Der Heilige Gral - Matthias Egeler - E-Book

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Matthias Egeler

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Beschreibung

Der Heilige Gral gehört zu den machtvollsten Mythen des Abendlandes. Aber was ist er überhaupt? Der Kelch des letzten Abendmahls, ein Gefäß mit Jesu Blut, ein Stein? Matthias Egeler folgt in dieser ebenso spannenden wie kenntnisreichen Darstellung der Spur des Grals von keltischen Mythen über die Ritter der Tafelrunde bis hin zu Dan Brown und zeigt, wie Der Heilige Gral in seiner langen Geschichte immer wieder zum Kristallisationspunkt von Sehnsüchten wurde und bis heute nichts an Faszination eingebüßt hat.

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Matthias Egeler

DER HEILIGE GRAL

Geschichte und Legende

C.H.Beck

Zum Buch

Sowohl in der mittelalterlichen Artusliteratur als auch beim Kinohelden Indiana Jones gerät die Suche nach dem Heiligen Gral zu einer bewegenden Abenteuergeschichte. Matthias Egeler geht in seiner ebenso spannenden wie kompetenten Darstellung der 800-jährigen Geschichte des Grals auf Spurensuche nach diesem Objekt tiefer religiöser Sehnsüchte, das die Imagination europäischer Literaten und Künstler immer wieder aufs Neue entfacht hat. Jede Zeit hatte dabei ihren eigenen Gral: Bei Robert de Boron erscheint er als Kelch des letzten Abendmahls, der Sünder entlarvt, während er bei Wolfram von Eschenbach ein Stein ist, der ein Bankett wie im Himmelreich hervorbringt. Richard Wagners Lohengrin und Parsifal vermochten gar mythentrunkene Nationalsozialisten zu inspirieren, sich in den Pyrenäen auf Gralssuche zu begeben. Selbst bis in unsere Tage dauert die Rezeption des Grals noch an und hat ihre Spuren in der internationalen Popkultur ebenso hinterlassen wie in heutiger neopaganer Religiosität.

Über den Autor

Matthias Egeler war 2017/18 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Nach langjährigem Aufenthalt in Oxford und Cambridge bekleidet er nun eine Heisenberg-Stelle am Institut für Nordische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er auch im Interfakultären Studiengang Religionswissenschaft lehrt. Altnordische Literatur und europäische Religionsgeschichte bilden Schwerpunkte seiner Forschung.

Inhalt

Vorwort

1. Vom Mythos zum Mysterium:die frühe Artusliteratur, Chrétien de Troyes und die Fragekeltischer mythologischer Wurzeln des Grals

Der Rahmen der Gralssage:die Erzählungen um König Artus

Die erste Gralsdichtung:der Perceval des Chrétien de Troyes

Der Gral als keltischer Mythos?

2. Der Gral als christliches Symbol und als Ziel ritterlicher Suche: von Robert de Boron bis zu den großen Gralszyklen

Von der Welt des Mythos ins christliche Glastonbury:Robert de Boron

Die Fortsetzungen von Chrétiens Perceval

Alternative Gralsbilder:der Gral in Deutschland und Skandinavien

Spiritualisierung und Gigantismus:vom Lancelot-Graal bis zu Le Morte Darthur

3. Mittelalterbegeisterung und Gralsschwärmerei:der Gral von seiner Wiederentdeckung bis zum Ersten Weltkrieg

Die Rückkehr des Grals ins Land des Grals:die Gralsrenaissance in Großbritannien

Der Gral kommt nach Bayreuth

4. Zwischen Wiederkehr des Mythos und Trivialisierung:der Gral vom 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Gralssucher, Nationalsozialisten und Katharer:Otto Rahn und der Gral in den Pyrenäen

Verschwörungen, Kokosnüsse undwiederum Nationalsozialisten

Von blauem Glas zu rotem Wasser:der Gral in Glastonbury

5. Ausblick: Versatilität und Gegenkultur

Leseempfehlungen

Abbildungsnachweis

Register

Vorwort

Will man einen Ort besuchen, der eng mit dem Gral verbunden ist, dann bietet sich einer wohl besonders an: der Hügel Wirrall Hill über dem südenglischen Städtchen Glastonbury. Er ist nur wenige Dutzend Meter hoch, doch da er sich steil aus der Küstenebene der Somerset Levels erhebt, eröffnet er in fast alle Richtungen weite Blicke über das flache Land. Nur nach Osten hin wird der Ausblick von einem weiteren Hügel, dem nahen Glastonbury Tor, begrenzt, auf dessen Gipfel der Turm einer alten, heute zerstörten Kirche eine markante Landmarke bildet.

