Der Hof der schönen Mädchen - Wilhelm Speyer - E-Book

Der Hof der schönen Mädchen E-Book

Wilhelm Speyer

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 1805. Kaiser Napoleon ist dabei, den europäischen Kontinent zu erobern. In dieser Situation versucht ein deutscher Herzog, sein Land vor der Zerstörung zu bewahren. Dazu schmiedet er Hochzeitspläne: Eine Dame seines Hofes soll nach Paris, eine andere nach St. Petersburg verheiratet werden. Doch die Damen haben eigene Vorstellungen und wissen sich den herzoglichen Plänen zu entziehen. Unterdessen wächst die französische Bedrohung. Der Roman erschien erstmals 1935 in einem Exilverlag. Er ist charakteristisch für Speyers eleganten Stil und seine gründliche historische Recherche. Das Buch wurde vorsichtig nach den Regeln der neuen Rechtschreibung bearbeitet. Die Wörter, deren antiquierte Schreibweise bereits der alten Rechtschreibung widersprachen, wurden nicht veränderet. Ein umfangreicher Abschnitt mit Worterklärungen und Übersetzungen befindet sich im Anhang.

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Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

ZWEITER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

ERSTER TEIL

1

Am letzten Mittwoch des Monats Mai im Jahre 1805 war der Landstallmeister und Oberjägermeister Graf Murray an der Reihe, in seinem Haus gewisse Mitglieder der Hofgesellschaft von Reuthe zum Tee und zu einem wissenschaftlichen Vortrag zu empfangen. Auf Anregung des Herzogs hatte man die Gewohnheit angenommen, an den Mittwoch-Nachmittagen jeder Woche diese intimen Empfänge zu veranstalten. Sie fanden entweder im Schloss statt, bald in den Räumen der Palastdame, des Fräulein v. Zopf, oder unten in der Stadt beim Grafen Hugo Murray; selten im Haus des Staatskanzlers Freiherr v. Ungemach, der abgeneigt war, Gäste zu empfangen und sich überhaupt nur mit Widerwillen in der Gesellschaft zeigte. Man sprach von diesen Nachmittagen als von den ‚Tees en petit comité’.1 Es waren dort fast immer die gleichen Gesichter zu finden. Nur die Vortragenden wechselten, meistens waren es Professoren der herzoglichen Landesuniversität Schwarzenbach, zuweilen aber auch Gelehrte aus Göttingen oder aus Jena.

Der Sohn des Staatskanzlers, Alexander v. Ungemach, in der Uniform des preußischen Regiments Gens d’Armes, im weißen Rock mit Rabatten, dunkelblauer Weste, roten Abzeichen und goldenem Besatz, erkundigte sich etwas ungebärdig bei dem Fräulein v. Zopf, ob man nun endlich Ihre Gnaden erwarten könne. Im Einverständnis mit Ulrike Murray, der ältesten Tochter des Grafen, hatte er es auf sich genommen, einen jungen Berliner, den Fahnenjunker Hofmann, zu diesem Mittwoch-Tee mitzubringen. Mit Bewilligung des Königs von Preußen war der Fahnenjunker hier vor einigen Tagen im herzoglichen Jägerbataillon eingestellt worden.

Fräulein v. Zopf flüsterte behutsam, als seien irgendwo hier in der Nähe der Herzog und die Herzogin einem tiefen Rekonvaleszentenschlaf verfallen, um sich von der hohen Stellung zu erholen, die ihnen wie eine Krankheit auferlegt worden war: „Höchstwahrscheinlich wird man sogleich —“

Die letzten Worte in dergleichen Sätzen sprach Fräulein v. Zopf so gut wie niemals aus, weil sie das viele Reden über die höchsten Herrschaften ‚de mauvais genre’ fand. Sie war klein und zierlich, hatte ein Vogelgesicht mit blanken, rötlich punktierten Augen, die in der anstrengenden Hofluft zu glimmen schienen. Ihr Kopf saß nicht ganz gerade auf ihren Schultern. Immer war sie von geheimnisvollen Sorgen bedrängt.

Auf den besonderen Wunsch des Herzogs musste der Staatskanzler heute hier erscheinen, was ihm keine Freude bereitete.

„Zöpfchen legt unsere Souveraine noch bei Lebzeiten in die Sarkophage!“

Der Kanzler pflegte im Stil des vorigen Jahrhunderts irgendetwas Unerwartetes und nachlässig Medisantes zu sagen, während er einen Salon betrat. Er begrüßte Hugo Murray, der Witwer war, und einige andere. Als er sich nun vor der ältesten Tochter des Landstallmeisters verneigte, zeigte sein Gesicht den Ausdruck von mattem Überdruss und von Geringschätzung, der noch anhielt, während er seine Augen bereits auf den Archäologen Professor Kriegsmann gerichtet hatte, mit dem er ein Gespräch begann, ohne den Rest der Gäste weiterhin zu beachten. Ulrike Murray ging an den Samowar zurück, wo sie ihrer Schwester Pauline eine Teetasse für den Kanzler reichte.

Der Fahnenjunker Hofmann klirrte mit den Sporen. Er war der Sohn einer Berliner Bürgersfamilie, der sich Alexander v. Ungemach aus bestimmten Gründen erkenntlich zeigen wollte. Zum ersten Mal in seinem Leben befand sich der Fahnenjunker in hoher Gesellschaft. Während keiner seiner Potsdamer Unterrichtsstunden war er so begierig gewesen zu lernen, wie heute hier. Er war entschlossen, möglichst schnell die Gewohnheiten, Redewendungen und Manieren dieses adeligen Kreises anzunehmen. In Gedanken schrieb er Berichte an seine Eltern, die in der Alten Jakobstraße in Berlin ihr bescheidenes Bürgerheim hatten. Der Kanzler Freiherr v. Ungemach, dessen Persönlichkeit im Reich nicht unbeachtet geblieben war, ‚hat mir’, so schrieb der Fahnenjunker in Gedanken, ‚die Hand gereicht und mich gefragt, ob Sie, lieber Vater, der bekannte Zeitungsbuchhändler Hofmann in Berlin seien. Nehmen Sie, liebe Eltern, unsern neuen Minister im Auswärtigen Departement, Herrn v. Hardenberg, geben Sie ihm weißes Haupthaar und eine ebenso hoheitsvolle Haltung, dann aber ein härteres Kinn und strenge Raubvogelaugen unter rothaarigen Brauen, so haben Sie den Kanzler dieses Herzogtums!’ Während der Fahnenjunker diese Zeilen in Gedanken schrieb, verneigte er sich vor Cordelia v. Ungemach, der Tochter des Kanzlers, wobei er seine silbernen Sporen hören ließ, die er von einer jungen Potsdamerin als Abschiedsgeschenk erhalten hatte.

Cordelia ging an die Eingangstür zurück zum Grafen Murray und seinem Sohn. Sie fragte den Landstallmeister, ob er glaube, dass dem Kaiser Napoleon die Landung in England glücken werde. Sie wusste, dass er ganz ungeeignet war, eine derartige Frage zu beantworten, aber irgendetwas musste man doch mit ihm sprechen, und im Augenblick fiel ihr nichts Geeignetes über Pferde und ihre Aufzucht ein, ganz abgesehen davon, dass es ihr Vergnügen bereitete, die beiden Murray’schen Herren in Bestürzung zu versetzen.

Wie immer, wenn man in seiner Gegenwart ein politisches Problem erwähnte, machte Hugo Murray ein abweisendes Gesicht, wobei sein linker Nasenflügel ratlos zitterte. Steif stand er neben dem weißen pentelischen Marmor einer Apolloplastik vor dem weißen Pfosten der Tür, in seiner hellen, dichtansitzenden Hofuniform, mit seinem überaus länglichen hannoveranischen Gesicht, dem man gelegentlich auf den Jahrmärkten in gewissen konkaven Zerrspiegeln begegnet zu sein glaubte. Man sagte vom Landstallmeister, dass er sich so selten wie möglich setze, um die Bügelfalten seiner sehr engen Beinkleider nicht zu verderben. In der Tat hatte Graf Murray eine Meisterschaft erworben, sei es bei Hof, sei es im Gestüt, sei es zu Haus, tagsüber einige Minuten lang im Stehen zu schlafen. Die spaßhaft gemeinten Aufforderungen, die der Herzog gelegentlich an ihn richtete, doch neben ihm Platz zu nehmen, pflegte Hugo Murray mit bestürztem Takt zu überhören, als könne eine solche Gnade zwar angeboten, aber niemals empfangen werden.

Neben dem Landstallmeister stand sein Sohn, der ihm völlig glich, ihn mit einer ungewollten karikaturistischen Unschuld kopierte und ebenfalls Hugo hieß.

Cordelia v. Ungemach sah sich die langen Murrays, Vater und Sohn, wie Kuriositäten an.

„Nicht wahr, mit England dürfte es nun zu Ende sein? Schade um das komische Land!“

Die beiden Herren starrten mit zitternden Nasenflügeln an ihr vorbei, hilflos und verletzt. Als Hannoveraner waren sie auch Untertanen Sr. Großbritannischen Majestät Georgs des Dritten, denn das Kurfürstentum war England in Personalunion verbündet; leider aber war eben deshalb das Vaterland der Murrays von französischen Truppen besetzt worden. Die Murrays empfanden ihre Stellung als doppelt schwierig, weil der herzogliche Hof in seinen Ansichten über Bonaparte gespalten war. Es gab die Partei des Kanzlers, die für den Anschluss an den Kaiser Napoleon und den sich bildenden Rheinbund eintrat. Dann aber gab es auch noch die Faktion des Geheimen Kabinettrats Dr. Voss, der eine Anlehnung an die alten Mächte befürwortete; hierin wurde er von der Herzogin-Mutter unterstützt, die sich zurzeit mit ihrer Tochter am Hof in St. Petersburg aufhielt.

„Wir haben darüber keine Ansicht“, sagte Graf Hugo Murray.

„O ja — dann, allerdings, nun ja“, sagte Cordelia entschuldigend, und sie wäre imstande gewesen, noch eine ganze Anzahl sinnloser Partikel aneinander zu reihen. Sie gähnte mit den Nasenflügeln, während ihr disziplinierter Mund unbeweglich blieb, und sie ging zu Professor Kriegsmann hinüber, mit dem der Kanzler sich immer noch unterhielt. Da sie wusste, dass Professor Kriegsmann viel Aufhebens von seiner Person, seinen Forschungen und privaten Interessen machte, so streifte sie das Gesicht des Vaters mit einem besorgten Blick, der ihn fragte, ob er sich sehr langweile; ob er überhaupt heute schlechter Stimmung sei; was für eine Meinung er sich von der augenblicklichen politischen Konstellation gebildet habe und wie diese oder jene Angelegenheit stehe, in die sein Vertrauen sie eingeweiht hatte. So klug, sensibel und von umfassender Bildung Cordelia auch war, sie schenkte doch nur wenigen Menschen ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung. Da waren zuerst die Angehörigen ihrer Familie, — hier nicht so sehr die Mutter, die übrigens bei diesem Tee nicht anwesend war, als vielmehr ihr Vater und ihr Bruder Alexander. Dann der Herzog, der ihr immer als eine Art höheren und fernen Vaters gegolten hatte. Endlich auch ein anderer Mann dieses Hofes, den sie seit einiger Zeit insgeheim beobachtete und zu erforschen suchte, den ihre kritischen Gedanken auf vielen seiner Wege begleiteten.

Sie war rothaarig und grauäugig, mit einem kraftvollen, gesunden Mund in einem weißen Gesicht. Ein schmaler Streifen goldener Sommersprossen zog sich von einem Jochbein zum anderen, quer über ihren Nasenrücken. Sie war sehr hoch von Gestalt, ohne dadurch an Gewandtheit und Grazie des Körpers zu verlieren, wenn es auch eine am Erdboden haftende Gewandtheit und eine etwas träge Grazie war. In der Tat ermüdete sie schnell, fand sich in der Gesellschaft leicht gelangweilt, gähnte dann verstohlen, schlief auch viel und allzu gern, worüber ihre Freunde und Freundinnen lachten, wie sie selbst.

„Heute über Pompeji, Herr Professor?“

Professor Kriegsmann, der groß, fett und kurzsichtig war, trat dicht an Cordelia heran, als könne er sich ihr nur in unmittelbarer Nähe verständlich machen.

„Ich beabsichtige heute über die pompejanische Wandbemalung in einer, wie ich mir schmeichele, besonders wirksamen Hinsicht zu plaudern“, sagte Professor Kriegsmann in einem Ton, als beginne er ein Kolleg und werde eine dreiviertel Stunde lang so weiter reden, wobei er unnötigerweise sein Lorgnon häufig an die Augen legte und in der Hand wieder zusammenklappte. „Ich bereite übrigens da eine kleine Überraschung für die hohe Gesellschaft vor. Doch zur Sache selbst: in denjenigen meiner nächtlichen Stunden, die mir für meine privaten Liebhabereien übrig bleiben, in meinem leider sehr baufälligen und zugigem Haus“, — das war eine Aufforderung für den Kanzler und den Kammerpräsidenten, ihm die Bezüge zu erhöhen, — „habe ich mir häufig die Frage vorlegen müssen, welchen Einfluss wohl die in der antiken Stadt jüngst entdeckte Wandbemalung auf unsern neuen Wohnstil ausüben könnte und sollte.“

„Haben wir einen neuen Stil?“ fragte Cordelia, und sie nickte dem Intendanten des Hoftheaters zu, der eingetreten war.

„Es sind da Bestrebungen im Gange, über die ich heute berichten werde. Man denkt höheren Ortes an den Umbau eines Schlossflügels.“

„Weißt du das nicht?“ fragte der Kanzler seine Tochter, und er sah irgendwo ganz anders hin.

„Nein, aber es wird mich sehr interessieren.“

Cordelia, die in diesem Augenblick an ihrem Bruder drüben eine bestimmte Haltung wahrnahm, trat zur Seite, um sich vor dem Herzog zu verneigen, der eingetreten war. Mit Bedauern sah man, dass auch heute wieder die Herzogin fehlte. Freilich hatte man es nach den Erfahrungen dieses Winters nicht anders erwartet.

Herzog Johann Christoph stand sogleich in der Mitte des Zimmers. Mit scharf ausgeführten Kopfbewegungen, ohne hierbei den Körper zu bewegen oder irgendjemand die Hand zu reichen, nickte er den Wirten und den Gästen dieses Mittwoch-Tees zu. Er war noch jung, kaum 29 Jahre alt, aber man hätte ihm ein Dezennium mehr geben müssen. Er war etwas beleibt, von kurzer kräftiger Statur; er hatte ein nicht unbedeutendes, rundes und dickwangiges Barockgesicht mit dunklem, genialisch ungeordnetem Haar über der weißen Stirn. Er trug Reitstiefel, woraus man schloss, dass er für einen seiner bekannten nächtlichen Ritte später die Pferde vor das Murray’sche Haus bestellt hatte.

„Wisst ihr schon das Neueste, Herrschaften?“ rief der Herzog der kleinen Gesellschaft zu.

„Der Kaiser ist in England gelandet!“

Es war Cordelia, die diese Vermutung gleichmütig äußerte.

In diesen Jahren ungeheuerer Ereignisse wurden auch die seltsamsten Nachrichten sogleich geglaubt.

Heftig drehte der Herzog sich zu seinem Kanzler um.

„Ist Bonaparte in England?“

Herr v. Ungemach nahm die Teetasse von den Lippen.

„Herzogliche Gnaden werden doch nicht auf die wirren Träume eines Kindes hören! Der Kaiser der Franzosen hält sich in diesen Tagen bekanntlich in Mailand auf.“

Man lachte.

Cordelia blieb unbefangen wie immer.

„Ich dachte nur, Durchlauchtigste Gnaden wolle uns diese Nachricht gnädigst überbringen.“

Der Herzog sah Cordelia strafend an.

„Bist du in Bonaparte verliebt, Cordelia? Der passt nicht zu dir, er hat nicht dein Gardemaß! Geh in die Ecke und schäm dich!“

„Darf ich nicht in der landesväterlichen Nähe stehen bleiben, um die versprochene Nachricht mitanzuhören?“

Der Herzog sah sich jetzt triumphierend im Kreise um.

„Schwört Verschwiegenheit! — Meine Schwester Feodora hat sich verlobt! Ratet mit wem!“

„Mit einem Großfürsten?“ rief man ihm entgegen.

„Mit Nicolai Petrowitsch, einem Vetter des Zaren!“

Sogleich umringte man den Herzog, um ihm zu gratulieren und vielleicht Näheres zu erfahren, während der Fahnenjunker immer noch mit hoch über der Halsbinde aufgerichtetem Kinn den Fürsten militärisch anstarrte.

„Das wäre also ein coup de foudre Ew. Exzellenz gewesen?“ sagte Professor Kriegsmann, wobei er nahe an den Kanzler herantrat.

„Keiner von meinen Blitzen, mein Lieber!“ Mit kühlem Hohn legte der Kanzler das Batisttuch an seine feinen Nasenlöcher, wie eine Dame. „Da hat ein Mächtigerer als ich gewettert.“

In der Tat war diese Verlobung ein Sieg derjenigen Faktion gewesen, die einer Anlehnung an England, Russland und Österreich das Wort redete.

Man konnte nun gewiss sein, dass zum Ausgleich dieser neuen Verbindung das nächste Unternehmen des Herzogs eine Unterstützung der französischen Rheinbundpläne sein werde.

Kreu-Reuthes Lage im Herzen Deutschlands erforderte eine derartige Berücksichtigung entgegengesetzter Interessen, denn im politischen Sinne war es auf der einen Seite von Frankreich und seiner eben sich bildenden deutschen Vasallenschaft flankiert und auf der anderen von Preußen, Österreich und Russland.

Es war der Augenblick gekommen, wo der Premier-Lieutnant Alexander v. Ungemach den Berliner Kameraden vorstellen konnte, der sich mit militärisch lauter Stimme beim Herzog meldete, wie auf dem Kasernenhof:

„Hofmann, Fahnenjunker im Herzoglich Kreu-Reuthischen Jägerbataillon v. Wedell!“

„Na, na“, sagte der Herzog, klopfte beruhigend dem Fahnenjunker auf den Arm, während er auf Ulrikes Schulter sah, die ihm eine Teetasse reichte, und weiter sagte er nichts.

„Das ist hier beim Tee nicht so ernst gemeint, Fahnenjunker“, sagte der Intendant des Hoftheaters zu Hofmann, der verwirrt und glutrot zurücktrat, aber gleich danach in Gedanken in die Alte Jakobstraße schrieb: ‚Ich hatte den hohen Vorzug, dem durchlauchtigsten Herzog vorgestellt zu werden, der sich mir sehr gnädig bezeigt hat.’

Ulrike Murray ging in einen der benachbarten Räume, um die letzten Vorbereitungen an der ‚kleinen Überraschung’ des Professor Kriegsmann zu beaufsichtigen. Es handelte sich um eine Laterna Magica, die in farbigen Bildern die jüngst aufgefundenen Bauten und Malereien Pompejis auf ein Stück festgespannter Leinwand projizieren sollte. Da Ulrike alles zu ihrer Zufriedenheit bereitgestellt fand, so lief sie noch schnell zwei Stockwerke hinauf zum Kinderzimmer unter dem Dach, wo ihre kleine Schwester Felizia hauste. Sie fasste die Hände des Kindes an, fand sie fiebrig, leuchtete dem Kind mit einer Kerze in den Hals und befahl dann der Schwester mit freundlicher Strenge, sogleich ins Bett zu gehen. Felizia schwur ihre Erkältung, ihr Fieber, ihre Kopfschmerzen und Appetitlosigkeit ab; sie wollte aufbleiben dürfen, um die Laterna Magica des Professor Kriegsmann mitanzusehen. Sie warf sich Ulrike zu Füßen und umschlang die Hüften der schönen Schwester, wie der schiffbrüchige Dulder die Gestalt der Nausikaa. Mit klug gewählten Worten beruhigte Ulrike die Leidenschaftlichkeit, die sich in dem Kinde offenbarte. Sie versprach Felizia, dafür zu sorgen, dass die Laterna Magica so lange im Haus bleiben werde, bis Felizia wieder gesund wäre. Hierauf legte das Kind gehorsam seine Kleidungsstücke ab und ging in sein Bett. Unterdessen stieg Ulrike die Treppe hinab. Um die Gäste im Salon zu erreichen, durchquerte sie das Arbeitskabinett ihres Vaters. Hier begegnete ihr Pauline.

„Ich wollte zu Felizia“, sagte Pauline errötend, als überrasche die Schwester sie bei etwas Verbotenem.

Sie errötete leicht. Die Bestimmtheit ihrer Sprache und die Festigkeit ihrer Ansichten lagen im Kampf mit ihrer tiefen Schüchternheit. Was sie zu sagen hatte, brachte sie mit gesenkten Augen hervor, leise und bescheiden, doch ihres Wortes völlig gewiss, mit dem sie sparsam war. Das zu Verneinende verneinte sie mit einem Nein, das zu Bejahende bejahte sie mit einem Ja. Ein Fremder war erstaunt, wenn sie so knapp und schüchtern sprach und plötzlich die blonden Wimpern zu einem hellen, wachen, fast harten Blick erhob.

„Ich war eben bei Felizia oben, — sie hat etwas Fieber, nichts Beunruhigendes.“

„Dann gehe ich wieder zurück.“

„So viele Menschen hier, — ist das schlimm für dich?“

„Nein.“

„Beunruhigt dich etwas?“

„Nichts.“

„Wirklich nichts? Vielleicht aber doch irgendetwas, Pauline?“

„Was meinst du?“

„Dass die Frau Herzogin wieder nicht gekommen ist.“

Das Mädchen stand mit gesenkten Augen ganz still und verhalten im herben blonden Glanz ihrer achtzehn Jahre vor der Schwester. „Ich kann nicht mehr tun, Ulrike, als sie immer wieder bitten.“

„Nein.“

Ulrike sah Alexander v. Ungemach vom Nebenzimmer her auf sie zukommen. Sie küsste Pauline schnell.

„Sei du jetzt ein wenig für mich die Hausfrau, willst du?“

„Gern.“

„Pauline, geben Sie mir den Kuss von Ulrike zurück!“ bat Alexander mit einem etwas düsteren Gesicht.

Pauline schüttelte den Kopf. „Geschenke sollen nicht wandern.“ Sie ging zu den Gästen zurück.

Alexander war auf Urlaub in Reuthe, er war gestern aus Berlin zurückgekehrt, wo er vor einem Jahr in das Regiment Gens d’Armes eingetreten war. Bei den nahen Beziehungen der kreu-reuthischen zur preußischen Armee fand ein solcher Austausch von Offizieren häufig statt. Trotz der französischen Siege in Italien, am Rhein, in Bayern, in der Schweiz, in den Niederlanden, in Ägypten und in Klein-Asien gaben die nord- und mitteldeutschen Generalstäbe der preußischen Armee vor allen anderen den Vorzug. Immer wieder schien nur sie das große Lehrinstitut für Offiziere aller Waffengattungen zu sein. Erst vor kurzem hatte der preußische General v. Rüchel nach einer Revue den Ausspruch getan, der an manchen Orten mit viel Beifall aufgenommen worden war: „Meine Herren, — Generale, wie der Herr von Bonaparte einer ist, hat die Armee Sr.

Majestät mehrere aufzuweisen.“

Wie es sich für einen Offizier der preußischen Gens d’Armes gehörte, war Alexander ein braver Reitersmann und Soldat, gesund, kräftig, elastisch, mit breiter Brust und schmalen Hüften. Das Auffallende und das Hübsche an ihm, — das, was man zuerst an ihm bemerkte und wovon man sprach, wenn man ihn zu beschreiben suchte, war der Gegensatz seiner blauen Augen zu seinem schwarzen Haar.

„Alexander v. Ungemach, — das ist doch der mit dem schwarzen Haar und den blauen Augen“, sagte man in Berlin, wenn man von ihm sprach.

Und die Berlinerinnen sprachen viel von ihm.

In seiner Haltung und in seinem Wesen war so manches, das nicht durchaus militärisch im alten Sinne war. Der revolutionäre Idealismus des Prinzen Louis Ferdinand diente Alexander und einigen seiner Freunde zum Vorbild, sie missachteten die trübe Starrheit des Königs Friedrich Wilhelm. Die alten Herren aus der friderizianischen Generation tadelten die ‚unmilitärische Tenue’ dieser Gruppe. Doch gab es bereits im Generalstab und in den höheren Stäben Offiziere, die in Gesicht und Gebaren mehr den großen Gelehrten ihrer Zeit in Königsberg, Leipzig, Halle und Göttingen glichen als den Generalen Friedrichs des Großen.

In Alexander zumal waren Kräfte wirksam, die ihn aus der Allgemeinheit des Offizierskorps heraushoben. Er war unruhigen Geistes, in seinen Leidenschaften unbeherrscht, dann wieder niedergeschlagen und mutlos.

Das Gefühl der romantischen Lebensangst, ein vorwiegend deutsches, war ihm nicht fremd. In seinen Zielen, Bestrebungen und Taten war er, wie so viele seiner preußischen Kameraden, unklar und widerspruchsvoll. Ihm und seinen gleichgesinnten Altersgenossen, Offizieren, Studenten und jungen Beamten war nur eines gewiss: das Bestehende müsse geändert werden. Sie wollten ihre deutsche Revolution, aber sie wollten sie anders als alle Revolutionen der Weltgeschichte, sie wollten ihre eigene haben. Bald glühten sie für Napoleon, bald sahen sie das Heil in einer allgemeinen Kriegserklärung an ihn. In sich selber suchte ein jeder nach einem deutschen Moreau oder Bonaparte, aber sie wussten nicht recht, für was der einzustehen, in wessen Namen er zu sprechen und zu handeln und was er ihnen zu bieten haben würde. Während die Jugendfreunde nebeneinander saßen, betrachtete Alexander Ulrike von der Seite. Sie war es gewöhnt, dass man viel zu ihr hinsah.

Man sprach überall von den schönen Murray’schen Schwestern, von Ulrike, Pauline und neuerdings auch von der zehnjährigen Felizia, und Ulrike und Pauline wussten es auch, dass sie die schönen Murray’schen Schwestern waren, ohne dass diese Kenntnis ihre Art verdorben hätte.

Wenn der Mensch vom Schein der Morgen- oder Abendröte getroffen wird, empfängt seine Haut, sein Auge und sein Haar den Glanz aus frischeren Welten, und in einem solchen Licht verklärt sich auch der hässlichste Knecht, der mit seinem Zugtier dem Sonnenbild gegenübersteht.

Nun schien es, als lebe Ulrike immer in den schrägen Strahlen der Sonne, ihre Haut hatte den rosafarbenen und dunkel-rötlichen Aufgangs- und Untergangs-Glanz, in welchem ein alabasternes Weiß als Himmels-Grundfarbe herrschte, und das verschiedenartige Blond ihres Haares leuchtete darüber hin. Wie nun die Abendröte jetzt wirklich durch das Fenster des Kabinetts brach und eine schräge Lichtsäule mit wirbelnden Goldstäubchen Ulrikes blonden Nacken und Coiffure Etrusque mit dem hochgeknüpften Knoten überflutete, ertrug Alexander nur mit leidvollem Unmut den Gedanken, dass dieses Mädchen während seiner Abwesenheit für andere so geglüht und immer schöner geworden war.

Sie hatten einander häufig geschrieben, aber Alexander bemerkte jetzt, dass er — in der Potsdamer Torwache, auf der Tribüne der Reitmanege oder in der Kaserne — an ein Mädchen geschrieben hatte, das zwar Ulrikes Lächeln, Ulrikes schimmernde Lippen und Zähne und lichtbraune Augen hatte, aber dennoch sie selber nicht war, sondern ihr nur glich wie eine Schwester der andern oder wie ein Trug- und Traumbild der wirklichen Gestalt. Er selber wusste nicht, dass die goldene Lichtflut unterdessen, durch eine Reflexion der Fenster, sein Bandolier auf der Schulter erreicht hatte, von wo aus sie ihm in einem vereinzelten Strahl wie ein funkelnder Degen die Brust kreuzte.

Als wolle sie ihn wegen irgendeiner Sache beruhigen, legte Ulrike ihre Hand auf die Alexanders.

„Erzähle mir jetzt schnell etwas von deinem Leben in Berlin.“

Alexander zog die Stirn in Falten, ihm schien es ein problematisches Unterfangen zu sein, Ulrike von seinem Berliner Leben zu erzählen. Mit einem leicht dahingemurmelten Unwillen in der Stimme begann er zu berichten:

„Ich habe immer gefürchtet, dass der Garnisionsdienst da drüben sehr eintönig sein würde.“

„Aber du hast es dir ja so gewünscht, zu den Preußen zu kommen“, unterbrach ihn Ulrike.

„Gewiss, — wie sollte man denn hier in dieser Enge mit seinen Ideen fertig werden?“

„Natürlich, wie konntest du hier in der Enge mit deinen Ideen fertig werden, Alexander?“ wiederholte Ulrike freundlich. „Dazu brauchtest du Berlin, das versteht sich.“

Alexander sah Ulrike etwas finster an. „Ich weiß, dass du nie damit einverstanden warst. Aber wir wollen jetzt nicht wieder davon sprechen.“

„Nun, erzähle mir nur weiter. Also, der Garnisionsdienst in Berlin war alles andere als eintönig. Das konnte man ja schon aus deinen Briefen erkennen.“

„Nicht einmal der Dienst in den Wachtstuben des Potsdamer oder des Brandenburger Tors war ohne Anregung. Wir hatten da in der Nacht oft Besuch. Studenten fanden sich bei uns ein, Professoren, Kaufleute, Juden, Refugiés, Prinzen sogar und Geheimräte aus den verschiedenen Departements. Kaum kommt man draußen vom Dienst und hat noch nicht den Säbel am Ofen abgeschnallt, als man schon in bedeutende Gespräche verwickelt wird. Es gibt nichts, worüber in unseren Wachtstuben nicht diskutiert wird, oft bis zum hellen Morgen. Du weißt es ja, ich habe da ein Mädchen kennen gelernt, eine Cousine von dem Fahnenjunker nebenan, eine Berlinerin —“ Alexander stockte.

„Ach ja. Wie hieß sie doch, ich habe ihren Namen vergessen?“

„Henriette Sturm, die Tochter eines reichen Berliner Negozianten. Du hast wohl keine Vorstellung davon, Ulrike, was diese jungen Berliner Mädchen für einen hellen frechen Verstand haben. Henriette kam sogar in unsere Wachtstuben, in einer gepuderten Perücke und in einem Offiziersmantel der Louis-Dragoner. Dann hat sie versucht, uns mit rebellischen Reden aufzustacheln.“

„Gegen wen denn?“

„Nun, gegen die Regierung und die militärische Führung, gegen Haugwitz, Lombard und gegen Braunschweig, Möllendorf, Rüchel, Köckeritz, gegen den König, — was weiß ich, gegen wen alles! ‚Das ist ein Uniformschneider, aber kein König!’ rief sie eines Nachts ganz laut aus, als wir draußen vor Friedrich Wilhelm ins Gewehr getreten waren. Mitten zwischen uns Offizieren wagte es das Fräulein Sturm, die Armee herabzusetzen, die sie in einer Art und Weise mit den Heeren Napoleons verglich, dass uns allen das Blut zu Kopf stieg. Ich muss dir gestehen, dass sie uns reizte, sie zu töten —“

„Oder sie zu küssen?“ fragte Ulrike behände.

„Ach was küssen!“ sagte Alexander unwillig. „Ich kann dir nicht sagen, wie mich das alles aufgewühlt hat! Und dabei glüht sie für Deutschland, wie wir alle.“

„So? Für Deutschland? Ist das etwas?“

„Und wenn wir uns einen deutschen Bonaparte von den Sternen herunterholen müssen und alle dafür in Fetzen gehauen werden, — dieses Etwas werden wir uns schaffen! — Aber wir reden da von Politik, und ich wollte doch —“

Ulrike sah ihn freundlich an.

„Du wolltest doch nicht etwa auch von uns sprechen?“

„Ja! Ich weiß nicht, wie lange ich hier bleiben kann, ich habe da gewisse neue Pläne, über die ich mit dir sprechen muss. Es können ja in solcher Zeit jeden Tag Befehle zu einer Urlaubsunterbrechung kommen — — Nun, ich hasse das, so große Worte zu machen! Du weißt schon, was ich mir immer von dir — von uns wünsche.“

„Gewiss. Du hast mir zu manchen Zeiten fleißig geschrieben, und in den nächsten Tagen wirst du mir wohl noch mehr erzählen wollen. Du bist in einer anderen Welt gewesen, von der wir hier nicht viel wissen. Da kommen reiche Kaufmannstöchter in Dragonermänteln nachts in eure Wachtstuben und reden mit euch wie in einem Jakobinerklub. Ich bitte dich, Alexander, sieh doch zu, dass du dich hier bei uns wieder zurecht findest!“ Sie gab ihm die Hand, die er festhielt.

„Und du glaubst noch immer daran, dass alles einmal so werden wird, wie wir es gewollt haben? Glaubst du an unsere gemeinsame Zukunft?“

„Sprich jetzt nicht von dieser Zukunft! Wir haben schon so viel davon gesprochen. So viel Ungewisses liegt vor uns. So viel Gewitter schichten sich an allen Horizonten auf. — Ich muss zurück, was wird man denken!“

An der Tür zum Salon begegneten sie dem Herzog und dem Kanzler. Sie traten zur Seite.

Der Herzog, im Gespräch mit Herrn v. Ungemach, betrachtete Ulrike mit einem Blick, den sie an ihm nicht kannte. Es war der Blick, mit dem er den Liebeswert seiner Bauernmägde zu taxieren pflegte. Und wieder zeigte das Gesicht des Kanzlers, wie er Ulrike flüchtig ansah, diesen Ausdruck von mattem Überdruss und von Geringschätzung.

Der Herzog und der Kanzler ließen sich auf der gleichen Bank nieder, auf der Ulrike und Alexander eben gesessen hatten. Ungestüm zog der Herzog an einer Schnur die Gardine zusammen.

„Ich habe mir überlegt, wie wir jetzt schnell ein etwa auftauchendes Misstrauen in Paris wegen der russischen Verlobung meiner Schwester zerstreuen können! Man muss etwas tun, den Kaiser zu besänftigen.“

Ungemach nickte zustimmend.

„Aber mit kleinen Mitteln wird es diesmal nicht getan sein, gnädigster Herr!“

„Es ist durchaus noch nicht die Zeit für größere Entschlüsse!“ rief der Herzog heftig und gereizt, wie immer, wenn er mit seinem Kanzler sprach. „Ich gebe die Vorteile meiner Stellung nicht aus der Hand! Als Schwager eines Großfürsten und Verwandter des Zaren bin ich etwas, im Osten nicht nur, sondern auch im Westen! Der Wert meiner Freundschaft ist auch in Paris gestiegen. Kennen Sie den Generalobersten d’Orguerre?“

„Der unter Bernadotte in Hannover kommandiert?“

„Er soll ein Liebling Bonapartes sein, seit den Tagen von Lodi und Arcole, und im nächsten Krieg Marschall werden. Er ist Junggeselle. Er muss es die längste Zeit gewesen sein. Ich werde ihn einladen, mich zu besuchen.“

„Er war früher Flößerknecht oder Sattlergeselle oder irgend so etwas in Touraine.“

„Ew. Exzellenz sind erstaunlich falsch informiert. Er ist Normanne, Sohn eines angesehenen Advokaten in Rouen.“

„Ah, Sohn eines angesehenen Advokaten. Wollen Herzogliche Gnaden diesen Sohn des Angesehenen mit einer anderen Dame Ihres hohen Hauses verheiraten?“

„Wenn ich in meiner Familie noch solch ein gelungenes Exemplar wie meine Schwester zur Verfügung hätte, ich täte es unbedingt, sobald Herr d’Orguerre Marschall und Fürst geworden ist. Aber die Weiber meines Hauses haben mir nicht genügend Heiratsmaterial ausgeworfen. Deshalb nehme ich jetzt Ulrike Murray.“

Mit einer hochgezogenen Augenbraue sah Herr v. Ungemach seinem Fürsten nicht ins Gesicht, sondern auf die Reitstiefel, die unsauber waren.

Der Staatskanzler schien eine Abneigung gegen diese unsauberen Reitstiefel zu haben. Unwillkürlich zog der Herzog seine Beine etwas ein, wie ein Mann, der aus den Blicken eines andern geschlossen hat: meine Kleidung oder mein Körper missfällt ihm. Aber eben dieser Leib hatte zu viel Huldigungen des weiblichen Geschlechts empfangen, als dass der Herzog etwas auf dergleichen Mannes-Idiosynkrasien gegeben hätte. So streckte er dann gleich wieder seine Reiterbeine behaglich aus und fragte:

„Ihre Ansicht? Einverstanden?“

„Ich überlege. Ich denke nach. Allzu überraschend das alles, allzu kühn für meinen langsamen Verstand. Ich begreife nur nicht —“

„Sie begreifen nicht. Was begreifen Ew. Exzellenz eigentlich nicht? Ulrikes Vater ist mein höchster Hofbeamter, Landstall- und Oberjägermeister und Generalmajor à la Suite. Er ist reicher als ihr alle, der größte Grundbesitzer nach mir hier zu Lande und drüben in Hannover. Bonaparte liebt den Reichtum.“

„Ihr höchster Hofbeamter, gnädigster Herr, wer wollte sich erkühnen, das zu unterschätzen? Aber wird man es in den Tuilerien ebenso hoch bewerten, wie wir alle hier? Eine derartige Stellung pflegt doch einigermaßen —“ der Kanzler machte eine Handbewegung, die eine unsichere Gleichgewichtslage darstellen sollte. „Ich fürchte, die Gräfin Ulrike Murray wird für einen zukünftigen Maréchal de l’Empire und besonderen Günstling des Kaisers der Franzosen an dem neuen ehrgeizigen Hof nicht völlig genügen.“

„Ich werde Murray in den Fürstenstand erheben, und dann wird seine Tochter völlig genügen, verlassen Ew. Exzellenz sich darauf! Bonaparte wird es gern sehen, wenn seine Offiziere mit reichen deutschen Prinzessinnen verheiratet sind.“

„So? Und wenn nun dieser Landsknecht da in Hannover gar kein Weiberfreund wäre? Oder wenn er durchaus nicht die Absicht hätte, in den Stand der Ehe einzutreten, weil er ja die hübschen deutschen und italienischen Prinzessinnen auch wohlfeiler bekäme?“

„Das bleibe mir überlassen! Es gibt Mittel und Wege genug, Bonaparte durch unsern Gesandten in Paris für dieses Projekt günstig zu stimmen.“

Herr v. Ungemach verfiel in tiefes Sinnen. Dann richtete er sich aus seiner Betrachtung der herzoglichen Reitstiefel auf. Wieder tupfte er, wie eine Dame, mit dem Batisttuch an seinen schmalen Nasenlöchern.

„Je mehr ich diese Angelegenheit und ihre politischen Wirkungen überdenke, die Ew. Hoheit mir für diesen Nachmittag als Fleißaufgabe gnädigst zugewiesen haben, desto mehr komme ich zu dem Resultat —“ der Staatskanzler verneigte sich verbindlich, als erweise er dem Herzog mit den nächsten Worten eine besondere Artigkeit — „falls Ew. Hoheit auf diesem Heiratswunsch bestehen sollten, meinen Fürsten alleruntertänigst zu bitten, mich von meinen Ämtern zu entbinden und meine Demission gnädigst annehmen zu wollen.“

Der Herzog schlug mit seiner Faust auf das Fensterbrett.

„Dieses Demissionsgequake höre ich mir nicht mehr mit an! Ich habe das satt! Ich bitte Sie zur Kenntnis zu nehmen, Baron, dass ich ihre Entlassungstiraden, mit denen Sie mich seit zehn Jahren ennuyieren, bis dorthin habe! Ça dépasse ma patience!“ Der Herzog schlug jetzt dreimal ganz schnell hintereinander mit der flachen Hand auf das Fensterbrett. „Sowie Ew. Exzellenz sich in einer mir abträglichen und feindseligen Gemüts-Komplexion befinden, fallen Sie mich, Ihren Freund und Fürsten, mit Ihren Entlassungsfloskeln an!“

Herzog Johann Christoph stand auf. Wie Bonaparte, die Fäuste auf dem Rücken, so durchquerte er mehrmals ungestüm das Kabinett. „Sie haben keine einzige sachliche Einwendung gegen mein Projekt vorgebracht!“

Johann Christoph streckte den Arm aus und deutete mit dem Finger auf seinen Staatskanzler. „Ich aber kenne sehr gut die Gründe, die Sie zu Ihrer Haltung veranlassen! Das sind private Gründe, höchst familiäre!

Ew. Exzellenz werden mir erlauben, sie zu ignorieren. Ich bin dazu erzogen worden und habe es gerade in der Zusammenarbeit mit Ihnen gelernt, derartige persönliche Sentiments beiseite zu lassen, sobald es sich um die Geschäfte meines Staates handelt.“

Herr v. Ungemach, der zu gleicher Zeit mit dem Herzog aufgestanden war, sah Johann Christoph mit verbindlich forschender Aufmerksamkeit entgegen.

„Darf ich untertänigst um die Deutung dieses Rätsels bitten?“

„Sie selber wünschen verwandtschaftliche Beziehungen zu Ulrike Murray herzustellen! Sie wünschen, die stadtbekannten Neigungen Ihres Herrn Sohnes zu protegieren! Ich bin nicht in der Lage, Sie hierin zu unterstützen!“

Johann Christoph kehrte sich der Tür zu.

In der ihm eigenen aufgerichteten Haltung, doch mit einem behutsamen Schritt folgte ihm Herr v. Ungemach, den Herzog gleichsam zurückrufend. Er legte die Spitze des Zeigefingers zu einem verbindlichen Halbkreis gegen den Daumen und spreizte die drei andern Finger in der Luft.

„Ich wünsche hierauf zu entgegnen —“

Herzog Johann Christoph lauschte über die Schulter zurück.

„— dass Serenissimo hiermit mein Ehrenwort als Edelmann zu Füßen gelegt sei, diese Verbindung weder zu unterstützen noch überhaupt je gestatten zu wollen.“

Überrascht drehte der Herzog sich um.

In diesem Augenblick trat Fräulein v. Zopf in das Kabinett, mit Krankenschwester-Behutsamkeit, als gelte es, einem gläsernen Prinzen nicht etwa durch ein raues Wort eine schwere Schädigung seiner Gesundheit zuzufügen.

„Ob der Vortrag vielleicht“, flüsterte Fräulein v. Zopf, die das Überflüssige dieses Satzes nicht auszusprechen gedachte. „Es wird sonst zu spät, denn die Frau Herzogin sind heute Abend —“

‚Ganz allein’ hätte sie hinzufügen sollen, aber was anders hätte die Frau Herzogin heute Abend wohl sein sollen, da sie ja doch jeden Abend eben dieses Unausgesprochene war?

Der Herzog sah Fräulein v. Zopf an, als könne er von ihr eine Erklärung dieses so verwunderlich schnell erteilten Ehrenwortes bekommen.

Dann schritt er mit knarrenden Reitstiefeln durch das Zimmer, setzte sich im Vortragssaal sogleich auf irgendeinen der Stühle, richtete den Kopf mit den dicken Wangen hoch auf und hörte so dem Professor Kriegsmann zu.

Der Gelehrte aber begann seinen Vortrag mit den Worten: „Allerdurchlauchtigster Herzog und Herr! Ew. Exzellenzen! Meine hochzuverehrenden Damen und Herren! Schon im frühesten Altertum ging die Sage…“

2

Wie gewöhnlich kam auch zu diesem Mittwochnachmittag-Tee der Geheime Kabinettsrat Dr. Voss zu spät. Voss hatte sich die Freiheit erworben, allenthalben unpünktlich sein zu dürfen. Er pflegte sich dann mit einer Höflichkeit zu entschuldigen, zu der er selten mehr als vier Worte benötigte. Selbst wenn der Herzog als Hausherr zugegen war oder als Gast, konnte bei einem Diner der für Voss bestimmte Stuhl lange Zeit leer stehen, ohne dass irgend jemand daran Anstoß genommen hätte.

Voss, kaum mittelgroß, wohlproportioniert, mit indifferenter Eleganz gekleidet, trat später ein, verneigte sich vor dem Herzog, verneigte sich nach der rechten und nach der linken Seite, sagte seine vier Worte in einer Art her, wie heitere Mönche, die sich mit einem „Gelobt sei Jesus Christus!“ zu einem guten Mal niedersetzen, und mit etwas überanstrengten, meistens freundlichen, manchmal auch abweisenden Gesichtszügen ließ er sich sogleich in das allgemeine Gespräch aufnehmen, das durch seinen Eintritt unterbrochen wurde. Oft auch sahen die Gäste, nachdem sie die Tafel verlassen hatten, von den andern Räumen her, wie dem Kabinettsrat Voss im Speisesaal das Essen nachserviert wurde. Dann pflegte sich irgendjemand vom Haus, manchmal auch der Herzog neben ihn zu setzen und ihm zuzusehen, wie er ‚seinen Löffel Suppe’ aß. Cordelia hatte einmal bei dieser Gelegenheit die Bemerkung gemacht, er habe eine ‚geistreiche’ Art zu essen. Wissbegierig wie immer und in dem Wunsch, jedes Phänomen erklärt zu bekommen, hatte Voss sie gefragt, was geistreiches Essen denn sei. Cordelia mochte es ihm nicht weiter erklären. Übrigens konnte man, wenn jemand in seiner Gegenwart dergleichen Äußerungen über ihn tat, kein Zeichen befriedigter Eigenliebe an ihm wahrnehmen.

Man wusste, dass er mit Arbeiten und bedeutenden Pflichten überbürdet war, denn er hatte neuerdings auch im Vortrag beim Herzog, gemeinschaftlich mit dem Generaladjutanten, die Sektion für das Heereswesen übernommen, da er das kantonale Rekrutierungssystem umzuändern wünschte. Es war eine wesentliche Übertreibung des Staatskanzlers gewesen, von Voss als von einem ‚Mächtigeren’ zu sprechen, als er selbst sei. Die Regierung des Landes bestand, sichtbar für jedermann, aus dem Staatskanzler und seinen Departements-Direktoren, dem so genannten ‚Geheimen Consilium’, mit dem Herzog über ihnen an der Spitze. Nur die Eingeweihten in der Reuthener Gesellschaft und in einigen europäischen Kanzleien wussten, dass ein Triumvirat das Gouvernement beherrschte: der Herzog, der Kanzler und der Kabinettsrat des Herzogs.

Welche Machtkämpfe sich auch zwischen dem Kanzler und dem Kabinettsrat abspielen mochten, sie traten innerhalb des Triumvirats nur mit diplomatischer Behutsamkeit in Erscheinung. Ohne Frage aber hatte in den letzten Tagen der dem bonapartistischen Frankreich abgeneigte Voss mit der Verlobung der Prinzessin einen Sieg davongetragen.

Während er sich in der Dunkelheit der Laterna-Magica-Vorführung hinter Cordelia v. Ungemach und Ulrike Murray setzte, flüsterte Cordelia mit einer halben Wendung des Kopfes über die Schulter ihm zu:

„Ich gratuliere.“

„Wenn ich ihr Gesicht dazu sehen dürfte“, sagte Voss, und die beiden Mädchen lachten leise auf ihren Stühlen, denn Cordelia gehörte ja der französischen Partei ihres Vaters an.

Einige Augenblicke hörte Voss zu, was der Professor sprach, der gewisse Ornamentik-Entwürfe und Ausführungen Gillys, Gentzens und des jungen Schinkel mit den antiken Alfresco-Malereien Pompejis verglich, den neuen Bau- und Wohnstil einer wiedererstandenen Klassik befürwortete und die jungen klassizistischen Baumeister lobte, die in der Nachahmung und zeitgemäßen Umgestaltung der Antike die höchste Aufgabe architektonischen, plastischen, bildnerischen und ornamentalen Strebens erblickten.

„Ich darf hinzufügen“, sagte Professor Kriegsmann, „dass diese von mir vorgezeigten Entwürfe des jungen Baumeisters, der die schöpferischen Anregungen hierzu von einer soeben beendigten italienischen Reise empfangen hat, dem großen Goethe in Weimar vorgelegt werden konnten, und dass dieser bedeutende Mann seinen ungeteilten Beifall zu erkennen gab.“

„Gar nicht so dumm“, murmelte Voss mit leichtem Gähnen, „aber auch gar nicht so klug.“ Und er fragte die still vor sich hinlachende Ulrike, wo Felizia sei.

Sie sei etwas erkältet, wurde ihm geantwortet. Es habe schwer gehalten sie zu bewegen, der Veranstaltung hier fern zu bleiben und ins Bett zu gehen. Sie fürchte immer, sagte Ulrike, das Kind sei im geheimen aufgestanden und spähe und lausche hier hinter irgendwelchen Gardinen oder Türen im Nachthemd und auf bloßen Zehen. Mrs. March sei zum Unglück heute abwesend, und alle Bedienten würden im untern Stockwerk gebraucht.

„Darf ich Felizia besuchen?“

„Ich wäre Ihnen dankbar dafür“, flüsterte Ulrike zurück.

Cordelia, das Gesicht der Leinwand zugekehrt, horchte nur, was gesprochen wurde, ohne etwas hinzuzufügen.

Voss stand in der Dunkelheit auf und verließ den Saal.

Auf der untersten Stufe der breit in wiederholten Windungen emporgeschwungenen Treppe mit dem weißlackierten, zierlich gedrechselten Geländer und den Mamorstatuen in den Nischen begegnete Voss einem großen blauen Tigerhund mit platiertem Halsband, der aufstand, als er den Gast erkannte, um ihm Platz zu machen.

„Massinissa“, sagte Voss, und Massinissa hob den Kopf und sah ihn mit schlafüberzogenen, doch aufmerksamen Augen an. Auf dem zweiten Absatz lag ein Hund gleicher Art, der nicht aufstand, sondern den Kopf aufs Neue zwischen die weit ausgespannten Vorderpfoten legte.

„Barkas“, sagte Voss.

Der Hund schlug polternd zweimal den Boden mit dem Schweif. ‚Jawohl. Barkas. Du hast meinen Namen richtig genannt, aber lass mich weiter schlafen.“

„Gut. Schlafe.“ Und nun stand Voss auch schon vor Felizias Dachkammertür, die von einem dritten Tigerhund bewacht wurde.

Der schien nicht so ohne weiteres willens zu sein, dem Fremden zu dem kranken Kind Einlass zu gewähren. Auch hier musste erst der Name als Passierwort ausgesprochen werden.

„Mithridates“ fragte Voss zweifelnd.

Der Hund saß unbeweglich auf seinem Hinterteil, den Rücken gegen die Tür gestemmt, die Vorderbeine ganz eng an den Leib gezogen. Er rührte sich nicht. Es war ein falsches Losungswort gewesen. Es gab keinen Hund namens ‚Mithridates’ im Haus, Voss hatte unter den besiegten Barbarenkönigen Roms einen falschen gewählt. Doch jetzt fiel ihm der richtige ein.

„Jugurtha!“

Sogleich gab der große Numidier die Tür frei, dehnte sich wie ein Wachposten, der abgelöst wurde, streckte zweimal den steifen linken Vorderlauf von sich, der eingeschlafen oder rheumatisch sein mochte, und stieg langsam die unter seinem Gewicht knarrenden Stufen der Treppe hinab, bis er sich zu Massinissa legte und den Kopf auf den Rücken des Sohnes bettete.

„So“, sagte Voss drinnen in der Dachkammer, „du liest also noch.“

Aber das Kind hatte nicht mehr gelesen. Es hatte das Buch aufgeschlagen auf den Knien liegen und lange zuvor, ehe der erste von Voss’ Schritten unten auf der Treppe erklungen war, hatte es gelauscht. Nun sah das Kind seinen Gast mit dunkel glühenden, grüblerischen und fast drohenden Augen an.

„Anstatt zu schlafen, liest du noch! Warte einmal, du wärst nicht das erste Kind, das ich meinem Leibkoch in die Küche trage, damit er es mir fein zerschneidet und am offenen Feuer brät. Wir beide verstehen uns nämlich auf das Kinderbraten. Er ist ein Tscherkesse mit einer Lammfellmütze und einem krummen Dolch quer über den Bauch, und er hat mir die richtigen Spieße aus Tscherkessenland mitgebracht. Früher hat er seine Spieße mit Hammelfett eingerieben, um sie geschmeidig zu machen, und dann Lammfleischstücke aneinandergereiht. Aber seitdem er bei mir im Dienst ist, bekommt er feineres Fett und Fleisch. — Was hast du denn da für ein Buch?“

Voss nahm es zur Hand, während das Kind ihn mit drohenden und auch erschrockenen Augen ansah.

„So. Das. Nun ja.“ Voss betrachtete das handgemalte Bild von Robinson Crusoe und Freitag, dann legte er das Buch beiseite.

„Hast du Halsschmerzen?“

Das Kind formte mit glänzenden Lippen ein Wort.

„Nun? Ich höre nichts.“

„Etwas.“

„Dann gurgele einmal!“

Gehorsam richtete das Kind sich auf und gurgelte.

„Du gurgelst ja ganz falsch! Ich muss es dir jetzt also vormachen. Wo hast du angesetzt?“

„Ici“, sagte das Kind, es richtete sich auf und zeigte mit dem feinen Finger die Stelle am Glas.

Nun gurgelte Voss dem Kind etwas vor.

„So muss man das machen“, sagte er danach, stellte das Glas fort und legte Felizias Kleidungsstücke vom Stuhl, um sich dorthin zu setzen.

Aber er behielt unversehens einen von Felizias Strümpfen in der Hand und spielte damit, indem er ihn zwischen dem Ring- und dem Mittelfinger hindurchzog.

„Unten ist es ganz langweilig“, berichtete Voss, nachdem er sich eine Zeitlang im Zimmer umgesehen hatte. Er stützte den Ellbogen auf das Knie und lehnte die Wange gegen die flache Hand, in der er den Kinderstrumpf wie zu einem Polster für seine Wange zusammengebauscht hielt.

„Der Professor redet und ist darüber selbst eingenickt. Auch der Herr Herzog ist einem tiefen Schlaf verfallen und schnarcht ganz laut, sodass die Wände davon beben. Wenn du ganz still bist, hörst du es bis hier herauf. Hörst du es?“

„C’est Barkas. Il a l’habitude de ronfler comme ça!“

„So, das ist also nach deiner Ansicht Barkas. Nun, wie du meinst. Dann wirst du ja wohl auch nicht weiter hören wollen, dass die Frau Herzogin und Ulrike in einen bedenklichen Starrkrampf versunken sind, mit steifen Gliedern und weit geöffneten Augen, sie können sich wie Scheintote nicht rühren, obwohl sie am liebsten schreien möchten, weil sie alles mitanhören müssen. Inbetreffs deines Herrn Vaters — was hast du denn da?“ fragte Voss plötzlich, und er zeigte auf einen Stein, der auf Felizias Nachtkasten lag.

„Nichts“, flüsterte Felizia, und wieder formte sie mit kaum hörbarem Laut das Wort, ohne den Blick ihrer Augen von Voss’ Gesicht abzuwenden.

Voss legte den Strumpf beiseite und nahm den Stein zur Hand. Es war ein geborstener Granit, von der halben Größe einer Manneshand; ganz deutlich waren zwei eingemeißelte hebräische Buchstaben auf ihm sichtbar, ein mem und dann weiter links ein schin.

„Wo hast du das her?“ fragte Voss überrascht.

Das Kind antwortete nicht. Es zog die Augenbrauen zusammen. Es sah den Stein gar nicht an.

„Nun? Wo hast du das her?“ fragte Voss streng.

„Vom Judensand!“ sagte Felizia plötzlich ganz laut.

„Seid ihr auf dem Judensand gewesen?“

Das Kind nickte.

„Und da habt ihr die Grabsteine zertrümmert?“

Das Kind nickte.

„Wie vollbringt ihr denn das?“ fragte Voss verwundert.

„Wir nehmen einen Hammer mit. Wo ein Riss ist, da schlagen wir zu.“

„So? — Warum tut ihr denn das?“

„Comme ça“, sagte das Kind, es legte den Kopf jetzt auf die Seite und sah in den Kerzenschein. Nach einer Weile fügte es hinzu:

„Um die zu ärgern.“

„Ärgert ihr die Juden oft?“

„Oft.“ Das Kind beobachtete ein feines Insekt, das schon mit versengten Flügeln die Kerze umgaukelte.

„Wie macht ihr denn das?“

„Einmal so, einmal so. Wir rufen was und werfen was.“

„Macht dir denn das Vergnügen?“

Felizia verzog den Mund. Sie strich mit dem rosigen Finger mehrmals durch die Kerzenflamme.

Voss wog den Stein in der Hand. Er dachte über Felizias Worte nach.

„Höre einmal, — lass das!“ sagte er dann streng. „Du wirst nicht mehr auf den Judensand gehen und überhaupt nicht dorthin in die Gegend!“

„Ich habe keine Angst.“

Das Kind gähnte etwas, aber es schien Voss, als sei das kein natürliches Gähnen gewesen.

„Angst haben sie vielleicht vor dir! Weshalb solltest du denn Angst vor ihnen haben?“

„Weil sie Christenkinder schlachten.“

„Wer sagt das?“

„Das weiß doch jeder.“ Das Kind drehte ihm schräg die Augen zu. „Du schlachtest doch auch Kinder.“

„Ja, ich“, sagte Voss. „Aber wer hat dir gesagt, dass die Juden das tun?“

Das Kind richtete sich mit einem Mal ungestüm auf und streckte seine Arme mit ungeduldig bittenden Fingern aus. Es wollte Voss’ Kopf an den Haaren zu sich heranziehen.

