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Zwei Männer finden im Wald etwas Wertvolles, in einem Turm auf einer Burg wird ein Schatz entdeckt und in einem Buch aus dem Mittelalter wird eine unglaubliche Geschichte erzählt. Ein Team von Archäologen aus Oldenburg muss nun all diese Fundstücke und Ereignisse miteinander in Einklang bringen. Dabei machen sie eine Entdeckung, die ihr Leben verändern wird. Dies ist eine Geschichte voller Liebe, Hass, Eifersucht, Mord und Rache. Ort des Geschehens ist eine Gegend, in der sich sonst Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Reisen Sie achthundert Jahre zurück in der Zeit und begleiten Sie einen Mann bei dem Versuch, seine Familie zu retten.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel 1 – Sturmschäden
Kapitel 2 – Ein Mord in der Furt
Kapitel 3 – In einem fremden Land
Kapitel 4 – Lehrjahre sind keine Herrenjahre!
Kapitel 5 – My Home is my Castle …
Kapitel 6 – Frei wie ein Vogel ...
Kapitel 7 – Auge um Auge …
Kapitel 8 – Moor is More
Ein paar Worte zum Schluss
Über den Autor
Quellenverzeichnis
Copyright & Impressum
Der Hexer
von Scheerhorn
Ein fiktiver, auf Fakten basierender, historischer Roman aus der Grafschaft Bentheim
von
Tom Schnellhardt
Erstausgabe – V 1.0
Februar 2025
© 2025
Endlich habe ich Zeit und Muße gefunden, dieses Buch zu schreiben. Meine Science-Fiction-Leser muss ich noch ein paar Wochen vertrösten, bis mein nächster ‚Eternal‘-Band erscheint. In den letzten Jahren habe ich etlichen Leuten in den Ohren gelegen, dass ich ein Buch über meine Heimat schreibe(n) werde, will, vorhabe. Der eine oder andere hat sicher schon öfter innerlich abgewunken und gedacht: „Ach du Laberkopp. Dat wird doch nie was!“ Wat soll ich euch sagen? (Zunge rausgestreckt!) Feddich!
Warum ich dieses Buch geschrieben habe?
Zunächst einmal: Warum denn nicht? Meine bisherigen Leser sind überwiegend der Meinung, dass ich nicht schlecht schreibe. Also hab ich mich endlich getraut.
Und zweitens, weil fast jede Ecke in Deutschland schon ihre Roman- oder Fernsehserie hat. Morden im Norden, Testen im Westen, Rosten im Osten ... Ihr wisst, was ich meine. Nur meine geliebte Grafschaft hat so etwas eben noch nicht. Man muss schon intensiv in Literatur und Kunst suchen, um eine rudimentäre Erwähnung oder einen Hinweis auf die Grafschaft Bentheim zu finden. Ich weiß, dass es sie gibt, aber die Bücher und Geschichten fristen ein Schattendasein (wahrscheinlich wie später auch dieses Machwerk), und das finde ich wirklich schade, denn es ist ein so schönes und beschauliches Fleckchen Erde, das es verdient hätte, mehr Beachtung zu finden.
Diese ‚Malaise‘ soll sich nun ändern. Oder hat sich geändert, denn das Buch ist fertig. Ihr haltet es ja in der Hand oder zumindest einen E-Book-Reader oder ein anderes elektrisches Gerät.
Bei den Recherchen zu dieser Geschichte ist mir aufgefallen, dass es in der Grafschaft sogar schon vor tausend Jahren einen echten ‚Superhelden‘ gegeben hat, der es, hätte er in einem bekannteren Teil Germaniens gelebt, sicher in Bücher oder in den einen oder anderen Film geschafft hätte.
Es gibt Könige und Fürsten, die haben Beinamen, die wenig schmeichelhaft sind. Johanna die Wahnsinnige, Ludwig der Dicke, Karl der Kahle, alles nicht nett. Oder, noch besser, Harald Blauzahn, König von Dänemark. Abgesehen davon, dass dieser Harald der Namensgeber unseres modernen ‚Bluetooth‘ ist, hat er sich über diesen Spitznamen sicher nicht gefreut. Balduin oder Boudewijn war einer der ersten Grafen der Grafschaft Bentheim und trug den Beinamen ‚der Tapfere‘. Cool, oder? Selbst die Grafschafter wissen nicht viel über ihn, wenn überhaupt.
Schon bei den ersten Entwürfen und Ideen zu diesem Buch war mir klar, dass ich nicht den heute üblichen Mord- und Totschlagroman über den Görde-Mörder und seine Kollegen schreiben wollte, sondern etwas Neues wagen wollte.
Das Buch ist zum einen ein historischer Roman, zum anderen aber auch eine Liebesgeschichte. Er spielt in mindestens zwei verschiedenen Jahrhunderten, so ganz ohne Zeitmaschine und galaktische Wurmlöcher. Es geht um ein großes Abenteuer, um Heldentum, Geschwisterliebe und Rache. Alles in einem Buch. Na, wenn das nichts ist.
Ich will nicht zu viel spoilern, aber ich bin auch ein bisschen stolz darauf, dass es mir gelungen ist, eine fiktive Romanfigur zu erschaffen, während die Schauplätze und die meisten ‚Statisten‘ auf historischen Fakten beruhen. Auch wenn es um einen ‚Hexer‘ geht, spielen Magie oder Zauberei keine Rolle. Aber mehr soll hier nicht verraten werden.
Eigentlich bin ich kein waschechter Grafschafter, dessen Vorfahren schon seit zig Generationen an der Vechte leben. Meine Eltern und Großeltern stammen allesamt aus anderen Ecken der Republik. Und trotzdem habe ich es gewagt, dem geneigten Leser dieses so heimelige Stückchen Erde ein wenig näher zu bringen.
Und noch etwas: Liebe Leserinnen und Leser, fühlt euch nicht genötigt, aber doch eingeladen, unsere Grafschaft, dieses Kleinod hoch im Norden, einmal selbst zu besuchen. Und wenn, dann nehmt eure Fahrräder mit. Ein Muss!
Viel Spaß beim Lesen. So, nu geit dat los. Hex! Hex!
Euer
Tom Schnellhardt
Grafschaft Bentheim, auf der A31 bei Twist
20. März 2028
Für Ende März war es in den letzten Tagen schon ziemlich warm gewesen, mit Temperaturen über zwanzig Grad. Doch heute war es wieder einer dieser hinterhältigen, kräftigen Tiefausläufer, der eine steife, nasskalte Brise vom Nordpolarmeer über das platte Land jagte. Heiko Thielmann setzte den Blinker und verließ die A31 in Richtung Twist. Erst vor gut drei Stunden hatten die beiden Archäologen die Nachricht erhalten, dass zwei Bauern oder Waldarbeiter einen wertvollen Schatz gefunden hatten, den es nun so schnell wie möglich zu begutachten galt. Er hatte kaum genügend Zeit gehabt, die notwendige Ausrüstung zusammenzusuchen, um eine Notgrabung durchzuführen. Doch Oldenburg war nicht zu weit entfernt, als dass nicht jemand noch etwas nachliefern konnte, falls er ein wichtiges Werkzeug vergessen haben sollte.
Heiko befand sich in seinem Promotionsjahr und arbeitete an seiner Doktorarbeit. Daher unterstützte er seine Kollegin Dr. Gesine Kamphuis im Moment als Aushilfe oder Praktikant, da er selber noch keine Grabung leiten durfte. Heiko war Mitte dreißig und hatte nach seiner Zeit bei der Bundeswehr ein paar Jahre als Webdesigner gearbeitet. In seiner Freizeit hatte er mit seinem Metalldetektor die ganze Welt bereist, immer auf der Suche nach unentdeckten Schätzen oder verlorengegangenen Artefakten. Mit seinen Freunden hatte er an der Copacabana und am Strand von Waikiki nach Schmuckstücken sondiert, aber auch schon in Australien bei über achtundvierzig Grad im Schatten nach Goldnuggets gesucht. Und immer wieder hatte Heiko den Drang verspürt, mehr über seine Fundstücke zu erfahren. Daher hatte er sich irgendwann für ein Studium der Archäologie an der Georg-August-Universität in Göttingen entschieden.
Erst vor wenigen Tagen waren die beiden Wissenschaftler von einer mehrwöchigen Grabung aus Italien zurückgekommen, wo sie zusammen mit anderen Teams aus ganz Europa auf Sizilien große Teile eines erst kürzlich entdeckten griechischen Apollon-Tempels freigelegt hatten. Eigentlich hatten Heiko und Gesine jeweils zwei Wochen Urlaub geplant. Aber wie sagt man so schön: Unverhofft kommt oft.
Heiko fuhr sich mit der rechten Hand über das derzeit extrem kurz geschnittene borstige Haar an seinem Hinterkopf. Der italienische ‚Figaro‘ hatte es etwas zu gut gemeint, als er einen praktischen und pflegeleichten Haarschnitt bestellt hatte. Vielleicht war Heikos Italienisch aber auch nicht so gut, wie er selbst immer behauptete. Unglücklicherweise trat jetzt die Narbe an seiner Schläfe deutlich hervor, die er sich als Jugendlicher während einer einseitigen heftigen Auseinandersetzung mit seinem Bruder und einem Heizkörper geholt hatte.
Die sperrige Grabungsausrüstung auf der Ladefläche des ‚Sprinters‘ rutschte hin und her, als Heiko mit ein wenig zu viel Schwung die Kurve der Autobahnabfahrt nahm. Gesine Kamphuis wurde auf dem Beifahrersitz durch das kratzende Geräusch der Schaufeln wach. Sie gähnte ausgiebig und rieb sich die Augen.
„Guten Morgen“, wünschte Heiko seiner Kollegin. „Na ja, genau genommen müsste ich wohl ‚Mahlzeit‘ sagen. Gut geschlafen?“
„Mmmorgn iissnnn egaaal“, nuschelte sie und sah ihn noch ziemlich müde an. „Geht so.“ Dann nahm sie einen Schluck aus ihrem Thermokaffeebecher. „Bäääh. Der ist ja kalt.“
„Kalter Kaffee macht schön“, zog Heiko sie auf.
