Der Honigsammler - Bernhard Viel - E-Book

Der Honigsammler E-Book

Bernhard Viel

4,5

Beschreibung

In einem wohlbekannten Land, vor gar nicht allzu langer Zeit ... Noch immer schwirrt seine Biene Maja durch jedes Kinderzimmer, in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war er einer der meistgelesenen Schriftsteller überhaupt, seine Bücher fanden sich im Tornister eines jeden Soldaten: Waldemar Bonsels, der Schöpfer der vorwitzigen Biene, ist heute der wohl unbekannteste deutsche Bestsellerautor. Diese erste Biografi e folgt Bonsels auf seiner Suche nach dem süßen Leben in den letzten Jahren des Kaiserreichs ins Zentrum der Münchner Boheme. Sie erzählt, wie er, inspiriert von Heinrich Mann, an der Seite von Frank Wedekind und Lion Feuchtwanger gegen die bürgerlichen Konventionen aufbegehrte und seine abenteuerlustige Maja erschuf. Und sie zeigt, wie sich der Erfolgsschriftsteller schließlich dem Regime der Nazis andiente und nach dem Krieg mit einem Publikationsverbot belegt wurde. So rückt auch seine "Biene Maja" in ein neues, düsteres Licht: Entpuppt sich das Buch am Ende als Lehrstück der Naziparole "Gemeinnutz geht vor Eigennutz"? Bernhard Viel liefert nicht nur eine Antwort auf diese Frage, ihm gelingt dabei auch ein großartig ausgepinseltes Epochenpanorama mit dem zeittypischen Portrait eines radikalen Opportunisten sowie die Klärung des anhaltenden Erfolgs der "Biene Maja".

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Bernhard VielDer Honigsammler

Bernhard Viel

Der Honigsammler

Waldemar Bonsels, Vater der Biene Maja. Eine Biografie

Inhaltsverzeichnis

I Vorspiel am Bahnhof

II Tage der Kindheit

III Lehrling Waldemars Wanderjahre

IV Der Himmel des Südens

V Auf großer Fahrt

VI Krieg und Ruhm

VII Revolution

VIII Glanz und Niedergang

IX Aus der Neuen Welt

X Ein Gedicht, ein Glückwunsch und ein Messias-Roman

XI Der Demokrat und sein Verbrecher – ein Roman

XII Aus der Freude geboren

Anmerkungen

Verzeichnis der Siglen

Literatur

Zeittafel

Personenregister

Danksagung

I Vorspiel am Bahnhof

War er wirklich ihretwegen zurückgekommen?

Sicher, er freute sich, sie wiederzusehen.

Er hatte oft an sie gedacht in diesen Monaten. Und als er durch die Fieberträume seiner Malariaanfälle schauderte, hatte ihn Sehnsucht nach ihr, nach zu Hause erfasst. Teta jedenfalls wird er die Sache so erzählen, dass sie glauben musste, es habe ihn nicht vor allem die Malaria und der Streit mit den Vorgesetzten aus Cannanore fortgetrieben. Er hätte ja, nachdem er sich von der Mission verabschiedet hatte, noch wochenlang, monatelang auf eigene Faust den Dschungel durchstreifen können. Er tat es nicht. Er kehrte zurück, in Tetas Arme.

So wird er Teta, wie sie Kläre alle nannten, die Sache schildern. Er wird liebenswürdig sein, zärtlich, begeistert, herrisch. Er wird sie mit Liebesschwüren überschütten, ihr stürmisch seine Leidenschaft offenbaren, er wird seinen Charme entfalten, diesen mit einem Hauch von Herablassung untermischten Charme, mit dem er mühelos auch Tetas Freundinnen gewonnen hatte.