Wenig unterhalb des Gipfels des Wirrall Hill steht ein Dornbusch. Die lokale Legende erzählt, dass einst, in den Tagen kurz nach der Kreuzigung Jesu, Joseph von Arimathäa den Gral aus dem Heiligen Land nach England brachte. Dort kam Joseph schließlich nach Glastonbury, und als er den steilen Hügel erklommen hatte, stieß er seinen Wanderstab in den Boden und sagte (aus einem unerfindlichen Grund auf Englisch): Are we not weary all. («Sind wir nicht alle müde.») Seitdem heißt der Hügel Weary-all (Wirrall) Hill. Der Wanderstab schlug Wurzeln, trieb Zweige und Blätter aus und wurde so zum Urahn ebenjenes Dornbuschs, der noch heute auf dem Hügel steht. Die Nachkommen von Josephs Dornbusch – der Busch hier auf dem Hügel und weitere unten in der Ortschaft Glastonbury – blühen zweimal im Jahr, davon einmal zur Weihnachtszeit; ein Zweig von einem dieser Büsche wird jedes Jahr der britischen Königsfamilie geschickt, um am ersten Weihnachtstag den königlichen Frühstückstisch zu schmücken. Joseph von Arimathäa selbst, so heißt es weiter, ließ sich in Glastonbury nieder und gründete dort ein Kloster; dies macht die Abtei von Glastonbury, die bis zu ihrer Auflösung durch Heinrich VIII. im Jahr 1539 bestand, in der lokalen Legende zum ursprünglichen Gralskloster. Der Gral selbst soll irgendwo im Chalice Hill («Kelch-Hügel») zwischen dem Glastonbury Tor und Wirrall Hill verborgen sein. Von dort färbe er das Wasser rot, das in der Chalice Well («Kelch-Quelle») am Fuß des Glastonbury Tor entspringt.

In Glastonbury ist der Gral an vielen Stellen in der Landschaft ganz konkret präsent: in den Hügeln und im Dornbusch, in der Quelle und in den Ruinen der Abtei. Diese Präsenz im Raum verbindet sich hier ferner mit einer starken Prominenz alternativreligiöser Strömungen. Glastonbury ist de facto die Hauptstadt alternativer Religiosität in Großbritannien, und in diesem Kontext wird den lokalen Gralslegenden eine Bedeutung verliehen, die eine tatsächlich religiöse Qualität annimmt. Der Gral ist hier nicht nur eine faszinierende Geschichte, sondern eine konkrete Größe im religiösen Leben: Die Chalice Well etwa liegt heute in einer Gartenanlage, die ausdrücklich der spirituellen Einkehr dienen soll, und ihrem eisenhaltigen (Grals-)Wasser werden Heilkräfte zugesprochen.

