Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Frank Nüsken ist der Hörnichtgut, der im Laufe seines Lebens langsam aber stetig schwerhörig wurde, bis zur Ertaubung des linken Ohrs. Der lange Weg dieses Prozesses und die Rückkehr zum Hören zeigen Einblicke in ganz persönliche Gefühlssituationen. Doch Lebensfreude und Humor schwingen selbst beim beruflichen Hör-Eklat mit. Ein Buch auch für Normalhörende.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 116
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
gedacht heißt noch nicht gesagt
gesagt heißt noch nicht gehört
gehört heißt noch nicht verstanden
verstanden heißt noch nicht einverstanden
einverstanden heißt noch nicht umgesetzt
HNO Klinik
Schrei nicht so
Der Entschluss
Hat sich erledigt
Im Sommer der Nelkenrevolution
Wieder zu Hause
Einsam unter Freunden
Schwindel in Bogotá
Persönlichkeitsveränderung
Der letzte Whisky
Mal sehen was geht
Austrainiert
Zurück zu den Wurzeln
Cochlea Implantat
Danke
Der Bettenaufzug ratterte, stieß rechts und links an die Führungsschienen der Schachtwände. Aufmunternd lächelte mir die Krankenschwester zu. Sie sagte auch etwas, leider konnte ich sie nicht verstehen. In der zweiten Etage waren die Operationssäle untergebracht. Dort angekommen, schob sie mich samt Bett aus dem Aufzug hinaus und hinein in einen Operationsvorraum. Neben einem großen Tisch wurde mein Bett auf gleiche Höhe gepumpt, „bitte rutschen Sie hier rüber“ forderte mich freundlich eine laute männliche Stimme auf „und anschließend bitte gleich weiter auf den schmalen Tisch. „Ist das der OP Tisch?“ war meine Frage auf die ich sofort die Bestätigung erhielt. „Der ist aber schmal“ dachte ich, vielleicht sprach ich es auch aus. Kaum begriff ich das und dachte noch nach, ob der Tisch fahrbar wäre, da standen vier Personen neben mir und stellten sich der Reihe nach bei mir vor – vielleicht gaben Sie mir sogar die Hand – da bin ich mir aber nicht so sicher. Etwas grotesk fand ich das, denn ohne Hörgeräte konnte ich weder Namen noch Funktionen dieser Personen verstehen. Es waren vermutlich die wichtigsten Menschen bei der Operation. Diese Vorstellungsrunde empfand ich militärisch, zackig – und das, ohne selbst jemals beim Militär gewesen zu sein. Noch schmunzelte ich bei diesem Gedanken, da wurde mir eine Maske sanft aufs Gesicht gedrückt. Beim Anblick der grünen Kleidung dachte ich noch „grün ist die Hoffnung.“ Nach nur wenigen Sekunden, stellte mir eine der Personen eine Frage. Diese Frage verstand ich wohl nicht, gab aber zur Antwort: „ich merke noch nichts...“ das war’s dann aber auch schon.
Am Tag vor meiner Operation wurde ich in die Klinik aufgenommen. Die Prozedur des Eincheckens mit Blutentnahme und EKG dauerte etwa neunzig Minuten. Der Termin stand seit Wochen fest. Am Folgetag sollte mir ein Cochlea Implantat operativ eingesetzt werden. Eine Operation am Kopf, meine erste Operation überhaupt, meine erste Vollnarkose.
Nach einer mäßigen mondhellen Nacht – es musste wohl bald Vollmond sein – im ungewohnten Bett wurde ich durch rege Betriebsamkeit im Zimmer geweckt. Ein heller Morgen, etwa viertel vor acht. Ein Krankenpfleger klopfte an die Badezimmertür und rief nach Fritz. Der erschien in der Unterhose und erhielt die Anweisungen sich noch an bestimmten Stellen zu rasieren. „Machen Sie sich dann fertig! keine Kleidung mit Ausnahme der Unterhose! Bitte das OP Hemd anziehen und die Strümpfe.“ Fritz machte sich fertig, wie gewünscht „und packen Sie Ihre Sachen noch zusammen, die bringen wir dann runter“ rief der Pfleger noch in einer Drehung beim Verlassen des Zimmers meinem Zimmernachbarn Fritz zu. Er hatte seinen Operationstermin noch vor mir. Kurz darauf war alles gepackt, Fritz legte sich in sein Bett und wartete.
Meine Blase machte sich längst bemerkbar, musste aber noch warten, das ging jetzt nicht. Rasch verabschiedete ich mich von Fritz und wünschte ihm alles Gute für seine Operation und für die Zukunft. Da kam schon der Pfleger und holte ihn samt Bett ab.
