in Flasche nach schütteln. Muss raus.

Aber hübsche Frau mit Hund immer nett. Immer lächeln. Ich warte immer vor Haustür auf sie und mache Salut wie General an mein Basecap. Sie immer lacht und winkt. Ich sage nichts, damit sie nicht sieht, dass ich nicht kann gut reden.

Kapitel 03

Thea

VOG – YOUR VEGAN DOG

Thea SteinVOG social media wizzardStatus:

Anna WagnerVOG chief happiness officerStatus: no man is an island

This is the very beginning of your direct message history with@Anna

Jun 1st 2018

Anna 10:07 AM:welcome to the jungle!

Thea 10:08 AM:dankedankedanke!

Anna:wofür denn? du hast dich beworben, du warst gut … and here you are

Thea:ich meinte auch die Blumen und deine geile Begrüßungsrede beim Thank-God-it’s-Monday-Meeting gerade

Thea:und den jungfräulichen Mac

Anna:haha, das kriegt bei uns jeder newbie

Anna:wobei ich schon bisschen gezaubert habe, damit du einen neuen laptop bekommst und kein leftover

Thea:

Anna:du hast es echt verdient, nach den prähistorischen teilen bei deiner NGO

Anna:was hatten die für ein betriebssystem? windows 2007?

Thea:Windows 2010

Thea:aber wenigstens haben sie die Röhrenmonitore ausgetauscht

Anna:ich hoff mal, sie haben auch die belüftungsanlage neu gemacht

Anna:da roch’s immer nach salamistullen

Thea:hey, die NGO macht wichtige Arbeit

Thea:aber ja, so viel Swag wie eine Steuerfachkanzlei

Thea:Tupper-Mittagessen, hartgekochte Eier, Fencheltee …

Anna:ich bin happy, dass du jetzt bei uns bist

Anna:i swear, in drei jahren hier kein hartgekochtes ei gesehen

Anna:carlos, unser veganer koch, ist

Anna:und die fridge mit bier und softdrinks hast du schon gesehen?

Anna:das steht alles im onboarding

Anna shared VOGonboarding.ppt with you

Anna:check das aus, besonders die free fitness classes und benefits

Thea:

Thea:wobei der beste Bonus natürlich das hier ist:

Thea:während meiner Arbeitszeit mit dir chatten, und sollte es jemandem nicht passen, können sie sich IN DER PERSONALABTEILUNG BESCHWEREN …

Anna 11:35 AM:haahaaa

Anna:aber wenn du mich PERSONALABTEILUNG nennst, fühle ich mich wie in den fünfzigern

Anna:ich sehe meinen job eher darin, dass alle hier gut arbeiten können

Thea:eins muss ich dir noch erzählen, bevor ich hier gut arbeite

Thea:Mimi ist schwanger!!!!

Anna:wtf?!?

Thea:4. Monat!!!

Anna:und schon fett?

Thea:nope, aber schon langweilig

Anna:

Thea:ich habe mal neulich so eine Naturdoku gesehen

Anna:lol, guckst du die immer noch?

Thea:über die Seescheiden. Das sind so kleine Meerestiere. Wenn die noch jung sind, wandern sie durch den Ozean und suchen nach ihrem Ort in der Welt

Thea:und wenn die was gefunden haben, was ihnen sicher erscheint, mit guter Wassertemperatur und so, nisten die sich dort ein und bleiben

Thea:und das Erste, was sie dann machen, ist,

Thea:ihr eigenes Gehirn aufzufressen

Thea:brauchen es ja nicht mehr. Sind ja sesshaft geworden.

Thea:hört sich jetzt gemein an, aber mit den meisten aus unserer Schule ist es doch so. Sitzen jetzt angenehm temperiert und hirnlos irgendwo in Charlottenburg

Anna:haaahaaaa

Anna:nach deiner metapher bin ich die einzige, die noch im ozean herumwandert

Anna:du hast dich ja auch mit Tim eingenistet

Thea:woah, aber ich hoffe, wir werden nie so ein Paar

Thea:also ehrlich, kannst du dir Tim im Anzug vorstellen und mich, wie ich Bilder von selbstgeröstetem Müsli bei IG poste?

Anna:haaahaaa

Anna:not really

Anna:besonders nicht tim im anzug

Anna:was macht er btw?

Anna:rettet die welt mit der kraft der kunst?

Thea:seine neue Graphic Novel ist echt ziemlich gut

Thea:geht um den Klimawandel

Anna:ich hätte kein kleineres thema erwartet

Thea:und was den Umzug angeht, ist er echt mein Held. Hat das meiste organisiert und schrubbt jetzt die Wohnung. Ihm zufolge ist es E.K.E.L.H.A.F.T.

Anna:so bad?

Thea:nee, kennst ihn doch. Klar, Altbau, und ziemlich runtergerockt

Thea:aber zumindest ist die Nachbarschaft noch nicht zu Tode gentrifiziert

Anna:freut mich! aber, plz, friss dein hirn nicht auf, nachdem ihr euch dort eingerichtet habt

Thea:haha nee, keine Angst

Anna:muss los jetzt

Anna:mittagessen später?

Anna:

Thea: