Der Holzbachhof - Nicole Berwanger - E-Book

Der Holzbachhof E-Book

Nicole Berwanger

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

In 'Der Holzbachhof' erbt Marie überraschend einen Reiterhof im malerischen Saarland. Dieses Erbe markiert jedoch erst den Beginn eines aufregenden Abenteuers. Vor 30 Jahren verschwand Maries Mutter, Isabella, von diesem Hof, und das Rätsel ihres Verschwindens blieb bis heute ungelöst. Getrieben von einem tiefen Verlangen, die Wahrheit über das Schicksal ihrer Mutter zu enthüllen, hofft Marie, auf dem Holzbachhof Hinweise zu finden. Während ihrer Suche stößt Marie auf Menschen, die hartnäckig schweigen und die Vergangenheit nicht aufklären wollen. In diesem regionalen Reiterkrimi enthüllen sich Intrigen, Geheimnisse und Gefahren, die Marie bis an ihre Grenzen bringen. Das Buch nimmt die Leser mit auf eine fesselnde Reise, während Marie auf dem Holzbachhof nach Antworten sucht. Tauchen Sie ein in diesen regionalen Reiterkrimi und erleben Sie einen mitreißenden Showdown, der bis zur letzten Seite für Spannung und Mitfiebern sorgt. Entdecken Sie das Geheimnis des Holzbachhofs und begleiten Sie Marie auf ihrem gefährlichen Weg zur Wahrheit."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 288

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Nicole Berwanger

Der Holzbachhof

Gefährliches Erbe

Willkommen auf dem Holzbachhof

… einem idyllischen Reiterhof im Saarland. Doch hinter den Kulissen lauern düstere Geheimnisse

IImpressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.

1. Auflage Oktober 2023

Originalausgabe

Kriminalroman, erschienen durch:

Nicole Berwanger

Im Hof 7

66625 Nohfelden

E-Mail: [email protected]

Homepage: www.nicole-berwanger.de

Lektorat: Mareike Fröhlich

Umschlaggestaltung und Buchsatz von Petra Koob

Texte: © 2023 Copyright by Nicole Berwanger

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Für meine Mutter Ursula,

in meinem Herzen lebst du weiter.

Für meine wundervolle Mutter Rosel,

danke für deine Liebe und Fürsorge, die mich begleiten.

«Die Liebe zwischen Mutter und Tochter ist wie ein endloses Band, das ihre Herzen für immer verbindet und ihre Seelen sanft umarmt.»

Weihnachten bei Konny und Lydia

25. Dezember 2021

Draußen wirbelte ein kalter Wind durch die knorrigen Äste der kahlen Bäume. Es war ein ungemütlicher erster Weihnachtsfeiertag. Beim Blick aus dem Wohnzimmerfenster ihres Vaters fröstelte es Marie. Sie beschlich das ungute Gefühl, dass der heutige Weihnachtsbesuch bei ihrem Vater und Lydia nicht so harmonisch verlaufen könnte wie in den vergangenen Jahren. Sie hoffte trotzdem, dass die Neuigkeiten, die sie den beiden gleich verkünden wollte, die weihnachtliche Stimmung nicht komplett verderben würden.

Marie trat vom Fenster zurück und setzte sich trotz ihrer Anspannung wieder auf den Sessel. Sie war nervös, von Unsicherheit erfüllt. Caramel lag entspannt neben dem Sessel. Ihr leises und rhythmisches Hundeschnarchen vermischte sich mit der Weihnachtsmusik im Wohnzimmer. Der ausladende Tannenbaum reichte bis zur Zimmerdecke und war reichlich mit bunten Kugeln geschmückt. Er wirkte wie ein Koloss in dem kleinen Raum. Durch das üppige und aus der Mode gekommene silberne Lametta weckte sein Anblick bei Marie Erinnerungen an alte Weihnachtsfilme aus den 70er-Jahren. Sie dachte nicht gerne an alte Zeiten zurück, denn Erinnerungen brachten immer mit sich, dass sie ihre Mutter Isabella verloren hatte. Lydia hatte immer versucht, ihr eine gute Ersatzmutter zu sein. Marie mochte Lydia sehr. Dennoch, sie vermisste ihre leibliche Mutter. Es war nun über dreißig Jahre her, dass Isabella spurlos verschwunden war. Am Wohnzimmerfenster hingen bunt beleuchtete Weihnachtssterne zwischen den Gardinen. Auf der Fensterbank tummelten sich einige nackte Porzellanengel auf ausgebreiteter Watte. In der Mitte des Wohnzimmertisches lag eine mit goldenen Sternen bedruckte Weihnachtsdecke. Darauf stand ein Stövchen mit einem Teelicht, worauf Lydias alte Kaffeekanne, die nur an Weihnachten zum Einsatz kam, ihren Platz finden würde. Die Weihnachtsmusik wechselte gerade von deutschen zu englischen Liedern. Marie fand das alles sehr kitschig. Jeder hat eben seinen eigenen Stil weihnachtlich zu dekorieren, dachte sie und lächelte in sich hinein. Sie versuchte Lydias Bestreben, eine schöne weihnachtliche Atmosphäre zu gestalten, wertzuschätzen.

Lydia betrat mit feierlicher Miene das Wohnzimmer und kam auf sie zu. Sie trug eine Schale Plätzchen in den Händen und hielt sie Marie direkt vor das Gesicht. Augenblicklich stieg ein leichter Zimtduft in ihre Nase.

«Hier, probiere mal. Alle selbst gebacken. Die Zimtwaffeln liebst du doch so.»

«Danke, Lydia, du hast recht.» Marie nahm gleich zwei und stopfte sich die Erste direkt in den Mund. Noch halb am Kauen brachte sie ein «Herrlich» hervor.

