Der Herodes-Killer - Mark Roberts - E-Book + Hörbuch

Der Herodes-Killer E-Book

Mark Roberts

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Beschreibung

«Ich komme nicht aus dem Dunkel. Ich bin das Dunkel.» Eine grausige Verbrechensserie erschüttert London: Vier Schwangere wurden schon mit entleertem Bauch gefunden, eine fünfte wird vermisst. Da bekommt Inspector Rosen einen entscheidenden Hinweis. Father Flint, einst der wichtigste Okkultismuskenner im Vatikan, klärt ihn auf, dass der unbekannte Täter ein Vorbild hat: Auf dieselbe Weise mordete ein berüchtigter Satanist aus dem 13. Jahrhundert. Ein Mörder von heute, ein Mörder im Mittelalter: Was verbindet ihre Taten? Und dann erfährt Inspector Rosen den Grund, warum Father Flint in ein einsames englisches Kloster verbannt wurde … «Mit Komplexität, Tempo und einem Helden, von dem wir bestimmt noch mehr hören werden, präsentiert sich Roberts als ein wirklich origineller Krimiautor mit einem Hang zum Düsteren und Unerwarteten.» (Daily Mail)

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Seitenzahl: 391

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Mark Roberts

Der Herodes-Killer

Thriller

Aus dem Englischen von Barbara Ostrop

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

MottoProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. KapitelDank
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Für meine Frau Linda

Schön bist du, meine Freundin,

ja, du bist schön.

Zwei Tauben sind deine Augen.

 

Das Hohe Lied, 1,15

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Prolog

Im Traum hielt Julia Caton ihr Neugeborenes in den Armen und war von der tiefsten Liebe erfüllt, die sie je erlebt hatte. Langsam verblich der Traum. Es war halb vier Uhr morgens, als sie aufwachte. Vorsichtig setzte sie sich auf die Bettkante. Sie faltete die Hände über ihrem dicken Bauch und flüsterte: «Baby.» Sie streichelte die Rundung. «Ich muss zur Toilette.»

Das Badezimmerlicht brauchte sie nicht anzumachen, da die grelle Außenleuchte des Nachbarhauses von einem maunzenden Kater in Gang gesetzt worden war und hereinschien.

Das ist schon einmal eine gute Vorbereitung auf das häufige Aufstehen mitten in der Nacht, dachte sie. Bei dem Gedanken, dass sie bald ihr Baby im Arm halten, stillen und lieben würde, trat ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Die Außenleuchte des Nachbarhauses ging wieder aus. Das Badezimmer versank in Dunkelheit.

Hinter ihrem schmerzenden Rücken schwang lautlos die Tür auf.

Julia erkannte den Umriss ihres Kopfes im Spiegelschrank über dem Waschbecken. Draußen gab der Kater einen Laut wie ein weinendes Baby von sich, und die Außenleuchte flammte erneut auf. Im Spiegel bewegte sich ein Schatten. Ihre herabhängenden Hände erstarrten, ihre Augen waren zwei Lichtpunkte im Glas. Dahinter glänzte ein weiteres Augenpaar im Spiegel.

Sie spürte einen scharfen Schmerz an der Außenseite ihres linken Unterarms, etwas stach plötzlich in ihre Haut. Sie öffnete den Mund und holte Luft.

Seine Hände schossen zu ihrem Gesicht vor, seine Finger gruben sich in ihren Mund, quetschten ihre Zunge ein und drückten ihren Unterkiefer herunter, sodass ihr Schrei erstarb. Zähne blitzten auf, und das Weiß seiner Augen leuchtete auf der dunklen Oberfläche des Spiegels.

Als sie in seinen Armen zusammensank, schoss ihr eine Folge schrecklicher Gedanken über den Fremden in ihrem Badezimmer durch den Kopf.

Sie war die fünfte Schwangere, die er überfiel. Er würde sie fortschaffen. Und sie würde niemals hierher zurückkehren.

Als ihr die Sinne schwanden, flüsterte eine Stimme in die Leere:

«Ich komme nicht aus der Dunkelheit. Ich bin die Dunkelheit selbst.»

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1

Auf dem Weg zur Brantwood Road hatte Detective Chief Inspector David Rosen gerade die dritte von vier roten Ampeln überfahren, als er von zwei Polizisten in einem BMW-Streifenwagen gestoppt wurde. Bei laufendem Motor hatte er ihnen seinen Polizeiausweis gezeigt, während das Fenster noch herunterglitt, ihr Wortwechsel war knapp und präzise gewesen.

«Herodes-Killer, fünftes Opfer, erster Angriff.»

Sie winkten ihn weiter.

Minuten später bremste Rosen heftig vor dem Absperrband der Polizei. Obwohl Eile angebracht war, erstarrte er einen Augenblick und dachte an die Bestattung, bei der er am Vortag gewesen war. Er hatte das Aufschluchzen von Sylvia Greens Mutter noch im Ohr, als der Sarg ihrer Tochter im Krematorium hinter dem Vorhang verschwunden war. Es war das vierte Begräbnis, das er besucht hatte. Und mit jedem Mord wurde der Abstand zwischen den Taten kürzer.

Vier Opfer, ihre Gesichter und Namen, ihre Leben, all das drängte sich ständig in seinem Kopf.

Vier tote Frauen, und doch konnte er sich noch immer kein besseres Bild von dem Mörder machen als ganz zu Anfang. Rosen versuchte, langsam zu atmen, um den Stress, der ihm die Brust zusammenschnürte, abzubauen.

«Los!», sagte er zu sich selbst.

Er stieg aus und eilte zur Hintertür des weißen Transporters der Kriminaltechniker, wo Detective Sergeant Carol Bellwood bereits fertig eingekleidet stand, bereit, die Brantwood Road Nr. 22 zu betreten. Er schnappte sich einen weißen Schutzanzug vom Metallbord des Transporters. Kleine Regentropfen hatten sich auf Bellwoods schwarzes Haar gelegt, das am Kopf anliegend zu kleinen Zöpfchen geflochten war.

«Wie lange sind Sie schon da?», fragte Rosen, als er in seinen Anzug schlüpfte.

«Seit drei Minuten», antwortete Bellwood.

Rosen prägte sich die Szene wie bei einem Schnappschuss ein.

Es war kurz nach sieben Uhr an einem dunklen Morgen im März. Zwei Reihen großer Doppelhäuser aus den 1930er Jahren säumten eine wohlhabende Vorstadtstraße. Entlang der Bürgersteige links und rechts Baumreihen, jedes Haus mit drei Metern Vorgarten zwischen Haustür und Zaun zum Bürgersteig hin.

Im Osten war der zunehmende Mond über der Brantwood Road nicht die einzige Lichtquelle. Nr. 22, das Haus, zu dem sie gerufen worden waren, war durch einen NiteOwl-Scheinwerfer auf dem Dach des Transporters der Kriminaltechniker in Flutlicht getaucht.

Rosen blickte auf das Nachbarhaus.

«Nr. 24», sagte er. «Es ist das einzige Haus, in dem kein Licht brennt.»

Seine Fenster waren schwarz. Alle anderen Häuser, von den Zehner- bis zu den Dreißigernummern, waren erleuchtet. Die Nachbarn waren wach und beobachteten, wie immer noch mehr Polizei kam.

Rosen, ein dunkelhaariger, untersetzter Mann mittleren Alters, versuchte hastig seine Latexhandschuhe anzuziehen, doch je mehr er sich beeilte, desto schlechter gelang es ihm.