„Arsch.“ Sie zog einen kleinen Taschenspiegel aus ihrer Handtasche und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr lockiges rotblondes Haar glich im Moment eher einem Vogelnest als einer normalen Frisur. Die Ringe unter ihren tiefblauen Augen waren auch seit gestern nicht verschwunden. „Ich sehe furchtbar aus.“
„Stimmt“, gab Heiko ihr recht. „Aber das stört mich nicht.“
„Soll ich fahren?“, fragte Gesine.
„Nur wenn du willst. Ich bin noch fit. Du kannst noch mal die Augen zumachen.“
„Schon gut. Ich bin jetzt wach.“ Sie schaute aus dem Fenster und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Die grünen Felder, die durch dünne Baumreihen voneinander getrennt waren, wurden nur selten von den für Norddeutschland so typischen roten Backsteinhäusern unterbrochen.
Gesine war fast so alt wie ihr Assistent. Aber im Gegensatz zu Heiko, der eher ein Spätstarter in der Klassischen Archäologie war, war sie während ihres Studiums ein Überflieger gewesen. Mit vierundzwanzig hatte sie bereits ihren Magister gemacht und mit sechsundzwanzig ihren Doktortitel in der Tasche. Eigentlich wollte Gesine als Dozentin an der Humboldt-Universität in Berlin bleiben, doch nach einem längeren Besuch bei einem Studienkollegen in Ägypten hatte sie das Buddelfieber gepackt und sie entschied sich spontan für eine Karriere als Grabungsspezialistin. Doch Gesine spürte auch, wie ihre biologische Uhr tickte und das Thema Familienplanung immer mehr in den Vordergrund rückte. Vielleicht noch ein, zwei Jahre, dann wollte sie sich irgendwo auf der Welt niederlassen und für Nachwuchs sorgen. Nur wo genau, war ihr im Moment noch nicht so richtig klar. Und dazu brauchte sie einen passenden Mann, den hatte Gesine zurzeit auch noch nicht.
Fast wäre sie wieder eingeschlafen. „Wie spät ist es?“ Jetzt richtete Gesine sich in ihrem Sitz auf.
„Fast halb zwei. Das Navi sagt, wir liegen ganz gut in der Zeit.“
„Ich schätze, maximal noch eine halbe Stunde bis Hoogstede.“
„Stimmt.“ Heiko verglich die Zeit mit den Daten auf seinem Navigationsgerät. „Warst du schon mal hier?“
„Ich bin hier aufgewachsen“, erklärte sie. „Erst in Gölenkamp, dann sind wir nach Uelsen gezogen.“
„Ach so. Ich dachte, du kommst aus Berlin.“
„Falsch gedacht. Ich habe nur während des Studiums bei meiner Tante im Wedding gewohnt. Eigentlich komme ich aus der Grafschaft.“
„Welche Grafschaft?“
„Die, durch die du gerade fährst. Kreis Grafschaft Bentheim. Du bist mittendrin, statt nur dabei.“
„Habt ihr in echt einen Grafen? So wie in Graf Dracula?“, frotzelte Heiko.
„So ähnlich. So richtig, mit einem Grafen und einer richtigen Burg!“
„Krass!“ Er blickte sich um, fast so, als suchte er nach dieser besonderen Sehenswürdigkeit.
„Eine der schönsten und am besten erhaltenen mittelalterlichen Burgen in ganz Norddeutschland.“
„Aha. Noch nie davon gehört.“
„Wundert mich nicht. Es gibt nur wenige, die schon mal von unserem Landkreis gehört haben.“
„Was meinst du, was wir dort finden werden?“, fragte Heiko, als sie eine größere Kreuzung überquerten. Der Sprinter machte einen Satz nach vorn und ließ die Kupplung fliegen.
„Wo? In Hoogstede? Keine Ahnung, aber spannend wird‘s sicher nicht."
„Das kann man vorher nicht wissen“, widersprach Heiko.
„Vielleicht irgendein Geraffel oder frühe Siedlungsreste. Sonst gibt es hier nicht viel. Unser Chef hat vor ein paar Jahren schon mal eine Ausgrabung in Hoogstede geleitet. War nicht allzu spannend. Die üblichen Hinweise auf Fundamente oder Holzpfähle im Boden. Dazu ein paar Scherben und Werkzeuge. Wahrscheinlich alles aus dem frühen Mittelalter oder der Bronzezeit.“
„Aber das wär doch schon was, oder nicht?“
„Wir werden sehen.“
„Ich verstehe, was du meinst. Aber vielleicht ist es ja doch mal was anderes. Der Bürgermeister klang ziemlich aufgeregt.“ Heiko hatte die Mail nur kurz überflogen, dann aber mit dem Gemeindevorsteher des kleinen Ortes in der Niedergrafschaft telefoniert. „Er sprach von einer Art Schatz und einem Schwert.“
„Was die hier Schwert nennen!“, spottete sie. „Vermutlich ein Grabstock aus der Bronzezeit oder so etwas Ähnliches. Hoogstede selbst ist ja erst knapp zweihundert Jahre alt. Woher soll da ein Schwert kommen?“
„Und die mittelalterlichen Siedlungen?“
„Die waren aus der Bronzezeit. Da gab es noch keine Schwerter. Oder zumindest hier noch nicht. Siedlungen sind das eine, eine so fortgeschrittene Waffe etwas anderes. Das konnten sich damals nur Edelleute und sehr reiche Grundbesitzer leisten. Und die werden dort draußen im Nirgendwo kaum einen Robin Hood gehabt haben, der mit seinen vogelfreien Gefährten auf einer Lichtung im Wald gelebt hat, wie im englischen Sherwood Forest.“
„Abgesehen davon, dass das eine rein fiktive Figur ist“, fügte Heiko hinzu.
„Stimmt. Abgesehen davon! Deshalb glaube ich auch nicht, dass wir dort ein Schwert finden werden.“
„Warum fahren wir dann überhaupt hin?“
„Ich war seit einer Ewigkeit nicht mehr zu Hause in Uelsen. Das ist nur einen Katzensprung entfernt. Ich will schon seit einer Ewigkeit meine Eltern besuchen. Und wenn ich mir dabei die Fahrtkosten sparen kann und dazu noch einen Chauffeur habe, dann soll es mir recht sein. Dafür fotografiere ich auch mal ein Stück Holz“, lachte sie.
„Und ich?“
„Dein Arsch gehört mir. Du bist mein Praktikant“, ließ sie im Spaß die Vorgesetzte raushängen. „Wo ich hingehe, gehst auch du hin. Sonst du nix Doktor.“
„Ja, Mem Sahib. Ich fahren, Mem Sahib, wohin Mem Sahib wollen“, feixte er, obwohl er wusste, dass so eine Formulierung im 21. Jahrhundert alles andere als politisch korrekt war.
Gesine ignorierte Heikos Frechheiten. Ihre Gedanken drehten sich nun doch um das neue Projekt. Vielleicht hatten die zwei Bauern ja doch etwas Interessantes entdeckt. Sie blickte auf die Uhr. Wenn die Angaben in dem Mail stimmten, war der Fund erst wenige Stunden alt.
Grafschaft Bentheim, Hoogstede, Berger Tannen
Ein paar Stunden zuvor …
Die Uhr zeigte kurz nach sieben Uhr morgens. Die Sonne war vor knapp einer Stunde aufgegangen, ließ sich im Moment aber nicht blicken, sondern versteckte sich ziemlich erfolgreich hinter einem dichten und wolkenverhangenen Himmel. Und nun begann es auch noch zu regnen.
Heute fiel wieder einmal dieser ganz fiese Regen, den es nur hier im Emsland gibt. Ganz feine Wassertropfen, die von einem aufkommenden Wind fast waagerecht über das Land gefegt werden. Man muss dabei den Kopf permanent etwas schräg halten, um nicht vollkommen durchnässt zu werden. Diese Art von Regen hat einen ganz bestimmten Namen. Die älteren Grafschafter wissen, wie man diesen Regen nennt. Ich traue mich aber nicht, das hier zu schreiben. Ach, was soll‘s. Das ist Cock’scher Regen. Mehr sag ich nich dazu!
Der ehemals dunkelrote ‚McCormick IGC-744 International‘ hatte sicherlich schon bessere Tage gesehen. Die fünfzig Jahre alte Maschine knatterte heftig und stieß fette, dunkle Rauchwolken in die kalte Frühlingsluft. Dem Ingenieur, der den Oldtimer vor einer gefühlten Ewigkeit konstruiert hatte, war das Konzept eines Katalysators oder eines Rußpartikelfilters noch völlig fremd gewesen. Auch der TÜV-Prüfer, der mit zitternden Fingern die Plakette auf das verbeulte Nummernschild geklebt hatte, musste mehr als beide Augen zudrücken, um die klassische Zugmaschine aus den Sechzigern nicht aus dem Verkehr zu ziehen.
Der Fahrer auf dem einfachen Sitz aus Metall, hinter dem schwarzen Lenkrad aus hartem Bakelit, hatte den Kragen seiner Allwetterjacke weit nach oben geklappt, um einigermaßen trocken zu bleiben. Gerrit Blekker hatte in weiser Voraussicht dazu noch warme, gefütterte Winterhandschuhe angezogen, um nicht sofort das Gefühl in seinen Händen zu verlieren.
Er war gerade achtundsechzig Jahre alt geworden. Eigentlich wäre er jetzt seit einem Jahr in Rente. Aber wegen zahlreicher gesundheitlicher Probleme war er schon vor vielen Jahren aus dem Arbeitsleben ausgeschieden. Den Bauernhof, den seine Eltern noch bis in die Neunziger bewirtschaftet hatten, versuchte er einigermaßen in Schuss zu halten. Die wenigen Ackerflächen, die er nicht verkauft hatte, waren verpachtet und machten ihm keine Arbeit mehr. Nur die kleinen verstreuten Waldstücke, die ebenfalls zum Hof gehörten, bedurften gerade jetzt im Frühjahr ein wenig Zuwendung. Das Unterholz musste bearbeitet und die entwurzelten und instabilen Bäume entfernt werden, damit sie keine Gefahr mehr darstellten.