«Ich stelle sie auf den Tisch und hole uns schnell den Kaffee. Dann können wir in Ruhe reden. Du wolltest uns ja heute eine große Neuigkeit verkünden. Ich bin schon so gespannt.»

Marie blickte Lydia nach, die wieder aus dem Zimmer verschwand und überlegte, wie sie das Gespräch gleich auf den Punkt bringen konnte.

Die Tür wurde erneut aufgestoßen und Lydia balancierte ein Tablett herein. Darauf standen die Weihnachtskaffeekanne und die guten Tassen, wie Lydia das Porzellan immer nannte.

Marie erhob sich, als Lydia das Tablett abgestellt hatte und füllte die Tassen mit Kaffee. Sie spürte ein unangenehmes Kribbeln im Bauch, denn sie wusste, dass die Nachricht nicht die war, die Lydia erwartete.

Während Lydia sich neben Konny auf die grüne Couch setzte, nahm Marie einen Schluck Kaffee.

Sie holte tief Luft. «Ich habe euch ja schon angekündigt, dass ich euch etwas Wichtiges mitteilen möchte.»

«Das klingt ja spannend», sagte Lydia und lachte. «Was ist los, hast du jemanden kennengelernt?»

Ihr Vater hob interessiert die Augenbrauen.

«Nein, das ist es nicht. Ich bin ja erst mal glücklich

geschieden und bleibe jetzt lieber eine Zeit lang für mich.» Registrierte sie etwa ein leichtes Aufatmen ihres Vaters? Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Konny hatte sich damals schwergetan, als Marie mit ihrem ersten Freund zu Hause vorstellig wurde. Sie hatte das Gefühl gehabt, Konny wollte sie beschützen, wie eine Glucke ihr Küken, und dabei war sie damals schon fast 18 Jahre alt gewesen.

«Was ist es denn? Ich platze vor Neugier!» Lydia schlug die Beine übereinander und beugte ihren Oberkörper vor, um ihrer Frage mehr Nachdruck zu verleihen.

Marie räusperte sich. «Ich mache es kurz. Ich bin die Erbin vom Holzbachhof.»

Stille breitete sich im Raum aus. Konny riss die Augen auf und Lydias Mund stand offen. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte ihr Vater:

«Ach, tatsächlich?»

«Ich weiß ja Papa, dass du mit dem Holzbachhof und seinen Bewohnern nichts zu tun haben willst», sagte Marie. «Aber dein Bruder ist gestorben. Und ich habe den Hof geerbt. Ich habe jetzt einen eigenen Reiterhof. Da könntest du dich ein bisschen freuen.»

Lydia war die Erste, die einen Satz herausbrachte. «Dann ist dein Onkel Jakob also gestorben?»

«Ja, offensichtlich. Und er hat ein Testament hinterlassen, in dem er mir als Alleinerbin alles vermacht. Den Hof und das Land und das Beste, alle Pferde. Das Testament wurde amtlich eröffnet und mir wurde der Inhalt bekannt gegeben. Die Frist vom Nachlassgericht, in der ich das Erbe ausschlagen oder annehmen kann, beträgt sechs Wochen. Es gibt nur eine Bedingung, ich muss den Reitlehrer Alfred, die Haushälterin Bernadette und die Auszubildende Juna mit übernehmen. Ich wäre danach Besitzerin von fünfzehn Zuchtstuten mit Fohlen, acht Schulpferden und fünf Ponys.» Beim letzten Satz ging Maries Stimme nach oben. Sie hätte am liebsten laut gejubelt. Das tat sie aber nicht, sondern sagte: «Ich kann mich kaum noch an Onkel Jakob erinnern. Ich weiß aber, dass ich manchmal mit zu seinem Reithof war. Vermutlich habe ich mich dort mit dem Pferdevirus infiziert.» Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

«Du warst schon immer eine Pferdenärrin. Das kann ich bestätigen.» Lydia lächelte sie an. «Ich kann mich gut erinnern, wie du deinen Vater als kleines Mädchen überredet hast, dir Reitstunden zu bezahlen. Du warst so hartnäckig, bis er schließlich nachgegeben hat.»

Marie zwinkerte ihrem Vater zu. «Na ja, wer eine gut gehende Wirtschafts- und Finanzberatung innehat, der kann sich doch auch Reitstunden für seine einzige Tochter leisten.»

«Ich hatte eigentlich vermutet, dass du das Reiten nach deiner Hochzeit mit Leo aufgeben würdest», sagte Lydia. «Aber damit habe ich falschgelegen. Du bist …»

Marie war bei dem Namen ihres Ex-Mannes zusammengezuckt. Sie wollte nichts mehr über Leo hören. Er hatte sie wegen einer Jüngeren sitzen lassen. Das tat ihr immer noch weh, auch wenn sie es nicht zugab. Besonders an Weihnachten.

«Ich war wirklich erstaunt, als das Schreiben vom Nachlassgericht mit der Nachricht kam, dass Jakob mich als seine Alleinerbin eingesetzt hatte», versuchte sie auf das eigentliche Thema zurückzukommen. «Ob mein Onkel gewusst hat, dass ich einen Bezug zur Reiterei und zu Pferden habe?»

Sie wandte sich Konny zu, aber der reagierte nur mit Schulterzucken auf ihre Frage. Sie hatte schon damit gerechnet, denn wann immer sie in der Vergangenheit etwas über ihren Onkel aus dem Saarland erfahren wollte, hatte ihr Vater auf stur geschaltet. Genau so war es, wenn sie nach ihrer Mutter fragte. Das war eigentlich noch schlimmer. Sie wusste bis heute nicht, was der Anlass war, weshalb ihre Mutter sie vor über dreißig Jahren von heute auf morgen verlassen hatte.

