Die Toten vom Eifelhof - Nicole Berwanger - E-Book

Die Toten vom Eifelhof E-Book

Nicole Berwanger

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

EINLEITUNG Charlotte lag völlig orientierungslos auf einem harten Fußboden aus Holzdielen. Sie öffnete die Augen, war aber nicht in der Lage, irgendetwas zu erkennen. Eine erbärmliche Kälte breitete sich in ihrem Körper aus und sie fing an zu zittern. Den moderigen Geruch, den sie einatmete, vermochte sie nicht zuzuordnen. In dem dunklen Raum herrschte Totenstille. Sie verspürte wahnsinnige Kopfschmerzen und hatte beim Schlucken einen widerlichen, blutigen Geschmack im Mund. Als Charlotte mit der Hand ihren schmerzenden Kopf berührte, bemerkte sie eine Wunde. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihr auf und trieb mächtige Angst durch die Adern. Ihr Herzschlag wurde schneller und lauter. Nach und nach kam die Erinnerung zurück und versetzte Charlotte in Panik. Charlotte wird mit der Vermarktung eines Aussiedlerhofs in der Eifel beauftragt. Dort trifft sie auf einige mürrische Bewohner, die ihr deutlich zu verstehen geben, dass sie nicht willkommen ist. Am kommenden Tag werden befreundete Nachbarn der erfolgreichen Immobilienmaklerin auf ihr Verschwinden aufmerksam. Alarmiert durch deren Hündin Ella, die unaufhörlich und klagend im Nachbarhaus bellt, verständigen sie die Polizei. Eine erste Spur führt zum Hof in der Eifel, wo sich Kommissar Lohmüller des Falles annimmt. Im Zuge seiner Ermittlungen findet er eine weibliche Leiche, doch sie passt so gar nicht zu der Beschreibung der Verschwundenen. Wo steckt Charlotte und was haben die Hofbewohner mit ihrem Verschwinden zu tun? Selbst als der Fall aufgeklärt wird, ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende …

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EINLEITUNG

Die Toten vom Eifelhof

Von Nicole Berwanger

Buchbeschreibung:

Charlotte wird mit der Vermarktung eines Aussiedlerhofs in der Eifel beauftragt. Dort

trifft sie auf einige mürrische Bewohner, die ihr deutlich zu verstehen geben, dass sie

nicht willkommen ist.

Am kommenden Tag werden befreundete Nachbarn der erfolgreichen

Immobilienmaklerin auf ihr Verschwinden aufmerksam. Alarmiert durch deren Hündin

Ella, die unaufhörlich und klagend im Nachbarhaus bellt, verständigen sie die Polizei.

Eine erste Spur führt zum Hof in der Eifel, wo sich Kommissar Lohmüller des Falles

annimmt. Im Zuge seiner Ermittlungen findet er eine weibliche Leiche, doch sie passt so

gar nicht zu der Beschreibung der Verschwundenen.

Wo steckt Charlotte und was haben die Hofbewohner mit ihrem Verschwinden zu tun?

Selbst als der Fall aufgeklärt wird, ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende ...

Die Toten vom Eifelhof

Kriminalroman

1. Auflage, 2019

© Alle Rechte vorbehalten.

EINLEITUNG

Charlotte lag völlig orientierungslos auf einem harten Fußboden aus Holzdielen. Sie öffnete die Augen, war aber nicht in der Lage, irgendetwas zu erkennen. Eine erbärmliche Kälte breitete sich in ihrem Körper aus und sie fing an zu zittern. Den moderigen Geruch, den sie einatmete, vermochte sie nicht zuzuordnen. In dem dunklen Raum herrschte Totenstille. Sie verspürte wahnsinnige Kopfschmerzen und hatte beim Schlucken einen widerlichen, blutigen Geschmack im Mund. Als Charlotte mit der Hand ihren schmerzenden Kopf berührte, bemerkte sie eine Wunde. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihr auf und trieb mächtige Angst durch die Adern. Ihr Herzschlag wurde schneller und lauter. Nach und nach kam die Erinnerung zurück und versetzte Charlotte in Panik.

27. März – 10.30 Uhr – zwei Wochen vor Ostern

Wer hätte voraussehen können, dass ein einziges Telefongespräch eine solche Welle von unvorstellbaren Ereignissen auslösen würde.

Charlotte sah aus dem geöffneten Fenster ihres Büros, eine warme Tasse Kaffee in der Hand, der herrlich duftete. Das unüberhörbare Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Tagträumen. Sie stellte die Tasse auf den Schreibtisch und nahm schon das zehnte Kundengespräch an diesem Morgen entgegen. Seit sie ihre eigene Firma hatte, verstand sie es besser, mit Stress im Büro umzugehen als vor einigen Jahren. Damals hatte sie in einem kleinen Maklerbüro einer Immobilienfirma für einen cholerischen Chef gearbeitet und stand kurz vor einem Burnout, als sie die Reißleine gezogen und ihm die Kündigung auf den Tisch geknallt hatte. Seitdem fühlte sie sich wieder bestens. Sie war jetzt ihr eigener Chef.

