Der heilige Nikolaus, Bischof von Myra - Thomas Schumacher - E-Book

Der heilige Nikolaus, Bischof von Myra E-Book

Thomas Schumacher

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Beschreibung

Kaum ein Heiliger erfreut sich einer größeren Popularität und Verehrung als der heilige Nikolaus. Wer aber ist Nikolaus eigentlich gewesen? Nicht eine bestimmte Episode aus seinem Leben oder bedeutsame Werke lassen sich historisch festmachen. Wer Nikolaus also gewesen ist oder welche Taten er vollbracht haben mag, entzieht sich dem geschichtlichen Zugriff. Im Unterschied zu anderen Heiligen hat man Nikolaus aber schon bald nach seinem Tod als Heiligen par excellence, als »Über-Heiligen«, als Helfer in jeder Not verehrt: der schon in seinem irdischen Leben von der himmlischen Verklärung durchdrungen galt und nun vom Himmel her das göttliche Heil in mannigfacher Fülle wirkt. Ausgehend von der ersten Erzählung über die große Tat des Nikolaus hat sich seine Verehrung verbreitet, in vielerlei Gestalt, in West und Ost, von damals bis heute. Weil auf dieser langen Wegstrecke allerlei Folklore um die Gestalt des heiligen Nikolaus gewachsen ist, lohnt sich der Gang zurück bis an die Wurzel. Das Buch nähert sich der Gestalt des heiligen Nikolaus aus mehreren Perspektiven: von der Geschichte her, über die Legenden und mit Hilfe der Theologie. Der Text skizziert die Entstehung und rasche Ausbreitung seiner Verehrung und bietet die berühmtesten Legenden aus dem 6. und 9. Jhd. in einer wörtlichen Übersetzung aus dem Original.

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Thomas SchumacherBibliographie des Autors Thomas Schumacher

Der heilige Nikolaus

Annäherungen aus Geschichte, Legenden und Theologie

Alle Rechte vorbehalten – All rights reservedHergestellt in der Europäischen Union – Designed in EU© Pneuma Verlag – München 2018ISBN 978-3-942013-46-8 (Print)ISBN 978-3-942013-47-5 (ebook)

www.pneuma-verlag.de

Thomas Schumacher

Der heilige Nikolaus

Bischof von Myra

Annäherungen aus Geschichte, Legenden und Theologie

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1Anfänge der Nikolaus-Verehrung

historisch nicht greifbar, aber wirklich

Verehrung zielt auf historisch reale Person

Nikolaus ist der exemplarische Heilige

Kapitel 2»Prãxis de stratelatis« – Die Erzählung von der Rettung der drei Offiziere [»Stratelatenwunder«]

»Prãxis« – Tat – Großtat Gottes

Hinweise auf die Zeit Justinian I.

Rückbezug auf Konstantin als idealen christlichen Kaiser

Entstehungszeit der Erzählung und Rückbezüge

Überlieferung der Erzählung

Der Text der Erzählung

Kapitel 3Ausbreitung der Nikolaus-Verehrung bis zum Bilderstreit

Myra – Lykien – Konstantinopel

frühe Nikolaus-Verehrung in Italien

Bilderstreit

Durchbruch der Nikolaus-Verehrung im 9. Jhd.

Kapitel 4»Vita per Michaelem« – Vita im Kontext des Bilderstreits

Nikolaus-Vita als neuartige literarische Komposition

Die Wahrheit der Nikolaus-Vita

Entstehung und Überlieferung

Inhalte der »Vita per Michaelem«

»Prãxis« von den drei Töchtern (n.10-17)

»Prãxis« von der Rettung der Seeleute (n.34-36)

»Prãxis« von den Kornschiffen (n.37-39)

Kapitel 5Weitere Nikolaus-Überlieferungen und Fortgang der Verehrung

Methodius ad Theodorum

Enkomion Methodii

Synaxarienvita

Vita compilata

Vita des Symeon Metaphrastes

Weitere Textstücke zur Vita

Kapitel 6Ausbreitung der Nikolaus-Verehrung auch im Abendland

Süditalien

Ausbreitung der Nikolaus-Verehrung auf dem Weg literarischer Zeugnisse nach Norden

Nikolaus im kirchlichen Leben in Mitteleuropa

Beförderung der Nikolaus-Verehrung seit der Translation der vermeintlichen Reliquien nach Bari

Kapitel 7Bildhafte Darstellungen des heiligen Nikolaus

Ikonendarstellungen

Handschriften, Glasfenster und Malerei

Ausblick: Spätere Entwicklungen

Einleitung

Kaum ein Heiliger erfreute sich durch die Jahrhunderte einer größeren Popularität und Verehrung als der heilige Nikolaus. Wer aber ist Nikolaus eigentlich gewesen?