Eigentlich wollten ihm seine beiden Söhne helfen, doch die waren beruflich verhindert. Daher hatte sich sein Nachbar, Freund und ehemaliger Arbeitskollege, Harm Mensen, bereit erklärt, ihm bei der nicht ganz ungefährlichen, schweren Arbeit zu helfen.
Blekker lenkte mit einigem Kraftaufwand den Traktor, oder ‚Trecker‘, wie man in der Grafschaft sagte, an den Straßenrand, um seinen Freund und heutigen Arbeitshelfer aufzunehmen.
„Moin, Harm“, war die kurze, aber typische norddeutsche Begrüßung.
„Moin, Geit“, antwortete Mensen ebenso wortkarg. Er verstaute seine vorsintflutliche Axt und die neue Motorsäge in der einfachen, offenen Holzkiste, die an den Hydraulikarmen am Heck des Treckers montiert war. Dann kletterte er ein wenig unbeholfen über die Hinterachse auf den nicht ganz ungefährlichen Notsitz über dem linken Radkasten des alten McCormicks.
„Hol di fast. Et geit lös!“, warnte Gerrit seinen Freund. (Halt dich fest. Es geht los!)
Harm krallte sich wie befohlen an den schwarzen, geschwungenen Haltebügeln des Notsitzes fest. „Joa, joa! Förh man to.“ (Ja, ja! Fahr nur los.)
Der betagte Trecker brauchte ein paar Sekunden, bis er auf Gerrits heruntergedrückten Fuß auf dem Gaspedal reagierte. Mit ein paar kurzen Bocksprüngen und einer heftigen Rauchwolke aus dem ehemals silbernen Auspuffrohr auf der Motorhaube beschleunigte der Oldtimer nur widerwillig, wenn man das überhaupt so nennen konnte.
Gerrit blickte kurz zu seinem Freund und überlegte, ein Gespräch anzufangen, verwarf diesen Gedanken aber vorerst wegen des ohrenbetäubenden Lärms des ungedämpften Vierzylinder-Dieselmotors. Die beiden Männer hatten die Kragen an ihren Regenjacken hochgeklappt, um in der vorsintflutlichen Fahrerkabine nicht pudelnass zu werden.
Das Straßennetz hier in der Niedergrafschaft, in den Bereichen Berge und Scheerhorn, war schon etwas Besonderes. Rund um Hoogstede wurde schon seit der Mitte des letzten Jahrhunderts Erdöl gefördert. Die Firmen Deilmann, Elverath und Wintershall waren und sind wichtige Unternehmen, bei denen über viele Jahrzehnte zahlreiche Grafschafter gearbeitet haben. Damit die schweren ‚Autowinden‘ und Spezial-LKWs die einzelnen Sondenplätze ohne Probleme anfahren konnten, zog sich ein dichtes und gut ausgebautes Netz aus breiten asphaltierten Straßen durch die ansonsten landwirtschaftlich genutzte Gemeinde. Am meisten profitierten davon die Bauern, die so bequem von ihren Höfen zu den Ackerflächen und Viehweiden fahren konnten.
Harm beugte sich zu Gerrit rüber und brüllte: „Wat büs du so late? Du wulls doch um halv söben kumm’n, of nich?“ (Warum bist du so spät? Du wolltest mich doch schon um halb sieben abholen, oder nicht?)
„Dat döt mi leed. Men den ollen Bock wull nich anspringn.“ (Tut mir leid, aber der alte Bock wollte wieder nicht anspringen.)
„Ik wet gar nich, warüm du den noch nich up den Prütt doan häs. Ik was al lang met den noa Wilsum up de Deponie förn.“ (Ich weiß gar nicht, warum du den noch nicht verschrottet hast. Ich wäre damit schon lange nach Wilsum auf die Deponie gefahren.)
Anmerkung des Autors:
Ich erspare mir und dem Leser, die Konversation meiner beiden Protagonisten, die nur im breitesten Grafschafter Platt gehalten ist, in ihrem originalen Dialekt niederzuschreiben. Ab hier werde ich in Hochdeutsch oder zumindest in einer besser lesbaren Version für uns alle weiterschreiben. Platt zu sprechen ist einfach. Aber Platt zu lesen und vor allem zu schreiben, ist wirklich schwer. Ich tue mal so, als würden die beiden alten Plattproater versöken, hochdütsch zu reden, mit allen Tücken der deutschen Grammatik.
Gerrit schaltete einen Gang höher. Das Getriebe des Traktors antwortete mit einem knarzenden Geräusch, das sich nicht allzu gesund anhörte. „Der McCormick hat schon meinem Vater gehört. Ik will den nich so einfach entsorgen. Irgendwie ist der Trecker wie ik. Ik will auch nich auf‘m Altenteil geschoben werden.“
„Jau, dat kann ik verstehen“, nickte Harm.
„Und sonst, bei dich allet gut?“
„Jau. Allet beste“, meinte Harm. „Gestern war ik met Dini bei het Bogenflechten. Und bald danach is Weggen wegbringen“, erzählte er, während er sich an den Sicherheitsbügeln des Notsitzes festklammerte.
„Hat Jan-Heinz endlich eine gefunden, die ihn wohl heiraten will?“
„Jau. Seine Frau is ganz hübsch und ganz nett.“ Harms Stimme hatte ein leichtes Vibrato durch die Unwucht des direkt unter ihm drehenden Treckerreifens. „Ik hoffe, sie tun ihr Glück finden.“
„Dat hoffe ik auch für dir und diene Kinders“, wünschte Gerrit ihm.
Eine bis heute noch weit verbreitete und schöne Tradition in der Grafschaft Bentheim sind die aufwendigen, geschwungenen und handgeflochtenen Hochzeitsbögen aus Tannen- und Fichtenzweigen, die mit künstlichen Blumen aus Papier verziert von den Nachbarn vor der Einfahrt zum Grundstück oder vor der Haupteingangstür des Hauses des Brautpaares aufgebaut werden.
Der ‚Weggen‘, ein langes Weißbrot, wird auf einer Holzleiter befestigt und dann von den Nachbarn und Freunden nach einer ebenfalls feucht-fröhlichen Prozession den jungen Eltern am Hauseingang überreicht. Natürlich wurden und werden während der Produktion dieser Dekorationselemente reichlich Spirituosen verkonsumiert. Oder wie ein Grafschafter sagen würde: „Da gab’s was zu saufen.“ War es in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts der nicht wegzudenkende ‚Panneborg‘schen Kloren‘, ein Kornschnaps, oder danach der ‚Appelkorn‘ und ‚Kroatzbeere‘ eines Schnapslieferanten aus Haselünne, so sind es heute vermutlich Redbull & Wodka oder ähnliche hochprozentige Getränke, mit denen sich die Landjugend die Gehirnzellen abtötet.
„Du hast noch gar nicht erzählt, dat seine Frau schon schwanger ist“, beschwerte sich Gerrit.
„Hochschwanger“, lachte Harm. „Wi alle sin bliede (froh), wenn wir die Hochzeit noch vor die Geburt schaffen tun.“
Gerrit blickte kurz in seinen Rückspiegel und bog von der Deilmannstraße nach links in Richtung Berger Tannen ab. Ihr Ziel war jetzt nur noch wenige Minuten entfernt. Die Einfahrt in den Wald war recht schmal, so dass er seinen Trecker langsam und vorsichtig zwischen den aus dem Boden hochlaufenden Bögen der Ölleitungen lenken musste. Nach wenigen Metern hielt er den roten Oldtimer an und stellte den Motor aus, was zu einer letzten heftigen Rußwolke führte. „Wi bint doa.“ (Wir sind da.)
Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis sich die Männer an die plötzliche Stille gewöhnt hatten. Gerrits Finger kribbelten noch von den heftigen Vibrationen des Lenkrads. Die Vögel im Wald hatten sich schnell wieder beruhigt und setzten ihr ‚Frühjahrskonzert‘ fort. Die überall gegenwärtigen Tauben riefen gurrend ihre Artgenossen. Irgendwo klopfte ein Specht an einen morschen Baum, um eine Höhle zu schaffen oder um Holzwürmer aus dem Stamm zu scheuchen. In wenigen Wochen würde man hier vermutlich sogar die lauten Rufe eines Kuckucks hören können. Einen eher störenden Kontrast dazu stellte das rhythmische Surren einer Pferdekopfpumpe dar, die auf dem nahegelegenen Sondenplatz mit ihrem stetigen Auf und Ab das schwarze Gold aus der Tiefe förderte.
Die winzige Lichtung in den Berger Tannen war in den letzten Jahren stetig kleiner geworden, weil die umliegenden Bäume eine stattliche Größe erreicht hatten. Da hier mittlerweile nur noch wenige Menschen den Wald betraten, war der Boden von einer dicken Moosschicht bedeckt, und nach dem langen Winter lag das gelbe, abgestorbene Gras des Vorjahrs einen halben Meter hoch.
Gerrit kletterte rückwärts über die Hydraulikarme am Heck des Treckers nach unten. Sein Freund und Helfer hatte beide Hände auf die Hüften gestützt und blickte sich in dem kleinen Waldstück um. „Hier is moi wat ümfallen!“ (Hier ist ganz schön was umgefallen!)
(´Tschuldigung, kleiner Rückfall.)
„Jau, dat weiß ik selber“, antwortete Gerrit. „Aber wenn wir weiter quaken wolln, dauert es noch länger, bis wir fertig sind.“
„Dat waren wohl einmal zwei richtig schöne Bäume, dor in die Ecke.“ Harm begutachtete auch den daneben liegenden Stamm. „Wo zwei sind, sind auch drei. Der nächste steht auch schon ganz schön schief.“
„Jau. Dann legen wir den auch noch um, bevor der jemandem auf den ‚Deeds‘ fällt.“
„Machen wir. Aber wenn wir nicht vorsichtig sind, kommen die daneben auch noch runter.“
„Da kannst du wohl recht haben. Ich versteh dat nich. Warum knicken die Bäume nur so leicht um?“ Gerrit stand auf und untersuchte die mächtigen, jetzt freiliegenden Wurzeln der umgestürzten Bäume.