Lydia riss sie aus ihren Gedanken. «Was hast du denn jetzt vor, Kind?»

«Ich bin mir nicht so ganz sicher.»

Konny stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus. Es schien Marie, als wollte er seine Reaktion auf den Tod seines Bruders vor ihr verbergen. Lydia stand nun ebenfalls auf. Sie stellte sich neben Konny und legte ihm die Hand auf die Schulter. Konny seufzte.

«Ich würde mich echt gern mit euch über diese Erbschaft unterhalten», sagte Marie.

Lydia zog Konny an der Schulter. «Komm Konny, es wird Zeit, dass du endlich mal mit deiner Tochter über die Vergangenheit redest.»

Konny drehte sich zu Lydia um und nickte stumm.

Marie spannte ihre Muskeln an. Was meinte Lydia damit?

Die Zettel

25. Dezember 2021

Die Wohnzimmertür öffnete sich. Marie blickte erwartungsvoll auf, als Konny hereinkam. Die innere Anspannung zerrte an ihren Nerven.

«Hier», sagte er und hielt ein Stück Papier in seiner Hand. Er sah zuerst Lydia und dann Marie an. Er seufzte. Lydia nickte ihm aufmunternd zu. Marie warf einen Blick auf den Zettel.

«Also gut», sagte er schließlich. «Marie, es tut mir leid, dass ich nicht schon früher mit dir darüber gesprochen habe. Ich habe all die Jahre eine passende Gelegenheit gesucht, doch irgendwie nie eine gefunden. Ich habe manchmal auch gehofft, dass sich das Thema vielleicht in Luft auflöst. Was natürlich völliger Quatsch war. Es gibt da etwas, was ich dir nicht über deine Mutter erzählt habe, und wenn ich das jetzt tue, kann es sein, dass ich damit das schöne Bild, das du von ihr hast, zerstöre. Das wollte ich eigentlich vermeiden. Doch ich denke, es ist an der Zeit, dass ich dich aufkläre.»

Maries Herz klopfte schneller. Sie beäugte neugierig den Zettel, anschließend ihren Vater. «Was wolltest du mir erzählen, Papa? Und was hat es mit diesem Zettel auf sich?»

Sein sonst so sanfter Blick war sehr ernst. «Ich glaube, deine Mutter hat mich nie geliebt, sondern immer meinen Bruder Jakob. Aber Jakob hat nicht zu ihr gestanden, vermutlich, weil du auf der Welt warst und er verstanden hatte, dass er unsere kleine Familie nicht auseinanderbringen durfte. Als Bella das auch verstanden hat, ist sie weggegangen. Sie hat uns beide, dich und mich verlassen, um ein ganz neues Leben anzufangen. Weg von Jakob und weg von mir.»

Marie starrte ihren Vater ungläubig an.

«Das ist die eine Version», hörte sie Lydias Flüstern.

Marie runzelte die Stirn. «Welche Version gibt es denn noch?»

Konny blickte zu Boden und schüttelte langsam den Kopf.

«Nun ja …», begann Lydia. «Es gab den Anfangsverdacht, dass dein Onkel Jakob seine Geliebte aus dem Weg geräumt haben könnte. Wenn du verstehst, was ich damit sagen will.»

«Was? Und das erzählt ihr mir erst jetzt?» Ihre Stimme war grell.

Das Gesicht ihres Vaters war rot angelaufen. Er nickte. «Die Polizei konnte ihm nichts nachweisen. Sie haben ihn mehrmals befragt. Er hat alles geleugnet. Da man bis heute keine Leiche gefunden hat, geht die Polizei davon aus, dass Isabella freiwillig weggegangen ist.»

«Und dann gibt es auch eine dritte Möglichkeit», sagte Lydia. Ihre Stimme klang, als würde sie durch einen dicken Wattebausch in Maries Ohr dringen.

Fassungslos starrte sie Lydia an. Traute sich kaum zu atmen.

«Es wurde nicht ausgeschlossen, dass sie sich etwas angetan hat. In der Gegend des Holzbachhofes gibt es einen großen See. Den Bostalsee. Der wurde von Tauchern abgesucht. Erfolglos.»

Marie presste die Hand vor den Mund. Sie spürte Lydias mitleidigen Blick auf ihr ruhen. «Das glaube ich nicht. Wie ist die Polizei denn zu diesen Vermutungen gekommen?»

Konny reichte ihr mit zittriger Hand den Zettel. «Ich war schon ein paarmal kurz davor, ihn zu verbrennen. Das ist ein Zettel, den ich in einer ihrer Stalljacken gefunden habe, nachdem sie verschwunden ist.»

Marie ließ ihre Augen über das Stück Papier gleiten. Es war zerknittert und von gräulicher Farbe, leicht vergilbt, dennoch war die Schrift, obwohl krakelig, gut lesbar. Mit leiser Stimme begann sie vorzulesen:

«Meine wunderschöne Bella. Ich kann es kaum erwarten, bis Du wieder auf dem Hof bist. In Erinnerung an unseren aufregenden Tag fiebere ich unserem nächsten Treffen entgegen. Bitte, verstehe, dass unsere Beziehung vorerst noch geheim bleiben muss. Glaube mir, es ist besser für Dich. Ich liebe Dich, Dein J..» Um das J war ein Herz gezeichnet.

Marie blickte vom Papier auf und schaute zu ihrem Vater hinüber. Er tat ihr plötzlich unendlich leid. Es war ein rührendes Bild, wie Konny den Kopf gesenkt hielt und Lydia ihm über seine Hand strich.