Die Spurensuche in der Antike trifft auf eine zu Beginn des 6. Jhd. in der Provinz Lykien in Kleinasien sowie in Konstantinopel bestehende Heiligenverehrung sowie auf eine bedeutende Legende, in der diese Verehrung zum Ausdruck kam und die zur Ausbreitung der Nikolaus-Verehrung wesentlich beigetragen hat. Etwas historisch Belastbares aber lässt sich über das Leben des Nikolaus nicht ausmachen: keine Daten, keine Fakten, keine großen Taten, kein Lebenslauf.

Dass Nikolaus aber kein fiktiver Heiliger gewesen ist, sondern dass dieser Mann tatsächlich gelebt hat, zeigt sich insbesondere daran, dass man sein Grab bewahrte und verehrte. Nicht bestimmte besondere biographische Taten sind es also gewesen, darin besteht ein Unterschied zu anderen Heiligen, die Nikolaus als irdischer Mensch vollbracht hätte und für die man ihn verehren würde; nicht besondere Tugenden oder ein heroischer asketischer Kampf wie bei den Mönchsheiligen. Daher kam seiner irdischen Vita keine Bedeutung zu. Besondere Charakteristika in Person oder Biographie oder Schwerpunkte seines irdischen Handelns spielten bei der Entstehung der Nikolaus-Verehrung zumindest keine derart wichtige Rolle, dass man diese überliefert hätte. Die tatsächliche Vita des Nikolaus blieb somit verborgen.

Wichtig für die Hochschätzung des Nikolaus war vielmehr etwas anderes: In der Kirche hatte sich der Glaube Bahn gebrochen, dass die Märtyrer, die mit Christus gleich geworden sind im Tod und die mit ihm nun bei Gott im Himmel verherrlicht sind, dass diese ihren Brüdern und Schwestern auf Erden weiterhin verbunden sind und deren Anliegen fürbittend vor Gott tragen. Bald nach dem Ende der Christenverfolgungen weitete sich der Kreis jener verehrten Heiligen und man bezog u.a. Asketen darin ein, die analog zum blutigen Martyrium zeit ihres Lebens im Kampf gegen die Versuchungen widerstanden haben. Es waren Gestalten wie der Mönch Antonius, aber auch andere Typen wie Martin von Tour, die man als bei Gott Vollendete ansah. Vermehrt wurden zudem Bischöfe als die Nachfolger der Apostel diesem verehrten Kreis der Heiligen zugerechnet. Im Kontext der Christianisierung Lykiens und der Abgrenzung gegen heidnische Götter und Kulte ist de facto auch Nikolaus die Verehrung eines Heiligen zugewachsen.

Warum? Vermutlich hatte es im Leben des Nikolaus als Bischof von Myra wohl Ansätze dafür gegeben, dass die Menschen ihr Vertrauen auf den im Himmel geglaubten Nikolaus setzten und gerade durch ihn Hilfe von Gott erhofften. Möglicherweise hat er sich, als er Bischof war, für unschuldig Verurteilte eingesetzt und sie vor dem Henker bewahrt – die Nikolaus-Legende baut auf dieses Grundmotiv zumindest auf. Ein historisches Wissen darüber steht jedoch nicht zur Verfügung.

De facto hat sich bei den Christen in Lykien der Glaube manifestiert, dass Nikolaus vom Himmel her Hilfe in aller Not erbringen könne, und dieser Glaube wurde wohl nicht enttäuscht, sondern immer weiter genährt. So hat der Prozess der Christianisierung in Lykien zugleich wie ein Katalysator gewirkt und den Namen des Nikolaus groß gemacht.