«Hier», sagte Bellwood freundlich, «die Zeit ist ein entscheidender Faktor.» Sie entrollte das zusammengeknüllte Material auf seinem Handrücken, und Rosen verspürte bei der Berührung der jungen Frau ein verlegenes Kribbeln. «Manche Vorhänge bewegen sich.»

«Ich hoffe, dass jemand etwas gesehen hat», meinte Rosen. «Mal schauen, was die Polizisten zu berichten haben.»

Rosen schlüpfte in seine Überschuhe, die ihm im Gegensatz zu den Handschuhen keinerlei Probleme bereiteten.

Drei uniformierte Polizisten, ein Sergeant und zwei Constables, standen an dem Gartentor von Nr. 22 und bewachten stumm und grimmig das blau-weiße Absperrband.

«Chief Inspector Rosen», sagte der Sergeant.

«Sergeant», erwiderte Rosen, der das Gesicht von irgendwoher kannte, aber den Namen nicht wusste. «Wer ist als Erster hier eingetroffen?»

«Die Constables haben auf den Notruf reagiert», informierte ihn der Sergeant. «Ich habe nach meinem Eintreffen den Tatort übernommen.»

«Wer befindet sich im Haus?», fragte Rosen.

«Die Kriminaltechnik.» Der Sergeant warf einen kurzen Blick auf sein Protokoll, um sich der Namen der Personen zu vergewissern, die er durchgelassen hatte. «Detective Constable Eleanor Willis und Detective Sergeant Craig Parker.»

«Wo ist der Ehemann?»

Der Sergeant zeigte auf einen in der Nähe stehenden Streifenwagen, dessen hintere Tür weit geöffnet war. Dort stand ein groß gewachsener Mann in einem sauberen blauen Overall auf dem Bürgersteig und erbrach sich in den Rinnstein.

Während Rosen den Mann beobachtete, bemerkte er einen frisch beförderten Detective Constable, Robert Harrison, der an der Beifahrertür eines zivilen Polizeifahrzeugs stand und zu ihm herüberstarrte. Ertappt wandte Harrison den Kopf ab.

«Was hat der Ehemann Ihnen gesagt?» Rosen richtete seine Aufmerksamkeit auf die Constables.

«Dass er heute Morgen um zwölf Minuten vor drei aus dem Haus gerufen worden ist», antwortete der erste Constable.

«Um zwölf Minuten vor drei? So präzise?»

Der zweite Constable zeigte auf einen in der Nähe parkenden grünen Transporter, einen Handwerker-Mercedes. «Wenn Sie sich einmal diesen Wagen anschauen würden, Sir.»

«Er ist mir auf dem Weg hierher aufgefallen», meinte Carol Bellwood. «Auf der Seite des Transporters steht Phillip Caton, Heizung und Sanitär, auch Notdienst. Außerdem ist da eine Handynummer und das Bild eines den Dreizack schwingenden Neptuns, der mit seiner Autorität die Wogen glättet. Mr. Selbstbewusst oder was?»

«Oder was.» Rosen beobachtete Caton, der sich mit dem Ärmel den Mund abwischte.

«Er hat uns die Zeit genannt», meinte der erste Constable, «und dann ist er zusammengebrochen.»

«Wir mussten ihn in aller Eile aus dem Haus bringen, bevor er uns den Tatort vollkotzt.»

«Gibt es Einbruchspuren?»

Ihr Schweigen genügte. Caton hob den Blick von dem Erbrochenen im Rinnstein zu den Polizisten vor seinem Gartentor.

«Robert!» Rosen durchbrach das Schweigen und winkte ihn herbei. Harrison kam zum Zaun.

«David?», sagte Harrison.

«Carol wird mit dem Ehemann reden.» Rosen zeigte auf Phillip Caton. «Hören Sie der Befragung zu, machen Sie Notizen, mischen Sie sich aber nicht ein.»

Rosen wandte sich dem Sergeant zu.

«Ich übernehme den Tatort jetzt. Vielen Dank für Ihre Arbeit. Bitte bleiben Sie bei der Tür und lassen Sie nur DS Carol Bellwood herein, bis es neue Anweisungen gibt.»

Als er in das Haus trat, hörte er hinter sich einen Mann gequält aufschreien. Rosen war froh, dass es Carol Bellwoods Aufgabe war, Phillip Caton zu vernehmen, und nicht seine. Nach so vielen Jahren als Kriminalbeamter fragte er sich unwillkürlich immer, ob er gerade einen zutiefst leidenden Menschen oder einen großartigen Schauspieler vor sich hatte.

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2

Die Kriminaltechniker hatten gut und schnell gearbeitet. DS Parker und DC Willis hatten Trittplatten aus Aluminium von der Haustür zur Treppe, die Stufen hinauf und zu dem Badezimmer und den Schlafzimmern im Obergeschoss verlegt. Beweismaterial, das möglicherweise noch auf dem Teppich lag, wurde so durch die erhöhten Metallplatten geschützt. Rosen suchte sich seinen Weg über den improvisierten Steg in den Flur.

Bei einem Bild an der Wand blieb er stehen. Eine gerahmte Aufnahme, ein Hochzeitsfoto von Phillip und Julia Caton: sie in Weiß, hübsch und mit einem Schleier, und er linkisch mit Zylinderhut und Frack. An jenem Tag hatten sie fröhlich gelächelt, und die Sonne hatte auf sie herabgeschienen, genau wie viele Jahre zuvor auf Rosen selbst und seine Frau Sarah.

Er verspürte Trauer, als er die Treppe hinaufstieg.

Oben im Gang schob DC Eleanor Willis, blass und rothaarig, gerade mit einer langen Pinzette eine Einwegspritze in eine durchsichtige Beweismitteltüte. Sie spähte hinein.

«An der Nadel klebt Blut», sagte sie zu Rosen.

«Aber bestimmt nicht seines», antwortete er.

DS Craig Parker schnitt im Knien mit einem Cutter den dicken, grünen Teppich vor der Fußbodenleiste der Badezimmertür ab. Auf dem Teppich konnte man erkennen, dass etwas vom Badezimmer zur Treppe geschleift worden war. Parker wies Rosen darauf hin.

«Er hat sie im Badezimmer erwischt», sagte er. «Und sie dann zur Treppe gezogen.»

«Ich liebe den Klang eines Geordie-Akzents an einem kalten, düsteren Morgen», gab Rosen zurück.

«Auch Ihnen einen wunderschönen Morgen, Sie trübseliger Cockney-Schwätzer.» Parker blickte Rosen über seinen Mundschutz hinweg an und fügte hinzu: «Alles in Ordnung mit Ihnen, David?»

Rosen beugte sich vor. «Haben Sie so was schon öfter erlebt, Craig?»

Statt einer Antwort lächelte Parker traurig. «Wir finden keine Stelle, wo er eingestiegen ist.»

Craig Parkers Gesicht erinnerte an einen Bluthund. Seine müden Augen hatten genug gesehen, und die Tränensäcke darunter verrieten Erschöpfung. Nach dreißig Jahren bei der Londoner Polizei stand er drei Monate vor der Pensionierung.

«Eleanor!» Parker stand langsam auf, als seine Assistentin aus dem Schlafzimmer kam und Rosen die Einwegspritze in der Tüte reichte.

In der Injektionskammer war noch der Rest einer Flüssigkeit. «Zweifellos Pentothal. Das übliche Betäubungsmittel des Herodes-Killers. Die Spritze muss heruntergefallen sein, als er sein Opfer aus dem Haus geschafft hat», meinte Rosen.

Willis stand Parker gegenüber. Bei drei hoben sie das Teppichstück in einer Bewegung hoch und trugen es in das nächstgelegene Zimmer, einen leeren Raum hinten im Haus.