Der erste Kontakt mit Herrn Funk aus der Eifel war kurz, und wie sie fand, nicht informativ ausgefallen. Der Landwirt hatte ihr am Telefon mitgeteilt, dass er und seine Frau vor hatten, den landwirtschaftlichen Hof in der Eifel zu verkaufen.

„Möglichst mit allem dazugehörigen Land, und am besten gleich mit sämtlichen landwirtschaftlichen Geräten“, hatte er ins Telefon gebrummt. Er sei auf ihre Anzeige als Immobilienmaklerin im „Bauernblatt“ gestoßen. Als Charlotte versucht hatte, weitere Informationen zur Immobilie zu erfragen, erklärte Herr Funk kurzerhand, sie solle doch vorbeikommen und sich den Hof selber anschauen. „Ich gebe Ihnen meine Adresse und unsere Telefonnummer und es wäre gut, wenn Sie schon für die nächste Woche einen Termin einplanen könnten“, sagte er in einem recht unfreundlichen Ton ins Telefon.

„Ich könnte heute in einer Woche zu Ihnen in die Eifel kommen“, schlug ihm Charlotte mit freundlicher Stimme vor. Nachdem er ihr die Adresse mitgeteilt hatte, legte Herr Funk mit einem schlichten „Bis dann“ auf.

Ein wenig verwundert war Charlotte schon, denn normalerweise dauerten solche telefonischen Erstkontakte länger. Herr Funk hatte sich als wortkarg erwiesen. Er hatte gar keine Fragen gestellt. Sein Ton war rüpelhaft.

In ihrem Job kam sie oft mit Menschen in Kontakt, die sie sich während des ersten Telefonats völlig anders vorgestellt hatte. Sie fand es immer aufregend, sich zum ersten Mal mit Kunden zu treffen und diese dann persönlich kennenzulernen. Sie hatte in all den Jahren schon so viele außergewöhnliche Leute kennengelernt. Dabei gab es immer wieder Klienten, die sich als schwierig entpuppten. Charlotte hatte sich angewöhnt stets freundlich, zuvorkommend und höflich zu bleiben. Sie wusste, dass man so am besten mit schwierigen Menschen klarkam.

Sie war schon gespannt auf die erste Begegnung mit der Familie Funk, ebenso auf den Bauernhof in der Eifel. Für Charlotte war es immer wieder interessant, eine Immobilie zu begutachten, dabei hatten es ihr alte Bauernhäuser von jeher angetan. Beim Eintreten spürte man die spezielle Atmosphäre der alten Gemäuer, sie hatten einfach Charme. Oft modernisierte man solche antiquarischen Häuser im Laufe der Zeit, ohne Rücksicht auf ihren eigentlichen ursprünglichen Charakter zu nehmen. Sie war gespannt, welche Art von Immobilie sie in der Eifel erwarten würde.

Montag, 3. April – eine Woche später

Als sie mit ihrem Auto vor dem Hauseingang des Eifelhofes parkte, fiel ihr auf, dass sich eine Gardine im Erdgeschoss des Hauses bewegte und sie offensichtlich erwartet wurde. Es kam niemand auf den Hof, um sie zu begrüßen. Der erste Eindruck war enttäuschend. „Wieder so ein altes Bauernhaus, das nicht stilgerecht renoviert worden ist“, murmelte sie. Die einstigen Fenster hatte man durch hässliche große Scheiben mit Aluminiumrahmen und zeitgemäßen Rollläden ersetzt. Auch die alte Haustür war einer modernen, langweiligen Eingangstür gewichen. Lediglich die alte Sandsteintreppe, die beidseitig hinauf zum Einlass führte, schien im Originalzustand zu sein. Daher wirkte sie verschlissen und marode. Vor dem Haus säumten allerlei Blumentöpfe, aus denen schon die unterschiedlichsten Frühlingsblüher ragten, die Front. Wenigstens ein schöner Anblick, der das trostlose Bild etwas aufwertet, schoss es ihr durch den Kopf.

Mit einem Blick auf die Uhr stieg Charlotte die altertümliche Treppe mit schnellen Schritten hinauf. An der Haustür drückte sie den Klingelknopf. Es schellte grell. Niemand reagierte, woraufhin Charlotte die Klingel ein zweites Mal betätigte. Ein durchdringendes „Ring-Ring“, hörte man bis vor die Haustür.

Eine lange hagere Frau in einer altmodischen Kittelschürze und mit einer langweiligen Frisur öffnete ihr nach einer ganzen Weile die Tür und musterte Charlotte von Kopf bis Fuß.

„Guten Tag, mein Name ist Charlotte Schumann. Ich bin Immobilienmaklerin und ich habe mit Herrn Funk einen Termin.“ Ein herrlicher Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen durchströmte den Hausflur.

„Ja gut, kommen Sie rein, ich hole meinen Mann“, sagte die dürre Frau mit mürrischer Stimme und trat zur Seite. Charlotte stand in dem großen breiten Hausflur und hier war sie vorerst gezwungen, zu warten. So hatte sie immerhin etwas Zeit, sich in Ruhe umzuschauen.