„Sei doch nicht so dumm! Sei doch nicht so dumm! Das weiß doch jedes Straßenkind!“

Voss wehrte mit ausweichenden Kopfbewegungen Felizias Angriff ab.

„Was weiß jedes Straßenkind?“

„Was? — Das!“

Voss rang jetzt mit den Armen, mit dem ganzen ihm heftig entgegenstürmenden Körper des Kindes.

„Du weißt ja gar nicht mehr, wovon wir eben gesprochen haben!“

Felizia kämpfte lachend und schmeichelnd. „Wovon denn? Vraiment! Ich weiß es wirklich nicht mehr!“

Voss hielt ihren Körper, der schräg aus dem Bett hing, quer über seinen Knien fest. Er betrachtete Felizia, und nun hatten seine Augen einen ganz ähnlichen Ausdruck, wie vorhin der des Kindes gewesen war: grüblerisch, drohend und erschreckt. Er legte seine Hand auf Felizias Stirn.

„Du bist ganz heiß“, sagte er dann. „Jetzt gurgelst du und dann schläfst du.“

„Erst, wenn du mir etwas sagst.“

„Nun, was?“

„Du hast vorhin gefragt, wo ich am Glas getrunken habe. Dann hast du auch genau da getrunken. Warum hast du das getan?“

„Habe ich das getan?“ fragte Voss verwundert.

„Ja.“

Voss überlegte es sich.

„Dann war es sehr unbedacht von mir, denn jetzt werde ich morgen Halsweh bekommen wie du.“

Er reichte dem Kind, das immer noch schräg über seinen Knien lag, das Glas. Sanft richtete er Felizia auf, indem er wie ein geübter Krankenwärter ihren Hinterkopf mit der Hand stützte. Das Kind gurgelte in einem dumpfen Singsang. Dann ließ es sich seufzend auf Voss’ Knie zurückfallen.

Währenddessen nahm Voss wieder den hebräischen Grabstein zur Hand und betrachtete bald ihn, bald Felizias Gesicht.

Dann sah er eine Weile sinnend in den Kerzenschein.

Behutsam ließ er das Kind in das Bett zurückgleiten. „Maintenant, ils ont fini là-bas“, sagte das Kind und es sah Voss zwischen fast geschlossenen Wimpern prüfend an. „Faut que tu sortes.“

„Ja. Ich muss gehen. Gute Nacht. Gute Besserung.“

Der Kopf des Kindes lag nun wieder in der Fülle seiner dunklen Locken auf dem Kissen. Wieder hatte es den drohenden Ausdruck in den Augen, mit dem es Voss betrachtete, und die zwei kleinen Falten des Unwillens zwischen den Augenbrauen, zwei Anführungsstriche zu einem nicht gesprochenen Wort.

„Maintenant, ils ont fini là-bas“, wiederholte Felizia. „Faut que tu sortes.“

Voss wandte den Mund zur Seite und blies die Kerze aus. Dann ging er hinaus.

1 Worterklärungen und Übersetzungen auf S. 353.

3

Voss war zum Ankleiden schnell nach Haus gefahren. Währenddessen wartete in der Gasse der Reitknecht mit dem Pferd. Voss hatte verabredet, den Herzog auch heute wieder, wie gewöhnlich, bei der großen Kastanie am Ausgang der Stadt auf der Straße nach Schwarzenbach zu erwarten. Der Reitknecht ritt ihm voran, eine Pechfackel gegen den Schenkel gestemmt, denn nur die breite Zufahrtsstraße zum Schloss hinauf war durch einzelne Öllampen kümmerlich genug erleuchtet.

An der Kastanie angelangt, schickte Voss den Reitknecht in die Stadt zurück, da der Herzog auf seinen nächtlichen Ritten keine Dienerschaft um sich zu haben wünschte.

Voss stieg vom Pferd, unbesorgt gab er dem Fuchs die Zügel frei. Die Hände auf dem Rücken, stellte er sich mitten auf die Straße, das Gesicht nicht gegen die Stadt zurückgewendet, sondern gegen die Wegrichtung vorwärts, dorthin, wo hinter Feldern, Dörfern, Windmühlen und weiten Forsten das Jagdschloss Anteport lag. Er berechnete, dass er nun eine dreiviertel Stunde lang neben dem Herzog einherreiten, mancherlei, je nach der Stimmung des Herrn, mit ihm bereden und dann frei sein werde. Der Ritt mit Johann Christoph war ihm nicht lästig, sondern eine willkommene Introduktion zu jenen lustvoll-schmerzlichen Stunden der Geselligkeit, die er sich auch von dieser Nacht erwarten durfte, wie sie ihm von so manchen andern in den vergangenen Wochen zuteil geworden war. War es möglich, dass diese andern Nächte schon der Vergangenheit anheim gefallen waren? ‚Schon versunken in die mütterlich grausame Tiefe?’ dachte er erschrocken. Während er unwillkürlich dem verklingenden Hufschlag vom Pferd des heimwärts reitenden Knechtes lauschte, fand er Trost darin, seine immer wiederkehrenden Stunden im Jagdschloss Anteport mit den immer wiederkehrenden Flügeln einer Windmühle zu vergleichen: welcher von ihnen sich der Tiefe zuneigte, war schnell doch wieder der nächste am Zenith.

Voss lehnte sich an den Stamm der Kastanie. Sein Pferd rupfte vor seinem Gesicht mit emporgerecktem Hals die frischen Blätter ab. Hinter dem Gasthof ‚Zur Kastanie’ im Garten dort plätscherte zaghaft und stockend ein Brunnen, als singe ein schüchterner Mund eine schläfrige Melodie. Unter einem bewegungslos umwölkten Nachthimmel von verschiedenartiger Leuchtkraft war die Luft schwer, schwül und ernst. Ein Öllämpchen gab nur ungenügendes Licht über dem waagrecht hängenden Wirtshausschild, das eine Kastanie mit kerzenförmigen Blüten wie aus einem Kinder-Bilderbuch darstellte. Das Pferd kehrte sich ab, es ging drüben auf der Straßenseite am Rand einer Wiese entlang, immer den Kopf über der Umzäunung haltend. Ein Hündchen saß auf dem jenseitigen Wiesenrand. Nachdem sie beide einander still betrachtet hatten, neigte der Fuchs schwermutsvoll schnuppernd den Kopf über die Pfähle zu ihm herab.

Gleich danach war der Herzog zur Stelle, auch er von einem Fackelreiter geleitet, der den Hut vom Kopf zog, ihn einen Augenblick lang am Knie hielt, dann sein Pferd im großen Bogen umkehrte, die Fackel an einem Meilenstein auslöschte und davonritt.

Voss verneigte sich.

„Komm nur!“ rief der Herzog ihm zu, und sie ritten im scharfen Trab nebeneinander her.

Der Herzog hatte keinen Hut, aber in der Luftstille wehte sein Haar nur wenig. Über seinem Bauch war sein Rock mit einem Knopf zugeknöpft, darüber bauschten sich die breiten Revers.

„Schwül ist es.“

„Ja, Hoheit.“

„Wir werden ein Gewitter bekommen, und das wird gut für die Saaten sein.“

„Ja, Hoheit.“

„Hast du schon zu Abend gegessen?“

„Nein, Hoheit.“

„Bekommst du da was?“

„Wo, Hoheit?“

„Ereifere dich nicht! Ich weiß ja keineswegs, wo du hingehst. Ich frage nur.“

Voss lächelte in der Dunkelheit. Sie ritten jetzt am Judensand und am Hospital vorbei, aber Voss beachtete es nicht.

„Ich ereifere mich nicht, Hoheit.“

Johann Christoph sah Voss zu, wie er neben ihm ritt.

„Du bist unzufrieden, nicht wahr?“

„Ich bin nicht unzufrieden. Ganz im Gegenteil, Hoheit.“

„Ja, Hoheit, nein, Hoheit, ganz im Gegenteil, Hoheit, — willst du mich jetzt weiter so unterhalten? Du bist unzufrieden, weil ich dein närrisches Gesuch abgelehnt habe. Du ärgerst dich, weil ich dich nicht unter die Rekruten stecke. Du beneidest diesen Berliner Schusterjungen, weil er nun Fahnenjunker bei den Chasseurs sein darf. — Sag einmal, was forderst du von mir, Mann? Willst du in zehn Jahren in der Strategie so weit sein, auf einem flandrischen oder brandenburgischen Schlachtfeld Napoleons Garden zu zerfetzen?“

„Ich bin für jede Gnade dankbar und empfänglich, die Sie mir erweisen.

Ich habe kein anderes Streben, als Ihnen mit meinem Leben und meiner Arbeitskraft zu dienen. Aber im Interesse Ihrer hohen Person und Ihres Landes hielt ich es für dienlich, wenn ich eine Zeitlang die Kanzlei mit der Kaserne und wenn möglich bald mit dem Schlachtfeld vertauschen dürfte.“

„Und weshalb? Habe ich dich nicht eben erst mit voller Überzeugung in deiner russischen Politik unterstützt?“

„Trotz dieser gnädigen Bewilligung sehe ich es deutlich voraus, dass bittere Erfahrungen diese Politik begleiten werden, bis man sie einmal zum Sieg wird führen können. Glauben Sie mir, sie erfordert so eiserne Nerven, wie Ihre Diener sie nicht haben werden. Es macht wahrlich kein Vergnügen, auf Grund seiner politischen und historischen Einsicht gegen eine Macht antreten zu wollen, die so augenscheinlich im Vormarsch ist, wie die des Kaisers Napoleon. Wenn die Stürme des Cäsarismus über Europa einmal hinweggebraust sein werden, — wer wird uns Geringe fragen, ob wir in unsern gebrechlichen Hütten eine übermenschliche Charakterstärke bewiesen haben oder nicht? Wir werden höchstwahrscheinlich hinweggeweht sein.“

„Nun also! Dann lass es doch sein, mich zum Widerstand gegen diesen Orkan zu bewegen!“

„Sie werden zum Schluss das tun müssen, was Preußen tut!“

„Mag sein.“ Der Herzog zitierte Euripides. „Nichts übet größre Macht aus als der Drang zur Not! — Aber weißt du, wo ich am liebsten, als ich zur Sukzession berufen wurde, meine Vettern in Europa gesucht hätte?