Das vorliegende Büchlein soll eine kurze Einführung in den Mythos des Heiligen Grals geben. Der Heilige Gral ist seit beinahe einem Jahrtausend eines der großen Themen der europäischen Imagination, das Literaten, Künstler und religiöse Sinnsucher gleichermaßen fasziniert und beschäftigt hat. Insbesondere im Mittelalter nahm die Faszination für den Gral immer wieder eine religiöse Dimension an; aber das Beispiel Glastonburys illustriert, dass der Gral auch heute noch ein Objekt tiefreligiöser Sehnsüchte sein kann. In der bisher bereits mehr als 800-jährigen Geschichte des Gralsmythos ist eine Vielzahl an Auseinandersetzungen mit diesem Thema entstanden, die in ihrer Gesamtheit längst nicht mehr zu überblicken ist. Jedes Buch über den Gral muss daher eine Auswahl treffen, erst recht eine kurze Einführung wie die vorliegende. Ziel dieses Buches ist, anhand einiger repräsentativer Beispiele einen Querschnitt durch die Geschichte des Grals zu bieten, der von seinen möglichen Anfängen in der Mythologie der Kelten der Britischen Inseln bis zur heutigen Gegenwart reicht. Insbesondere bei der Behandlung der Rezeption des Grals seit dem 19. Jahrhundert wird ein besonderes Augenmerk auf solchen Rezeptionsprozessen liegen, die entweder besondere Breitenwirkung entfaltet haben oder in denen die religiös-spirituelle Seite der Gralslegende noch bzw. wieder nachwirkt. Der Gral wird somit nicht nur als Phänomen von Kunst und Literatur, sondern als Phänomen der europäischen Religionsgeschichte vorgestellt. In diesem Sinne wird Kapitel 1 den Kontext des Gralsmythos in der frühen Artusliteratur, seine erste Formulierung durch den französischen Dichter Chrétien de Troyes und die Frage nach möglichen Wurzeln des Grals in vorchristlichen Mythen skizzieren. Kapitel 2 wird, hieran anschließend, Eckpunkte der weiteren Entwicklung des Gralsmythos in den Literaturen des Mittelalters beschreiben. Kapitel 3 wird sich der Wiederentdeckung des Grals in der deutschen und englischen Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts widmen, und Kapitel 4 wird Aspekte seiner Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert ansprechen. Dabei werden nicht nur Film und Literatur im Mittelpunkt stehen, sondern insbesondere auch Versuche, den Gral als realen Gegenstand zu suchen, zu identifizieren und zu lokalisieren: etwa die Gralssuche des glücklosen Otto Rahn, der im «Dritten Reich» zum Mitglied des persönlichen Stabs Heinrich Himmlers aufstieg, ehe er schließlich in den Selbstmord getrieben wurde, und verschiedene Permutationen des «realen» Grals im englischen Glastonbury, wie die blaue Glasschale des Dr. John Goodchild. Aus Raumgründen wird die Diskussion der neueren Rezeption des Grals einen Schwerpunkt auf Deutschland, England und die (stark englisch geprägte) internationale Populärkultur legen; seine reiche Rezeption in anderen Ländern kann nur gelegentlich kurz angeschnitten werden.

Abb. 1: Der Blick von Wirrall (Wearyall) Hill auf die Somerset Levels und, am Horizont, den Glastonbury Tor. Letzterer wird von einem Turm bekrönt, der als einziger Rest des Kirchengebäudes heute noch an die ehemalige St. Michael’s Church erinnert. Im Vordergrund der Stamm des Glastonbury Thorn, der vom Wanderstab des Joseph von Arimathäa abstammen soll. Seine Krone wurde 2010 von Unbekannten abgesägt, vermutlich ein Akt von religiös-fundamentalistischem Vandalismus, der sich gegen den Glastonbury Thorn als Kristallisationspunkt einer reichen und vielschichtigen Mythologie wandte.

1. Vom Mythos zum Mysterium:die frühe Artusliteratur, Chrétien de Troyes und die Fragekeltischer mythologischer Wurzeln des Grals

Der Rahmen der Gralssage:die Erzählungen um König Artus

Schon die ältesten Belege für den Gral gehören der Artusliteratur an, und erst im 20. Jahrhundert streifen manche Varianten der Gralslegende die Verbindung mit König Artus ab. Der Umkehrschluss gilt jedoch nicht: Zwar ist praktisch alle frühe Gralsliteratur Artusliteratur, aber Artusliteratur ist nicht gleich Gralsliteratur. Denn die frühesten Artuserzählungen kennen den Gral noch nicht – zumindest nicht unter dem Namen «Gral».

Die erste für uns heute fassbare Gesamtschau der Biographie des Königs Artus – und damit das Rahmenwerk der Artusliteratur – wurde in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Großbritannien formuliert: Etwa im Jahr 1136 schloss Geoffrey von Monmouth (ca. 1100–​1154) seine Historia Regum Britanniae ab, seine Geschichte der Könige Britanniens. Dieses in lateinischer Sprache verfasste Werk behandelt die Geschichte Britanniens von seiner vorgeblichen ersten Besiedlung bis ins 7. Jahrhundert. Geoffrey beruft sich dabei als Quelle auf ein «uraltes» Buch in der «britannischen» (walisischen?) Volkssprache, das ihm angeblich vorgelegen habe; inwieweit dies historisch richtig oder ein literarischer Kunstgriff ist, der seiner Darstellung Autorität verleihen soll, lässt sich letztlich nicht entscheiden. Mit Geschichtsschreibung im modernen Sinn hat seine Geschichte der Könige Britanniens jedenfalls wenig zu tun. Die Art, wie Geoffrey seinen Stoff handhabt, ist stark legendenhaft, und das 6. Jahrhundert – die vorgebliche Zeit des Königs Artus – nimmt mit gut der Hälfte des Textes einen völlig überproportionalen Raum ein. Für die Entwicklung der Artusliteratur war Geoffreys Buch jedoch wirkmächtig wie kein anderes: Denn mit diesem Werk schuf Geoffrey ein Gerüst, in das sich die weitere Entwicklung der Legenden um König Artus einfügen konnte. Auch viele der übernatürlichen Elemente dieser Erzählwelt werden bei Geoffrey zum ersten Mal für uns fassbar oder wurden in der Form, in der sie später ihre größte Wirkung entfalten sollten, sogar von ihm erst geschaffen. So erwähnt er etwa als Erster die Insel Avalon, auf die Artus am Ende seines Lebens entrückt wird, um dort seinen tödlichen Wunden zum Trotz geheilt zu werden, und den Zauberer Merlin.