Hand in Hand ging die Nikolaus-Verehrung mit der Entstehung und Verbreitung der Nikolaus-Legende, der sog. »Prãxis« von der Rettung der drei Offiziere, in deren erstem Teil erzählt wird, wie drei weitere unschuldig Verurteilte durch das Eingreifen des Nikolaus vor dem Tode bewahrt wurden. Eine mögliche historische Wurzel im Leben des Nikolaus für die Entstehung dieser Legende muss dahingestellt bleiben.

Ein weiteres Element aber ist in der Legende dargestellt, das sich für die Etablierung der Nikolaus-Verehrung als wesentlich erwiesen hat: In der Legende kam über den Aspekt der Rettung hinaus vor allem auch die Auffassung zum Ausdruck, dass Nikolaus bereits auf Erden einen verklärten Leib entsprechend dem himmlischen Vollendungsleib gehabt haben müsse, weil er nur so dem Kaiser und anderen fernab im Traum habe erscheinen können.

Insbesondere war es die Vorstellung von einer gewissen Einheit himmlischer und irdischer Existenz zugleich, welche aus der damaligen Sicht die Besonderheit der Nikolaus-Verehrung im Unterschied zu anderen Heiligengestalten ausmachte. Nikolaus wurde zu einem »Über-Heiligen«.

Insofern hat die Erzählung von der »Prãxis« das Wesen der Nikolaus-Verehrung auf den Punkt gebracht, dass nämlich Nikolaus noch auf Erden lebend bereits ein himmlischer Mensch, ein Verklärter gewesen, sein irdisches Leben von der himmlischen Verklärung durchdrungen gewesen sei. Seine himmlische und seine irdische Existenz sind in der Nikolaus-Verehrung voneinander nicht zu trennen. Man verehrte Nikolaus als einen himmlischen Heiligen, der weiterhin auf Erden wirkte, während dessen früheres irdisches Leben bereits vom himmlischen durchdrungen war. Dieser Grundzug blieb für die Nikolaus-Verehrung prägend.

Nikolaus galt also als Himmelsbürger und Erdenbürger gleichermaßen. Darum war niemand besser disponiert als er, um sich in der Not an ihn zu wenden und durch ihn Hilfe von Gott zu erfahren. So wurde Nikolaus als Heiliger überaus populär.

Im Bilderstreit (726-843) stand der heilige Nikolaus mit an vorderster Front auf Seiten einflussreicher Bilderfreunde. Im Kern ging es beim Bilderstreit keineswegs nur darum, einen ausufernden Bilderkult, der regional abergläubische und magische Züge angenommen hatte, zu bekämpfen. Vielmehr ging es einmal mehr um die »hypostatische Union« Jesu Christi d.h. sein Menschsein und Gottsein zugleich. Insofern stellte der Bilderstreit die wohl letzte große Kontroverse in der Alten Kirche dar. Daher wurde der Bilderstreit nicht nur sehr heftig geführt, sondern er war für die Kirche insgesamt von überaus großer Bedeutung.

Wichtige Personen auf Seiten der Bilderfreunde hatten sich als große Verehrer des heiligen Nikolaus hervorgetan. Darunter ist u.a. Methodius I., der in der zweiten Welle des Bildersturms unter Leon V. 821 als Bilderfreund verhaftet wurde. Als späterer Patriarch von Konstantinopel führte er das Ende des Bilderstreits mit herbei.

Der ikonenfreundliche Ausgang des Bilderstreits bestätigte die anschaulichen Ausdrucksformen religiöser Heiligenverehrung und verhalf diesen zu weiterer Blüte. Der Name »Nikolaus« stand programmatisch und sogar buchstäblich für den »Sieg des Volkes«: gr. »nίkē – Sieg«; »laós - Volk«. Der Ausgang des Bilderstreits zugunsten der Ikonen und der im Volk populären Heiligenverehrung bedeutete zugleich einen umfassenden Durchbruch für die Verbreitung der Nikolaus-Verehrung. Diese hat sich im 9. Jhd. im gesamten christlichen Osten sowie in den byzantinisch kultivierten Gebieten des Westens auf breiter Front etabliert.