Bei den Moreau, Hoche, Custine, Pichegru, Jourdan, Dumouriez. Mit den Truppen der Revolution hätte ich am liebsten unter einem Zelt geschlafen und an einem Wachtfeuer mit ihnen meine Soldatensuppe gekocht.“

„Das sind Kronprinzen-Liebhabereien, gnädigster Herr, die nichts mit den späteren Staatsgeschäften zu tun haben.“

Der Herzog schlug Faust und Zügel gegen die Mähne seines Pferdes.

„Zum Teufel, ich trage doch lieber Schulter an Schulter mit solchen Männern meine deutsche Fahne der Empörung voran und erobere mir mit denen mein deutsches Reich und neues Vaterland, als vor dem Löwenkäfig zu gaffen, wie die Großmächte sich darum begeifern, versöhnen, verbünden, wieder gegeneinander anfauchen und ihre schwerfälligen Tatzen erheben!“

„Deutsches Reich, Deutsches Vaterland“, sagte Voss mit einigem Missmut. „Das ist für gewisse Köpfe hierzulande das Gleiche, was für die jüdischen der Messias ist. Er war schon an die zwanzig Male da, aber wenn sie sich umsehen, war es immer noch nicht der Richtige.“

Der Herzog lachte wie ein ehrlicher soldatischer Mann, der viel trinkt, raucht, liebt und reitet: schallend und schnarrend, gutmütig und wild.

„Und dann die Fahne der Empörung!“ fuhr Voss unbekümmert fort.

„Auf diesem Kontinent pflegt diese prachtvolle Fahne“ — er nannte sie französisch: ce pavillon superbe, — „immer nur geraume Zeit zu flattern und dann kneift sie. Sie wird dann entweder ganz zerbrochen oder sie legt sich einen rückwärts gerichteten Sinn zu. Europa ist zwar seit Jahrhunderten revolutionär, aber die beständige Leidenschaft seiner Völker und großen Geister bleibt doch letzten Endes immer die Rückkehr zu den alten Potenzen. Nennen Sie mir eine europäische Bewegung, Hoheit, von den Albigensern angefangen, über die Hussiten und verschiedene Bauernkriege hinweg, über große Teile der Gegenreformation bis hin zu der englischen und französischen Revolution, die nicht in Wiederherstellung ausmündet. Zum Schluss thront doch immer wieder der Papst in Rom, die Kirchenfürsten herrschen mit etwas mehr oder etwas weniger Macht in ihren erzbischöflichen Palästen nahe bei den Domen, das Volk kniet vor seinen Dynasten und Pairskammern, die großen Geister widmen ihr Philosophien und Dichtungen den Potentaten und ihren Ministern, und die Leichname der Rebellenführer werden noch nachträglich mit Sorgfalt an die höchsten Galgen geknüpft, wie es Mr. Cromwell geschah, oder ihr halb Lebendiges wird in eisernen Käfigen durch Stadt und Land gezogen. Mit Ausnahme der Reformatoren, die klug genug waren, den Fürsten, Reichsritterschaften und Stadtpatriziaten Kirchengut zuzuschieben, ist in den letzten sechs Jahrhunderten noch kein europäischer Aufwiegler ungeschunden davongekommen. Man muss also Ihre Gnaden untertänigst warnen, mit dieser Fahne der Empörung allzu stark zu liebäugeln. Keine hohe Abkunft und sechshundertjährige Familie würde Sie vor einem finsteren Ende schützen.“

„Deine historischen und politischen Erkenntnisse scheinen dir aber keineswegs auch nur die geringste Genugtuung zu bereiten, mein Herr Geheimer Rat! In welch einem gereizten Ton du doch über das Misslingen jeden Aufruhrs sprichst! Zu Hause in deinem Kasten hast du den Roten Adler und andere Edelmetalle aus Petersburg, Wien und Dresden. Aber im Grund deines Herzens bist du ein Sansculotte wie ich!“ Bedeutsam fügte Johann Christoph hinzu: „Und das musst du ja wohl auch sein!“

„Ich muss gar nichts sein, was ich nicht will!“ erwiderte Voss schroff. Der Herzog hatte hierzu nur ein behagliches Lächeln auf seinem runden, derben, niemals unbedeutenden Gesicht.

Voss, in dem Wunsch, die Schärfe seiner eben gesprochenen Worte zu mildern, drehte auf seinem hohen Fuchs dem Herzog verbindlich Gesicht und Schultern zu.

„Sie meinen, durchlauchtigster Herr: ohne die Revolution wäre ich noch heute in dem beschränkten und dumpfen Kreis, in dem ich aufgewachsen bin?“

Der Herzog nickte vor sich hin. Mit Daten, Zahlen und Fakten nahm er es nicht genau, aber Voss ließ ihm dergleichen nicht durchgehen. Wie alle Menschen, die sich selber in harten Jugendkämpfen den Sinn für das Zuständliche und Wirkliche geprägt haben, legte er einen übertriebenen Wert auf Tatsachen, Feststellungen und Berichtigungen.

„Es trifft nicht zu! Ich habe mich vor Beginn der Revolution als Knabe von fünfzehn Jahren auf die Socken gemacht und bin nach Amsterdam gewandert. Ich habe mich in den Kolonien umgesehen, bin nach Europa zurückgekehrt und habe an Ihrer Landes-Universität studiert. Keiner politischen Bewegung habe ich es zu verdanken, wenn ich aus unheilvollem Verhältnis zu hoher Wirksamkeit bestellt wurde. Sondern lediglich Ihnen, durchlauchtigster Herr! Ihrem weltbürgerlich hohen Sinn! Ihrer umfassenden Kenntnis von Welt und Mensch, mit der Sie sich Ihre Diener auszuwählen pflegen!“

„Lass es gut sein, ereifere dich nicht! Ob ein Zigeuner dich deiner Familie vom Suppenteller weggestohlen hat, ob dein Vater ein Sarazene, Türke, Indianer, Israeliter, Mohr oder Mameluck gewesen ist, mir gilt das alles gleich! Aber gib Acht, dass unsre Beamtenschaft dir nicht auf die Spur kommt!“

Voss strich mit dem Reithandschuh in der Hand belustigt über seine Oberlippe.

„Sie wissen, durchlauchtigster Herr, dass ich nur auf Ihren Befehl warte, bis ich eines Tages meine gesamte Biographie im ‚Kreu-Reuthischen Beobachter’ publique machen darf!“

„Das wirst du gefälligst unterlassen! — Lass mich verschnaufen! Schritt!“

Johann Christoph, der etwas außer Atem geraten war, legte seine Hand auf Voss’ Schulter, als wolle er sich an ihm festhalten. Nach einer Zeit des Nachdenkens sagte er:

„Du hast mich da mit unserer Petersburger Kombination auf den Geschmack an Ehestiftungen gebracht! Du heiratest mir ein Fräulein von meinem Hof, — welches du willst. Dafür wirst du aber dann auch heute zum letzten Male dorthin reiten, hörst du? Bleibe mir da, wo du hingehörst: an unsrem Arbeitstisch! Und nun Schluss damit!“

Der Herzog zog seinen Arm zurück, und Voss antwortete nichts mehr.

Johann Christoph ritt seinen Rappen-Hengst Antonin, der den zarten Kopf eines Seepferdchens mit kleinen schlauen hellen Augen hatte, einen üppig schillernden Drachenhals mit lang wehender Mähne und einen feisten Leib, der breit und schwer wie eine Schaluppe war.

Obwohl es in der dunklen Nacht nichts für ihn zu sehen gab, so drehte der Herzog doch den Kopf bald nach rechts, bald nach links. Er sog Düfte ein, aus den Wäldern und Saatgefilden, aus Gräben, Mühlen, Dorfstraßen, Brückenstegen, Viehställen und Steinbrüchen. Die Augen des Rappen mit dem Seepferdchenkopf und dem Drachenhals sprühten silberne Funken, es wurde Voss jedes Mal etwas übel in der Magengrube, wenn er diese hengstischen Augenstrahlen sah.

Es ging im Schritt bergauf, und wieder legte Johann Christoph seine Hand auf Voss’ Schulter. In einem bezwingenden Ton männlicher Schmeichelei sagte er:

„Glaube mir, du solltest nicht mehr dorthin reiten! Umgang mit einfachen Weibern sollst du haben, aber nicht mit solchen wie denen da! Sind die denn schön? Glaub es mir, schön sind nur die Bauernmädchen! Ich suche eines für dich aus, ich reite durch die Äcker und Höfe, wenn sie abends ihre Ziegen melken oder das Großvieh in die Ställe treiben. Hast du so Eine nackt in deinem Arm, dann brauchst du nicht die Stufen der römischen Paläste zu erklimmen oder am posylipischen Fels zu landen.

Du hast die Erde und ihr Ebenmaß, ihren Hautgeruch und ihre Kraft, und dein Geist ruhet sich da aus. Was willst du mehr?“

Voss hielt seine Schulter still unter der Vaterhand dieses Mannes, der jünger war als er. Doch vorsichtig und geschickt leitete er das Gespräch von seiner Person ab.

„Sind Sie denn froh mit solchen Mädchen? Was finden Sie denn an ihnen?“

„Einen frischen nächsten Tag! Einen Morgen, der kein Grausen ist!“