Und war nicht auch Indien ein Siegeszug gewesen? Hatte er sich dort nicht bewährt und gezeigt, dass er sich durchsetzen, seinen eigenen Weg gehen konnte? Er war ein Mann, ein Abenteurer, weitgereist, welterfahren. Die anderen kannten nur Barmen, das Städtchen im Rheinland, Insel des Pietismus, Zentrum der Inneren Mission. Allerdings, das musste er ihnen zugestehen, sie kannten jetzt auch München, die Stadt der Boheme, der jungen Kunst. Doch über die Grenzen des Reichs waren sie nie hinausgedrungen. Er aber hatte, wahrhaftig, unglaubliche Geschichten zu erzählen, märchenhafte Geschichten!

Er sah aus dem Fenster. Der Zug hatte seine Fahrt verlangsamt. Gemächlich zogen langgestreckte, aus Klinkern aufgemauerte Speicher vorbei, Verladerampen der Brauereien, Schuppen, die sich zu beiden Seiten des breiter werdenden Gleisbetts hinzogen. Schon glitten die Waggons unter der Brücke mit ihrer stählernen Wellenkonstruktion hindurch, an deren Streben sich die Dampfschwaden brachen. Gleich wird er am Ziel sein.

Nein, er war nicht nur Tetas wegen zurückgekommen. Gewiss, er begehrte sie. Und sie war ihm ergeben, seinem sanften Dichterblick aus wasserblauen Augen.

Und den anderen, den Feind, den Konkurrenten, hatte er ausgestochen, eine Genugtuung, und umso tiefer, als, das musste er sich insgeheim eingestehen, der andere Talent hatte. Frech, eitel, durchglüht von seiner Sendung, maßlos hatte der andere Teta ungeniert umgarnt, obwohl längst alle wussten, dass Teta ihm versprochen war, ihm, dem dichtenden Kaufmann. Gleich war ihm dieser Kerl zuwider gewesen, und doch beneidete er ihn für seinen frühen Erfolg, aber das lässt er sich nicht anmerken. Gleich mit den ersten Gedichten hatte der andere als Prophet eines neuen Stils gegolten, jung, voller Pathos, flammend: »Im Mittag stand, als Julian fiel, Apostata, die Sonne« – das war neu, das war unerhört, und daraus klingt, es ist nicht leugnen, daraus klingt eine leidenschaftliche, zergrübelte Inbrunst. Bei allem Überschwang pulst in diesen Versen helle, gebändigte Kraft: »Das war mein Traum: daß / Jauchzend sich die Jugend zu mir stellte, / Daß in den Augen ein Leuchten sei wie / Von Schwertertanz im Licht.« Auch in München hatte er, der Konkurrent, sogleich einen Kreis junger Verehrer um sich geschart. Tetas Bruder, sein ihm innig verbundener Freund, sein Bruder im Geiste, gehörte zu seinem Leidwesen auch dazu. Aber er würde dem Verhassten seine Künste abschauen, die Wortverstellungen, die gebrochenen Verse, würde sich nehmen, was er brauchen kann. Und irgendwann würde er ihn, diesen Schickele, überflügeln.

Er wusste, weshalb er zurückgekommen war. Er war gekommen, um sich zu rächen.

Der Zug rollte jetzt im Schritttempo, schlingerte ächzend über Weichen. Er drehte sich vom Fenster weg, setzte den Tropenhut auf, der ihm auch hier, an der Isar, verteufelt gut stand. Auch passte der Hut vortrefflich zu der khakifarbenen Jacke, dem linnenen Hemd und den englischen Breeches, deren weitgeschnittene Beine lässig aus den Stiefelschäften pluderten. Er würde jetzt ohnehin der Mittelpunkt im Kreis der Freunde sein, die nach München gekommen waren, um sich vom Geist der jungen Kunststadt erheben zu lassen. München war Aufbruch, Neugierde, Erregung, und es ließ sich gut leben in seiner legeren, behäbigen, feierfreudigen Atmosphäre, die die Künstler mit gutmütiger, spöttischer Bewunderung aufnahm.