„Ich komme gleich zurück“, erklärte die Frau, wischte sich die Hände an ihrer grauen Schürze ab und war sogleich hinter der nächsten Tür verschwunden. Charlotte packte die Gelegenheit und ließ den Blick durch den Raum wandern. Die altertümlichen Fliesen im Hausflur und die Holzvertäfelung an der Decke passten überhaupt nicht zusammen. Die Wandfarbe im Flur war weiß und leicht verschmutzt. Eine große Holztreppe führte in der Mitte des Flures in den zweiten Stock. Zwischen den köstlichen Apfelduft mischte sich der Geruch von verbranntem Kaminholz, der aus einer Feuerungsstätte aufstieg, die am Ende des Hausflurs lag. Als Frau Funk zurückkam, folgte ihr ein Mann, dessen Lebensalter Charlotte auf Mitte 60 schätzte. Er trug eine grüne Latzhose über einem grau karierten Flanellhemd. Seine Haare waren schon ein wenig ergraut, aber dicht. Er hatte ein rundes Gesicht, auffallend große Augen und einen stechenden Blick. Seine Wangen waren leicht gerötet und ein ungepflegter Dreitagebart zierte sein Gesicht. Der Mann war muskulös aber nicht groß und wirkte gedrungen.

„Guten Tag, Edgar Funk“, stellte er sich vor und schüttelte Charlottes Hand mit kräftigem Händedruck. „Am besten gehen wir in die Gute Stube“, sagte er freundlich und wies mit der Hand auf die rechte Tür. „Nehmen Sie schon mal Platz. Ich habe alle Flurpläne und den Bauplan vom Haus zusammen, die bringe ich Ihnen gleich.“

Damit verließ er das Zimmer und Charlotte saß mit Frau Funk alleine am Tisch, die sie mit feindseligem Blick beobachtete. Die Hausherrin sprach kein Wort, hatte die Lippen fest aufeinandergepresst und die Arme verschränkt. Zumindest bei ihr war Charlotte nicht besonders willkommen.

Verlegen schaute sie sich in der Guten Stube um. An der Wand über dem Sofa hingen Landschaftsbilder von unbekannten Malern. Auf einer kleinen Anrichte stand auf einem gehäkelten Spitzendeckchen ein gerahmtes Hochzeitsfoto, offenkundig das der Eheleute Funk, und weitere Bilder, vermutlich von Familienmitgliedern. Daneben war eine Blumenvase mit geschmacklosen Trockenblumen drapiert. In der Ecke stand eine uralte Stehlampe mit malerischen Jagdmotiven auf dem Lampenschirm. Direkt daneben ein gemütlich aussehender Ohrensessel aus einem grün-karierten Stoff. Außerdem gab es in dem Raum eine kleine Vitrine, in der allerlei Sammeltassen und schwere Kristallgläser fein säuberlich aufgestellt waren.

Bevor Charlotte darüber nachdenken konnte, warum Frau Funk so abweisend wirkte und wie sie die Situation deuten sollte, kam Herr Funk wieder ins Zimmer zurück. Er setzte sich mit den Plänen zu ihnen an den Tisch.

„Hast du denn der Frau Schumann schon einen Kaffee angeboten?“ Er richtete einen strengen Blick auf seine Frau.

Diese fragte artig: „Möchten Sie vielleicht einen Kaffee trinken?“ Ihr Augenausdruck und ihre Stimme verrieten Missfallen.

„Sehr gerne“, erwiderte Charlotte höflich und war froh, als die Dame des Hauses daraufhin das Zimmer verließ. Jetzt war sie mit Herrn Funk alleine. Sie durfte nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber vielleicht bot sich heute nicht mehr die Gelegenheit, mit dem Mann unter vier Augen zu sprechen. Daher fragte sie ihn blitzschnell. „Ich habe den Eindruck, Herr Funk, dass Ihre Frau nicht begeistert ist, dass der Bauernhof verkauft werden soll. Liege ich da richtig?“

„Ach was, da täuschen Sie sich aber“, antwortete der Landwirt, „meine Frau ist einfach nur wenig Besuch gewöhnt. Wenn jemand Neues zu uns auf den Hof kommt, da ist sie immer zurückhaltend. Natürlich will sie verkaufen!“ Seine Stimme klang gereizt.

Kurz darauf brachte Frau Funk den Kaffee in einer entzückenden alten Kaffeekanne mit passendem Zuckerdöschen und Milchkännchen auf einem großen Tablett herein. Dann nahm sie Tassen mit passenden Untertellern aus der Vitrine. Sie schenkte wortlos den Kaffee ein und setzte sich stumm neben ihren Mann. Charlotte erläuterte die Vertragsbedingungen und erklärte, dass sie gerne Bilder vom Hof und Wohnhaus machen würde. Außerdem hatte sie vor, in allen Zimmern des Hauses die Räume zu vermessen und sämtliche Stallgebäude und Schuppen zu begutachten. Sie bat Herrn Funk, ihr für ein paar Tage die gesamten Flurpläne und die Baupläne zu überlassen, und versprach, diese so schnell wie möglich wieder zurückzubringen. „Zu Hause werde ich in Ruhe alle heute gemachten Bilder auswerten und in einem Exposé verarbeiten.“

Herr Funk nickte.