«Das ist nicht der einzige Zettel», sagte ihr Vater. «Es gab einen Weiteren, der am Fahrrad deiner Mutter gefunden wurde. Dieser war an mich adressiert. Die Polizei hat ihn als Beweisstück behalten. Aber ich kann dir den genauen Wortlaut sagen, denn er hat sich in mein Gehirn gebrannt.» Er atmete tief durch.

«Lieber Konny, auch wenn es wehtut, muss ich ehrlich sein. Das ist besser, als ständig mit einer Lüge zu leben. Unsere Ehe ist am Ende. Ich habe mich neu verliebt und ich hoffe, du akzeptierst, dass ich dich deshalb verlassen muss. Du möchtest sicherlich nicht, dass du mit einer Frau zusammen bist, die dich nicht mehr liebt. Ich würde das umgekehrt auch wollen. Deshalb habe ich einen Entschluss gefasst. Ich werde gehen …»

Er presste seine Lippen fest aufeinander.

«Marie», sagte Lydia und riss sie damit aus ihrer Starre, «ich denke, Konny hat das all die Jahre vor dir verheimlicht, weil er nicht wollte, dass du schlecht über deine Mutter denkst. Du solltest sie in guter, liebevoller Erinnerung behalten und nicht den gleichen Schmerz fühlen wie dein Vater. Bevor Konny und Isabella ein Paar wurden, war sie schon einmal mit deinem Onkel Jakob zusammen. Das hielt aber nicht lange. Sie hat sich für deinen Vater entschieden und später kamst du auf die Welt.»

«Das heißt also, meine Mutter war zuerst mit Jakob liiert, bevor sie dich geheiratet hat? Und anschließend hatte sie doch wieder eine Affäre mit ihm?» Sie schüttelte den Kopf. «Wie krass ist das denn? Das klingt ja wie in einem kitschigen Liebesroman.»

Konny sah auf. «Die haben aber ein Happy End, unsere Geschichte leider nicht.» Seine Stimme klang spöttisch. «Bella ist einfach abgehauen. Sie hat uns sitzen lassen, Jakob, dich und mich.» Seine Stimme war nun eine Spur lauter.

Marie spürte die Wut und den Schmerz ihres Vaters. Seine sonst so sanften Gesichtszüge hatten sich verhärtet, seine Augen blitzten auf.

«Deine Mutter hat mich vermutlich Jahre lang hintergangen. Ich habe gemerkt, dass sie immer später vom Reiterhof zurückkam. Es war ihr egal, dass ich dich schon ins Bett gebracht hatte. Ständig hockten alle angeblich im Reiterstübchen zusammen und redeten über ihre Reiterei. Einmal hat sie sogar dort geschlafen, weil sie angeblich zu viel getrunken hatte. Natürlich im Gästezimmer. Ein anderes Mal hatte sie angeblich im Stall geholfen, weil der Stallhelfer krank war. Mal war es eine Kolik beim Pferd, die sie abhielt, zeitig nach Hause zu kommen, mal musste sie auf den Hufschmied warten, der sich verspätet hatte. Sie hatte immer eine andere Ausrede, nur damit sie mit Jakob zusammen sein konnte. Ich schätze die halbe Belegschaft des Holzbachhofes und die Reitschüler dort haben das mitbekommen. Nur ich nicht!» Er schnaubte verächtlich.

Marie zitterte innerlich. «Papa, und du denkst wirklich, meine Mutter ist einfach so weggegangen, weil sie sonst keinen Ausweg sah? Das klingt an den Haaren herbeigezogen.» Jetzt war es Maries Stimme, die einen anderen Tonfall angenommen hatte, hell, verzweifelt. «Ich meine, welche Mutter lässt ein fünfjähriges Mädchen zurück, nur weil sie unglücklich verliebt ist?»

Eigentlich wollte sie die Antwort nicht wissen, doch sie kam prompt.

«Deine!», war die knappe, aber energische Antwort ihres Vaters, während dieser wie ein Aufziehmännchen durch das Wohnzimmer lief. «Eine Rabenmutter tut das!»

Marie schluckte.

«Deine Mutter hat mich betrogen, das ist sicher. Als ich den Zettel gefunden habe, bin ich am selben Tag zu meinem Bruder auf den Hof gefahren. Er tat überrascht, als ich ihm gesagt habe, ich hätte Beweise, dass sie ein Verhältnis hätten. Er sagte, ich solle aufhören so zu schreien, ich würde die Reitschüler vergraulen und seine Pferde nervös machen. Der Mistkerl ist ein guter Schauspieler gewesen. Er konnte sich prima verstellen. Ich habe keine Minute geglaubt, dass er diesen Zettel nicht geschrieben hat. Mein feiner Bruder hat alles bestritten, als ich ihn zur Rede gestellt habe und mir sogar mit einer Anzeige wegen Verleumdung gedroht, wenn ich nicht mit meinen Beschuldigungen aufhören würde.»

Marie schüttelte langsam mit dem Kopf. «Deshalb sind wir also nach Mamas Verschwinden nie wieder zu Onkel Jakob auf den Hof gefahren?»

Konny nickte. «Zudem hatte Jakob mir Hofverbot erteilt.»

«Aber Mamas Pferd … was ist aus der Stute geworden?»