Jetzt konnte ich endlich die Toilette aufsuchen. Inzwischen war ich richtig wach. Meine Operation erwartete ich so gegen zehn Uhr. Meine Gedanken schweiften zurück zum Vortag und zu Fritz.
Anfangs hatte ich das Zweibettzimmer für mich allein. In aller Ruhe nahm ich Zimmer, Bett und den mir zugewiesenen Schrank in Besitz, packte meine Reisetasche aus und besichtigte das Bad. Ganz wichtig war mir ein Internetzugang. Den gab es glücklicherweise als Wireless Lan. Somit war ich erst einmal damit beschäftigt, die Internet Verbindung einzurichten. Ich hatte mir vorgenommen, hier in der Klinik zu schreiben, deshalb stand Laptop und Internet für mich an erster Stelle. So gelang es mir, mich abzulenken und mich nur indirekt, durch Schreiben, mit mir selbst zu beschäftigen. In den letzten Monaten hatte ich meine Freude am Schreiben entdeckt. Mein Ziel war es, über die Entwicklung meiner Schwerhörigkeit zu schreiben und über das was mir unmittelbar bevorstand, das neue Hören mit einem Cochlea Implantat. Wenn ich an meinem PC sitze und meine Gedanken in die Tasten tippe, verschwindet die Welt um mich herum.
Die Welt kam mit dem Einzug eines Mitbewohners unmittelbar zurück und riss mich aus meiner Versunkenheit. Fritz, mein neuer Zimmernachbar, hatte zwei Tumore im Hals und sah schlecht oder mitgenommen aus. Er verfügte bereits über Erfahrungen mit Operationen. Fritz sollte am gleichen Tag wie ich operiert werden, noch vor mir. Wir kamen ins Gespräch.
Fritz unterlag starken Stimmungsschwankungen. Er freute sich darüber, dass die beiden Tumore, die er lange nicht bemerkt hatte, möglichst schnell entfernt werden. Andererseits plagten ihn Ängste. KREBS. „Das ist doch immer noch eine Schreckensbotschaft“. Der Arzt hatte ihm Hoffnung gemacht, dass das gut zu operieren sei. „Der Professor und seine Mitarbeiter haben sich genau überlegt, wie sie vorgehen wollen“ meinte Fritz. „Zusätzlich soll ich einen Behälter für eine dosierte Zufuhr von Chemotherapie Medikamenten implantiert bekommen. Für mich ist es wichtig, dass ich etwas loswerde, was da nicht hingehört“, meinte er „für Sie ist es umgekehrt sie bekommen etwas, was Sie nicht mehr haben.“ Das klang sehr logisch. „Für Sie ist es lebenswichtig, dass Sie diese Tumore loswerden, restlos. Ich kann auch ohne Cochlea Implantat weiterleben.“ relativierte ich seine Aussage.
An diesem Punkt wurde mir bewusst, dass es andere Ängste gibt als einfach nur die vor einer Operation. Ich sah da große Unterschiede zwischen uns. Fast kam ich mir vor, als lasse ich eine Luxusoperation an mir vornehmen. Das ist natürlich übertrieben. Ich werde danach aller Voraussicht nach, wieder besser bis gut hören können. Fritz sah den Vergleich nicht so krass wie ich ihn empfand.
Wir aßen gemeinsam zu Abend, dabei saßen wir uns am kleinen Tisch gegenüber. Mein Gesprächspartner öffnete sich ein wenig. Er ist achtundfünfzig Jahre alt, grüner Beamter, wie er sich ausdrückte. „Das sind Beamte im Polizeidienst oder im Strafvollzug.“ Ich wollte nicht konkret nachfragen, da er so ausweichend berichtete. „Ich habe im Laufe meines Lebens in meinem Dienst genug geleistet, ich gehe nicht mehr arbeiten – wenn ich das hinter mir habe.“ Damit warf er wohl in einem Satz einen Blick zurück und einen auch voraus in die Zukunft.
Wir sprachen über Enkel „schon für meinen Enkel muss ich weiterleben“ und über sein Urlaubsland. Seit vielen Jahren reiste er an einen Ort in Südosteuropa. „Da habe ich schon Freunde – Einheimische aber auch Deutsche.“
Sein Blick richtete sich jetzt eindeutig in die Zukunft, eine Zukunft nach der Krebsoperation. Er hatte also Perspektiven.