Analog zu den Ikonen-Bildern wurde Nikolaus nun auch in narrativen und poetischen Ausdrucksformen anschaulich dargestellt. Diverse Erzählungen über seine Wundertaten wurden in umfassendere Vita-Erzählungen hinein integriert. Sukzessive kam es zu Erweiterungen der Nikolaus-Viten, dies betraf auch die Vorstellung von Nikolaus. So ging um 900 u.a. der Aspekt des Bekennertums in die Vita-Erzählungen ein, Nikolaus sei in den Christenverfolgungen inhaftiert worden. Auch der Aspekt der Rechtgläubigkeit wurde nun unterstrichen und illustriert: Nikolaus habe am Konzil von Nikaia teilgenommen und sei der Gegenpart zu Arius gewesen.

Eine zusätzliche Erweiterung der Nikolaus-Vita ergab sich aus der Assimilation der Vita eines gewissen Nikolaus vom Sionskloster in die Nikolaus-Vita hinein. Auf diese Weise wurden nicht nur Erzählungen zu Kindheit und Jugendzeit integriert, sondern die Nikolaus-Vita erhielt jetzt einen eher biographischen Charakter. Die Vita des heiligen Nikolaus erschien fortan wie die narrative Erzählung der biographischen Lebensgeschichte eines großen Heiligen.

Durch die Aufnahme des Heiligen Nikolaus in Sammlungen von Heiligen-Viten und wegen seines liturgischen Gedenktags wurde dieser auch im Westen, außerhalb der byzantinischen Gebiete, bis hin nach Mitteleuropa zunehmend bekannt. Vermehrt wurden Kirchen zu Ehren des heiligen Nikolaus gestiftet.

Aber erst mit der Übertragung der (unechten?) Nikolaus-Reliquien nach Bari im Jahr 1087 wurde eine Dynamik freigesetzt, die der Nikolaus-Verehrung auch in der tatsächlichen religiösen Praxis breiter Bevölkerungsschichten in Mitteleuropa zum Durchbruch verhalf. Jerusalem-Pilger, Kreuzritter und Handelsreisende trugen zusätzlich zur Verbreitung der Nikolaus-Verehrung in Mitteleuropa bei.

Bis zum Ende des Mittelalters sind mehr als 2.000 Kirchen, Kapellen u.ä. zu Ehren des heiligen Nikolaus in Westeuropa errichtet worden. Nikolaus kam eine nicht unerhebliche Rolle im religiösen Leben zu sowie in der christlichen Kultur. So entstanden Bräuche wie das Kinderbischofsspiel oder die Gabe von Geschenken.

Die Reformation und die Aufklärung setzten jedoch eine gegenläufige Bewegung in Gang. Die reformatorischen Kirchen tilgten mit jeder Form von Heiligenverehrung auch den heiligen Nikolaus. Die Gegenreformation setzte den Fokus auf moderne Heilige wie Ignatius von Loyola, die den aktuellen Gegebenheiten näherstanden. Die Aufklärung führte zur Pädagogisierung des Nikolaus und machte ihn zum Vollstrecker für Lohn und Strafe für brave und böse Kinder. Fortschreitende Profanisierung und Säkularisierung wandelten die verbliebene Kulturgestalt des Nikolaus und näherte diese an Sagengestalten an wie Zwerge oder Väterchen Frost. Und schließlich wurde im Zusammenhang mit der modernen Produktwerbung von Coca Cola aus Nikolaus bzw. Santa Claus per Abbild der Weihnachtsmann.

Ausgehend von der ersten Erzählung von der Rettung der drei Offiziere hat sich die Verehrung für den heiligen Nikolaus stark verbreitet, in vielerlei Gestalt, in West und Ost, von damals bis heute. Weil auf dieser langen Wegstrecke allerlei Folklore um die Gestalt des heiligen Nikolaus gewachsen ist, lohnt sich der Gang zurück bis an die Wurzel.

Das Buch nähert sich der Gestalt des heiligen Nikolaus aus mehreren Perspektiven: von der Geschichte her, über die Legenden und mit Hilfe der Theologie. Der Text skizziert die Entstehung und rasche Ausbreitung seiner Verehrung, bietet die berühmtesten Legenden aus dem 6. und 9. Jhd. in einer möglichst wörtlichen Übersetzung aus dem Original und zeichnet nach, wie sich die Nikolaus-Verehrung verbreitet hat.

Nicht zuletzt möchte das vorliegende Buch dazu beitragen, den eigentlichen, christlichen Sinn der Nikolaus-Verehrung wieder in den Blick zu rücken und so Nikolaus die Ehre zu geben sowie Gott selbst, dem der heilige Nikolaus gedient hat und als dessen Heiliger er verehrt wird.