Die beiden Motive von Avalon und Merlin illustrieren eine für die früheste Artusliteratur charakteristische Mischung von hochmittelalterlicher literarischer Innovation und Verwurzelung in Traditionen der Kelten der Britischen Inseln. Die Rückbindung an die keltische Welt ist so zentral für den Artusstoff, dass sie ihm den Namen matière de Bretagne einbrachte: «Stoff Britanniens». Dieser Name lässt indes offen, ob «Britannien» sich auf Großbritannien bezieht, wo zeitgenössisch nicht zuletzt in Wales und Cornwall noch keltische Sprachen gesprochen wurden, oder auf die Bretagne im Westen Frankreichs, die damals gleichfalls noch überwiegend keltischsprachig war und es in Resten heute noch ist. Avalon und Merlin können als anschauliche Beispiele dafür dienen, wie weit diese Rückgebundenheit an keltische Erzähltraditionen in der Artusliteratur reichen kann, und sollen daher etwas ausführlicher besprochen werden.

Avalon wird in Geoffreys Geschichte der Könige Britanniens als die Insel erwähnt, auf die Artus entrückt wird, nachdem er in seiner letzten Schlacht tödlich verwundet worden ist. Ausführlicher behandelt Geoffrey Avalon in seiner etwas später verfassten Vita Merlini, dem Leben Merlins, einem langen Gedicht in lateinischen Hexametern; es stammt wohl aus den Jahren zwischen 1148 und 1154. In diesem Text ist Avalon eine paradiesische Insel, deren Einwohner eine übermenschlich lange Lebensspanne haben und die von neun zauber- und heilkundigen Schwestern beherrscht wird. Dort nimmt sich die Herrin dieser Insel – Morgen – des Königs an; obwohl zuvor ausdrücklich gesagt worden ist, dass Artus tödliche Verletzungen erlitten hat, verspricht sie, ihn heilen zu können, wenn er eine lange Zeit bei ihr in Avalon bleibe. Geoffrey schmückt seine Darstellung mit vielfachen Anleihen bei der klassischen römischen Mythologie aus, und so ist der Grad des keltischen Erbes im Avalon-Mythos in der Forschung ganz unterschiedlich beurteilt worden. Wenn man jedoch sowohl Geoffreys erste ausführliche Schilderung Avalons als auch andere frühe Bearbeitungen des Stoffes berücksichtigt, ist deutlich, dass die Insel Avalon der Artusliteratur ihr engstes Gegenstück in anderweltlichen Inseln der irischen Literatur findet. Dort beschreibt etwa die Erzählung Immram Brain maic Febail (die «Seereise des Bran Sohn von Febal») bereits im 8. Jahrhundert die Entrückung eines heroischen Königs auf eine Insel, die von anderweltlichen Frauengestalten beherrscht wird und wo es keinen Tod gibt, ebenso wie Artus in der Hand der zauberkundigen Heilerinnen von Avalon dem sicheren Tod entgeht. Zudem spielen anderweltliche Äpfel in Brans Seereise eine wesentliche Rolle dabei, wie König Bran auf diese Insel gelockt und wie sie dargestellt wird. Dies findet in der Artusliteratur ein Gegenstück darin, dass der Name Avalon als «Apfelinsel» aufgefasst wurde: Bereits Geoffrey erklärt Avalon zur insula pomorum, zur «Insel der Äpfel». So scheint Avalon als eine Insel anderweltlicher Frauen, der Äpfel und der Unsterblichkeit und als das Ziel der Entrückung eines Königs in der einen oder anderen Weise Wurzeln in der Mythologie der Kelten der Britischen Inseln zu haben, wo dieselben Elemente in derselben Kombination schon lange zuvor bezeugt sind.