„Kumm, Geit. Das kucken wir uns später an.“
„Na gut.“ Gerrit kam erst einmal wieder zurück.
Gerrit und Harm machten das nicht zum ersten Mal. Sie wussten beide, was zu tun war und bei welchen Arbeiten man vorsichtig sein musste. Deshalb trugen sie nun auch eine Schutzbrille und einen Sicherheitshelm. Gerrit hatte sich sogar einen schnittfesten Beinschutz umgeschnallt. Vor ein paar Jahren war die Kette an seiner Säge gerissen und hatte eine tiefe Schnittwunde in seinem Bein hinterlassen. Das wollte er nicht noch einmal riskieren.
Sie packten ihr Werkzeug aus und betankten die Motorsäge, deren Lärm für die nächsten Stunden immer wieder die idyllische Ruhe des Waldes zerstören sollte. Nach dem Fällen der bereits schräg stehenden Bäume wurden die Stämme entastet und in transportierbare Meterstücke geschnitten.
Gegen neun Uhr, in einer ruhigen Sekunde, piepte plötzlich Gerrits Smartphone. Er legte die Motorsäge zur Seite und zog auch die Sicherheitskleidung aus.
Harm hatte das bemerkt und legte ebenfalls seine Axt zur Seite, mit der er die größeren Aststücke zerkleinert hatte. „Is wat?“
„Jau!“, grinste Gerrit. „Fröhstöck!“
„Hes du wat mitbracht?“
„Jau. Ik fahr nie in den Wald ohne ein gutes Frühstück!“
„Und was giebt‘s?“
„Koffie un Beschüten.“ (Zwieback)
„Beschüten? Wat soll dat denn?“
„Du weißt doch, dat Jan-Heinz seit einem Jahr bei Borggreve in die Keksfabrik arbeitet. Der bekommt dort alles fast umsonst.“
„Echt? Dat is ja prima. Am liebsten mag ik die Spekulatius vor Weihnachten.“
„Jau. Die sind lecker. Aber der gute alte runde Zwieback mit Butter und Marmelade is ock nich schlecht.“ Wie aufs Wort öffnete Gerrit seine große Proviantdose und breitete den Inhalt auf einem abgesägten Baumstumpf aus. Dann goss er für beide einen noch heißen Milchkaffee in zwei Plastikbecher. „Weißt du, wat auch nich schlecht is?“
„Na?“
„Er kriecht für’n Appel und ’n Ei einen riesigen Sack mit Beschütenmehl. Dat is sozusagen Abfall bei Borggreve. Damit kannst du beim Angeln die Fische anfüttern. Dat klappt wie ’ne Eins!“
„Oh, dat muss ich mich merken.“
Während die beiden Männer auf zwei größeren Stammstücken als Stuhlersatz ihr Frühstück verzehrten, ging Gerrit das Problem mit den Wurzeln nicht aus dem Kopf. „Kiek mal, Harm. Hier bint de Bäume alle faste. Nur die älteren und morschen hat der Sturm flachgelegt. Aber da drüben. Dor sin alle eigentlich noch ganz gut in Schuss. Kein Moos, kein Fraß vom Borkenkäfer. Warum kippen solche guten Bäume üm?“
„Dat mösse mi nich frogen. Ik bin ken Förster.“ Harm legte trotzdem seinen halben Zwieback zur Seite und stand auf, um sich die Wurzeln der fraglichen Bäume aus der Nähe anzusehen. Je näher er dem kleinen Hügel kam, desto weicher und schwammiger wurde der moosige Boden. „Dat is wie in Twist in dat Moor, ganz weich unner die Gummistiefels. Echt komisch.“
„Jau. Dat ist wie im Sumpf.“
„Aber kein Wasser. Als wenn da irgendwat drunter sein tut.“
„Wat soll denn da drunter sein?“, wiegelte Gerrit gleich ab. „Hier is nix.“ Er blickte hinüber zum Sondenplatz mit der Pferdekopfpumpe.
Harm schaute in die gleiche Richtung. „Ob dat wat mit dat ‚Ölli‘ zu tun hat?“
„Mit Erdöl? Glöv ik nich. Dat hatte ik schon mal. Dat riech‘se sofort.“
Als Harm sich den Wurzelkopf einer umgestürzten Fichte ansehen wollte, brach er mit dem ganzen Bein durch die Rasendecke nach unten ein. „Aua!“ Sein Ausruf war mehr dem Schreck als einem Schmerz geschuldet. Trotzdem brauchte er einen Moment, bis er sich aus der misslichen Lage befreit hatte. „Häs‘ du ’ne Schippe dabei?“
„Eine Schaufel? Ik glöv wohl, aber nur ’ne kleine.“ Gerrit holte den praktischen Klappspaten aus seiner Werkzeugkiste und reichte ihn seinem Freund.
„Dat reicht. Giv mi mol.“ Harm fixierte den Spaten mit einem kleinen Hebel und begann sofort damit, das Loch im Boden zu vergrößern. „Dat is wohl ganz weich hier. So als wäre eine Höhle darunter.“
„Eine Höhle? Wat denn für eine Höhle? Du tünst (spinnst) doch.“
„Nee in echt. Dat sieht aus wie den Bau von ‘nen Fuchs oder Dachs“, meinte Harm.
„Hier in die Berger Tannen gibt dat kene Dachse. Füchse vielleicht schon, aber hier up min Grund hab ik schon seit Jahren keinen mehr gesehen.“
„Kerl. Wat is dat doch?” Harm beugte sich nach vorne und verschwand fast komplett in dem Erdloch. Als er wieder auftauchte, hatte er einen schweren unförmigen und länglichen Gegenstand in der Hand. „Dat möss du dich ansehen. Da unten ist noch mehr von dat Zeuchs drinne.“
„Noch mehr?“ Gerrit war überrascht. „Mehr von wat denn?“
„Dat wet ik ok noch nich.“ Harm legte seinen Fund auf den Boden und begann damit, ihn auszuwickeln. „Dat is ’ne alte Decke oder so wat. Und dann noch mol Papier oder so Zeuch, met ’ne Wachsschicht oder so.“ Als er nach einiger Zeit das seltsame Objekt von der ebenso seltsamen Verpackung befreit hatte, stand den beiden betagten Altbauern der Mund sperrangelweit offen.
Gerrit fand als Erster wieder Worte. „Blixxemkater. Dat is ’n Schwert.“
(Blixxem: Ausruf der Verwunderung. Im Nieder- und Plattdeutschen ist ‚Blixxem‘ der Teufel.)
„Dat seh‘ ik ok“, grinste Harm und zog die Augenbrauen nach oben. „Ik hab dumals auch Highlander gesehen.“ Soweit er das beurteilen konnte, war das Schwert in einem guten Zustand. Allerdings war es an vielen Stellen stark verrostet. Aber überwiegend war direkt der unversehrte blanke Stahl zu erkennen. Sogar das Leder am Griff war teilweise noch vorhanden.
Gerrit blickte sich um, als würde er nach der berühmten versteckten Kamera suchen. Er war sich nicht sicher, ob ihnen vielleicht irgendjemand einen schlechten Streich spielen wollte.
„Vielleicht ist das ja auch Diebesgut“, wagte Harm einen Schuss ins Blaue.
„Meinst du? Dat hat jemand irgendwo geklaut und hier im Wald versteckt?“ Gerrit schüttelte skeptisch den Kopf. „Dat muss dann aber schon lange her sein.“
„Dat kann ja wohl sein. Vielleicht auch ut de Franzosentid.“ (Zeit der bonapartistischen Besetzung der Grafschaft.)
„Ik weiss nich. Glöv‘ ik nich!“ Gerrit fuhr mit einer Hand über die Klinge. „Da sind sogar noch ein paar Edelsteine an den Griff dran. Und hier kann man ein paar Buchstaben erkennen. Aber lesen kann ik dat nich.“
„Hmmm. Und nu?“
„Dat behalte ich erstmal“, entschied Gerrit spontan, „und dann sehen wir weiter!“
„Nee, dat kanns du nich machen“, widersprach Harm. „Dat kauns du nich beholln. Ik hev hört, damals bei den Goldenen Becher in Gölenkamp hat den Finder auch Ärger gekriecht, weil er ihn behalten hat.“
„Aber dat war vor zweihundert Jahren, du Torfkopp“, amüsierte sich Gerrit.
„Echt? Is dat wohl schon so lange her?“
„Jau. Echt!“, schüttelte Gerrit den Kopf. „Und selbst wenn, dat ist immer noch mein Land, mein Grund und Boden. Alles hier gehört mich.“
„Bis du dich da sicher?“ Harm hatte immer noch seine Bedenken.
„Mmmmh.“ Gerrit zögerte. „Nee, nich wirklich. Gott verdammich. Und wat mookt wi nu?“
Harm runzelte die Stirn und dachte intensiv nach. „Wir rufen Alverincks Heine an. Er soll entscheiden, wat wir damit machen tun.“
„Den Bürgermeister? Wat soll der denn hier? Der will doch nur wieder damit in die Zeitung“, vermutete Gerrit.
„Dat is doch ok ’ne prima Idee“, fand Harm. „Solln wir die Reporter von die Grafschafter Nachrichten anropen?“
„Näää! Dann find ik Heine doch besser.“ Gerrit mochte keine Reporter, spätestens seitdem er mit seinen drei Eigentoren, die er beim Heimspiel des HSV Hoogstede in den frühen 80er-Jahren erzielt hatte, in der Regionalzeitung für einige Tage eine traurige Berühmtheit erlangt hatte.