«War in den Zimmern irgendwas zu finden?», fragte Rosen.

«Bisher nicht.» Teil zwei der Antwort war gewiss, der erste Teil voll verborgener Versprechungen.

«Craig, wie lange werden Sie brauchen, um den ganzen Tatort durchzukämmen, das Haus, den Garten und die Straße draußen?»

«Drei Tage.» Parkers Stimme hallte in dem hinteren Zimmer wider.

«Wenn er sein Muster nicht ändert, ist sie bis dahin tot», erklärte Rosen. «Keine Einbruchspuren, sagen Sie?»

«Danach haben wir als Erstes gesucht. Nichts.»

«Was ist mit dem Nachbarhaus, Nr. 24?»

«Dort wohnt keiner», bemerkte Willis auf dem Weg ins Badezimmer. «Nach dem Garten hinter dem Haus und dem Zustand der Fenster und des Anstrichs zu schließen.»

Im Gegensatz dazu waren die Fensterrahmen des Badezimmers von Nr. 22 innen strahlend weiß, was durch das dunkle Fingerabdruckpulver, mit dem Willis sie einstäubte, noch betont wurde.

Rosen ließ den Blick über die geschlossenen Zimmertüren wandern. «Welches ist das Kinderzimmer?» Willis zeigte mit der Spitze ihres Fingerabdruckpinsels darauf.

Im Zimmer eines Babys zu sein, das wahrscheinlich niemals darin schlafen würde, das zwischen den mit Wolken bemalten Wänden niemals spielen, weinen oder atmen würde, erfüllte Rosen mit tiefem Kummer. Dass er bisher daran gescheitert war, der Mordserie Einhalt zu gebieten, war nahezu unerträglich.

Rosen erblickte sein geisterhaftes Spiegelbild in der Scheibe. Der jungenhafte Wust schwarzer Locken widersprach dem Netz von Falten und den Schatten in seinem blassen Gesicht.

Er sah auf die hübsche Vorstadtstraße hinaus, auf all die begehrenswerten Autos und attraktiven Häuser, und fasste dann DC Robert Harrison ins Auge. Dieser stand hinter Carol Bellwood, die sich mit Phillip Caton unterhielt. Rosens Blick wanderte weiter.

Die Bäume in der Straße waren hoch und ausladend und standen dicht beieinander.

Es war eine lauschige Straße, eine abgelegene Allee, ein schöner Ort, um zu leben.

Rosen rief Craig Parker, der zu ihm ans Kinderzimmerfenster trat.

«Können Sie durch die Bäume hindurch auf die andere Straßenseite sehen? Wenn Sie es versuchen?», fragte Rosen.

«Nein, ich sehe nicht viel, David», antwortete Parker.

«Und genau darauf hat er gesetzt. Ich gehe jetzt in Nr. 24.» Ich möchte hier raus.

«Warum?», fragte Parker.

«Keine Einbruchspuren. Keine schwangere Frau in London wird mitten in der Nacht ihre Haustür öffnen, nicht in der derzeitigen Stimmung und nach dem, was vorgefallen ist. Ich gehe ins Nachbarhaus. Ich suche danach, wie er hier eingedrungen ist.»

«David, Mensch, wie soll er denn aus Nr. 24 hierhergekommen sein …»

Rosen hob die Hand. «Ich muss das überprüfen.»

Als Rosen auf die Straße trat, bemerkte er, dass Catons Gesichtsfarbe inzwischen einen sonderbar gelblichen Ton angenommen hatte, die Farbe von Wachs. Ein schrecklicher Gedanke kam Rosen in den Sinn. Er hoffte, Catons Qualen wurden nicht noch dadurch verschlimmert, dass er beim Aufbruch zu seinem Einsatz einen Leichtsinnsfehler begangen hatte.

Hast du vielleicht beim Hinausgehen mitten in der Nacht versehentlich die Haustür offen gelassen?

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3

Die Latten des Zauns zwischen den Häusern Nr. 22 und Nr. 24 der Brantwood Road waren zwar alt, aber völlig intakt. Die Entscheidung, den Tatort auszuweiten, entsprang einer Mischung aus Erfahrung und Intuition. Im Jahr 1999 war Rosen an einem Tatort gewesen, an dem man keine Einbruchspuren gefunden hatte. Es hatte sich dann herausgestellt, dass der Mörder durch einen Lüftungsschacht zwischen Nachbarwohnungen eingedrungen war.

Er blickte zum Dach von Nr. 24 hinauf: Ein Flickenteppich verrutschter und fehlender Ziegel, der das Haus und den Dachboden Wind und Wetter aussetzte.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Acht Uhr. Die Zeit flog. Eine ganze Stunde war vergangen, während es ihm wie eine Minute vorgekommen war.

Von vorne versperrte ihm eine an Nr. 24 angebaute verschlossene Garage den Zugang zum rückwärtigen Garten. Er hielt sich oben am Zaun zwischen beiden Häusern fest, schwang den Fuß auf den dicken Astknorren eines Strauchs und zog sich hinüber. Die Zaunlatte ächzte unter seinem Gewicht, als er in den Nachbargarten sprang.

Er suchte den Boden ab. Er war mit dem Kot verschiedener Tiere übersät. Nur eine Armlänge von ihm entfernt flog ein Vogel auf Höhe seiner Augen aus einem Strauch auf.

«Ist dort drüben alles in Ordnung, David?», kam Bellwoods Stimme aus dem Garten von Nr. 22.

Er rief «Ja!» zurück, war sich aber nicht sicher, ob das stimmte.

Rosen drehte sich um, als er Bellwood über den Zaun klettern hörte. Sie sprang anmutig in den Garten.

Eine Mülltonne, die ein Fuchs oder ein anderes Tier vor langer Zeit umgekippt hatte, lag neben dem Haus. Der Abfall – Lebensmittelverpackungen und Zeitungen, deren Schlagzeilen, Sportereignisse und Katastrophen drei Jahre alt waren – war auf dem Boden vor der Hintertür festgebacken.

Rosen spürte, wie sein Puls schneller schlug, als er sich der Tür näherte.

Er blickte noch einmal auf seine Uhr: ein paar Sekunden nach acht. Er dachte an seine Frau Sarah und ihren Termin beim Hausarzt. Die Zeit lief einfach weiter. Er wollte sie begleiten, das hatte er ihr versprochen, und nun das … Der fünfte schreckliche Ausflug des Killers in das Leben anderer Menschen.

Ein Ruck durchfuhr ihn, als er es sah. Seine Nerven spannten sich unwillkürlich an.

Die Hintertür von Nr. 24 stand leicht offen, eine Glasscheibe in der Tür war säuberlich aus dem Rahmen herausgebrochen worden.

Jemand hatte sich die Mühe gemacht, die Tür nicht einzuschlagen, um nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn zu erregen. Rosen betrachtete die Öffnung, die die fehlende Glasscheibe hinterlassen hatte. Sorgfältige Arbeit.

«Carol?»

«Ja?»

«Können wir den Ehemann im Moment ausschließen?»

«Seine Geschichte ist wasserdicht. Ich habe seinen Kunden angerufen. Caton war in Knightsbridge, genau wie er es gesagt hat.»

«Hier ist eingebrochen worden. Wer vom Team ist inzwischen da?»

«Harrison ist derzeit ohne Auftrag. Gold ist bei Caton, Corrigan und Feldman klopfen an die Türen der Nachbarn. David?»

«Ja?»

«Harrison ist eine Belastung.»

«Was hat er denn getan?»