Als Charlotte merkte, dass Frau Funk mit dem Begriff nichts anzufangen wusste, erklärte sie ihr: „In einem Exposé steht eine Beschreibung Ihrer Immobilie, darin enthalten sind in der Regel auch Bilder und Grunddaten zum Objekt, wie Baujahr, Grundfläche, Preis. Ich habe hier ein Exposé einer anderen Immobilie, das ich angefertigt habe und das im Internet freigeschaltet wurde. Das dürfen Sie sich gerne mal anschauen, damit Sie sich einen Eindruck verschaffen können.“ Sie kramte in ihrer Tasche, holte das entsprechende Dokument heraus und reichte es Frau Funk. „So in der Art werde ich das für Ihre Immobilie auch machen. Das Ganze wird dann, nachdem Sie beide es abgesegnet haben, ins Internet gestellt. Und eine Kurzausgabe hängt in meiner Filiale im Schaufenster aus. Das wäre schon alles. Der Kundenkontakt läuft ausschließlich über mich. Ohne mich sollte keine Besichtigung stattfinden. Ich werde mich immer vorher mit Ihnen abstimmen, wann wir einen gemeinsamen Termin mit Kaufinteressenten vereinbaren können.“

Edgar Funk nickte erneut. Seine Frau saß regungslos am Tisch. „Wenn Sie beide keine Fragen mehr haben“, schlug Charlotte vor, „dann lassen Sie uns gleich mal mit der Besichtigung des Hauses anfangen.“ Dann stand sie rasch auf, in der Hoffnung, so aus dieser unangenehmen Situation zu entkommen. Sie vermutete jetzt schon, dass bei der Größe des Objekts jede Menge Arbeit auf sie wartete.

Und es stellte sich heraus, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte, denn durch die ständigen An- und Umbauten hatte das alte Bauernhaus mehr Wohnfläche, als es auf den ersten Eindruck vermuten ließ.

Herr und Frau Funk führten Charlotte zuerst durch das große Wohnhaus. Sie fotografierte einen Raum nach dem anderen und notierte sich Informationen zu den Fenstern und den Böden, die teilweise mit alten Holzdielen ausgelegt waren. Immer begleitet von den bösartigen Blicken der Dame des Hauses.

„Ich hab ja nicht gewusst, dass Sie hier jedes einzelne Zimmer anschauen wollen“, stieß Helene Funk mürrisch hervor. „Ich dachte, Sie interessieren sich eher für den Stall und das Land. Wenn ich geahnt hätte, dass Sie überall Bilder machen, dann hätte ich gestern extra noch gründlich geputzt“, brummte sie feindselig und warf ihrem Mann dabei einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Frau Funk, nochmal“, entgegnete Charlotte, „nicht alle Bilder kommen in das Exposé, aber ich muss doch den Kaufinteressenten am Telefon Auskunft geben können, wenn sie mich fragen, ob das Kinderzimmer nach vorne oder nach hinten heraus liegt und ob die Decke im Wohnzimmer vertäfelt ist und welche Farbe die Fliesen im Gäste-WC haben. Durch die Bilder habe ich für mich persönliche Informationen, die bei telefonischem Kundenkontakt mit Interessenten der Immobilie von Bedeutung sein können.“ Als Maklerin hatte Charlotte manchmal mit Verkäufern zu tun, die anstrengend waren, was die Immobilienbeschreibung und vor allem die Bewertung ihrer Häuser betraf. Aber Frau Funk schoss den Vogel ab.

Charlotte nahm sich vor, auf alle Fälle Herrn Funk nochmal darauf anzusprechen, ob seine Frau auch wirklich mit dem Hausverkauf einverstanden war, und zwar bevor sie sich zu Hause an die Arbeit der Erstellung des Exposés setzte.

„Hier kommen wir zu einem extra Wohnbereich“, erklärte Herr Funk, als sie vor einer Tür im zweiten Stock des Hauses standen. „Dazu gibt es auch an der Seite des Hauses einen separaten Eingang. Trotzdem haben wir hier auch eine Verbindungstür zu unserem Flur gelassen. Hier haben meine ledige Schwägerin und die Schwiegermutter früher gewohnt. Beide sind verstorben. Nun ist unser Sohn hier eingezogen.“

Charlotte war erstaunt, denn von einem Sohn war bisher gar keine Rede gewesen.

„Gehen Sie ruhig rein“, sagte Herr Funk, „mein Sohn ist, glaub ich, gar nicht da.“ Sie standen in einer kleinen Diele, von der aus mehrere Zimmer zu erreichen waren. „Hier gibt es eine Küche, ein Wohn-Esszimmer, zwei Schlafzimmer und ein Bad mit Dusche und Badewanne“, klärte er Charlotte auf. „Wenn man diese Tür zu unserem Wohntrakt zumauern würde, dann hätte man eine ganz abgeschlossene Wohnung. Das könnte doch sicherlich den Verkaufspreis erhöhen?“ Neugierig sah er Charlotte an. Die „Dollarzeichen“ standen ihm in den Augen.

„Wenn man eine separate Strom- und Heizkostenabrechnung hier machen könnte, wäre es ideal“, erwiderte sie.

Der Landwirt nickte. „Ja, das haben wir damals beim Umbau schon alles geregelt.“

„Na prima“, sagte Charlotte und notierte sich diese Information auf ihrem Block. Nachdem der ganze Wohnbereich besichtigt war, schlug der Landwirt vor, in die Stallungen zu gehen und zur großen Scheune. „Anschließend laufen wir dann zu den Offenställen und den Koppeln rund ums Haus und zu den Maschinenhallen“, kommandierte er Charlotte in einem Ton, als sei sie seine Angestellte.