Sein schmaler, weicher Mund verzog sich zu einem maliziösen Lächeln. Er hob den Koffer aus dem Netz der Gepäckablage, trat auf den Gang hinaus und reihte sich ein in die Schlange der Wartenden.

Jawohl, er war zurückgekommen, sich zu rächen. Von Anfang an hatte er die Arbeit der Mission mit Unmut und Spott, ja mit Widerwillen beäugt. Es hatte ihn im Innersten erzürnt, ansehen zu müssen, mit welcher Selbstgerechtigkeit die Brüder die Eingeborenen erpressten, zum Christentum überzutreten, indem sie mittellose Hindus, arme, zerlumpte Gestalten, mit der Aussicht auf Unterhalt in ihre Webereien, ihre Ziegeleien lockten, um sie von dem Moment an, da sie getauft waren, auf Gedeih und Verderb den gewinnsüchtigen Seelenhirten preisgegeben zu wissen.

War es nicht ein Missbrauch der Botschaft Christi, himmelschreiend, im Tempel zu dulden den Krämer, schlimmer noch: über den gekrümmten Rücken der Heiden zu reichen dem Krämer die beschmutzte Hand? Dabei, es war zum Lachen, die Direktoren waren unfähig, wirklich unfähig, zu wirtschaften, gut zu wirtschaften. Und die Brüder fälschten die Bilanzen, auf dass sie in Basel gut dastünden. Sie predigten Wasser und soffen Champagner, den sie sich aus Frankreich kommen ließen.1

Anni, der lieben Schwester, hatte er geschrieben, er liebe Indien täglich mehr, es sei ein Paradies an Schönheiten, und köstlich seien ihm dessen Gefahren. Schwärmerisch hatte die Schwester »die großen, herrlichen Aufgaben der Missionen« beschworen, er hatte ihr geantwortet, dies Volk von Brüdern, mit dem und unter dem er hier arbeiten solle, sei ihm so zuwider, dass er beim besten Willen auch zu ihr nicht über sie sprechen könne. Klein und armselig sei es, über sie zu schelten, und er habe längst gelernt, an seine Umgebung geringere Ansprüche zu stellen als an sich.2 Es war unvermeidllich, dass er sich unbeliebt machte. Und bald war es zum Eklat gekommen.

Schon während seiner Lehrzeit im geschäftigen Basel hatte er die Missionsbrüder für ihre puritanische Frömmelei, ihren Sendungseifer, verachtet. Aber es war eine Möglichkeit, fortzukommen, nach Indien, wo er noch den Geist echten Glaubens zu spüren hoffte, wo er noch Söhne eines natürlichen Lebens finden könne, die allein der Achtung wert waren. Hier wollte er unerhörte Gefahren bestehen, dem Wunderbaren an jeder Wegkreuzung begegnen und in Dschungeln die bunten Blüten eines unverfälschten Lebens genießen.

Stattdessen hatte er sich die Malaria geholt. Er musste für Wochen auf die Krankenstation. Auch in München sollte er sich noch davon erholen müssen. Er wird mit Teta in die Voralpen fahren.

Als Erstes würde er die Missionsbrüder bloßstellen vor der Welt. Und das wäre nur der Anfang. Er würde über Indien schreiben, seine Armut, seine märchenhaften Paläste. Und er würde sich selbst als Abenteurer vorstellen, überlegen, europäisch und doch mit Neugierde und Respekt dem Fremden begegnend. Er würde schreiben, würde Erfolg haben. Deshalb war er zurückgekommen in die kunstfrohe Stadt, deren ländliche Ruhe noch nicht aufgezehrt war von der nervösen Überspanntheit der Zivilisation, mit der das lärmende Berlin auftrumpfte.