«Gerade als Sie in Nr. 22 gegangen sind, hat Caton gefragt: Glauben Sie, dass der Herodes-Killer sie hat? Und da blökt Harrison dazwischen: So sieht es aus, ja. Caton ist hysterisch geworden. Ich mag Harrison nicht, David.»

«Das kann ich verstehen.» Es erklärte, warum Caton plötzlich so heftig losgeschluchzt hatte. «Hat Caton irgendwas gesagt, irgendwas Brauchbares?»

«Er hat immer wieder gefragt, ob wir wissen, was der Herodes-Killer mit den Föten macht.»

«Und Sie haben es ihm gesagt?»

«Ich habe ihm erklärt, dass wir uns nicht sicher sind. Ich habe das Wort ‹Trophäe› vermieden, das der Kriminalpsychologe verwendet hat. Was halten Sie eigentlich von seiner wenig phantasievollen Spekulation, David?»

«Nichts», antwortete Rosen. Da er auch keine alternative Theorie zu den fehlenden Babys hatte, wandte er sich den praktischen Dingen zu. «Fordern Sie bitte ein zweites kriminaltechnisches Team für Nr. 24 an.»

Mit der Spitze seines linken kleinen Fingers stieß er die Tür an der rechten oberen Ecke auf.

Es war das Haus einer alten Dame.

Es herrschte ein Geruch, als wäre hier jemand vor langer Zeit, in gedämpftem Licht verborgen, ungestört von Mitleid oder Pflichtgefühl gestorben.

 

In etwas weniger als zwanzig Minuten war ein zweites kriminaltechnisches Team eingetroffen, das man aus Shepherd’s Bush herbeordert hatte. Geräuschlos und effizient hatte es die Hauptwege vom Hintereingang des Hauses zum Vordereingang, die Treppe hinauf und zu jedem der Zimmer im Ober- und Erdgeschoss mit Trittplatten belegt.

Als der zweite Beamte die Treppe herunterkam, sagte er zu Rosen: «Im Bett des großen Schlafzimmers nach vorne hinaus liegt eine Leiche. Sie liegt dort schon eine ganze Weile. Wir haben sie nicht angerührt.» Das Team schien eilig aufbrechen zu wollen. «Wir müssen wirklich mit DS Parker nebenan reden und eine Strategie entwickeln.»

Die Kriminaltechniker gingen. Rosen, allein zurückgeblieben, fühlte sich bedrückt. Da war etwas Erdhaftes, etwas Kotiges vielleicht, ein Pilz, der in Wänden und Böden des Hauses wuchs und sich vom Holz ernährte, in das er seine Sporen ablegte, genährt von der Feuchtigkeit, die wie ein eigenes Mikroklima zur Nr. 24 zu gehören schien.

Wo waren die Verwandten der alten Dame? Eine Sechszimmer-Doppelhaushälfte in der Brantwood Road stellte doch ein beträchtliches Erbe dar. Wo waren die Anwärter auf diese Hinterlassenschaft? Warum hatte niemand versucht, das Haus wenigstens leer zu räumen, vom Verkaufen ganz zu schweigen?

Er stellte sich vor, seine Frau Sarah würde alt und einsam sterben. Ihr Tod würde unbemerkt bleiben und das Haus baufällig werden. Schließlich würde ein Verrückter dort einbrechen, und Polizisten würden es auf der verzweifelten Jagd nach Hinweisen durchsuchen.

Er legte den Lichtschalter um, aber es gab keinen Strom. Als er tiefer ins Erdgeschoss des Hauses vordrang, wurde es noch düsterer. Die rote Flocktapete, von der Feuchtigkeit grün und braun verfärbt, schien sich in der zunehmenden Dunkelheit aufzulösen.

Perserläufer verrutschten unter Rosens Füßen und erinnerten ihn unangenehm an die beweglichen Böden eines Gruselkabinetts auf dem Rummelplatz. Doch er konnte keinen Hinweis auf einen Eindringling erkennen. Dies hier war einfach nur die in der Zeit erstarrte Welt einer alten Dame. Irgendwo in einem anderen Zimmer tickte eine gutgearbeitete Uhr noch immer, ein Herzschlag des Hauses.

Ein gelber Lichtfleck, dessen Quelle unmittelbar hinter Rosen lag, tauchte an der Wand auf. Er fuhr herum, und Carol Bellwood trat aus der Dunkelheit.

Er freute sich, dass das neueste Mitglied des Teams ihn unterstützte.

«Wie hält sich Caton?», fragte Rosen.

«Nicht gut, aber wir sind vorläufig mit ihm fertig.»

Als sie die Treppe hinaufstiegen, tanzten in der abgestandenen Luft von Jahren Staubkörnchen im Taschenlampenlicht.

Kurz vor der letzten Stufe blieb Rosen stehen. Oben waren alle Türen bis auf eine verschlossen.

Er ging zu der geöffneten Badezimmertür.

Durch die Milchglasscheibe sickerte trübes Licht in die Düsternis.

«David? Alles in Ordnung, David?»

Er starrte gedankenverloren vor sich hin, nur dass er diesmal direkt zur Decke und zur Holztür des Dachbodens hinaufsah.

«Schauen wir uns einmal in den Zimmern um», sagte er.

 

Im Schlafzimmer war der obere Teil eines menschlichen Schädels auf dem Kissen zu sehen. Die Bettdecke war höckerig und vermittelte den Eindruck einer Reliefkarte mit dem Umriss eines menschlichen Körpers. Rosen zog am Rand der Bettdecke, aber sie klebte an dem um die Matratze eingeschlagenen Bettlaken fest. Als er ein wenig fester zog, hörte er, wie etwas riss. Stoff trennte sich von Stoff, Oberfläche von Oberfläche. Bellwood trat hinter ihn, ihre Taschenlampe beleuchtete, was von der Leiche noch übrig war.

Es tut mir leid, dachte Rosen. Es tut mir leid, dass du hier allein gelegen hast, ohne dass jemand um dich getrauert oder deinen Tod auch nur bemerkt hat.

Die Tote, ein zerbrechliches Skelett, hatte eine Embryonalhaltung eingenommen. Die Knie waren an die Ellbogen gezogen und die Handknöchel an die Zähne. Ihr Schädel ruhte auf einem Büschel grauen Haars.

Rosen senkte die Bettdecke.

Was immer ihren Tod verursacht hatte, sie hatte so lange gelegen, dass sie unter der Bettdecke verwest und ausgetrocknet war. Der Gedanke machte Rosen gleichzeitig wütend und traurig.

Tweed. Auf der Frisierkommode der alten Dame stand eine halb leere Flasche Tweed-Parfüm, daneben lag eine Elfenbeinbürste, in deren Borsten sich für immer ein paar graue Haare verfangen hatten.

Ihre Schmuckkiste stand offen, der Inhalt war wohlgeordnet und unberührt.

Auf dem Tisch daneben lag ein goldenes, herzförmiges Medaillon. Es war geöffnet. Auf der einen Seite des Herzens sah man das Foto zweier Kinder, eines Mädchens im Teenageralter und eines kleinen Jungen; auf der anderen Seite befand sich eine kleine Strähne dunklen Haars.

«Wer seid ihr?», fragte Rosen die Kinder in dem Medaillon.

«Und wo seid ihr jetzt?» Bellwood streichelte das Medaillon mit ihrem Licht.

«Was ist mit den anderen Zimmern?», fragte Rosen.

«Alle leer, bis auf das Nachbarzimmer zu diesem hier. Sollen wir?»

Der Nachbarraum war das reinste Museumsstück. Das Zimmer einer Jugendlichen Anfang bis Mitte der 1970er Jahre. Die Zeitschrift Jackie lag aufgeschlagen auf dem Bett, eine altertümliche Stereoanlage mit einer RAK45 Schallplatte von Muds Tiger Feet war zu sehen, und an den Wänden hingen Poster von David Bowie als Ziggy Stardust und Paul Gadd als Gary Glitter.