«Ich habe das Pferd nach einem Jahr verschenkt. Habe dem Reitlehrer dort gesagt, er kann es behalten oder er soll es einem dieser Pferdemädchen geben, das sich darum kümmern möchte, oder er soll es verkaufen. Es war mir egal. Er hätte es von mir aus zum Metzger fahren können. Ich habe nie etwas an diesen großen Tieren gefunden, ehrlich gesagt habe ich sogar bis heute Angst vor ihnen. Es hat mich jeden Monat viel Geld gekostet, die Miete für die Box ging ja per Dauerauftrag an Jakob. Ach, es war mir einfach alles zu viel. Ich musste mir ja auch jemanden suchen, der dich betreut, während ich arbeiten war. So eine Tagesmutter hat damals schon viel Geld gekostet. Ich war mit meinen Nerven am Ende.» Er seufzte schwer, so als würde er die Erschöpfung noch immer spüren. «Nachdem Lydia und ich später zusammengekommen waren, ging es mir langsam besser. Nachdem dann das Angebot aus Bayern kam und wir das Saarland verlassen hatten, konnte ich mir ein neues Leben aufbauen. Und den Rest, den kennst du ja.»

Konny ließ sich nun wieder in das alte, bereits durchgesessene grüne Sofa fallen und stöhnte leise.

«Aber», begann sie vorsichtig, denn ihr Vater sah ziemlich mitgenommen aus, «hat sich Isabella wirklich nie wieder gemeldet? Kein einziges Mal?» Das stumme Kopfschütteln ihres Vaters genügte als Antwort.

Marie legte den Zettel zurück auf den Tisch.

«Ich kann mir vorstellen, dass dieses Verschwinden so eine Art Kurzschlussreaktion war», sagte Lydia. «Sie hat vielleicht versucht, Jakob zu überreden, die Affäre öffentlich zu machen, er wollte das nicht, und anschließend ist sie aus Trotz oder aus Kummer abgehauen. Er schreibt ja, dass er nicht möchte, dass ihr Verhältnis öffentlich gemacht wird.»

«War ja auch bequem für ihn, er hatte die schönen Stunden und ich konnte ihren Lebensunterhalt bestreiten. So einfach war das.» Die Worte ihres Vaters hatten einen bitteren Klang.

«Möchtest du noch einen Schluck Kaffee?», fragte Lydia Konny.

Auch Marie merkte, dass es Zeit für einen Themenwechsel war. Ihr Vater war dabei, sich so richtig in die alte Geschichte hineinzusteigern. Außerdem fühlte sie, dass die Weihnachtsstimmung demnächst komplett dahin sein würde. Eigentlich war sie das jetzt schon.

«Da meine Werbeagentur noch die erste Januarwoche geschlossen ist, werde ich die Zeit nutzen und ins Saarland fahren. Ich habe keine richtigen Erinnerungen mehr an den Holzbachhof. Zwar habe ich schon im Internet gegoogelt, aber die Website gibt nicht viel her. Ich bin so was von gespannt, wie der Hof ist, die Pferde …»

«Du könntest das Erbe ablehnen», warf ihr Vater ein.

«Was? Warum sollte ich das tun?»

«Weil die Möglichkeit besteht, dass du Schulden erbst.»

«Das glaube ich nicht.»

«Du könntest einfach alles verkaufen. Wir könnten das von hier aus regeln.»

«Das kann ich immer noch machen, wenn ich mir einen Eindruck verschafft habe. Ich werde mir in Ruhe die Bücher anschauen und prüfen, wie der Hof finanziell dasteht.»

«Du hast doch überhaupt keine Ahnung von Zahlen, Marie.»

«Dafür habe ich ja dich, Papilein.»

«Das kannst du vergessen. Ich will mit Jakobs Hof nichts zu tun haben.»

«Es ist jetzt mein Hof», sagte Marie.

«Wie war das noch mal?», unterbrach Lydia die beiden. «Du sollst den Reitlehrer, die Haushälterin und die Azubine übernehmen? Das ist ein bisschen zu viel verlangt! Ich finde, du solltest den Ratschlag deines Vaters annehmen. Er könnte sich von hier aus um den Verkauf kümmern.»

«Vielleicht habe ich einige Ersparnisse geerbt, damit ich die drei Leute bezahlen kann, solange sie auf dem Hof arbeiten. Der Reitlehrer erarbeitet sich seinen Lohn ja selbst durch Reitunterricht. Die Haushälterin Bernadette ist schon älter. Sie wird vermutlich bald in Rente gehen. Die Auszubildende, Juna heißt sie, glaube ich, ist im letzten Lehrjahr. Soweit ich das verstanden habe, soll ich sie nur noch so lange behalten, bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen hat. Ich habe auf der Website gelesen, dass es auch Pensionspferdehaltung auf dem Hof gibt. Also alles kein Problem.»

«Lydia hat recht», fauchte ihr Vater. «Das ist unmöglich, dir so was aufzuhalsen.»

«Mensch, Papa, reg dich nicht auf. Ich fahre einfach hin und schaue mir alles an. Danach sehe ich weiter. Punkt! Und nun lass uns mal den Kaffee in Ruhe trinken und Lydias leckere Plätzchen essen. Immerhin ist Weihnachten.» Marie strich ihr Haar hinter die Ohren und griff nach ihrer Tasse.

«Ich könnte jetzt einen Cognac gebrauchen», sagte Konny. «Trinkt ihr beiden einen mit?»

«Gute Idee», stimmte Marie zu.

Lydia stand auf, holte drei Cognacgläser aus dem Vitrinenschrank und schenkte den Cognac ein. Ein bisschen mehr als üblich.

«Fröhliche Weihnachten», prosteten sie sich gegenseitig zu.

Vielleicht endet dieser Weihnachtstag doch noch entspannt, dachte Marie.