Merlin wiederum findet sein keltisches Gegenstück weniger in Irland als in Großbritannien. Dort erscheint Myrddin in der walisischen Literatur als ein Krieger des 6. Jahrhunderts, der in einer Schlacht wahnsinnig wurde und danach für viele Jahre in der schottischen Wildnis lebte. In den mittelalterlichen Quellen tritt er auch unter dem Namen Lailoken auf und nimmt Züge eines Sehers an. Geoffrey griff diese Figur auf und machte sie zu einem herausragenden Propheten. Vor allem aber gab der Schriftsteller ihm den Namen, den er in der Artusliteratur fortan tragen sollte. Da Geoffrey auf Latein schrieb, latinisierte er die Namen seiner Figuren; sein Publikum bestand aber aus der französischsprachigen anglonormannischen Oberschicht, die das England seiner Zeit beherrschte. Hätte Geoffrey Myrddin in derselben Weise latinisiert, wie er das mit seinen Protagonisten sonst getan hat, hätte er ihn «Merdinus» genannt – was für ein französischsprachiges Publikum aber wohl (im doppelten Wortsinn) komisch geklungen hätte, hätte es doch das französische Wort merde evoziert: «Scheiße». So verdankt Merlin seine literarische Form in den späteren Artuserzählungen einer Mischung von keltischer Sehergestalt und anglonormannischen Empfindlichkeiten.

Eine wichtige Wurzel der Artusliteratur ist somit in Erzähltraditionen der Kelten der Britischen Inseln zu finden. Ungeachtet dieser starken lokalen Rückgebundenheit wurde die Artusliteratur jedoch schon früh zu einem internationalen Phänomen. Geoffrey von Monmouth ist der erste namentlich bekannte Autor, der uns als Verfasser von Artustexten entgegentritt, und er trug wesentlich dazu bei, dieser Literatur ihre spätere Form zu geben. Schon zu seiner Zeit waren Geschichten über König Artus jedoch weit verbreitet: Bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts hatte die Erzähltradition um den britannischen König eine gesamteuropäische Dimension. Zu dieser Zeit wird sie in der Kunst Norditaliens greifbar. Im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts wurde ein Seitenportal der Kathedrale von Modena, die Porta della Pescheria, mit einem Artusrelief geschmückt: Mehrere Ritter greifen darauf eine Burg an, in der eine Frau gefangen gehalten zu werden scheint. Da den Figuren ihre Namen beigeschrieben sind – unter anderem Artus de Bretania, Galvaginus (= Gawain), Che (= Kai) und, als Gefangene in der Burg, Winlogee (= Guinevere) –, ist sicher, dass es sich um einen Artusstoff handelt; welchen jedoch, ist nicht klar, da die spezifische Erzählung zu diesem Relief nicht erhalten zu sein scheint. Das Artusrelief von Modena illustriert damit zwei wichtige Sachverhalte: Die überlieferten Texte der Artusliteratur stellen erstens nur die Spitze des Eisbergs dar; und zweitens waren schon zu dem Zeitpunkt, als die ersten dieser Texte schriftlich niedergelegt wurden, Artuserzählungen, wohl in mündlicher Form, in ganz West- und bis nach Südeuropa verbreitet.

Die Verwendung eines Motivs aus den Heldensagen um König Artus zum Schmuck einer Kirche war zeitgenössisch nicht so ungewöhnlich, wie das aus einer heutigen Perspektive vielleicht scheinen mag. In der Kathedrale von Otranto in Apulien, weit im Süden des italienischen Stiefels, wurde im Jahr 1165 ein großes Bodenmosaik gelegt, das neben religiösen Motiven die Figur des Rex Arturus zeigt, des «König Artus». Später ordnete zudem die Behandlung des Gralsthemas die Artusliteratur oft in einen religiösen Rahmen ein. Dennoch war die Haltung der Kirche zur blühenden Erzähltradition um diesen König nicht immer uneingeschränkt positiv. Im frühen 13. Jahrhundert (wohl in den Jahren zwischen 1219 und 1223) hielt der deutsche Kleriker Caesarius von Heisterbach in seinem Dialogus Miraculorum, dem Dialog der Wunder, eine Anekdote fest, der zufolge ein gewisser Abt das Problem hatte, dass seine Mönche während der Predigt regelmäßig einschliefen. Eines Tages hatte er davon genug, und als alle Mönche schliefen, sprach er den Namen «Artus» aus – und alle waren sofort wach und aufmerksam. Der Abt nahm dies natürlich zum Anlass, den Mönchen eine Predigt darüber zu halten, dass sie schliefen, während er von Gott sprach, aber bei leichtem Gerede sofort aufwachten.