«Hm», sagte Rosen, der das gerahmte Foto einer mageren Dreizehnjährigen betrachtete. Er nahm den Rahmen in die Hand und überlegte, was aus dem Mädchen geworden sein mochte.

«Vielleicht hat die alte Dame sich an einen Zeitpunkt in der Vergangenheit festgeklammert, das Mädchen ist groß geworden und …»

«Vielleicht.» Er musterte das Foto, die Kleidung des Mädchens, dessen blondes Haar stufig geschnitten war, und sagte sich, dass das Foto etwa 1973 aufgenommen worden sein musste. «Sie war 1973 ein paar Jahre älter als ich damals. Nicht, dass unsere Pfade sich jemals hätten kreuzen können», bemerkte Rosen wehmütig.

«Warum nicht?», fragte Bellwood.

«Ich bin in Walthamstow aufgewachsen. Von einer Straße wie dieser hier, einer solchen Wohngegend, hätte ich niemals auch nur geträumt.»

Rosen betrachtete das Foto des Mädchens lange schweigend. Er seufzte; in der staubigen Luft hing die Erinnerung an eine Zeit, in der Carol Bellwood noch gar nicht auf der Welt gewesen war.

«Ich hatte eine Tochter …» Rosen schluckte die Worte, die ihm spontan hatten entschlüpfen wollen, herunter und wandte die Augen von Bellwoods verwirrtem Gesicht ab. Er riss sich von dem Gedanken an Hannah los, dem Baby, das einmal in seinen Armen geschlummert hatte, und sprach ein wenig lauter. «Kommen Sie, machen wir weiter. Ich glaube, ich habe schon einmal etwas Ähnliches gesehen.»

Rosen kehrte ins Badezimmer zurück, Bellwood folgte ihm.

«1999 hat einmal ein abgewiesener Lover die Nachbarwohnung benutzt, um an die Frau heranzukommen, die er sowohl liebte als auch hasste. Ein hässlicher Mord.»

Rosen blickte sich im Bad um, verweilte einen Augenblick oben an der Decke und dachte über eine bestimmte Möglichkeit nach. Als seine Augen wieder in Bellwoods Gesicht sahen, lächelte er beinahe.

«Carol, ich glaube, ich weiß, wie der Killer in die Nr. 22 eingedrungen ist.»

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4

Zehn Minuten später stellte Eleanor Willis im Badezimmer von Haus Nr. 22 eine Klappleiter unter der Zugangsluke des Dachbodens auf.

«David, wenn Sie mit dem Dachboden recht haben, könnten Sie da oben genug Spuren finden, um uns zu sagen, welche Schuhgröße seine Oma getragen hat», meinte Parker.

«Ob mir das Glück so hold ist?», fragte Rosen. «Bisher habe ich ja nicht viel Schwein gehabt.»

Sobald die Worte heraus waren, dachte Rosen an Phillip und Julia Caton und die anderen vier durch den Tod getrennten Paare und bereute das in seinen Worten mitschwingende Selbstmitleid zutiefst.

«Es hängt jedoch davon ab, in welchem Zustand der Dachboden ist. Es könnte genauso gut unmöglich sein, in dem Wust aus Glaswolldämmung, halb zerfallenen Zeitungen und dem Schutt ganzer Leben, dem Müll, der seit dem Bau dieser Doppelhäuser 1935 oder 1936 hier lagert, ein einziges Haar zu bergen, das uns weiterbringt.»

Mit Latexhandschuhen ausgerüstet stieg Parker die Leiter zum Dachboden empor, drückte die von keiner Angel gehaltene Türklappe nach oben und entfernte sie vorsichtig von der Tür. Ein rätselhaftes Lächeln trat auf seine Lippen.

«Was ist los, Craig?», fragte Rosen.

«Er hatte jedenfalls gute Sicht auf das Leben der Catons im Badezimmer», sagte Parker und musterte die Türklappe, die er zu Eleanor Willis hinunterreichte. Als sie sie am Rand ergriff, widerstand Rosen dem Drang, «Bitte vorsichtig» zu sagen.

«Im Holz ist ein daumennagelgroßes Loch», sagte Willis. «Das dürfte wohl gereicht haben.»

Willis hielt sich die Tür behutsam vors Gesicht, schloss ein Auge und spähte direkt auf Rosen.

Rosen stieg die Leiter in die kühle Luft hinauf und überlegte: Ein Loch in der Klappe zum Dachboden. Genug, um hindurchzusehen? Direkt ins Badezimmer. Ein guter Blick auf die intimsten Momente.

Er stieg noch einen Tritt höher, streckte den Kopf durch die Luke und lenkte den Strahl seiner Taschenlampe in die Dunkelheit. Eine zufällige Kombination von Sinneswahrnehmungen prägte sich seinem Gedächtnis unauslöschlich ein: Das ferne Geräusch eines Busses, das zwischen den Schrägen des Dachbodens nachhallte, und die unter den Dachsparren gefangene heftige Kälte. Dann setzte der Regen ein.

Zwischen Nr. 22 und Nr. 24 gab es eine Trennwand, die das Dach beider Häuser trug. Eine Schicht frischer Staub lag auf dem neuverlegten Speicherboden von Nr. 22. In der Mitte der gemeinsamen Wand klaffte eine dunkle Stelle, wo Backsteine fehlten. Rosen leuchtete die Trennwand an und betrachtete die Öffnung genauer. Sie war so groß, dass sich ein Mann mit einer durchschnittlichen Figur hindurchquetschen konnte.

Rosen stieg die Leiter hinunter. «Der Mörtel der Trennwand sieht schadhaft aus, wahrscheinlich wegen des undichten Dachs von Nr. 24. Es kann nicht schwer gewesen sein, die Backsteine herauszunehmen. Er hat sich vom Nachbarhaus hierher vorgearbeitet. Er ist in Nr. 24 eingebrochen, auf den Dachboden gestiegen und hat von der anderen Seite her die Backsteine herausgenommen.»

Rosen knipste die Taschenlampe aus.

«Das ist jetzt sein fünfter Überfall, aber es ist das erste Mal, dass er das Opfer aus dessen eigenem Haus heraus entführt hat. Entweder ist das hier gar nicht das Werk des Herodes-Killers, oder er hat inzwischen den gefährlichen Drang, immer wagemutiger vorzugehen. Das hier könnte ihn teuer zu stehen kommen, sehr teuer. Vielleicht glaubt er plötzlich, er könnte an die Entführung seiner Opfer genauso verwegen herangehen wie an das Ablegen ihrer Überreste in London.»

Rosen spürte, wie Willis hinter ihrem Mundschutz seufzte und ihr Körper sich anspannte. Außerdem entging ihm nicht, dass Bellwood die Reaktion ihrer Kollegin auf Julia Catons wahrscheinliches Schicksal aufgefallen war.

«Carol», erklärte er. «DC Willis war die erste Polizistin, die das Werk des Herodes-Killers mit eigenen Augen gesehen hat, ohne Vorwarnung oder irgendein Vorwissen, was sie erwartete.»

Eleanor Willis lehnte die Dachbodenklappe gegen die Badewanne und nahm mit ihrer Digitalkamera eine Serie von Bildern auf. Dann wandte sie sich Bellwood zu.