„Ja, einen kleinen Moment noch, ich hole mir meine Gummistiefel aus dem Auto und eine andere Jacke“, rief Charlotte und war auch schon in Richtung Ausgangstür verschwunden. Diese Hofbesitzer sind seltsame Leute, ging es ihr durch den Kopf, die Frau erinnert mich an eine alte Dienstmagd und der Mann hat etwas von einem Feldwebel an sich.

Sie eilte zu ihrem Auto und nun fiel ihr zum ersten Mal ein junger Mann auf, der im Hof in der Nähe der Scheune herumschlich. Als er Charlotte bemerkte, senkte er den Kopf, packte einen Eimer und verschwand wortlos in einem der angrenzenden Schuppen.

Hier gibt’s echt merkwürdige Leute, schoss es Charlotte durch den Kopf. Man konnte doch grüßen, wenn ein Fremder auf dem Hof stand. Etwas verärgert zog sie sich ihre Gummistiefel an und die warme Jacke und lief zurück zum Haus, wo Herr Funk schon an der Haustür auf sie wartete. „Meine Frau bleibt jetzt drin, ich denke, wir brauchen Sie hierfür nicht“, erklärte er. „Zuerst laufen wir mal rüber in den großen Kuhstall.“

Froh darüber, dass die unangenehme Frau Funk nicht mehr mit dabei war, folgte sie dem Landwirt in die Stallungen. Jetzt bot sich die Gelegenheit, endlich mal in Ruhe nachzuhören, ob sich die Eheleute über den Verkauf der Immobilie einig waren. Was würde aus dem Sohn werden, wenn der Hof verkauft würde? Und war der junge Mann da draußen auf dem Hof vorhin der Sohn der Eheleute Funk gewesen? Auf Charlotte hatte er scheu und distanziert gewirkt. Vielleicht nur ein Stallhelfer, schoss es ihr durch den Kopf. Es blieb keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn schon verlangte Herr Funk wieder ihre volle Aufmerksamkeit.

„Kommen Sie, wir gehen weiter“, forderte er Charlotte mit seiner lauten Stimme auf. Bei einer ausführlichen Besichtigung aller Stallungen, Scheune, Schuppen und den Maschinenhallen, in denen die Traktoren, Anhänger, Heuballenpresse, Heuwender und sämtliche anderen Geräte Platz fanden, hatte Charlotte ausreichend Gelegenheit sich mit Herrn Funk zu unterhalten.

„Natürlich wollen wir verkaufen, auch meine Frau. Wir sehen keinen Sinn mehr in unserer Tätigkeit in der Landwirtschaft, wir verdienen ja kaum etwas und die Arbeit wird in unserem Alter immer schwerer. Wir haben schon Pläne, was wir mit dem Geld des Verkaufes von dem allem hier anfangen werden. Unser Sohn hat ja eine andere Arbeit. Er kann sich eine Wohnung in der Nähe seiner Arbeitsstelle suchen. Hier in der Gegend stehen viele Mietwohnungen leer. Meine Frau Helene und ich, wir werden in die Stadt ziehen und uns noch ein paar schöne Jahre machen. Helene hat sich das auch gewünscht. Nun müssen wir das endlich anpacken, bevor es zu spät ist. Sie sehen ja selber, wie groß das hier alles ist. Das ist für mich und meine Frau alleine einfach zu viel Arbeit. Unser Sohn zeigt wenig Interesse daran, zu übernehmen. Also, warum sollten wir uns hier noch jahrelang abrackern? Wir haben das so entschieden und nun wird das endlich angegangen.“ Er hatte ohne Punkt und Komma gesprochen. Seine Stimme klang entschlossen und etwas verbittert.

Charlotte nickte verständnisvoll. „Okay. Herr Funk, dann machen wir folgendes. Ich brauche mindestens eine Woche zur Erstellung des Exposés. Ich lasse Ihnen den Blanko-Maklervertrag schon mal zur Ansicht hier. Wir setzen dann bei meinem nächsten Besuch noch den Kaufpreis ein und sprechen jedes einzelne Detail durch. Dann müssen Sie beide nur noch den Vertrag unterschreiben und danach werde ich das Objekt direkt im Internet freischalten. Ein paar Kunden, die für Ihren Hof Interesse zeigen könnten, und genau so etwas wie hier suchen, habe ich schon in meiner Interessenten-Datei. Denen werde ich die Exposés direkt zumailen und sie zusätzlich telefonisch kontaktieren. Danach werden wahrscheinlich in den kommenden Wochen schon die ersten Besichtigungen hier stattfinden. Es wäre gut, wenn Sie Ihre Frau darauf vorbereiten könnten. Und vielleicht Ihren Sohn auch, denn die eventuellen Käufer werden alle Räume sehen wollen. Sie sollten aber auch wissen, dass es manchmal ein Jahr lang dauern kann, bis so eine große Immobilie verkauft wird, womit ich Ihnen aber keine Angst machen will, ich denke hierfür werden wir auf jeden Fall einen Käufer finden. Es ist ja alles prima in Schuss gehalten.“

Sie spazierten wieder gemeinsam zu der Hofeinfahrt, in der Charlottes Wagen geparkt war.