Kapitel 1

Anfänge der Nikolaus-Verehrung

Kaum ein Heiliger erfreute sich größerer Popularität und stärkerer Verehrung als der heilige Nikolaus. Dies gilt insbesondere für die Kirchen des Ostens, in adaptierter Form zu bestimmten Zeitepochen aber auch in vielen Bereichen des Westens. Wer Nikolaus als Person aber tatsächlich gewesen ist oder was er in seinem irdischen Leben konkret Großes vollbracht haben mag, entzieht sich dem geschichtlichen Zugriff.

historisch nicht greifbar, aber wirklich

Die Person des Nikolaus ist historisch nicht zu fassen. Fassen hingegen lässt sich eine unter den Einwohnern jener kleinasiatischen Provinz Lykien bereits im 6. Jhd. weit verbreitete und tief reichende Verehrung für diesen Mann, der – so die heute vorherrschende Meinung – wohl im ausgehenden 4. oder frühen 5. Jhd. tatsächlich gelebt hat und damals Bischof von Myra gewesen ist.

Eine verbreitete Meinung, dass Nikolaus bereits früher, nämlich zur Zeit des Kaisers Konstantin Bischof von Myra gewesen sein soll, beruht insbesondere auf einer Legende. Die sog. »Prãxis« von der Rettung der drei Offiziere, die grundlegende aller Nikolaus-Legenden, erzählt von einer nächtlichen Erscheinung des Nikolaus vor Kaiser Konstantin zwecks Freilassung von drei inhaftierten Offizieren. Aufgrund der immensen Bedeutung dieser »Prãxis«-Erzählung für die Entwicklung der Nikolaus-Verehrung und ihrer weiten Verbreitung etablierte sich die Meinung, dass Nikolaus wohl zu Zeiten Kaiser Konstantins als Bischof von Myra gelebt haben mag, was in allen später entstandenen Vita-Erzählungen seinen Niederschlag gefunden hat. Allerdings handelt es sich bei der »Prãxis« nicht um ein auch nur ansatzweise historisch zu verstehendes Zeugnis, wie unten in Kapitel 2 deutlich wird, auch wenn zahlreiche Fakten und geschichtlich-gesellschaftliche Realitäten in der Ausformung des Textes ihren Niederschlag gefunden haben. Insofern lässt sich keine historisch belastbare Einordnung der Person des Nikolaus auf die Erzählung selbst begründen. Die Verortung der Legende im Umfeld von Kaiser Konstantin dürfte wohl am ehesten in dessen Bedeutung für den Übergang des Römischen Reiches zum Christentum begründet sein, was diesen in den folgenden Jahrhunderten wie einen christlichen Kaiser par excellence erscheinen ließ.

Unter den Teilnehmern am ersten ökumenischen Konzil von Nikaia im Jahr 325, das Konstantin einberufen ließ, ist auf vielen Teilnehmerlisten kein Bischof Nikolaus von Myra belegt. Einziger Teilnehmer aus Lykien war demnach vielmehr Bischof Eudemos von Patara.1

Erst in einigen später entstandenen Texten wie z.B. im Enkomion (Festrede) des Niketas, Bischof von Dadybra in Paphlagonien, aus dem 9. Jhd. wird die Konzilsteilnahme des Nikolaus behauptet und Nikolaus als Bekenner gegen Arius stilisiert.2 In der kurz zuvor entstandenen ältesten Lebensbeschreibung, der Vita per Michaelem, wurde der Aspekt der Rechtgläubigkeit des hl. Nikolaus eigens unterstrichen, der mit der Arius-Anekdote korrespondiert.3 Das einer Vita-Erzählung ähnliche Enkomion des Methodius betrachtete Myra dank des hl. Nikolaus vom Arianismus verschont.4 So lag es nahe, den hl. Nikolaus zum Gegenspieler des Arius zu stilisieren. Dementsprechend dürfte sein Name auf einigen Teilnehmerlisten des Konzils von Nikaia hinzugefügt worden sein, nämlich auf zwei griechischen und auf einer arabischen, wie man auch andere große Heilige im Nachhinein als (fiktive) Konzilsteilnehmer von Nikaia erscheinen ließ. So ist der Name von Bischof Nikolaus auch in der Historia Tripartita des Theodoros Lector [Anagnostes], verfasst vor dem Jahr 519, enthalten, die von insgesamt 318 Konzilsteilnehmern spricht, wobei die vorliegende Handschrift aber erst aus dem 13. Jhd. stammt.5