«Ich war die Erste am Tatort, als Jenny Maguires Leiche gefunden wurde», berichtete sie. «Das Baby war ungeschickt herausgeschnitten worden, das Werk eines nervösen Metzgers. Die Autopsie hat erwiesen, dass er ein Skalpell verwendet hat, aber es sah aus, als hätte er mit einem stumpfen Büchsenöffner auf sie eingehackt. Seine Technik wird jedes Mal besser, die Einschnitte werden gerader und präziser.»

Der stete Regen ging inzwischen heftiger auf das Dach von Brantwood Road Nr. 22 und 24 nieder. Der Lärm der auf die Ziegel prasselnden Tropfen hallte im Dachboden über ihnen wider.

«David, Carol, kommen Sie einmal und schauen Sie sich das hier an», rief Craig Parker aus dem Nachbarraum.

Rosen und Bellwood folgten Parkers Stimme zur Tür des kleinsten der fünf Zimmer, das als Abstellkammer genutzt wurde. Parker wies mit theatralischer Geste auf ein Durcheinander von allem Möglichen und sagte: «Voilà.»

«Was wollen Sie mir zeigen, Craig?»

Parker deutete auf eine Aluminiumleiter, die an der Wand lehnte. «Der Herodes-Killer lässt sich vom Dachboden herunter und verwendet dann Catons Leiter, um die Türklappe wieder einzusetzen. Er stellt die Leiter hierher in den Abstellraum zurück und verschwindet mit der Missus.»

«Was halten Sie von alldem, David?», fragte Bellwood.

Rosen schaute auf seine Uhr. Es war zwanzig nach neun.

«Er hat keine Angst mehr, er hat das Stadium erreicht, in dem er von dem, was er tut, absolut berauscht ist. Was denken Sie?» Rosen gab die Frage an Bellwood, Parker und Willis zurück.

«Was wird im Kopf der Leute vorgehen, wenn herauskommt, dass er mitten im Lauf die Richtung gewechselt hat und jetzt keine Frauen mehr von öffentlichen Orten entführt, sondern Hausbesuche macht?», sagte Bellwood.

«Wie viele Schwangere gibt es im Großraum London?», fragte Parker.

«So etwa neunzigtausend», antwortete Willis.

«Neunzigtausend Frauen als leichte Beute in ihrem eigenen Zuhause.»

Rosen stellte sich die Panik in der Öffentlichkeit vor, die diese neue Entwicklung auslösen würde, und hoffte allen Hinweisen zum Trotz, dass dies nicht das Werk des Herodes-Killers war. Doch wenn er alles bedachte, was im Haus der Catons und im Nachbarhaus vorgefallen war, konnte es eigentlich gar nicht anders sein.

«Das hier war keine zufällige Wahl. Die Wahrscheinlichkeit dieses Hausbesuchs war eins zu neunzigtausend. Der Herodes-Killer kennt dieses Haus hier besser als die Leute, die es bewohnen.»

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5

Rosen war aus der Küchentür der Brantwood Road Nr. 22 getreten und stand neben dem Haus. Drei frisch eingetroffene Polizisten in Schutzanzügen kamen auf ihn zu.

«Sir, wo sollen wir anfangen? Im Garten hinter dem Haus oder im Vorgarten?»

«Im Garten. Von dort arbeiten Sie sich zum Nachbarhaus vor. Ich entschuldige mich im Voraus. Es ist eine absolute Sauerei. Aber von dort her ist er ins Haus eingedrungen.»

Der Regen prasselte pausenlos und kalt nieder. Wieder allein, scrollte Rosen auf seinem Handy zu SARAHMOBIL. Er rief sie an.

Seine Frau hatte letzthin unter schneidenden Unterleibsschmerzen gelitten, sie hatte sich am Arbeitsplatz krankmelden müssen. Sie war Lehrerin und war davor erst ein einziges Mal für eine längere Zeitspanne von fünf Monaten der Arbeit ferngeblieben. Rosen war voller Sorge, was ihr diese Schmerzen verursachte. Er wünschte, er würde an Gott glauben, dann könnte er darum beten, dass es nichts Lebensbedrohliches wäre. Aber er glaubte nicht an Gott und sie auch nicht.

«Hallo, David.»

Sie klang fröhlich.

«Bist du beim Arzt gewesen?»

«Ja.»

«Und?»

«Er denkt – er ist sich ziemlich sicher, dass es ein Magengeschwür ist.»

«Gut!»

«Gut?» Sarah lachte.

«Für sich genommen ist es nicht gut …»

Sie hatten nur einige Male kurz über die Möglichkeit von Krebs gesprochen, aber seitdem hatte der Gedanke Rosen verfolgt.

«Ja, ich weiß, was du meinst. Es hätte viel schlimmer sein können.»

«Wo bist du gerade?» Er wechselte das Thema.

«Ich bin auf dem Parkplatz bei der Schule und sammele meinen Mumm, um der 10M ins Auge zu sehen. Der heutige Unterrichtsstoff: Wo ist Gott im Angesicht des Bösen? Wo ist Gott im Angesicht der 10M?»

In einiger Entfernung stieg Phillip Caton gerade hinten in ein ziviles Polizeifahrzeug ein. DS Gold saß vorn. Man würde Caton für eine förmliche Befragung aufs Polizeirevier in der Isaac Street bringen.

«Ein Magengeschwür», wiederholte Rosen. «Und wie geht es jetzt weiter?»

«Er hat mich an Guy’s überwiesen. Ich muss einen Barium-Drink schlucken und eine Röntgenaufnahme machen lassen, um seine Diagnose zu überprüfen. Oh, oh Gott …»

«Sarah, was ist los?»

Die Wagentür ging auf, und er hörte plötzlich ein Würgegeräusch, mit dem seine Frau sich auf den Parkplatz erbrach.

Er wartete eine Weile, die ihm sehr lang vorkam.

«Ich habe mich gerade übergeben», bestätigte sie ihm.

«Ist Blut darin?», fragte er.

«Nein.»

«Gut.»

«David, du gehst mir allmählich auf die Nerven. Und zwar mächtig.»

«Tut mir leid. Vielleicht solltest du heimgehen.»

«Lieber bin ich unter Menschen, wenn mir schon unwohl ist, und habe etwas zu tun, als zu Hause krankzufeiern. Außerdem glaube ich nicht, dass mir noch einmal schlecht wird.»

«Wann hast du deinen Termin?»

«Der Hausarzt muss im Krankenhaus anfragen, und dort lässt man mich kommen, sobald Platz ist. Ich muss gehen, wann immer es eine Lücke gibt.»

Der Wind wechselte die Richtung, und ein Regenguss traf Rosen mitten ins Gesicht.

«Wie läuft es bei dir?», fragte sie.

«Noch eine Entführung und zweifellos noch eine Tote», antwortete Rosen.

«Wo ist Gott im Angesicht des Bösen? Antwort: Es gibt keinen Gott, nur eine Menge Böses», schloss Sarah.

«Und Sie sind die Leiterin der Religionserziehung in einer katholischen Schule, Mrs. Rosen.»

«Posaune das nicht zu laut heraus, David. Zwei Gehälter sind besser als eins. Wann kommst du nach Hause?»

«Ich weiß es nicht.»

«Dann bist du also da, wenn du da bist. Vielleicht sehr spät abends?»

«Ich komme spät, ja, und es tut mir leid, dass ich dich heute Morgen nicht begleiten konnte.»

«Keine Sorge. Andere sind schlechter dran als wir. Ich hab dich lieb.»

«Ich dich auch.»

«Ich muss los. Oh je, die 10M, was für ein Leben …»

Er beendete den Anruf und betrachtete den Regen. Sie ertrug Schmerz und Unwohlsein mit einer Haltung, die ihm einen der vielen Gründe in Erinnerung rief, warum er sie aus tiefstem Herzen liebte. Wäre er derjenige mit dem Magengeschwür, würde er weltrekordreif jammern.