Wieder wurden sie von dem jungen Mann beobachtet, der vorhin in der Nähe stand. „Ah, das ist unser Sohn. Rainer, komm her“, rief Herr Funk. Dieser setzte sich nur langsam mit gesenktem Blick in Bewegung.

„Guten Tag, Charlotte Schumann“, stellte sich die Maklerin selber vor und reichte dem Sohn die Hand. Der schaute kurz zu ihr auf, erwiderte den Gruß und sah seinen Vater fragend an. Charlotte betrachtete den Sohn von der Seite. Er hatte braune lockige Haare mit einem ordentlich gekämmten Seitenscheitel. Seine dunkelbraunen Augen wichen Charlottes Blick aus. Der junge Mann war groß und schlank. Er hatte herabhängende Schultern. Rainer wirkte schlaksig, was vermutlich mehr an seinem Gang als am Körperbau lag. Er trug Jeans und ein grün kariertes Hemd, darüber eine aufgeknöpfte dicke schmutzige Stalljacke. An seinen Gummistiefeln klebten Reste von Kuhmist. Das war nicht nur zu sehen, sondern auch zu riechen.

„Die Maklerin hat sich heute umgesehen und wird uns nächste Woche sagen, was das alles Wert ist. Ab dann wird alles zum Verkauf stehen. Du kannst also schon mal langsam nach Wohnungen Ausschau halten“, sprudelte es aus Edgar Funk heraus, während er seinen Sohn Rainer betrachtete.

Dieser wirkte erschrocken. „Was, so schnell?“, sagte er leise. Die Stimme klang bekümmert.

„So schnell wird das sicherlich nicht gehen, Herr Funk, und selbst wenn wir direkt einen Käufer hätten, dann wird eine ganze Weile vergehen, bis alles drumherum geregelt ist“, unterbrach Charlotte und versuchte den jungen Mann etwas aufzumuntern. Dieser aber zeigte keinerlei Reaktion. Er stand da mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen und als Charlotte sich verabschiedete und versprach, sich so bald wie möglich zu melden, zeigte er keine Regung. Als sie wenig später mit ihrem Auto in Richtung Saarland zurückfuhr, hatte sie Zeit, sich mit Gedanken über ihren neuen Kunden zu befassen. Sehr seltsame Familie, diese Funks, schoss es ihr durch den Kopf, während sie der Musik, die aus dem Autoradio dudelte, lauschte.

Ihre Geschäfte als Immobilienmaklerin liefen mittlerweile bestens. Sie hatte ein kleines Verkaufsbüro in der Stadt angemietet, wo sie ihre Kunden empfing. Das große Schaufenster am Büroeingang war bestückt mit zahlreichen Abbildungen von Verkaufsobjekten. Am Abend arbeitete sie manchmal von zu Hause aus, wo sie sich ein kleines Büro eingerichtet hatte. Charlotte war glücklich über ihre Entscheidung zur Selbständigkeit und zufrieden mit ihrer finanziellen Situation. Einen gewissen Teil ihres Wohlstands verdankte sie dem Geld, das ihr geschiedener Mann Wolfgang, ihr als Abfindung ausbezahlt hatte, nachdem er sie wegen der pummeligen Sekretärin seiner Firma verlassen hatte. Charlotte lebte seit einigen Jahren in einem winzigen Häuschen mit Garten, zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn Johannes und ihrer Hündin Ella auf dem Land. Weit weg war sie nicht gezogen, nur ein paar Orte weiter. Ihr Exmann hatte einige Zeit in ihrem ehemaligen gemeinsam erbauten, und eigentlich viel zu großen, Haus gewohnt. Nach kurzer Zeit hatte er es verkauft und war zu seiner neuen Frau in das benachbarte Bundesland Rheinland-Pfalz gezogen. Mit seinem Umzug war er völlig aus Charlottes Leben verschwunden, was sie mittlerweile nicht mehr bedauerte. Sie war keine neue Beziehung eingegangen, obwohl sie eine sehr attraktive Frau in den besten Jahren war. Sie war gesellig, weltoffen und ein meist fröhlicher und gutgelaunter Mensch. Sie hatte grünbraune Augen und trug ihre blonden langen Haare gerne offen, bei Kundenbesuchen manchmal elegant hochgesteckt. Es bereitete ihr keine Probleme auf Menschen zuzugehen und so schaffte sie es meist in kürzester Zeit, neue Kontakte zu knüpfen. Trotzdem hatte sie es vorgezogen, vorerst Single zu bleiben. Sie genoss ihre Freiheit und liebte es, ihre freien Tage selbst zu gestalten. Da ihr Sohn Johannes schon eigene Wege ging, fühlte sie sich nicht mehr verpflichtet, sich immer nach seinen Wünschen zu richten. Alles war perfekt, so wie es war.