Später am Abend schaute jeder, mit Kopfhörern bestückt, in sein Fernsehgerät. Zwischendurch redeten wir wenig. Dabei teilte ich ihm meine Gedanken mit. „Schreiben Sie doch heute noch alles auf, was Sie sich für die Zukunft noch vornehmen, was Sie alles noch in Ihrem Leben machen wollen. Das verankert sich in Ihrem Gehirn. Ich glaube das es auch wirkt.“
Er berichtete noch über seine Erfahrungen und der gefühlten Harmlosigkeit der Anästhesie: „Sie schlafen ganz schnell ein und wachen wieder auf, wenn alles vorbei ist.“ Das hatte mich dann auch ruhig werden oder bleiben lassen, zumindest bildete ich mir das ein.
„Morgen bin ich sehr früh dran mit meiner OP“, klärte er mich auf, „das Zimmer verlasse ich, ich verbringe ein paar Tage im Beobachtungsraum.“
Später sah ich ihn schreiben.
Nach einem ruhigen Frühstück riss mich um neun Uhr eine Schwester aus meinen Gedanken zu Fritz. „Machen Sie sich bitte für die Operation fertig. Ausziehen bis auf die Unterhose, die engen Strümpfe anziehen, und das Operationshemd – vorne geschlossen und hinten offen“ und „Ach ja, kein Metall am Körper, keine Brille kein Hörgerät und keine Zahnprothese.“ „Kann ich meine Sachen im Zimmer lassen?“ wollte ich wissen. Diese Frage bedurfte noch einer Klärung. Schließlich erhielt ich die Information: „ Sie können Ihre Sachen hier lassen. Nach der Implantation kommen Sie wieder zu uns zurück – ist doch schön bei uns“. „Klopf auf Holz“ dachte ich und klopfe an meinen Kopf, „solange der noch unbeschädigt ist.“
Wodurch ich nach der OP wach wurde, kann ich nicht sagen. Da aber Menschen bei mir am Bett standen, vermutete ich, geweckt worden zu sein. Es war ein sonniger und windiger Tag. Das erste was ich deutlich wahrnahm, waren die sich im Wind wiegenden Bäume draußen vor dem Gebäude. Ich erkannte sie wieder, es waren die gleichen Bäume, deren Wipfel ich von meinem Zimmer aus, oben im sechsten Stockwerk, sehen konnte.
Die Menschen um mich versuchten mich zum sprechen zu bringen, was mir ohne Weiteres gelang. Am Kopf ertastete ich einen dicken Verband, außerdem entdeckte ich die Infusionsnadel an meiner Hand und den damit verbundenen Schlauch.
Schon ging es wieder per Aufzug nach oben, der ratterte genauso wie bei der Talfahrt. Das hörte ich auch ohne Hörtechnik gut. In der sechsten Etage angekommen, wurden mein Bett und der Ständer mit dem Infusionstropf an die alte Stelle in meinem Zimmer geschoben. „Wenn das durchgelaufen ist, klingeln Sie bitte.“
Wieder allein im Zimmer war mein erster Gedanke, ein Foto meines Kopfes zu machen. Das Smartphone hatte ich mir vorher schon zurechtgelegt. Das Selfie gelang. Mein Gehirn funktionierte noch – oder wieder. Ich war erleichtert.
Seit ungefähr vierzehn Uhr befand ich mich wieder in meinem Zimmer. Die Infusion war durchgelaufen und ich klingelte, um nicht mehr „angebunden“ zu sein. „Kann ich schon aufstehen?“ fragte ich vorsichtig. „Wenn Sie wollen, probieren Sie es mal“, erhielt ich als Antwort und folgte dieser Aufforderung umgehend. Prima, es ging – ich ging – noch ein ganz klein wenig wackelig, aber das verdrängte ich. Ich wollte mich bewegen.
Jetzt setzte ich noch mein Hörgerät ans rechte Ohr und das Cross Hörgerät, das ich bisher am linken Ohr trug, befestigte ich irgendwo am Verband. Es muss ja nicht am Ohr sitzen, es funkt lediglich ans rechte Hörgerät. Schon klappte auch das Verstehen wieder besser – so wie bisher.
An diesem Nachmittag ging ich gefühlte hundert Mal mit meiner Tasse zum Aufenthaltsraum, in dem die Getränke bereit stehen, Kaffee und Wasser zum abpumpen, Tee in Kannen. Nach dem zweiten Mal gehen fühlte ich mich wieder im Normalzustand. „Sie wollen wohl heute noch einen Kilometer Rekord aufstellen“ scherzte ein Pfleger, dem ich innerhalb kurzer Zeit mehrmals begegnete. Ich folgte dem dringenden Bedürfnis, mich zu bewegen.