Als er sein Handy einsteckte, spürte Rosen plötzlich unbestimmt, dass sich jemand hinter ihm befand.

Er drehte langsam den Kopf und sah DC Robert Harrison aus dem Garten hinter dem Haus kommen.

«Was treiben Sie da?»

Harrison hielt die Digitalkamera in seiner Hand hoch.

«Ich ergreife die Initiative, Sir. Da ich keinen Befehl und nichts zu tun habe, fotografiere ich den hinteren Garten.»

«Wie lange sind Sie schon da?»

«Wo denn?»

«Hinter mir, Robert, hinter mir.» Und belauschen mein Telefongespräch.

«Ich bin gerade erst aus dem Garten gekommen.»

Das offene Gartentor schwang gegen den Zaun zurück, schlug gegen dessen Holzlatten und ließ den Wind und den Regen plötzlich noch heftiger wirken, sogar bösartig.

«Okay, Robert. Gehen Sie ins Nachbarhaus. Sie können die Leitung der Fingerabdrucksuche im hinteren Garten von Nr. 24 übernehmen.»

Schweigen.

«Klar.»

Harrison ging weg. «Ich liebe Sie auch», murmelte er.

«Was war das?», fragte Rosen.

«Ich habe nur laut gedacht, Sir.»

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6

Julia Caton wachte davon auf, dass das Baby in ihrem Bauch sie trat.

Aber ein paar verschwommene Augenblicke lang meinte sie zu träumen. Und in diesen Sekunden, als das Baby sich bewegte, spürte sie die Gewichtsverlagerungen, das Drehen und Wenden und den Druck seiner Händchen und Füßchen gegen die Fruchtblasenwand. Diese Empfindungen machten ihr klar, dass sie und ihr Baby lebten, auch wenn sie nicht wusste, wo sie sich in diesem eigenartigen Traum befand.

Julia öffnete die Augen. Es war stockdunkel. Die ganze linke Seite, von der Schulter bis zum Fußknöchel, tat ihr weh. Sie blinzelte ein paar Mal und versuchte, etwas zu erkennen, aber es gab kein Entkommen aus der undurchdringlichen Finsternis. Sie fragte sich, ob sie blind geworden war.

Sie trieb an der Oberfläche einer lauwarmen Flüssigkeit, und ihr Baby bewegte sich mit der Ungeduld eines Lebens, das geboren werden möchte. Wieso war ihr Bett so flüssig? Weil es ein Traum war, genau, wie ein Traum nach zu viel Wein.

Als sie wacher wurde, begriff sie, ohne es überprüfen zu müssen, dass sie nackt war.

Sie hob die Hand aus der Flüssigkeit und hielt sie sich vors Gesicht, aber sie konnte ihre Finger nicht einmal sehen, als sie ihre Wimpern streiften.

Ihr Handrücken berührte eine glatte Oberfläche, die sich gebogen und kunststoffartig anfühlte. Das Wort «Deckel» kam ihr in den Sinn. Einen Deckel konnte man vielleicht anheben.

Sie nahm die andere Hand dazu, die Handfläche nach oben, und drückte mit beiden Händen gegen den kühlen Kunststoff. Der Deckel rührte sich nicht. Julia wusste, dass sie in einer Art Behälter eingesperrt waren und dort in einer Flüssigkeit trieben.

Sie schloss die Augen und holte tief Luft, um gegen die wachsende Panik anzukämpfen, die Folge des verzögerten Schocks. Sie lauschte auf die Luft, die in ihre Nase einströmte, und fühlte, wie ihr Brustkorb sich beim Einatmen hob. Sonst hörte sie gar nichts.

Das Baby – beim zweiten Ultraschall hatte sie erfahren, dass es ein Junge war – verharrte nun still in ihrem Bauch. Es war, als gehorchte es einem geheimen Befehl, der telepathisch von der Mutter an den Sohn übermittelt worden war.

«Braver Junge», flüsterte sie. «Rühr dich nicht.» Ihre Stimme klang in der flüssigen Stille geisterhaft. Das Reden war ein Fehler gewesen. Die körperliche Handlung des Sprechens setzte einen üblen Geschmack in ihrem Mund frei, und fast hätte sie sich erbrochen.

Während der Klang ihrer Stimme in der Dunkelheit versank und der Geruch und der Geschmack ihre Sinne überwältigten, explodierte die Erinnerung in Blitzen vor ihrem inneren Auge.

Als sie im Badezimmer von der Toilette aufgestanden war, sich die Hände wusch und sich umdrehte, hatte sie plötzlich einen Stich im Unterarm und eine Faust im Gesicht gespürt. Das Gefühl zu träumen verflüchtigte sich, da der eiskalte Wind der Wirklichkeit sie wach rüttelte.

Er kam nicht aus der Dunkelheit, er war die Dunkelheit selbst. Der Gedanke überfiel sie, und plötzlich konnte sie Gegenwart und Vergangenheit zusammensetzen.

«Um Himmels willen!»

Sie tauchte die Finger in die Lösung, in der sie schwamm, und roch daran.

Es war kein Geruch wahrnehmbar. Langsam öffnete sie die Lippen und gestattete ihren Fingern, die Zunge zu berühren. Salz. Salzwasser. Sie trieben auf einer Salzwasserlösung, eingesperrt in einer Dunkelheit, in die kein Geräusch drang.

Sie erinnerte sich an einen Namen: Alison Todd, die zweite Mutter, die vor etwas mehr als sieben Monaten verschwunden war. An dem Tag, an dem Julia von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, hatte die Nachricht von der Entdeckung der Leiche die Schlagzeilen gefüllt.

Von den vier ermordeten Müttern hatte Alisons Fall Julia am betroffensten gemacht, und der Gedanke an ihre verstümmelte Leiche hatte einen tiefen Schatten über das kleine Essen geworfen, mit dem sie Julias Schwangerschaft gefeiert hatten.

Phillip hatte versucht, Julias Ängste abzutun, aber sie hatten während ihrer ganzen Schwangerschaft angehalten. Manchmal waren sie richtig laut gewesen, manchmal hatten sie dunkel gemurmelt, aber immer waren sie da gewesen.

Das Ding, in dem sie und ihr Baby eingesperrt waren, hatte Seitenwände. Ihre Ängste holten gemeinsam Luft und brachen dann in ihrem Kopf in ein Riesengeschrei aus.

«Oh Herr Jesus!»

Julia spürte, wie das Blut aus ihren Gliedmaßen wich und ihr schwindlig wurde.

Eine gestresste Mutter stresst ihr ungeborenes Kind!

Eine Weisheit aus der Mütterberatung, an der sie teilgenommen hatte, kehrte zu ihr zurück wie ein Funksignal aus dem Weltraum, eine Botschaft aus einer fernen Welt, der sie und ihr Baby nicht länger angehörten.

Eine gestresste Mutter … stresst … ihr ungeborenes … Kind!

Sie bekam keine Luft.

Sie hörte, wie ihr Herz gegen die Rippen hämmerte und mit jeder Sekunde schneller wurde, und spürte es als Pulsschlag hinter den Augäpfeln.

Instinktiv verschränkte sie die Arme über dem Bauch und schützte ihr Baby mit einer Rüstung aus Fleisch und Knochen.

Phillip hatte versucht, sie von den Nachrichten abzulenken, wenn über die Entdeckung von Alison Todds Leiche und weitere von den Medien veröffentlichte Details berichtet wurde. Aber Phillip war nicht immer da, zum Beispiel nicht, als er nachts geschlafen hatte und sie nach unten getapert und beim Nachrichtensender der BBC gelandet war.