„Auch wenn Heine selbst keine Ahnung hat, hat er bestimmt gute Beziehungen oder Erfahrungen mit so etwas. Er kennt einen, der kennt einen, der kennt wieder einen, und so weiter.“
„Mit wat soll der sich denn auskennen können?“ Gerrit wusste, das Harms Vorschlag gut war, er wollte seinem Freund aber so schnell noch nicht recht geben. Einfach so! „Mit ’nem Schatz oder mit geklautem Zeugs?“
„Egal. Dat möt in jedem Fall von jemandem untersucht werden.“
„Jau, dat stimmt.“ Gerrit zückte sein Smartphone. „Ik mach erstmal ein paar Fotos mit dat Handy.“
„Dat kann nich schaden. Un ik ruf Heine an.“
Eine Viertelstunde später …
„Moin, Heine“, begrüßte Gerrit den mürrisch dreinblickenden, ehrenamtlichen Bürgermeister der Samtgemeinde. Schon auf den ersten Blick bemerkte er, dass der Ortsvorsteher heute nicht die allerbeste Laune hatte.
„Moin, Harm. Moin, Geit.“ Heinrich Alverinck stieg aus seinem altmodischen Geländewagen und setzte sich seinen zerfransten, gammeligen Cordhut auf. „Was gibt’s? Ich werde sauer, wenn das jetzt nicht wirklich wichtig ist. Ich habe zwei trächtige Sauen im Stall, die gerade abferkeln.“
„Jau. Dat riecht man. Du stinks as ‘nen Iltis“, stellte Gerrit trocken fest. „Ob dat wichtig is, kannse selber beurteilen. Komm mit, wir müssen dich wat zeigen.“
„Mach hinne. Wat soll ich denn hier?“
„Hier kick mol.“
„Ja, toll. Ein umgestürzter Baum. So was hab ich schon mal gesehen. Wollt ihr wat von der Versicherung, oder wat?“
„Nee, du Hirni. Dat hier.“ Gerrit griff in die große Kiste am Heck seines Treckers und überreichte das altertümliche Schwert dem Bürgermeister.
„Sagebuckie! Wat is dat denn?“
„Ein Schwert.“
„Blödmann. Das sehe ich selber. Aber wo habt ihr das her? Lag das hier einfach so rüm?“
Harm schüttelte den Kopf. „Dat hab ich aus ‘n Hohlraum unner de Wotteln von den Baum dor drüben.“ Gerrit zeigte in Richtung der Fichte.
„Echt?“
„Ik glöv, da is wohl noch viel mehr drinne. Ik konnte bloß nix erkennen. Hes du ’ne Taschenlampe bei?“
„Jau, ich glöv wa. In‘t Auto.“
Der Bürgermeister stapfte zurück zu seinem Land Rover und öffnete eine schwere Werkzeugkiste im Kofferraum des Oldtimers. Zurück am Baum beugte er sich nach unten und leuchtete in das finstere Erdloch. „Hey, da is wirklich noch mehr drinne.“
„Dann hohl et raus!“, feuerte ihn Harm an.
„Nee, das lassen wir so, wie et nu is“, entschied Heine.
„Warum?“
„Weil das eine Fundstelle ist.“ Heinrich wurde plötzlich sehr sachlich und sehr hochdeutsch. „Ab jetzt ist das hier eine offizielle Fundstelle. Ich weiß nur noch nicht, was für eine. Ich ruf gleich die Polizei und die Archäologen an. Die machen dann eine Notgrabung.“
„Notgrabung? Is dat nich übertrieben?“ Gerrit schwante bereits jetzt, dass jede Menge Trubel auf ihn zukommen würde.
„Das heißt nur, dass sofort mit der Untersuchung angefangen wird. Wir würden nur mehr kaputt machen, wenn wir da nach unten steigen. Wir könnten auf etwas Empfindliches treten und es zerstören.“
„Du kenns dir aber gut damit aus, wa?“
„Ich war damals bei der Grabung bei uns am Mühlenweg dabei. Da hört und sieht man so einiges.“
„Dat had ik schon wieder vergessen. Die hab‘m ja schon mal gegraben hier in Hoogstede.“
Heinrich nickte zustimmend. „Sag ich doch. Ihr geht hier nicht weg und versprecht mir, dass ihr nichts mehr anfasst. Lasst alles so, wie es ist. Die Polizei kommt bestimmt bald. Ich fahr nach Hause und zieh mich um.“
„Warum?“
„Erstens, weil ich, wie du schon festgestellt hast, bestialisch stinke, und zum anderen, weil ich nicht so auf den Fotos aussehen will.“
„Und wir?“
„Sagt euren Frauen, sie sollen euch was zu essen bringen und vielleicht ein paar schönere Klamotten. Aber das ist eure Entscheidung. Sollte die Polizei hier auftauchen und ich noch nicht zurück sein, dann sagt den Bullen, sie sollen auch auf die Archäologen warten.“
„Du wes doch gar nich, ob die vandaage (heute) noch kommen.“
„Von Oldenburg brauchen die ungefähr zwei Stunden. Wenn ich denen sage, dass wir ein Schwert und einen Schatz gefunden haben, springen die vom Helikopter ab.“
„Meinst du?“
„Natürlich nicht, du Superhirn“, lachte Heine. „Ihr bleibt hier. Ich bin spätestens in einer Stunde zurück.“ Mit diesen Worten sprang der Bürgermeister in sein verbeultes Auto und verschwand.
Die beiden Altbauern sahen sich ziemlich ratlos an. Seit einiger Zeit war nun nur noch das Singen der Vögel zu hören, und natürlich das eintönige summende Motorgeräusch der Ölpumpe nebenan.
„Komm. Ik gev noch eine Runde Beschüten aus.“
„Na dann. Hes du ok noch ‘nen Koffie?“
„Jau. Dat heb ik!“
Am Nachmittag des gleichen Tages …
Endlich trafen die beiden Archäologen mit ihrem großen Transporter in den Berger Tannen ein. Den letzten Kilometer hatte Heine Alverinck sie per Smartphone zur Fundstelle geleitet. Inzwischen war es Nachmittag geworden. Wahrscheinlich würde es nur noch ein, zwei Stunden hell genug sein, bis die Dämmerung einsetzte. Also war Eile geboten. Der Fundort im Wald war leicht zu finden, denn vor der Einfahrt stand ein Polizeifahrzeug mit dem hier typischen ‚EL‘-Kennzeichen und eingeschaltetem Blaulicht. Der Beamte schien auf seinem Sitz zu schlafen oder sich mit seinem Smartphone zu beschäftigen. Was er genau tat, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Zumindest schien er keine übermäßige Hektik an den Tag zu legen.
„Moin. Sind Sie Herr Thielmann?“ Der Bürgermeister begrüßte die beiden Neuankömmlinge per Handschlag.
„Moin. Korrekt. Heiko Thielmann. Dann müssen Sie Herr Alverinck sein.“ Heiko schloss die Fahrertür, während Gesine noch im Auto sitzen blieb. „Wir haben doch miteinander telefoniert, oder?“
„Dat is richtig.“
„Meine Kollegin Frau Kamphuis kommt gleich. Was haben Sie denn Schönes für uns?“
„Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen, was wir bisher gefunden haben.“
„Ich hoffe, Sie haben die Fundstelle nicht kompromittiert.“
„Kompro ... wat?“
„Dass Sie die Sachen irgendwie verändert haben.“
„Einer der beiden Männer dort drüben ist nach unten gestiegen und hat das Fundstück herausgeholt. Danach wurde ich sofort verständigt. Ich habe ihnen verboten, nochmal in die Kuhle zu gehen. Soviel habe ich damals am Mühlenweg gelernt.“
„Sie waren bei der Ausgrabung dabei? Dann haben Sie bestimmt unseren Chef, den Herrn Precht, kennengelernt.“
„Jau, dat hab ich wohl. Ein sehr netter Mann.“ Auf der Höhe seines Land Rovers blieb Heine kurz stehen. „Moment. Ik muss nur schnell dat Ding aus’m Auto holen.“
Dann kam Heine mit schnellen Schritten auf den scheinbar etwas gelangweilten Archäologen zu, dabei trug er einen undefinierbaren Stoffsack unter dem Arm. „Hier, Heiko. Darf ik Heiko sagen? Hier auf’m Land duzen wir uns alle.“
„Das geht okay.“
„Prima. Ik bin Heinrich. Aber alle sagen immer Heine zu mir.“
„Gut, Heine, dann zeig mal her, was ihr gefunden habt.“
„Dat musst du dich wohl mal ansehen.“ Vor Heiko begann er damit, seine Trophäe auszuwickeln. „Ik würde sagen, dat is en Schwert.“
„Wirklich? Ein Schwert?“ Gesine war unbemerkt dazugekommen. „Moin, ich bin Gesine. Ich hab schon zugehört. Du bis‘ Heine? Wie könnt ok platt proaten. Ik bin ut de Grafschaft.“
„Nee, nee!“, widersprach Heiko. „Dann verstehe ich kein Wort von dem, was ihr redet. Wir bleiben schön beim Hochdeutsch, oder bei dem, was ihr hier so nennt.“
„Na gut. Zeigt mal her. Seid ihr sicher, dass es sich wirklich um ein Schwert handelt? Und wenn ja, wie kommt es denn hierher?“
„Dat kann ich dich auch nich sagen. Aber dat erkenne selbst ik, dat dat ein richtiges Schwert is.“ Heinrich wickelte das Fundstück weiter aus. „Und ich finde, dat dat sogar noch recht gut aussieht.“ Dann überreichte er die alte Waffe der zweifellos überraschten Archäologin.
„Krass! Tatsächlich ein Schwert.“ Gesine nahm die schwere antike Waffe entgegen. Mit der rechten Hand umfasste sie den Griff und hielt mit der anderen Hand die beinahe noch intakte Scheide aus Leder fest. Sie rechnete nicht damit, dass sie es schaffen würde, das Schwert aus seiner Hülle zu ziehen, und war dann umso mehr überrascht, dass es ihr doch problemlos gelang. „Wow. Können Sie das kurz halten?“ Sie reichte die Scheide dem Bürgermeister. „Die ist ja noch super intakt.“ Gesine fuhr mit einem Daumen über die kaum verrostete Stahlklinge.