Karfreitag, 14. April

Die Wunde an Charlottes Kopf blutete wieder ein wenig. Langsam richtete sie sich vom Holzboden auf, verstand nicht, wieso sie auf dem Fußboden geschlafen hatte und wie sie überhaupt hierher gekommen war. Sie fühlte sich total benommen, ähnlich wie nach einem Abend mit zu viel Alkohol. Verdammt nochmal, wieso war es denn so dunkel und wo gab es denn einen Lichtschalter? Sie tastete vorsichtig mit ihren Händen um sich herum. Die Finsternis verursachte ihr Panik. Dunkle Räume hatten ihr schon als Kind Angst eingeflößt. Vermutlich kam das daher, dass sie im Alter von neun Jahren heimlich bei einer Freundin, deren Eltern nicht zu Hause waren, einen Horrorfilm angeschaut hatte. Bis heute, im Alter von 45 Jahren, war sie dieses beklemmende Gefühl nicht losgeworden.

„Verflixt, wo sind denn meine Tasche und mein Handy?“, wimmerte Charlotte. Mit zitternden Händen wischte sie über die Schweißperlen auf ihrer Stirn. Wie war sie hierher gekommen? Sie schnappte nach Luft. Dann fühlte sie Verzweiflung in sich aufsteigen. Sie unterdrückte einen Schrei, stand auf und traute sich, den Raum mit ausgestreckten Armen zu durchqueren. Panisch versuchte sie, einen Ausgang zu finden.

„Autsch“, stieß sie hervor, als sie mit dem Bein gegen einen harten Gegenstand prallte. Mit ihren Händen tastete sie ihn ab und vermutete, dass es sich um einen Tisch handelte. Sie fingerte über das Möbelstück und erfühlte eine Kerze, die in einer kleinen flachen Schale stand. Glücklicherweise lag direkt daneben ein Feuerzeug. Sie freute sich, dass es funktionierte und im Nu war der Raum durch den Kerzenschein ein wenig erhellt. Charlotte schaute sich als erstes im ganzen Raum um. Dann checkte sie ihre digitale Armbanduhr. Es war 7 Uhr morgens und vermutlich war es draußen noch dunkel. Charlotte hielt die Kerze in der Hand und steuerte durch den Raum auf der Suche nach der Tür. Mit einer Hand drückte sie die Klinke nach unten, aber die Tür war verschlossen. In ihrer Magengrube verstärkte sich das mulmige Gefühl. Als sie zu den Fenstern eilte und diese öffnen wollte, bemerkte sie, dass jemand von außen die Klappläden verschlossen hatte. Charlottes Versuch, sie aufzudrücken, blieb erfolglos. Jemand musste sie zusätzlich von der Außenseite mit Brettern zugeschlagen haben. Jetzt realisierte Charlotte, dass sie in einer Falle saß. Sie war eine Gefangene.

Der ganze Raum wirkte trotz des dämmrigen Lichtes wohnlich. Es gab eine urige Holzbank mit Tisch und Stühlen. In der Ecke des Raumes, nahe dem Kamin, entdeckte Charlotte ein kuscheliges Sofa mit plüschigen Kissen. Die Wände waren mit Holz beschlagen. Ein Kruzifix hing über einer weiteren Tür. Alles wirkt ordentlich und aufgeräumt, es roch nur ein bisschen muffig. Als Charlotte die andere Tür öffnete, entdeckte sie einen weiteren Raum. Hier war offensichtlich die Küche. In der Ecke stand ein uralter Herd, der mit Feuerholz geschürt wurde. Er sah aus wie ein Museumsstück.

Erfreut stellte sie fest, dass eine Kiste direkt neben dem Herd stand, in der Holz und alte Zeitungen lagen. Na prima, da konnte sie wenigstens versuchen, den Herd anzufeuern. Wenn sie jetzt noch Töpfe und Pfannen und irgendwas Essbares fände, konnte es ja losgehen mit ihrem Abenteuerurlaub. Eigentlich war ihr nicht nach Lachen zu Mute. Tatsächlich fand sie einige Konserven mit Ravioli, Bohnen, Fertigsuppen und sogar zwei Dosen Starkbier in einem offenen Regal. Verhungern und verdursten musste sie heute schon mal nicht. Charlotte versuchte, das als beruhigenden Gedanken zu sehen. Neben dem Herd hing ein Regal mit Gewürzen. In einem kleinen hölzernen Schränkchen waren allerlei alte Teller und Tassen gestapelt. Es gab sogar eine alte Keramikspüle in der Küche. Darunter standen alte Eimer über denen Geschirrtücher und Putzlappen hingen. Leider gab es kein fließendes Wasser. In diesem Raum war das Fenster ebenfalls von außen zugeschlagen, so dass sie keine Chance hatte, einen Blick nach draußen zu werfen.