Auf ins Saarland

3. Januar 2022

Auf der Fahrt ins Saarland überkam Marie ein mulmiges Gefühl. Es war ein wenig so, als müsste sie sich übergeben, und dass, obwohl sie vor Aufregung heute Morgen keinen Bissen heruntergebracht hatte. Würde sie von den Leuten auf dem Hof gut aufgenommen werden? Am Telefon hatte sie mit Bernadette, der Haushälterin ihres Onkels, gesprochen. Die Frau hatte einen Dialekt, den Marie kaum verstand, obwohl sie doch eigentlich selbst bis zu ihrem fünften Lebensjahr im Saarland gelebt hatte.

Ach, ich werde mich sicher daran gewöhnen, dachte sie.

Bernadettes Stimme hatte freundlich, aber auch ein bisschen bestimmend geklungen. Dabei hatte sie versucht, nicht in ihren saarländischen Dialekt zurückzufallen.

«Zuerst möchte ich Ihne mal mein herzliches Beileid ausspreche», hatte Bernadette gesagt und den Buchstaben «N» am Ende eines Wortes einfach weggelassen. «Ich hann Ihne das Gästezimmer hergerichtet. Ich denke, für eine Woche wird es Ihne genüge. Wir esse … also Ihr Onkel … hat immer pünktlich um eins gegesse. Ich habe den Speiseplan für die Woche fertig, sollte Sie nicht alles esse, müssen Sie mir das rechtzeitig sagen. Ich hoffe, Sie sind keine Vegetarierin? Wir haben die Gefriertruhe voll mit Wildfleisch. Ihr Onkel hat sich gut mit den Jägern in der Gegend gehalte und daher jede Menge Reh- und Wildschweinbraten mit auf den Hof gebracht. Außerdem habe mir vom Biobauern vom Nachbarhof mindestens zwanzig Kilo Rindfleisch in der Truhe. Das muss ja auch weg.»

«Machen Sie sich meinetwegen nur keine Umstände», hatte Marie geantwortet. «Und ich bin keine Vegetarierin, wenn Sie das beruhigt.»

«Dann ist es ja gut, ich habe auf dem Hof allen berichtet, dass Sie kommen. Wenn Sie es bis eins zum Holzbachhof schaffe, können Sie mit uns Mittagessen.»

«Wer ist uns?»

«Na ja, wir haben immer zusammen gegessen. Der Reitlehrer Alfred, die Auszubildende Juna, ich und Ihr …», sie schniefte, «… und Ihr Onkel Jakob. Ansonsten könnte ich Ihnen einfach was aufwärmen, wenn Sie ankommen. Sie werden sicherlich hungrig sein von der weiten Fahrt.»

Marie war gespannt auf diese Bernadette. Eins war ihr jetzt klar, das Thema Essen schien ihr sehr wichtig zu sein. Sie hatte den Eindruck, dass sich Bernadette gerne um alles kümmerte und das klang doch sehr positiv. Auf die anderen beiden war Marie sehr gespannt. Vor ihrer Abfahrt heute Morgen hatte sie noch einmal einen Blick auf die Homepage des Holzbachhofes geworfen. Dort hatte sie ein Foto von Juna gesehen, die sie höchstens auf zwanzig Jahre schätzte. Es zeigte Juna, wie sie eine wunderschöne Rappstute striegelte und dabei lächelnd in die Kamera blickte. Sie ähnelte keiner dieser typischen Pferdemädchen aus den Turnierställen. Kein Glitzer an der Reithose, keine modernen geschnürten Reitstiefel, kein teures Marken-Shirt, keine schicken Handschuhe.

Auf dem Bild der Homepage trug Juna eine altmodische Reithose, ein einfaches graues Shirt und hatte ihre wilde Haarpracht mit einem breiten Haarband gebändigt. Sie machte einen ganz natürlichen Eindruck und das gefiel Marie auf Anhieb. Noch besser gefiel ihr dieser schicke große Rappe, der mit auf dem Foto war, und insgeheim hoffte sie, dass das eines der Pferde war, das nun vielleicht in ihren Besitz übergehen würde. Der Gedanke an die Pferde brachte Marie zum Strahlen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Aber sie ermahnte sich, denn aus Erfahrung wusste sie, dass im Leben nicht alles Gold ist, was glänzt. Sie wollte zuerst einmal abwarten und die Dinge auf sich zukommen lassen.

Sie erinnerte sich an das Foto des Reitlehrers Alfred, das ebenfalls auf der Homepage abgebildet war. Es zeigte einen breitschultrigen Mann, den sie auf ungefähr 55 Jahre schätzte, der auf einem großen Reitplatz stand, inmitten einer Gruppe Reiter, besser gesagt Reiterinnen. Er hatte auffallend lange Beine, die in hohen braunen Reitstiefeln steckten, trug eine graue Reithose, einen modernen dunkelblauen Blouson und einen schicken braunen Schal um den Hals. Er gab ein adrettes Bild ab. Sogar für sein Alter sah er sehr attraktiv aus, fand Marie. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er in jungen Jahren bestimmt der Schwarm seiner Reitschülerinnen gewesen war. Es gab ein weiteres Foto von ihm, dass ihn vor einer Vitrine zeigte, in der etliche Pokale und Schleifen dicht aufeinandergereiht waren. Er hatte viele wichtige Preise und Meisterschaften beim Springreiten gewonnen, so stand es zumindest in der Beschreibung.

Obwohl es von der Haushälterin Bernadette kein Foto auf der Homepage gab, hatte Marie sich schon ein Bild gemacht. Sie sah Bernadette als eine kleine, behäbige, rundliche Frau mit großem Busen und einem grauen Lockenkopf vor ihrem inneren Auge. Sie stellte sich vor, dass Bernadette am liebsten in einer dieser aus der Mode gekommenen Schürzen durchs Haus lief. Bestimmt hatte sie ein freundliches rundes Gesicht mit geröteten Wangen und großen, freundlich blickenden Augen.