„Hier.“ Heinrich holte ein weiteres Fundstück aus dem Stoffsack. „Sehen Sie mal. In diesem Papier war das Schwert eingewickelt.“
Die Archäologin betrachtete den braunen, undefinierbaren Materialklumpen. „Das ist Wachspapier. Deshalb ist es so gut erhalten.“
„Ist das Schwert alt?“
„Das kann ich dir nicht sagen, Heine. Heiko ist der Waffenspezialist. Ich glaube, er hat sogar seine Diplomarbeit über mittelalterliche Schwerter geschrieben. Heiko!“, rief sie nach ihrem Kollegen, der sich kurz die Fundstelle angesehen hatte.
„Was denn?“
„Das musst du dir ansehen“, sagte sie. Gesine reichte die Stahlklinge ihrem Kollegen. „Ist das nicht geil?“
„Das lag dort unten?“ Heiko deutete in Richtung des Erdlochs.
„Das haben Harm und Geit heute Morgen unter dem umgestürzten Baum gefunden.“
Die beiden Bauern nickten zustimmend.
„Damit dat nicht wegkommt, habe ich dat mit nach Hause genommen. Ich hoffe, dat ist kein Problem? Wir haben vorher wohl Fotos mit unsere Handys gemacht.“
„Ja, schon gut. Alles in Ordnung.“ Heiko sprach die Worte, obwohl er kaum zugehört hatte, dabei nahm er die schwere alte Waffe in die Hand. „Das ist ja der Wahnsinn!“
„Ist es alt? Vielleicht römisch“, vermutete Gesine.
Heiko drehte die Klinge dicht vor seinen Augen und untersuchte jedes Detail. „Nein, das ist kein römischer Gladius. Dafür ist es viel zu groß. Das Material ist weder Bronze noch Messing.“ Er begutachtete die Klinge weiter und schaute entlang der Schneide. „Das Blatt ist noch kerzengerade. Ohne eine genaue Materialanalyse wage ich zu behaupten, das ist ein ziemlich guter Damaststahl. Der Form nach ist es eher ein Wikingerschwert, aber trotzdem etwas schmaler und spitzer. Das Parier ist noch recht schmal ... kaum erkennbar. Eher eine Schlag- und Hiebwaffe für den Nahkampf ‚Mann gegen Mann‘, mit der man aber auch zustechen kann. Ich würde sagen, das ist ein unglaublich gut erhaltenes Ritterschwert aus dem frühen Mittelalter. Schätzungsweise ist die Waffe ungefähr eintausend Jahre alt. Vielleicht um 1000 oder 1100 n. Chr. gefertigt.“
„Wow. Das ist alt.“ Selbst Gesine war von seiner Expertise überrascht. Bei den drei Grafschaftern wanderten die Augenbrauen nach oben. Ein Ritterschwert hatte bislang noch niemand auf dem platten Land gefunden.
„Komm’ wir jetz’ im Fernsehen?“, scherzte Harm.
„Könnte sein“, grinste Heiko. „Das ist ein einmaliger Fund. Der Zustand des Blattes ist unglaublich gut. Es wurde kaum benutzt. Es gibt nur ganz wenige Kerben und Scharten. Der Träger war nicht in viele Kämpfe verwickelt.“
„Sin‘ dat dor Edelsteine im Griff?“ Heine zeigte mit einem Finger auf die kaum erkennbaren Steine an der Papierstange und im Schwertknauf.
„Ich glaube ja. Sie sind zwar klein, aber ich denke, das sind Rubine und Smaragde.“ Heiko drehte das Schwert auf die andere Seite. „Hier fehlen ein paar. Anhand der Edelsteine können wir vielleicht sogar herausfinden, wo die Klinge gefertigt wurde.“ Er versuchte vorsichtig, etwas Schmutz von einem der Steine zu pusten, hatte aber keinen Erfolg. „Vielleicht eine Zeremonialwaffe, oder sie gehörte einem Würdenträger oder einem Adligen. So etwas konnte sich kein einfacher Bauer leisten. Hier, seht mal, da scheint etwas graviert oder eingeätzt zu sein.“
„Kannst du es lesen?“, fragte Gesine.
„Nein, das ist zu stark korrodiert. Vielleicht gelingt es in unserem Labor mit dem 3D-Scanner oder dem Elektronenmikroskop. Wir müssen das ganze Schwert vorsichtig reinigen. Ich denke, danach sieht es wirklich prächtig aus. Für die Region hier dürfte es schon etwas Besonderes sein.“
„Dat is schon wat besser als ein goldener Becher, oder?“, freute sich Gerrit.
„Becher?“ Heiko verstand nicht, worauf der Bauer hinauswollte.
„Der goldene Becher von Gölenkamp“, erklärte Gesine. „Das bislang einzige nennenswerte archäologische Fundstück aus der Grafschaft. Vermutlich ein goldenes Zeremonialgefäß aus der Bronzezeit. Eine originalgetreue Kopie befindet sich in der Burg von Bentheim. In den Ausstellungsräumen sind auch einige Waffen und Rüstungen zu sehen. Ich weiß nur nicht mehr, was das für Schwerter sind.“
„Aber es würde mich wundern, wenn dort auch eine so alte Waffe ausgestellt ist.“
„Das weiß ich nicht“, musste Gesine eingestehen. „Hier ist noch die Scheide.“
„Wow. Auch die ist noch gut erhalten. Die Scheide findet man nur ganz selten.“
„Glauben Sie, dat dat vielleicht geklaut is?“
„Du meinst Diebesgut?“ Heiko schüttelte den Kopf. „Das kann ich ausschließen. Ob das vor tausend Jahren jemandem gestohlen wurde, kann natürlich niemand mehr wissen.“
„Dat is klar. Un wat secht wi to Kommissar Derrick in sin Tatütata?“ Alverinck deutete mit dem Kopf in Richtung des Polizeiwagens.
„Stimmt. Das übernehme ich.“ Gesine machte sich auf den kurzen Weg zum abseits geparkten Polizeiwagen.
Hauptwachtmeister Peter Brinkmann fuhr die Seitenscheibe des Passats herunter und stellte seine Thermoskanne zur Seite. „Moin. Sie sind eine von den Archäologen, oder?“
„Stimmt. Dr. Gesine Kamphuis vom Landesdenkmalamt in Oldenburg.“
„Und? Wie sieht’s aus? Ist das nun ein Tatort? Müssen wir aktiv werden?“ Brinkmann hatte eigentlich keine große Lust dazu. Seine Schicht war schon seit einer Stunde zu Ende und er wollte nach Hause. Heute Abend war noch Fußballtraining. Und die beiden ‚Tunichtgute‘ im Wald hatten im Grunde sowieso nur seine Zeit verschwendet.
„Ich denke nicht“, beruhigte ihn Gesine. „Ein Tatort ist das schon mal gar nicht. Hier ist lange nichts mehr passiert. So wie es aussieht, liegen die Gegenstände schon mindestens achthundert Jahre hier.“
„Achthundert? Echt?“
Gesine nickte. „Wenn nicht länger. Und selbst wenn es nur zwei oder dreihundert Jahre wären, würde man keine DNS-Spuren oder Fingerabdrücke mehr erkennen können.“
„Und könnte es sich um Diebesgut aus einem Museum oder Privatbesitz handeln?“
„Das glaube ich auch nicht. Die Humusschicht über der Fundstätte ist wirklich dick und bestätigt nur unsere Vermutungen. Herr Wachtmeister, ich verspreche Ihnen, wir werden alles peinlichst genau dokumentieren mit Fotos und Messmarken, und wir nehmen alle Fundstücke mit zu uns ins Institut. Dort wird alles im Labor untersucht und protokolliert. Sollten wir im Nachhinein irgendwelche Ungereimtheiten feststellen, informieren wir Ihre Dienststelle umgehend.“
„Perfekt“, freute sich Brinkmann. Das passte ihm so richtig gut in den Kram. „Ich könnte Ihnen noch eine Rolle offizielles Polizei-Flatterband dalassen, wenn Sie die Grube absperren wollen.“
„Keine schlechte Idee. Obwohl ich nicht glaube, dass das irgendjemanden hier im Wald abschrecken würde.“
„Was auch immer.“ Der Polizist hatte das Band schon vorher aus seinem Kofferraum geholt, für den Fall, dass er offiziell hätte eingreifen müssen. So ersparte er sich sogar das Zurücklegen in die Ausrüstungskiste. „Hier.“
„Vielen Dank.“
„Dann fahre ich wohl jetzt. Sagen Sie dem Bürgermeister, er soll mich morgen mal anrufen.“
„Jau. Mach ich. Het Beste!“
„Jau. Beste!“ Mit der typischen Grafschafter Verabschiedung schaltete Brinkmann sein immer noch eingeschaltetes Blaulicht aus und fuhr davon.
„So, das haben wir auch geregelt.“ Gesine hatte wieder zu den beiden Bauern und dem Bürgermeister aufgeschlossen, sah aber ihren Kollegen nirgendwo. „Wo ist denn Heiko?“
„Der ist unten in die Kuhle.“
„Er sollte doch nicht ohne mich anfangen.“ Leise schimpfend stapfte sie in Richtung des umgestürzten Baumes. „Heiko! Heiko! Bist du da unten drin?“
„Ja, hier.“ Seine Stimme war von außerhalb kaum zu hören. „Das müsstest du sehen. Die Fundstelle ist ungefähr einen Meter fünfzig im Quadrat und deutlich tiefer als gedacht. Vielleicht war sie früher mal größer. Ich schätze, das war mal eine kleine Hütte oder ein Verschlag, der dann eingestürzt ist und später von der Vegetation überwuchert wurde.“ Er leuchtete die Wände ab. „Überall sind vermoderte Splitter und Stücke von Rundholz.“ Er versuchte sich umzudrehen. „Kannst du mir den 3D-Scanner nach unten reichen?“
„Einen Moment. Ich hole ihn.“ Gesine lief zurück zu dem Kastenwagen und schulterte die große Aluminiumkiste mit der photometrischen Ausrüstung. Zurück an der Grube übergab sie das hochsensible Gerät ihrem Assistenten. Eigentlich war sie ganz froh, dass sie nicht selber in das dreckige Loch steigen musste. Wer wusste schon, was für Viehzeug da unten unterwegs war. „Aber sei vorsichtig mit der Optik.“
„Jau, Chef.“ Heiko war mit der Benutzung des Scanners längst vertraut, daher dauerte es nur wenige Minuten, bis er die notwendigen Aufnahmen gemacht hatte, um später die Geometrie des Fundorts am Computer zu rekonstruieren. „Wow. Geil!“ Er reichte Gesine den Scanner und verschwand wieder in der Dunkelheit.