Hier aber galt, auch unter den Jungen, Modernen, der Wahlspruch: Los von Berlin! Das zog ihn an, der selbst, Sohn einer dänischstämmigen Mutter, aufgewachsen unter den schwerblütigen Menschen des Nordens, geformt von der Engbrüstigkeit pietistischer Gottesbilder, sich der Scholle näher glaubte als dem Asphalt und doch die feineren Reize weltmännischer Haltung, die erregend parfürmierte Luft der Künste so dringend begehrte. »Die Stadt«, schwärmte Hans, der Freund, »ist wie ein gemächlicher Traum«.3 Und der Tropenhut, der Khaki-Anzug, wirklich, sie kleideten ihn gut!

Eisen kreischte auf Eisen. Mit einem Ruck stand der Zug. Dampfschwaden kochten über dem Perron, auf dem diensteifrige Gepäckträger hin- und herliefen.

Als er, gelassen das von gewaltigen eisernen Bogen getragene Tonnengewölbe der Halle betrachtend, den Koffer vor sich herbugsierend, seinen Fuß auf den Bahnsteig setzte, hörte er eine helle Stimme seinen Namen rufen. Überrascht sah er hoch. Tatsächlich, es war Teta. Lächelnd, winkend, seinen Blick zwischen den vielen Menschen hindurch suchend, die dem Kopfende des Perrons zustrebten, stand sie neben ihrem Bruder.

Natürlich, sie musste ja wissen, dass er früher als erwartet zurückkommen würde, er hatte Anni und Hans lange Briefe über sein indisches Abenteuer geschrieben. Teta musste einen Vorwand gefunden haben, nach München zu kommen. Schon als Hans, ermuntert von seinem Förderer Konrad, der unter den modernen Dichtern in München noch immer ein Wort mitzureden hatte, in die Residenzstadt gezogen war, hätte sie am liebsten die eigenen Koffer gepackt, war sie doch selbst nicht ohne Ehrgeiz. Sie spielte Klavier. Alle Mädchen aus bürgerlichem Hause spielten Klavier. Aber Teta hatte zweifellos Talent, mehr als seine Schwester Anni, die, er lächelte, an Weihnachten bei »O Tan...« immer einen Moment der Besinnung einlegte, ehe sie »...nebaum« folgen ließ.

Teta aber, dachte er – hatte sie am Ende den Eltern erzählt, nur in der Nachbarschaft des königlichen Hoftheaters könne sie den ihrem Talent förderlichen Klavierlehrer zu finden? Oder ihnen eingeredet, sie müsse schließlich, dort unten im lockeren katholischen Süden, ein Auge auf ihren Bruder haben, der in der berauschenden Luft der bayerischen Metropole zwei Gedichtbände verfasst und auf eigene Kosten von einem Buchhändler hatte verlegen lassen – sehr zum Missvergnügen der besorgten Eltern im braven Pietistenstädtchen Barmen? Bedauerlicherweise hatte gerade in München kaum jemand von diesen Lobgesängen auf die Stadt und die kernige Schönheit ihrer Töchter Notiz genommen. Eine einzige, immerhin wohlwollende Rezension war in einer neuen Kunstzeitschrift mit dem prunkenden Namen Propyläen erschienen. Aber in Barmen lagen die beiden Bändchen, Lieder vom Weibe und Münchener Blätter, in der Auslage einer Buchhandlung und hatten für moralische Entrüstung gesorgt. Der Vater schickte trotzdem weiterhin den monatlichen Wechsel.

Ob Hans seine Bude noch in der Türkenstraße hatte, genau gegenüber dem »Simplicissimus«, wo die jungen Dichter anschreiben lassen konnten und manchmal auch Tabak und sogar ein Essen gratis bekamen?

Teta stand vor ihm und sah ihn an, erwartungsvoll, streng, ein wenig bitter und doch voller Sanftmut. Der Freund umarmte ihn stürmisch, griff nach dem Koffer. Doch er, der Weltmann, rief einen Gepäckträger herbei.