Mit jedem Kilometer, den Marie dem Saarland und ihrem Hof näherkam, stieg ihre Anspannung. Es kribbelte in ihrem ganzen Körper, als hätte sie eines dieser kleinen bunten Brausepäckchen, die sie als Kind so geliebt hatte, heruntergeschluckt. Eine Pause würde ihr guttun. Sie konnte sich kaum noch auf die Straße konzentrieren. Außerdem war es Zeit für Caramels Gassirunde.

Das Navigationssystem hatte ihr eine Strecke von ungefähr 480 Kilometern angezeigt. Ursprünglich sollte sie fünf Stunden dafür brauchen, aber das würde nie hinhauen, denn sie war erst hinter Stuttgart und hatte schon in zwei Staus gestanden. Marie setzte den Blinker und fuhr ab. Sie hielt vor einem mit krummen Bäumen bewachsenen Wiesengrundstück auf einem Feldwirtschaftsweg an. Gerade als sie sich abschnallte, klingelte ihr Handy. Marie meldete sich mit einem einfachen «Hallo». Ihr Vater war dran.

«Papa, was gibt’s?»

«Ich wollte nur hören, ob du tatsächlich unterwegs ins Saarland bist.»

«Na klar, das hatte ich euch doch gesagt.»

«Da lässt du einfach so deine Firma im Stich? Wer kümmert sich dort um alles?»

«Ach, Papa, ich habe euch gesagt, dass wir in der ersten Januarwoche geschlossen haben. Außerdem habe ich meinen Laptop dabei. Ich könnte theoretisch auch vom Saarland aus arbeiten. Das ist doch heutzutage kein Problem mehr, das haben wir im Lockdown schon getestet.»

«Ich mache mir Sorgen um dich. Du fährst einfach so dahin, kennst dort niemanden. Ich will nicht, dass dir was passiert.»

«Was soll denn passieren? Caramel ist dabei und passt auf mich auf. Ich melde mich, wenn ich gut angekommen bin.» Sie verabschiedete sich und legte auf.

Caramels Bellen ließ sie zusammenzucken. Lass mich endlich aussteigen, schien sie zu sagen und Marie öffnete die Autotür. Ein Schwall eisiger Luft kam ihr entgegen. Sie zog den Reißverschluss ihrer gelben Jacke bis oben zu und stieg aus. Kaum war der Kofferraum offen, sprang Caramel freudig aus dem Wagen. Marie leinte ihren Hund an und spazierte eine Weile über die weitläufige Wiese.

Sonderlich weit kam sie nicht, denn das Gras war feucht und ihre Füße wurden durch die nicht wasserfesten Schuhe innerhalb kurzer Zeit nass.

«Mist!», stieß Marie hervor und schaute auf die Uhr. Es war später, als sie gedacht hatte.

«Komm, Caramel, wir gehen zurück, sonst kommen wir heute nicht mehr im Saarland an.»

Nachdem der Hund wieder im Kofferraum des Autos gesessen hatte, wählte sie ihre Playlist auf dem Handy und setzte ihre Fahrt zum Holzbachhof mit lauter Musik fort. Auf der Autobahn schaltete sie den Tempomat ein und sang den Refrain ihrer Lieblingsband laut mit. «Komm mit mir ins Abenteuerland …»

Die Autobahn war frei und so fuhr sie ohne weitere Staus an Karlsruhe und Kaiserslautern vorbei. Das Navigationssystem zeigte irgendwann nur noch fünfzig Minuten Fahrzeit bis zum Ziel. Mit jedem Kilometer, den sie zurücklegte, stieg ihre Spannung.

Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass Isabella sie manchmal mit auf den Hof genommen hatte. Warum hatte sie dann keine Erinnerungen an den Holzbachhof? Und an Bernadette und Alfred? Was würde sie auf dem Holzbachhof erwarten?

Der Holzbachhof

3. Januar 2022

Der Zeiger auf ihrer silbernen Armbanduhr stand auf drei. Sie war im St. Wendeler Land angekommen. Das angekündigte Mittagessen von Bernadette hatte sie schon mal verpasst. Aber immerhin zeigte das Navigationssystem nun endlich an, dass sie in wenigen Minuten ihr Ziel erreichen würde. Auf der geschwungenen Hauptstraße schaute sie immer wieder nach rechts und links. Sie sah viele alte Wohnhäuser, aber kein einziges Lebensmittelgeschäft oder eine Bäckerei oder Metzgerei. Es wirkte alles etwas öde und verschlafen. Vielleicht lag es auch an der Jahreszeit.

Sie ließ den Ort, dessen Name sie vor Aufregung schon wieder vergessen hatte, hinter sich und bog in einen Feldwirtschaftsweg ein. Durch die Frontscheibe ihres Wagens erblickte sie bereits weitläufige Koppeln. Sie entdeckte ein Hinweisschild mit der Aufschrift «Zum Holzbachhof» und einem Pfeil, der nach vorne zeigte. Marie stoppte den Wagen und stieg aus. Sie sog die klare Luft ein. Die Sonne blinzelte zwischen einer Wolkenlücke hindurch. Es fühlte sich herrlich an. Das Wetter passte schon mal. Ihr Kindheitstraum, ein eigener Reitstall, lag direkt vor ihr und sie konnte es immer noch nicht fassen. Was sie aus der Ferne sah, gefiel ihr. Die Holzzäune erstreckten sich kilometerweit bis zum Waldrand. Mittendrin lag der Holzbachhof. Die Gebäude waren u-förmig angeordnet, soweit sie das von hier erkennen konnte. In der Mitte stand ein zweistöckiges Wohnhaus und rechts und links daneben lagen weitere Gebäude, vermutlich die Pferdeställe. Sie stieg wieder ein. Langsam ließ sie ihren Wagen anrollen und fuhr im Schneckentempo den schmalen Weg entlang, der sich bis zum Hof an den Pferdekoppeln entlang schlängelte. Sie strahlte, als sie die ersten Pferde auf einer der hofnahen Koppel entdeckte. Bei ihrem Anblick spürte sie ihren Herzschlag schneller werden.