„Was denn?“ Sie hasste es, wenn sie so einen ‚Heureka‘-Moment nicht selbst miterleben konnte.
„Hier sind Metallbeschläge, vermutlich war das mal eine Holzkiste. Ein paar Keramikbehälter … Yeahiiii!“
„Was?“
Heiko stemmte einen großen Gegenstand nach oben. „Hier, nimm mal. Ich glaube, das ist noch ein Schwert. Wir müssen das ganze Erdreich hier vorsichtig abtragen und die Fragmente einsammeln.“ Er spürte etwas unter seinem rechten Fuß. Behutsam versuchte er, sein Gewicht zu verlagern, und lehnte sich an eine Wand. Dann griff er nach dem dunklen Gegenstand und entschied sich, wieder nach oben zu klettern. „Warte, ich komme raus.“
Gesine hatte schon angefangen, Heikos Beute vorsichtig auszupacken. Sie reichte ihm die kleine Spiegelreflexkamera. „Hier, mach Fotos.“
„Bin schon dabei.“
Das neue Fundstück war ebenfalls in eine schwere Decke aus grobem Stoff eingewickelt. Die Lederbänder, mit denen sie fixiert war, konnte man nur noch erahnen. Schnell zeigte sich, dass die beiden Archäologen tatsächlich ein zweites Schwert gefunden hatten. Es steckte ebenfalls in einer noch besser erhaltenen Scheide als das Ritterschwert.
Gesine hatte einige Mühe, die eigentliche Waffe aus deren Schutzhülle zu befreien. „Es ist ganz leicht gekrümmt.“
„Ein Krummsäbel? Aber wie …?“ Heiko blickte steil in den Abendhimmel über Scheerhorn, fast so, als erhoffte er sich eine göttliche Eingebung, wie ein gekrümmtes mittelalterliches Schwert es bis hierhin geschafft hatte. Doch die Eingebung kam nicht. Dann erinnerte er sich an den undefinierbaren Gegenstand, der sich unter seinem Fuß befunden hatte. „Ein Lederbeutel … oder so was in der Art.“ Das Material hatte zwar sichtbar gelitten, war aber sonst noch intakt. Er kniete sich nieder und legte das ‚Ding‘ auf dem Deckel der Aluminiumkiste ab.
„Was ist drin?“ Gesine kniete sich neben ihn.
Heiko entfernte die letzten Reste des Lederriemens, der den Beutel verschloss, und konnte seinen Fund endlich begutachten. „Jackpot!“
„Wieso? Was hast du?“
„Münzen!“ Er kippte den restlichen Inhalt des antiken Portemonnaies in seine linke Hand.
„Echt? Jetzt bin ich aber gespannt.“ Sie nahm Heiko den Beutel ab. „Der ist noch ziemlich gut erhalten. Vielleicht durch den sauren Waldboden nochmal gegerbt. Hmm. Daher kommt vermutlich der alte Begriff ‚Geldbeutel‘.“
„Die sind wirklich alt.“ Heiko untersuchte vorsichtig den unförmigen Klumpen aus Silber- und Kupfermünzen. Er wollte nicht riskieren, dass die dünnen Plättchen aus halbedlem Metall unkontrolliert auseinanderbrechen. Es gab aber auch noch einige separate Münzen, die nicht miteinander verklebt waren. Heiko reichte diese an seine Kollegin weiter. „Hier, schau du mal, ob du eine Jahreszahl erkennen kannst.“
„Die Münzen müssen dringend ins Labor, bevor sie noch mehr korrodieren.“ Gesine traute sich dann aber doch, eine der Silberplättchen vom Schmutz zu befreien. „Ich glaube, das ist nur Sand. Warte!“ Sie nahm eine der silbernen Münzen und versuchte, die dort geprägte Inschrift zu entziffern. „Das ist ein holländischer Denar. Von 1050 a.D. Ich habe so einen schon einmal gesehen.“
Heiko war ebenso erfolgreich mit seinen ‚Rubbelversuchen‘. „Und das hier ist ein englischer Sterling von 1100.“
„Diese Münze dürfte sogar von Karl dem Großen sein. Da bin ich mir aber nicht absolut sicher.“
„Unser Schatz hier ist also gut eintausend Jahre alt.“ Heiko blickte erneut von den Münzen zu den beiden Schwertern, die vor ihm am Boden lagen, und dann noch einmal zu dem unscheinbaren Erdloch unter dem Wurzelwerk des umgestürzten Baumes. „Das ergibt doch alles keinen Sinn! Wie ist das hierhergekommen?“
Gesine hatte ihm gar nicht zugehört. „Wahnsinn.“ Sie versuchte immer noch abzuschätzen, wie viele Münzen in dem Beutel waren. „Alleine die Silberlinge sind einige Tausend Euro wert.“
„Und da unten ist noch jede Menge anderes Zeug. Ich habe ein paar Flaschen oder so was in der Art gesehen.“
„Flaschen? Im Mittelalter?“
„Ich sag ja, so was in der Art. Wir werden noch einige Tage brauchen, bis wir alles freigelegt haben.“
„Ich hab nix dagegen. Ich spreche mit dem Chef, damit er ein kleines Budget freigibt. Die Jungs dort drüben helfen uns bestimmt.“
„Willst du auch die Umgebung mit dem Bodenradar absuchen?“
Gesine zögerte eine Sekunde. „Nein, das bringt nix.“ Sie deutete in Richtung der anderen Männer. „Aber wir könnten die unmittelbare Umgebung kurz mit den Metalldetektoren sondieren. Vielleicht finden wir noch die eine oder andere Münze.“
„Das finde ich gut. Wie auch immer.“ Heiko klopfte sich den Schmutz von der Alltagskleidung. „Ich brauche ein Bad. Meine Haare sind voller Dreck. Und wir brauchen was zu essen und ein Zimmer in einem Hotel.“
„Bekommst du alles. Ich habe vorhin mit meinen Eltern gesprochen. Sie erwarten uns zum Abendessen. Dort können wir auch schlafen.“
„Echt? Das ist ja super.“
„Wir machen Schluss für heute. Der Waldmeister hat mir eine Rolle offizielles polizeiliches Absperrband spendiert. Damit können wir hier alles absichern.“
„Ernsthaft? Also ich würde alles so lassen, wie es ist. Wenn du hier das Band ausrollst, fällt das mehr auf, als wenn wir gar nix machen. Vorausgesetzt, die beiden Männer dort drüben schaffen es bis morgen dichtzuhalten, den Bürgermeister eingeschlossen.“
Gesine nickte zustimmend. „Gut, genau so machen wir das. Feierabend!“
In den nächsten zwei Tagen wurde mit einem Minibagger vorsichtig die obere Humusschicht der Grube in den Berger Tannen entfernt, und drei herbeigerufene Kollegen aus Oldenburg halfen bei der fachgerechten Freilegung und Erfassung aller noch so kleinsten Fragmente, die sich darin befanden. Harm und Gerrit hatten in der Tat ‚dichtgehalten‘ und weder ihren Familien noch jemand anderem von ihrem sagenhaften Fund berichtet. Daher gab es auch keine Journalisten oder Schaulustigen, die die Arbeit der Archäologen behinderten. Die Fundstücke wurden in spezielle, klimagesicherte Transportboxen eingepackt und in das Institut für Denkmalpflege geschafft.
Dort hatten Gesine und ihr Team nun damit begonnen, einerseits die gefundenen Objekte zu säubern und zu restaurieren, während andere schon versuchten, die Stücke historisch einzuordnen. Was im Moment das weitaus schwierigere Unterfangen war.
Drei Wochen später, an einem Montagmorgen, kam Heiko Thielmann sichtlich lädiert in das Institut an der Ofener Straße.
„Du siehst richtig scheiße aus. Alles gut bei dir?“ Gesine grinste von einem Ohr zum anderen, als sie den derangierten Zustand ihres Praktikanten sah.
„Von wegen.“ Heiko rieb sich die roten Augen. Die drei Stunden, die er geschlafen hatte, hatten kaum ausgereicht, den Restalkohol in seinem Körper abzubauen. Deswegen war er auch mit dem Bus ins Institut gefahren, um seinen Führerschein nicht schon wieder zu verlieren. „Yasmin hat Schluss gemacht. Sie ist zurück zu ihrem Ex-Freund!“
„Das tut mir leid.“ Gesine fuhr mit einer Hand über seine kurzen Haare. „Und wie fühlst du dich?“
„Genau so, wie ich aussehe“, versuchte er ein gequältes Lächeln.