Auf diese Namensnennung stützen sich einige wenige, die das irdische Leben des heiligen Nikolaus zur Zeit Kaiser Konstantins verorten wie z.B. Gerardo Cioffari.6 Allerdings ist mit guten Gründen (S. 21 ff.; 27 ff.) davon auszugehen, dass Bischof Nikolaus später gelebt hat, was heute der vorherrschenden Meinung entspricht, dass er nicht am Konzil von Nikaia teilgenommen hat und dass die Erzählung von der »Prãxis« in der Epoche der Regierungszeit von Kaiser Justinian I. abgefasst worden ist.

In den überlieferten koptischen, syrischen und armenischen Teilnehmerlisten von Nikaia findet sich der Name des Bischofs von Myra nicht.7 Dass in diesen Zeugnissen kein Bischof von Myra, weder namens Nikolaus noch einer mit anderem Namen, als Teilnehmer am Konzil von Nikaia belegt ist, schließt für sich genommen zwar noch nicht zwingend aus, ob es im Myra des Jahres 325 nicht vielleicht doch bereits einen eigenen Ortsbischof gegeben oder ob dieser Nikolaus geheißen haben könnte. Allerdings spricht vieles dafür, dass Myra erst im Kontext der Verbreitung des Christentums im Verlauf des 4. Jhd. zu einem der Bischofssitze in der Provinz Lykien geworden ist. Auch dass in den kirchengeschichtlichen Zeugnissen etwa bei Eusebius von Caesarea, einem Ratgeber Konstantins, oder bei Athanasius von Alexandria kein Beleg für einen historischen Bischof Nikolaus von Myra zu jener Zeit zu finden ist,8 erscheint daher nicht überraschend. Myra als Ort war im frühen 4. Jhd. einfach zu unbedeutend, um für die Geschichtsschreiber des Römischen Reiches von Belang zu sein.

Seit der Gründung der Provinz Lykien im Jahr 43 n. Chr. war die Hafenstadt Patara das führende Zentrum und der Verwaltungssitz in der Region. So verhielt es sich auch noch im frühen 4. Jhd., wenngleich Patara allmählich an Bedeutung verlor. Dementsprechend nahm Eudemos als Bischof von Patara wohl als einziger Bischof aus Lykien am Konzil von Nikaia teil. Beim I. Konzil von Konstantinopel im Jahr 381 aber wird es bereits der Bischof von Myra sein, der unter den Bischöfen aus Lykien die erste Stelle einnimmt. Wie viele weitere Ortskirchen zu jener Zeit in Lykien bereits existierten, ist nicht sicher zumal in einer Phase des Umbruchs, da sich der Übergang der breiten Mehrheit des Volkes zum Christentum vollzog und parallel dazu der Aufbau von kirchlichen Strukturen analog zu den staatlichen erfolgte.

Historische Quellen belegen für eine etwas spätere Zeit, da Lykien christianisiert und die kirchlichen Strukturen etabliert waren, zu Beginn des 7. Jhd. 37 Diözesen in der Provinz Lykien bei einer Fläche von 12.500 km2.9 Ein Vergleich mag dies verdeutlichen: Das Bistum Trier im Jahr 2018 entspricht etwa der Größe der damaligen Provinz Lykien. Das Bistum Trier besteht seit seiner Reform der Pfarreigemeinschaften 2018/20 aus 35 »Pfarreien der Zukunft«. Eine Diözese im antiken Lykien entsprach also in etwa dem Gebiet einer solchen modernen deutschen Großpfarrei, allerdings bei einer deutlich geringeren Bevölkerungsdichte als heute. Abseits der bedeutenden Metropolen ist die Vorstellung von einem Bischof in der Spätantike also eher mit einem Stadtpfarrer oder Pfarrverbandsleiter heutiger Prägung zu vergleichen. Ein historischer Nikolaus als Bischof von Myra ist dementsprechend als lokaler Hirte vorzustellen, mit nur geringer Strahlkraft über die engen lokalen Grenzen hinaus. Dass die Nikolaus-Verehrung nach seinem Tod so rasant gewachsen ist und so schnell überregionale Bedeutung erlangte, muss also einem anderen Grund zu verdanken sein. Hier spielt die Entstehung und Verbreitung der Legende von der »Prãxis« die entscheidende Rolle.