Filmausschnitte vom Fundort der Leiche; blau-weißes Band, das ein Gebiet um die Lambeth Bridge absperrte; das grimmige Gesicht des Reporters, als er von dem Ort berichtete, wo eine zweite Leiche, «mutmaßlich die von Mrs. Todd», von einem Mann gefunden worden war, der am frühen Morgen seinen Hund spazieren geführt hatte.

Die Polizei verweigerte die Auskunft, ob die Mutter tot oder lebendig gewesen war, als der Mörder das Baby und Teile der Gebärmutter mit einem Kaiserschnitt aus dem Bauch geholt hatte. Die genaue Ursache von Alison Todds Tod war unbekannt; die Polizei ließ die Medien über dieses Detail im Unklaren, um falsche Geständnisse erkennen zu können.

Besser du als ich.

Ihre eigenen Worte brannten ein Loch in ihre Erinnerung.

Sie weinte in der Dunkelheit und brauchte alle Kraft ihres Zwerchfells, um den Schrei zu unterdrücken, der aus ihrem Herzen und ihrer Kehle herausbrechen wollte. Als ihr Baby sie plötzlich kräftig trat, brach ihre Willenskraft in sich zusammen.

Der Deckel war niedrig, und der Schrei schallte in ihr Gesicht zurück. Sie holte wieder Luft, schrie nach ihrer Mutter und brach in hysterisches Schluchzen aus, als das Wort knapp über ihrem Gesicht am Deckel erstarb.

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7

Kenne deinen Feind … Londons Drogendealer und Süchtige.

Die Versammlung von Gesichtern an der Wand des Großraumbüros im Polizeirevier Isaac Street starrte in die von Neonlicht erleuchtete Stille. Im Gegensatz zum gesichtslosen Herodes-Killer wirkten sie wie ein ganz vernünftiger Haufen Jungs und Mädels. Das Büro diente gleichzeitig als Ermittlungszentrale für die laufende Morduntersuchung, genau wie Geld war auch Platz knapp.

Es war einundzwanzig Uhr, und DCI David Rosen war inzwischen schon über fünfzehn Stunden im Dienst. Er war so erschöpft, dass er eigentlich nach Hause hätte fahren sollen, um etwas zu essen und um zu schlafen, doch ein intuitives Unbehagen hielt ihn im Büro fest. Er hatte seine Frau Sarah angerufen und sich entschuldigt. Für sie war das nichts Neues, sie korrigierte gerade die Übungshefte ihrer Schüler und steckte bis über beide Ohren in Arbeit.

Auf Rosens Schreibtisch lag ein farbiger Stadtplan von London, auf dem die Entführungsorte mit roten Kreuzen und Zahlen markiert waren. Die Fundorte der Leichen, die blauen Kreuze, schienen kein erkennbares Muster zu bilden. Jenny Maguire, Opfer Nummer eins, im See beim James Park. Alison Todd, Opfer Nummer zwei, unter der Lambeth Bridge. Jane Wise, Opfer Nummer drei, an der Ecke Victoria Street und Vauxhall Bridge Road. Sylvia Green, Opfer Nummer vier, neben dem Oval Cricket Ground. Wo würde Julia wohl auftauchen? Rosen brütete über dem Stadtplan und hoffte auf eine Idee.

Er öffnete Outlook Express. Es gab eine E-Mail mit Anhang, die vielleicht wichtig war. Von Carol Bellwood.

David, ich habe alle bedeutsamen Informationen vom heutigen Tatort in Brantwood Road Nr. 22 und 24 in HOLMES eingegeben. Zwei Stunden und jede denkbare Datenvariante später muss ich leider sagen, dass es keine Treffer gibt.

Tut mir leid, Carol

P. S. Schauen Sie sich einmal den Anhang in Hinblick auf unser Gespräch heute Morgen an. Ist es das, was mit den Babys geschehen ist?

HOLMES (Home Office Large and Major Enquiry System) enthielt sämtliche Daten aller Verbrechen, die je in Großbritannien gemeldet worden waren, gelöste wie ungelöste Fälle. Wenn Bellwood, die beste HOLMES-Nutzerin, die Rosen kannte, nichts Hilfreiches aus der Datenbank herausquetschen konnte, die Einzelheiten aller in Großbritannien begangenen Verbrechen abglich, dann konnte es niemand. Es war ein Schlag, und er fluchte ungehalten.

Er klickte den Anhang an, öffnete ihn und murmelte beim Anblick des Fotos auf dem Bildschirm: «Mein Gott.» Es war das Archivbild eines in einem Glasbehälter konservierten Fötus. Das Weiß seiner vollkommenen Haut war von einem komplizierten Netzwerk von Adern durchzogen. Die Welt um Rosen versank. Etwas an dem Foto war unerträglich.

Er klickte das Bild weg. Erschöpft und verstört von dem, was er gerade gesehen hatte, verließ er das Büro, um sich in der kleinen Küche nebenan einen Kaffee zu kochen.

Als er zu seinem Schreibtisch zurückkehrte, blinkte das rote Lämpchen des Anrufbeantworters. Er blies die Backen auf und stieß die Luft aus.

Er hatte eine Nachricht. Rosen drückte auf «Abspielen». Die Nachricht begann mit einem längeren Schweigen, dann hörte er eine Stimme.

«Mein Name ist Bruder Aidan Walsh. Ich bin der Abt von St Mark’s, einer Gemeinschaft von Dominikanern in der Nähe von Faversham in Kent. Ein Mitglied unseres Klosters, Father Sebastian Flint, glaubt, dass er Ihnen bei Ihren derzeitigen Ermittlungen im Fall der entführten Frau helfen kann. Vielleicht könnten Sie mich zurückrufen.»

Bruder Aidan Walsh hatte eine Nummer und den Segen des Herrn Jesus Christus hinterlassen.

Faversham in Kent. Rosen kannte die Gegend gut, und seine Neugier war geweckt. Er rief die Nummer an, die er auf einem Spiralblock notiert hatte, und wartete.

Er ließ das Telefon läuten, ohne darauf zu achten, wie oft. Wahrscheinlich lagen alle schon um acht in den Betten, da sie zweifellos mitten in der Nacht zum Beten aufstanden. Er beschloss, es noch einige Male läuten zu lassen und dann aufzulegen. Er würde es am nächsten Morgen erneut versuchen.

Plötzlich brach der Freiton ab, und am anderen Ende wurde abgenommen.

Schweigen. Dann: «Ja?»

«Ist dort Bruder Aidan?»

«Nein, er ist leider gerade zum Abendgebet gegangen.»

«Ich bin Detective Chief Inspector Rosen, London Metropolitan Police. Ich sollte Bruder Aidan zurückrufen. Mit wem spreche ich bitte?»

Als der Mann am anderen Apparat antwortete, knisterte die Leitung.

«Entschuldigen Sie bitte», sagte Rosen. «Die Verbindung ist schlecht, könnten Sie bitte lauter sprechen?»

«Ich bin Father Sebastian Flint.»

«Bruder Aidan hat Sie in der Nachricht erwähnt, die er mir auf Band gesprochen hat.»

«Können Sie die Nachricht für mich noch einmal abspielen?»

Rosen ging nicht auf diese Bitte ein.

«Die Technik ist eine großartige Sache, wenn man ein so einfaches Leben führt wie wir.»

Rosen blickte auf die finsteren Gesichter von Londons Drogendealern und sagte: «Bruder Aidan hat gesagt, dass Sie uns helfen könnten.»

«Ja, vielleicht kann ich das.»