„Verstehe. So schlimm also. Nimm dir erst mal einen Kaffee. Jan hat Berliner mitgebracht. Und dort drüben gibt’s ein Sandwich. Das spendiere ich heute ausnahmsweise.“
„Super. Das kann ich jetzt brauchen.“ Er holte sein Frühstück und setzte sich dann zu ihr an den Tisch. „Und? Bei dir?“
„Alles senkrecht“, lachte Gesine. Es gab Tage, da vermisste sie eine feste Beziehung. Aber es gab auch Tage, da hatte es seine Vorzüge, Single zu sein. Und wenn sie ihren Kollegen betrachtete, war heute so ein Tag. „Ich hab mir einen faulen Tag vor dem Fernseher gemacht. Und gestern hab ich mir dann noch ‚Highlander‘ angesehen.“
„Verstehe. Wegen der Schwerter und so, richtig?“ Mit einem Becher Milchkaffee in der einen und einem Berliner mit Schokoglasur in der anderen Hand baute sich Heiko vor den Fundstücken aus den Berger Tannen auf. Jedes der Objekte war so weit wie möglich vom Schmutz befreit worden. Die Münzen hatten mehrere Tage in einer elektrolytischen Speziallösung in einem Ultraschallbad verbracht. Jede einzelne von ihnen erzählte eine eigene Geschichte. Als Nächstes wollten sich die Numismatiker damit ausführlich beschäftigen und sowohl ihren Wert als auch ihre historische Einordnung eindeutig taxieren.
In einer kleinen, kostbaren Schatulle aus Tropenholz mit Elfenbeinintarsien befanden sich uralte metallische Werkzeuge. Darunter waren einige kleine scharfe Klingen, Pinzetten und sogar eine vorsintflutliche Schere. Das wäre heute keine Schlagzeile wert, aber für das Mittelalter war ein solcher Werkzeugkasten eine Sensation. Den Experten aus Oldenburg war der Zweck des Kästchens zunächst nicht klar.
Sie hatten zahlreiche kleine, stark verschmutzte Fläschchen gefunden, einige aus Kupfer, einige aus Silber und sogar drei bunte Fläschchen aus Kristallglas. Es gab winzige handgetöpferte Tiegel und verschließbare Becher aus Terrakotta und Keramik. Was die Oldenburger Spezialisten noch mehr verblüffte, war das, was sie im Inneren der Gefäße fanden. Eine chemische Analyse der zum Teil stark riechenden Inhaltsstoffe stand noch aus. Aber die CTAs, die Chemisch-Technischen Assistenten, hatten schon bei der Probenentnahme zur Vorsicht geraten, bis klar war, was sich in den Artefakten befand.
Dann waren da die beiden größten Fundstücke: die mittelalterlichen Schwerter mit ihren intakten Scheiden. Die Materialanalyse hatte ergeben, dass das erste Ritterschwert wahrscheinlich im normannischen England oder Schottland geschmiedet worden war. Eine Aufnahme unter dem uralten Rasterelektronenmikroskop des Physikalischen Instituts hatte jedoch eine Buchstabenreihe ergeben, die eher elfisch oder orkisch klang: ‚Tiodhlac bho Máel Coluim mac Eanric‘. Auch die Auflösung dieses linguistischen Rätsels stand noch aus.
Das zweite, leicht gebogene Schwert bereitete den Waffenexperten noch mehr Kopfzerbrechen. Um es regional und historisch richtig einordnen zu können, musste sogar Unterstützung aus Madrid und London angefordert werden, da es nirgendwo Referenzdaten für ein solches Schwert gab. Sowohl die kristalline Struktur des Damaststahls als auch die ungewöhnliche Form der Klinge hatten die ‚Waffenmeister‘ des Archäologischen Instituts ins Schwitzen gebracht. Schließlich konnte es als eine frühe Form sarazenischer Schwerter, ein sogenannter ‚Scimitar‘ oder Krummsäbel, identifiziert werden. Und das, obwohl diese Art der maurischen Langschwerter erst sehr viel später in der Geschichte aufgetaucht war. Zusammen mit den Münzen und dem anderen Schwert war seine Existenz in dieser Region Deutschlands eigentlich ein historischer Widerspruch, ein Engländer würde so ein Rätsel als ‚Konundrum‘ bezeichnen. Besonders viel Arbeit hatten die zahlreichen Holzfragmente bereitet, die zunächst sortiert und dann zugeordnet werden mussten.
„Bist du damit schon weitergekommen?“ Heiko schob einige der vermoderten Holzreste mit dem Finger hin und her. „Ist es sicher?“
Gesine nickte. „Es ist definitiv ein Kompositbogen. Ein kurzer, aus mehreren Holzarten zusammengeleimter Bogen.“
„Aber es gab zu der Zeit in Nordeuropa so etwas noch nicht“, wusste Heiko aus seinem Grundstudium der Geschichte. „Die Engländer haben bis ins 14. Jahrhundert Langbögen aus Eibe benutzt. Und Armbrüste waren zu dieser Zeit hier auf dem Festland noch nicht verbreitet. Zumal wir auch keine anderen Fragmente gefunden haben, die auf eine Armbrust hingedeutet hätten.“
„Und selbst wenn, wurden diese Waffen schon gar nicht aus Tropenhölzern gefertigt.“
„Tropenhölzer?“
„Zeder und Akazie!“ Gesine hatte eine Weile gebraucht, um die richtigen Holzarten zu bestimmen.
„Echt? Wow! Wo sollte dieses Holz denn herkommen?“
„Das weiß ich doch auch nicht. Aber das sind die Fakten.“
„Die Hunnen haben Kompositbögen verwendet“, wagte Heiko eine Zuordnung.
„Aber für die wäre es historisch ein bisschen zu spät. Außerdem gibt es in Asien nur wenig Akazien.“
„Hmm. Wenn ich mich recht erinnere, haben auch die Berber und Mauren in Nordafrika und Arabien solche Bögen benutzt.“
„Sehr gut. Ich habe mich etwas eingelesen. Sagt dir der Name ‚El Cid‘ etwas?“, fragte Gesine.
„Als Kind habe ich den Film mit Charlton Heston gesehen, glaube ich mich zu erinnern. Der Beginn der spanischen Reconquista, der Rückeroberung des Landes von den Mauren und Berberkalifen. Nicht wahr?“
„El Cid bedeutet auf Arabisch ‚Der Herr‘. Diese Epoche in Spanien würde zumindest zeitlich ungefähr zu den Silbermünzen passen.“
„Du willst aber nicht behaupten, dass die Schwerter ihm gehört haben.“
„Was? Nein! Blödsinn. Aber ich will sagen, dass der Besitzer der Schwerter entweder ein Spanier oder Maure war oder zu dieser Zeit in Spanien gewesen sein muss.“ Gesine stand auf und nahm einen der Tiegel in die Hand. „Das würde auch den Weihrauch, die Myrrhe und das Magnesium erklären, das wir in den Behältern gefunden haben.“
Gesine zückte ein Blatt Papier. „Gestern Abend ist noch die Übersetzung der Schrift auf dem Schwert gekommen. Wayne hat weniger als eine Stunde dafür gebraucht.“
„Und?“
„Es ist altes Gälisch und bedeutet: Ein Geschenk von Máel Coluim mac Eanric für …“
„Was heißt für … für wen?“ Heiko war verwirrt.
„Der Name des Beschenkten fehlt.“
„Aha! Und wer ist dieser Máel?“
„König Malcolm IV.“, las Gesine vor. „Er regierte von 1153 bis 1165. Das passt hervorragend in unsere Datierung.“
Heiko lächelte etwas zögerlich. „Ein schöner Erfolg. Jede gefundene Antwort wirft zehn neue Fragen auf. Allein die Erforschung der Geschichte dieses Schwertes könnte uns einige Jahre kosten.“
„Und die haben wir nicht.“
„Nein, zumindest wir beide nicht.“ Heiko setzte sich schließlich an seinen Arbeitsplatz und schaltete den Computer ein. „Was macht man mit dem ganzen Zeug? Und warum befindet sich so etwas mitten in einer eingestürzten Hütte im Wald?“ Er startete Thunderbird und checkte seine Mails. Fünf neue Nachrichten. Zwei davon von Kollegen am Pharmakologischen Institut. „Du erinnerst dich an die zwei dunklen Substanzen, die wir in den braunen Keramiktöpfen gefunden haben?“
„Klar. Spann mich nicht auf die Folter.“
„Die eine enthält eine hohe Konzentration von Jod oder Jodidsalzen, und die andere ist eine Kombination aus sogenanntem Bibergeil, Rindenresten von Weiden und ein paar anderen Kräutern. Das bildet zusammen eine frühe Form der Acetylsalicylsäure, oder neudeutsch Aspirin.“
Gesine verschluckte sich beinahe an ihrem Kaffee. „Das weiß sogar ich als Laie, dass man Jod für die Wundbehandlung benutzt hat und das andere ein mittelalterliches Schmerzmittel ist.“
„Wow.“ Heiko lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Was geht denn hier ab? Der Besitzer von dem ganzen Krempel war entweder ein Alchemist oder ein Heiler.“
„Scheint so.“ Gesine wischte die Kaffeeflecken auf ihrem Schreibtisch weg.
„Müsste man über so eine Person nicht irgendwo etwas finden? In Büchern oder Almanachen?“
„Und wo?“, fragte sie. „Es gab damals noch keinen Buchdruck. Geschrieben wurde fast nur in Klöstern. Es gab ja noch nicht einmal Städte in der Grafschaft. Schüttorf ist, glaube ich, die älteste Stadt. Selbst Neuenhaus, wo damals die neue Burg entstanden ist, war nur ein kleines Bauerndorf.“
„Okay, da bist du die Fachfrau. Aber was es damals in jedem Fall schon gab, war die Burg in Bentheim. Richtig? Wenn wir unseren ‚Connor MacLeod vom Clan der Binithemus‘ aus der Grafschaft irgendwo finden wollen, dann doch dort, oder?“
Gesine freute sich, dass sie nicht alleine diesen Vorschlag unterbreiten musste. „Also wieder auf nach Bentheim.“
Bad Bentheim, Burg Bentheim
Dienstag, 2. Mai 2028
Heiko Thielmann drückte noch einmal auf den oberen Sensor an seinem Fahrzeugschlüssel, um den Lieferwagen zu verschließen. Die beiden Archäologen hatten das Glück, einen Parkplatz auf der ‚alten Pferdekoppel‘ direkt an der Auffahrt an der Schlossstraße zu finden, und brauchten daher nur wenige Minuten, bis sie durch das untere Burgtor über die steile Rampe mit grobem Kopfsteinpflaster in die höher gelegene gräfliche Burg zu Bentheim gelangten.