Es war gut, in München zu sein.4

II Tage der Kindheit

1. Aufstieg

Dichtung und Wahrheit

»Glücklich« war die Konstellation seiner Geburt; »die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.«

Mit dieser kosmischen Choreografie, günstiges Vorzeichen der Götter, beginnt Goethe seinen Lebensroman Dichtung und Wahrheit.

Waldemar Bonsels hat kein derartiges Bekenntnis seiner Erwähltheit hinterlassen, kein Horoskop, keine Aufzeichnung über die Stunde seiner Geburt. Gleichwohl wähnte auch er sich unter Goethes Stern zur Welt gekommen, so wie auch Thomas Mann, dessen Weg er in München kreuzen wird und der in seinem Horoskop, das er sich 1926 stellen ließ, verlautbarte: »Der Planetenstand war günstig, wie Adepten der Astrologie mir später oft versicherten, indem sie mir aufgrund meines Horoskops ein langes und glückliches Leben sowie einen sanften Tod verhießen.« Das lange Leben, der sanfte Tod indessen waren ebenso hinzugedichtet wie die Mitteilung, er sei »mittags zwölf Uhr geboren«.1 Doch hatte nicht vielleicht sogar schon Goethe ein wenig gedichtet, als er behauptete, er habe an jenem 28. August 1749 »mit dem Glockenschlage zwölf« das Licht der Welt erblickt?

Auch Bonsels mag also zu Goethe hinaufgeblinzelt haben, als er auf den Gedanken verfiel, den Zeitpunkt seiner Geburt zu retuschieren. Er sei, behauptete er mehrmals, am 21. Februar 1881 geboren. In der Ahnenliste, in der Bonsels’ Archivar in akribischem Bemühen dessen Vorfahren bis ins 17. Jahrhundert nachwies, ist dieser Tag als Geburtsdatum verzeichnet.2 Ein im Nachlass sich findender Ausweis benennt gleichfalls den 21. Februar 1881, während das Killy Literaturlexikon wiederum den 21. Februar 1880 angibt, ebenso Kindlers Neues Literaturlexikon und das Lexikon Autoren und Autorinnen in Bayern3. Metzlers Autorenlexikon löst das Problem, indem es von Bonsels’ Existenz keine Notiz nimmt. Eine Geburtsurkunde ist nicht mehr zu finden.

Bonsels war keineswegs der einzige Autor, der den Beginn seines Lebenszeit verschob.

Von Annette Kolb zum Beispiel, die in ihrer zwischen 1906 und 1934 entstandenen Romantrilogie Das Exemplar, Daphne Herbst und Die Schaukel ein satirisch-melancholisches Bild der zerfallenden Münchener Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg überliefert hat, hatte es lange geheißen, sie sei »am 2. Februar 1875 […] zur Welt gekommen«. Sie selbst hatte nicht widersprochen – bis zu ihrem vermeintlich 90. Geburtstag, an dem sie verriet, am 3. Februar 1870, also fast auf den Tag genau zehn Jahre vor Bonsels, geboren zu sein und an diesem 3. Februar 1965 also tatsächlich ihren 95. Geburtstag zu feiern. Es ist begreiflich, dass es der Grande Dame der Münchner Literatur, die ein Schriftstellerkollege mit »elegantem Schafsgesicht« und »mondäner Häßlichkeit«4 auszeichnete, an diesem Tage diebische Freude bereitete, ihren 95. Geburtstag zu verkünden.

Aber weshalb sollte sich Bonsels ein Jahr jünger gemacht haben, ein einziges Jahr nur? Vielleicht dachte er wirklich an Goethe und daran, dass ein wenig Dichtung dem Leben eine eigene, poetische Wahrheit verleihe. Oder dass es einem Dichter, der eigene Welten erschafft, angemessen sei, bei der Erschaffung seiner selbst als Künstler mit der bewussten Setzung seines Geburtsdatums zu beginnen.