Sie lief zurück in das andere Zimmer, denn ihr war eingefallen, dass sie auch hier einen offenen Kamin gesehen hatte, mit dem man den Raum heizen konnte. Und auch hier stand ein Korb mit Holz und alten Zeitungen direkt daneben. Charlotte entfachte ein Feuer, denn es war kalt und sie hatte schon Gänsehaut am ganzen Körper. Sie freute sich, als sie das leise Knistern des Holzes hörte und die ersten Flammen zaghaft aufloderten. Charlotte rieb sich die klammen Hände an der Feuerstelle und langsam kehrten ihre Lebensgeister zurück. Jetzt war sie bereit, den Rest ihres Gefängnisses zu erkunden. Direkt aus der Küche kam man in einen engen Zwischenraum. Hier stand ein Dielenschrank aus Eiche und eine kleine Kommode, alles dicht nebeneinander. Sie öffnete den alten Eichenschrank mit einem leisen Knacken und fand einige dicke Jacken, ein paar warme Pullover, zwei Schürzen, einen Regenmantel und hohe gelbe Gummistiefel sowie ein paar Handtücher. Ohne Umschweife nahm sie einen dicken Pulli aus dem Schrank und streifte ihn über. „Wem diese Kleidungsstücke wohl gehören?“, ging es ihr durch den Kopf. Noch immer fragte sie sich, wer sie hier eingesperrt hatte und wo genau sie hier war. Von diesem Raum aus führte eine kleine Holztreppe ohne Geländer steil nach oben. Dort war es düster. Obwohl sie nicht die Mutigste war, stieg Charlotte die Stufen hinauf, misstrauisch, was sie hier oben erwartete. Während sie die Treppe hochstieg, schossen ihr abermals Gedanken durch den Kopf. Sie erinnerte sich plötzlich wieder an den zweiten Besuch bei der Familie Funk auf dem Eifelhof, der vermutlich erst einen oder zwei Tage zurücklag. So genau wusste sie es nicht, denn sie hatte keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos auf dem Dielenboden gelegen hatte. Sie erinnerte sich jetzt genau, was an dem Tag passiert war. So langsam setzte sich das Puzzle zusammen und Charlotte verstand die Zusammenhänge, die sie hierher in diese missliche Lage gebracht hatten.

Gründonnerstag, 13. April

Es war ein sonniger Morgen, als sich Charlotte auf den Weg in die Eifel machte. Obwohl sie bereits zum zweiten Mal zu diesem Hof in der Eifel unterwegs war, schaltete sie ihr Navi ein, denn das Anwesen der Familie Funk lag so versteckt und abseits, dass sie es sicher nicht auf Anhieb wiederfinden würde.

Sie war bester Laune und freute sich auf die Landschaft der Eifel und auf frische Landluft. Sie warf einen letzten Blick auf die Rückbank des Autos und kontrollierte, ob Handy, Fotoapparat, einen Laserentfernungsmesser, ihre Schreibmappe und Verträge dabei waren. Vorsichtshalber hatte sie ihre Brotdose mit Käsebroten und frischem Obst sowie eine Flasche Wasser dabei, denn in dieser Gegend der Eifel war es gut möglich, dass man kein Lokal zum Mittagessen fand. Charlotte hatte sich vorgenommen, an einem idyllischen Plätzchen in der herrlichen Natur der Eifel eine Rast einzulegen, sobald sie den Makler-Vertrag in der Tasche hatte und sich dann auf den Rückweg zu begeben.

Sie hatte schon auf dem Weg zu ihrem ersten Besuch kein einziges geöffnetes Ausflugslokal oder Restaurant gesehen. Irgendwie wirkte diese Gegend gespenstisch. Das war keine hilfreiche Voraussetzung für den Verkauf eines so großen Anwesens, aber es gab immer wieder Kunden, die genau so etwas suchten. Ruhe, Abgeschiedenheit und Natur. Dazu jede Menge Weidefläche rund um den Hof. Und exakt das hatte das Anwesen der Funks zu bieten. Charlotte überlegte, dass ein Investor ein ansprechendes kleines Reiterparadies daraus machen könnte. Sie dachte an einen schicken Pensionsstall oder eine Station für Wanderreiter, Radfahrer oder Ferienkinder. Es gab viele Möglichkeiten, die ihr spontan eingefallen waren, als sie den Hof zum ersten Mal besichtigt hatte.

Charlotte hatte sich bei der Erstellung des Exposés besondere Mühe gegeben. Sie hatte bei der ersten Immobilienbesichtigung stilvolle Fotos gemacht, die sie in ihrem Exposé zur Immobilie bestens in Szene gesetzt hatte. Das war eine Sache, die Charlotte am Herzen lag. Oft war es vorgekommen, dass sie bei späteren Besichtigungen zu hören bekommen hatte, auf den Bildern im Exposé hätte es viel schöner oder größer und idyllischer gewirkt, als es in Wirklichkeit war. Aber hatte der Kunde erst einmal einen Besichtigungstermin mit ihr vereinbart, war es ihr durch ihre überzeugende Art oftmals gelungen, ein Haus zu verkaufen, das dem Kunden auf den ersten Blick gar nicht hundertprozentig gefallen hatte. Während ihres Besuchs auf dem Aussiedlerhof der Funks, waren ihr direkt Dinge ins Auge gesprungen, die unbedingt in das Exposé gehörten. Die gut erhaltene Hausfassade mit historischem Fachwerk, der kleine Brunnen im Hof, der großzügige Hausflur mit herrlichen alten Fließen und der alte große Kastanienbaum, der vor dem Haus stand, das alles galt es in Szene zu setzen. Direkt am Haus sprossen saftige Wiesen, soweit das Auge reichte.

Wie beim vorherigen Termin parkte sie ihren Wagen im Hof unter dem alten Kastanienbaum. Sie nahm ihre Verträge in die Hand, stieg die Treppe hinauf zur Haustür und klingelte.