Mehrere Autos standen vor der Hofeinfahrt auf einem kleinen geschotterten Parkplatz. Marie parkte ihren Wagen ebenfalls dort. Bevor sie ausstieg, warf sie einen flüchtigen Blick in den Rückspiegel. Sie sah erschöpft aus. Sie sehnte sich nach einem starken Kaffee und hoffte, dass Bernadette ihr gleich einen anbieten würde. Marie versuchte das Beste aus sich herauszuholen, indem sie sich ihre braunen Haare hinter die Ohren strich und mit den Fingern gegen die Wangen klopfte, damit die Durchblutung in Gang kam und zumindest ein bisschen Farbe in ihr Gesicht zauberte. Dann öffnete sie die Fahrertür und stieg aus. «Da wären wir also», sagte sie zu Caramel, die sie erwartungsvoll durch die Autoscheibe anblickte. Marie öffnete die Kofferraumtür und ließ die Hündin hinausspringen. «Komm, meine Süße, dann wollen wir uns mal vorstellen», sagte sie, während sie ihren silbernen Rollkoffer, ihren Rucksack und die Handtasche aus dem Auto holte. Dann leinte sie die Hündin an. Sie steuerte mit dem Gepäck und Caramel an ihrer Seite auf ein schmiedeeisernes Tor zu. Es stand weit offen. Rechts und links daneben begrenzte ein verwitterter Gartenzaun das Grundstück zur Straße. Maries Blick fiel auf ein großes hölzernes Schild, das seitlich am Tor angebracht war. «Willkommen auf dem Holzbachhof». Hübsch, dachte Marie. Der Koffer rappelte über den Kies auf dem Weg zum Wohnhaus. Marie lief an den Ställen vorbei, wo sie die ersten Pferde auf den Paddocks erblickte. Sie blieb stehen. Schnupperte. Endlich hatte sie den langersehnten süßen Pferdeduft in der Nase. Sie atmete tief ein. «Wunderbar», entfuhr es ihr. Außer den Pferden sah sie niemanden. Der Hof war wie leergefegt. Ein lautes Wiehern unterbrach die unheimliche Stille auf dem Hof und Marie zuckte zusammen. Zögerlich ging sie weiter Richtung Wohnhaus. Dabei kam sie an der Sattelkammer vorbei, deren Tür offenstand. Sie stellte den Rollkoffer neben die hölzerne Eingangstür, schleuderte den Rucksack daneben und warf einen neugierigen Blick ins Innere. In der Kammer war niemand zu sehen. Marie ging hinein und betrachtete den großen Raum. Im Eingangsbereich ragten Reitgerten in verschiedenen Längen und Farben aus einer alten Milchkanne. Der Geruch, der in ihre Nase strömte, war ihr nicht fremd. Eine Mischung aus Schweiß und Leder. Die Sättel hingen in zwei Reihen übereinander. Jeder Sattelhalter trug ein Namensschild an der Kopfseite. Sie trat näher. «Caramba, Lancelot», las sie leise vor, «Snoopy, Schlumpf, Flora, Camelot, Blacky. Ausgefallene Namen.» Das gefiel ihr. Marie berührte eine der grünen Sattelabdeckungen. Samt. Wie edel, dachte sie.

Gegenüber sah sie rote Halterungen, an denen die Trensen hingen. Auch hier war wieder alles mit Namensschildern versehen. Jemand sehr Ordentliches musste hier das Sagen haben.

Auf einem Regal entdeckte sie die Putzkästen, die in Reih und Glied nebeneinanderstanden. Darunter gab es kleine Spinde mit Vorhängeschlössern.

Maries Blick fiel auf das Schild, das am Ende der Sattelkammer an einer Tür hing. «Reiterstübchen» stand darauf. Neben der Tür befand sich ein kleines Fenster. Es gab einen spärlichen Blick ins Reiterstübchen frei. Sie erkannte so etwas wie eine urige, kleine Kneipe. Caramel, die an der Leine war, drängte zum Ausgang. «Ist ja gut, wir laufen weiter, du unruhige Tante.»

Vor der Sattelkammer schnappte sie sich ihr Gepäck und ging weiter über den Hof Richtung Wohnhaus. Während sie an einem großen dampfenden Misthaufen neben dem Stallgebäude vorbeilief, strömte ihr ein scharfer Geruch entgegen. Unwillkürlich musste sie an Konny denken, der sich an ihrer Stelle jetzt die Nase zugehalten hätte. Ihr Vater verabscheute stinkende Gerüche. Marie beobachtete den braunen Hahn, der auf dem Mist herum scharrte. Ein paar Hühner liefen laut gackernd um den Haufen herum. Landidylle pur.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit von den Hühnern ab und ging weiter auf den Hauseingang zu. Dabei hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie blickte sich um, entdeckte aber niemanden. Und trotzdem war ihr, als hätte sie eine Bewegung an der Tür der Sattelkammer wahrgenommen. «Hallo?», rief sie, erhielt jedoch keine Antwort.

Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte sie die Fahrt doch mehr angestrengt, als sie vermutet hatte. Kaffee, sie brauchte dringend einen Kaffee.