Verehrung zielt auf historisch reale Person

Die Art Verehrung als »Heiliger«, die Nikolaus schon bald nach seinem Tod zuteil wird, weitet sich im Verlauf des 4. Jhd. über den Kreis der Märtyrer hinaus. Seit dem 2. Jhd. hatte man begonnen, die Märtyrer und ihre Gräber in besonderen Ehren zu halten. Indem die Märtyrer in den Verfolgungen ihr Leben ließen, sah man darin das Ideal der Nachfolge Christi (Mt 10,38-39; Lk 9,23-24) in höchster Weise erfüllt. Damit verband sich die Gewissheit, dass die Blutzeugen, im Tod mit Christus vereint, nun auch an seiner Herrlichkeit teilhaben (Röm 6,8).

Nach dem Martyrium des Bischofs Polykarp von Smyrna im späten 2. Jhd. belegen Quellen10 aus seiner Gemeinde die Vorstellung, dass der Märtyrer im Moment seines Todes der himmlischen Herrlichkeit teilhaft wird und mit den übrigen Märtyrern und den Aposteln mit Christus vereint ist. Der Todestag gilt in diesem Sinn als Geburtstag für die himmlische Ewigkeit. Auch die Apostel, die zu jener Zeit neu in den Blick geraten sind als historische Bezugspunkte für die Wahrheit des Evangeliums und an die das Bischofsamt anschließt,11 wurden nun in gleicher Weise als Märtyrer verehrt.12 Dies galt sogar für den Apostel Johannes. Die christliche Verehrung für die Märtyrer steht unterhalb der Anbetung für Christus, steht aber in deren Kontext und bleibt auf diese bezogen: Christus »beten wir an, weil er der Sohn Gottes ist. Den Märtyrern aber erweisen wir als Schülern und Nachahmern des Herrn gebührende Liebe wegen ihrer unübertrefflichen Zuneigung zu ihrem König und Lehrer. Möchten doch auch wir ihre Genossen und Mitschüler werden! «13

Das Verständnis vom Martyrium korrespondierte in gewisser Weise mit der jüdischen Vorstellung, dass die Blutzeugen aus der makkabäischen Verfolgung als Freunde Gottes angesehen werden und bei Gott fürbittend eintreten (2 Makk 15,12-14). Der Gedanke des Patronats – und zwar analog zum Römischen Recht – für die noch auf Erden Lebenden und im Sinne der Fürbitte bei Gott gewann auch in der christlichen Heiligenverehrung an Bedeutung. Hinter dieser Praxis stand das Vertrauen, dass jene, die bei Gott vollendet sind, dem Schicksal der Welt und jener, die auf ihr leben, verbunden bleiben, sich deren Anliegen wohlwollend zueigen machen und in ihre Liebe zu Gott und in ihr Leben mit Gott mit hineinnehmen. Wer vor Gott steht und ihm nahe ist, kann ihm seine Anliegen sowie all jene, die ihm angetragen werden, fürbittend vorbringen und so zweitursächlich an Gottes gutem Werk gleichsam mitwirken. Ein Graffiti vom 9. August 260 in den Katakomben von San Sebastiano in Rom zeigt die Verbreitung dieser Haltung des Vertrauens und der Verbundenheit mit den bei Gott vollendeten »Heiligen« im Volk: »Petrus und Paulus, betet für Nativus in der Ewigkeit.«14

In die Hochschätzung für die Märtyrer sind auch ihre Gebeine einbezogen, an denen sich einst das Martyrium vollzog. In Smyrna versammelte sich die Gemeinde fortan am Todestag des Polykarp an seinem Grab, um seines Martyriums und der elf übrigen Märtyrer von Smyrna zu gedenken, dabei die Texte als Zeugnis darüber zu verlesen und das rituelle Totenmahl zu halten. Mit dieser Bindung an die Grabstätte knüpfte der frühe Märtyrerkult auch an die antike Praxis der Totenverehrung an.15