Die Wunde, vielleicht war es auch das Implantat, spürte ich nur, wenn ich meinen Kopf in eine bestimmte Richtung drehte. Ein leichtes Ziehen lokalisierte ich hinter meinem linken Ohr. Keine Schmerzen – das gefiel mir.
Die Tür schwang weit auf, ein leeres Bett wurde von einem Pfleger herein geschoben, mein neuer Mitbewohner kam zu Fuß hinterher. Ich nenne ihn Holger. Holger klagte ein wenig. Ihm wurde kurzfristig eine Gewebeprobe im Hals entnommen, noch bevor ihm ein Zimmer zugeteilt wurde. Die Gewebeprobe war positiv. „Der zweite mit Hals“ dachte ich. Fritz, mein erster Zimmernachbar, wurde heute früh auch am Hals operiert. Vielleicht steht deshalb bei der Bezeichnung HNO das H, also der Hals ganz vorne.
Jetzt war Holger mein neuer Zimmernachbar. Holger zeigte sich sehr schockiert über die soeben erhaltene Diagnose. Zunächst konnte er kaum sprechen. „Ich soll noch für weitere Untersuchungen in der Klinik bleiben“ krächzte er mühsam. „Ich darf noch nicht viel sprechen.“ Holger ist über 60 Jahre alt. Jetzt ging es darum, hier in der Klinik herauszufinden, ob der Tumor im Hals in andere Körperregionen gestreut hat.
Nur kurz erzählte ich über mich, bekam aber rasch den Eindruck, dass ihn das zu diesem Zeitpunkt nicht interessierte. Das leuchtete mir ein. Erneut kam ich mir vor wie ein Glückspatient. Holger versuchte immer wieder zu schlafen, „sich weg schlafen“ dachte ich mir, „die Flucht in den Schlaf“. Er sollte ja auch noch nicht viel sprechen.
Seine Frau kam und brachte Leben ins Zimmer. Mir vermittelte sie den Eindruck, Holgers Managerin zu sein. Sie erzählte seine kurze Leidensgeschichte und beklagte sich über die Unfähigkeit bisheriger Ärzte, die Holger aufgesucht hatte.
„Alles wird jetzt gut“ bekräftigte sie ihrem Mann gegenüber mehrfach. Diese Beteuerungen „alles wird jetzt gut“ wirkten auf mich ein bisschen zu viel, wie eine Beschwörung, um selbst daran zu glauben. Mein Verdacht war, dass Holger das auch so empfand. Irgendwann später ging sie wieder.
„Benutze ich die Situation der anderen um mich selbst gut zu fühlen?“ ging mir durch den Kopf. „Ich fühle mich jedenfalls glücklich und verspüre genug Energie, andere in ihrer Situation zu unterstützen, wenn sie den Wunsch dafür irgendwie signalisieren“.
Als Schwerhöriger veränderte ich meine Kommunikation in den letzten Jahren mehr und mehr dahin, zu interpretieren. Manchmal bilde ich mir ein, es inzwischen gut zu beherrschen. Meine Familie sieht das jedoch nicht immer so.
Der Abend kam, wir konzentrierten uns auf unser jeweiliges Fernsehprogramm. Mir fiel auf, wie Holger mit Kopfhörern und Brille immer mal wieder einschlief. Dann wälzte er sich unruhig hin und her. Ich begann mir Sorge um seine Brille zu machen. Das hielt mich davon ab, selbst die Augen zu schließen.
Mein Eindruck war, dass Holger sich zwischen der Beteuerung seiner Frau „Alles wird jetzt gut“ und seinen eigenen, vermutlich negativen Gedanken hin und her bewegte. Er wirkte auf mich stark belastet – psychisch angeschlagen.
Zu Fritz vom Vortag hatte ich einen engeren Kontakt, zu Holger verständlicherweise noch nicht. Dennoch versuchte ich auch ihm meinen Gedanken vom Vortag zu vermitteln, seine Vorhaben für die Zukunft aufzuschreiben. Ich war unsicher, ob er in der Lage war, das anzunehmen. Umgehend beschlich mich aber auch der Gedanke, ob ich solche ungebetenen Ratschläge nur von mir gebe, um mich aufzuspielen.
Bis Mitternacht sah ich fern. Holger war fest eingeschlafen. Bei mir zu Hause gelte ich als Schnarcher. Doch was Holger da verursachte, hörte ich ohne Hörgeräte und durch das gesamte Verbandsmaterial an meinem Kopf hindurch. Er schnarchte so laut, dass ich nicht schlafen konnte.