Stilisiert hat sich Bonsels von Anfang an: als Weltmann, als Dandy, als einsamkeitsliebender Gottsucher, als Denker mit nach innen und ins Unendliche gerichtetem Blick, was insbesondere bei den Frauen gut ankam – wohl wissend, dass wer sich in einer Zeit der fragilen kleinbürgerlichen Aufsteiger-Identitäten stilisiert, noch nicht verloren ist. Auch das hat er mit Thomas Mann gemeinsam, der ein »in sich geschlossenes Lebenskunstwerk« aus sich machte;5 es verbindet ihn mit vielen Künstlern, die, im Streben nach ästhetischer Einheit von Ich und Welt, Autoren ihrer selbst zu sein versuchten, wie Stefan George, in dessen Nähe sich der angehende Schriftsteller bewegen wird, wie Peter Altenberg, der, wie Rilke sagte, der jungen Wiener Kunst »ihre Sprache« gab und die Inszenierung des Selbst zum dichterischen Programm erhob.6

Das Lächeln der Mutter

Zu welcher Stunde die von dänischen Vorfahren abstammende Nicoline Bonsels mit ihrem Sohn niederkam, steht also wohl für immer in den Sternen. Wie damals üblich, wird sie ihren Sohn in der intimen Sphäre ihres Zuhauses zur Welt gebracht haben, das sich an diesem 21. Februar 1880 oder 1881 in Ahrensburg befand, einem Städtchen im Holsteinischen, wenige Kilometer nordöstlich von Hamburg. Dort hatte Reinhold Bonsels vor Kurzem die Apotheke gekauft, nachdem er sechs Jahre zuvor, 1874, die Garnison-Apotheke in Rendsburg geführt hatte. In Kiel vermutlich hatte er Pharmazie studiert und in dieser Zeit Nicoline Iversen kennengelernt.7 Im Dezember 1872 war er zum Apotheker approbiert worden, zweieinhalb Jahre später, im April 1875, als er genügend Geld verdiente, um eine Familie zu ernähren, heiratete er die 20-jährige, aus Apenrade gebürtige Tochter des Amtsverwalters Peter Iversen. Zu diesem Zeitpunkt war Nicoline längst Waise, ihr Vater war 1857 an Typhus gestorben, zwei Jahre nach ihrer Geburt. Die Mutter, sie hieß ebenfalls Nicoline, war 1864 an Auszehrung gestorben. Nicoline Iversen wuchs mit ihrer Schwester bei einer Kieler Familie auf.8

»Sehnsucht nach Freiheit, Weite und heldischem Dasein« – der Knabe Waldemar, vermutlich irgendwo am Gestade der Nordsee

»Meine Kindheit«, teilt Bonsels in seinen Biographischen Notizen mit, »brachte ich auf dem Lande zu.«9 Ahrensburg hatte seit seiner ersten urkundlichen Erwähnung 1314 den Namen Woldenhorn getragen. Erst 1867, nachdem auch der Bahnhof in Betrieb genommen worden war, der ein wenig außerhalb an dem barocken Schlösschen Ahrensburg lag, wurde das in der südholsteinischen Landschaft gelegene Dorf umbenannt. Ahrensburg gehörte nunmehr zu Preußen, das 1864 im Deutsch-Dänischen Krieg gesiegt hatte, und war an die Bahnlinie zwischen Hamburg und Lübeck angeschlossen. Das lockte am Wochenende Ausflügler aus Hamburg in den abgelegenen Ort. Doch noch immer war zur Zeit, da der Knabe Waldemar die ersten Schritte in die Heide tappte, die Armut so groß, dass Bettler, Landstreicher durch Ahrensburg zogen – wohl einer der frühen Eindrücke des jungen Waldemar. Später wird er behaupten, selbst zwei Jahre lang »auf Wanderschaft« gewesen zu sein, die ihm den Stoff für seine Erzählsammlung lieferte.

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