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Die Familien-Saga begleitet die bewegten Leben von Christian, Jan und Wolff. Drachenweide ist pralles Leben in drei Bänden: Wein, Liebe, Sexualität, Engstirnigkeit und Humor. Wie gehen die Lebensgeschichten der Freunde und ihrer Familien weiter? Band II: Als Christian auf einem argentinischen Weingut unerwartet auf seine totgeglaubte Mutter Lena trifft, gerät die geordnete Welt des Finanzbeamten ins Wanken. Eine lange Fluchtgeschichte führt ins Spanien unter Franco, zu Ureinwohnern in Südamerika, aber auch zu Militärdiktaturen. Wie geht Pfarrer Dolb damit um, dass seine Tochter und Jan unverheiratet Zwillinge bekommen? Wolff hat eine magische Begegnung, die er nicht erklären kann. Was hat sein früherer Widersacher damit zu tun? Eine spektakuläre Beerdigung ruft Presse und Fernsehen auf den Plan. Erste Leser: "Brandaktuelle Geschichte gegen Faschismus"; "Politik fesselnd in emotionale Erlebnisse verpackt."; "ein Traum hat mich irritiert"; "Geschichte hat mich emotional berührt"; "witzig aber auch traurig"; "Aufwühlende Erlebnisse in Südamerika". Hauptorte: Südamerika, Saarland, Ulm, Stuttgart, Bad Buchau
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Seitenzahl: 376
Veröffentlichungsjahr: 2024
Als Christian auf einem argentinischen Weingut unerwartet auf seine totgeglaubte Mutter Lena trifft, gerät die geordnete Welt des Finanzbeamten ins Wanken.
Wie geht Pfarrer Dolb damit um, dass seine Tochter und Jan unverheiratet Zwillinge bekommen?
Wolff hat eine magische Begegnung, die er nicht erklären kann. Was hat sein früherer Widersacher damit zu tun?
Eine spektakuläre Beerdigung ruft Presse und Fernsehen auf den Plan.
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Frank Nüsken wurde in Wuppertal geboren, prägende Jahre seiner Kindheit verbrachte er im Bayerischen Wald. Während seiner Jugend in Oberschwaben begann er zu malen. In Ulm war er aktives Mitglied im Ulmer Weltladen. Hier erhielt er Impulse, die sein Denken veränderten. Seit vielen Jahren lebt er am südlichen Ausläufer des Hunsrücks.
Als Betriebswirt schulte er Auszubildende und Außendienstmitarbeiter eines Großunternehmens. Anschließend arbeitete er als selbstständiger Seminarleiter für Kommunikation. Als Coach begleitete er Veränderungsprozesse in Unternehmen. Arbeitseinsätze in Kolumbien und in Äthiopien veränderten seine Sichtweise auf unsere Welt. Gewonnene Erkenntnisse zu Ursachen und Wirkungen beeinflussen seine Arbeit als Romanautor.
„Lebensfülle“ widme ich allen politisch Verfolgten und denen, die wegen Fanatismus, Krieg, Hunger, Umweltzerstörung und der Klimaveränderung ihre Heimat verlassen müssen.
Mein Dank gilt allen, die Drachenweide während der Entwicklung gelesen haben. Ihre Rückmeldungen, Anregungen und konstruktiven Beiträge waren für mich wertvoll.
Frank Nüsken
Drachenweide
Band II
Lebensfülle
Roman
© 2024 Frank Nüsken
Umschlag Gestaltung: Frank Nüsken
Foto Zweig: „Mein schöner Garten“
Foto Ulm: Antje Nüsken
Klappentext: Sonja Nüsken
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Softcover: 978-3-384-19187-8
E-Book: 978-3-384-19188-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Das Land verkaufen? Warum nicht auch die Luft und das Meer? Hat nicht der große Geist all das zum Wohl seiner Kinder erschaffen?
Rede des Häuptlings vom Volk der Duwamish
1975 bis 1995
Greidach
Christian erschrak. Eine ältere Frau klopfte ans Autofenster. Sie hatte ihn schon eine Weile beobachtet.
„Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Sie wirkten so, dass ich einfach ans Fenster klopfen musste.“
„Oh, danke, ja, nein. Ah, eh. Danke, ich war ganz in Gedanken.“ Christian geriet ins Stottern.
Der soeben erlebte Verwaltungsakt hatte ihn aufgewühlt und daran gehindert, loszufahren. Als Horst Hard betrat er das Rathaus, als Christian Dechamps kam er wieder heraus, seinen neuen Personalausweis und das amtliche Dokument seiner Namensänderung in der Hand. Nach einunddreißig Jahren trug er wieder den Namen, der in seiner Geburtsurkunde steht.
Er wollte losfahren, spürte aber jetzt erst den Autoschlüssel in seiner Hosentasche. Um ihn greifen zu können, hob er sein Gesäß an und streckte sich. So konnte er seine Hand in die Tasche schieben. Den Zündschlüssel in der Hand, versetzte ihn die Frage dieser Frau in seine Jugendzeit ins oberschwäbische Buchau zurück.
Die Pfadfindergruppe scharte sich ums Lagerfeuer, lodernde Flammen zogen alle Blicke auf sich. Hannes kam mit seiner Klampfe aus dem Zelt, setzte sich zu den anderen und stimmte ein Fahrtenlied an.
Abends treten Elche aus den Dünen, sangen die Jungen am knisternden Feuer. Sanft fiel die Nacht über Wald und See. Feuer und Dunkelheit schufen einen romantischen Zauber, der die Gruppe erfasste. Der gekräuselte See spiegelte die Flammen in gespenstischen Verzerrungen.
Christian dachte daran, wie er damals aufstand und zum Waldrand ging. Die Dunkelheit verschluckte ihn. Spontan überfiel ihn das Bedürfnis, abseits der Gruppe unter Bäumen zu stehen. Fahrtenlieder und Lagerfeuer weckten Sentimentalität und Sehnsucht in ihm. Keiner seiner Freunde wusste von seiner Adoption.
„Horst, bist du hier?“ Sein Freund Wolff suchte ihn. Er kannte seine Stimmungen in solchen Situationen. Wolff ging davon aus, dass ich die täglichen Probleme mit meinem Vater Alfred verarbeite, dachte Christian.
„Ja, hier bin ich.“
„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte damals Wolff – genauso wie diese Frau eben.
Auch Jan kam zum Feuer zurück. Er hatte Horsts Verschwinden ebenfalls bemerkt und wollte nach ihm sehen.
Christian sah sich gedanklich mit den Freunden am Feuer sitzen. Die züngelnden Flammen zauberten tanzendes Licht und Schatten auf ihre Gesichter. Gerne wäre er länger mit seinen Freunden zusammengeblieben.
Seit wenigen Wochen arbeitete Christian beim Finanzamt im angrenzenden Rheinland-Pfalz. Der Wechsel von Friedrichshafen am Bodensee hierher ging überraschend reibungslos. Gewiss hatte sein Großonkel, seine Finger mit im Spiel. Der alte Luc kannte die Leiterin des Finanzamtes. Seither wohnte Horst im nördlichen Saarland in Lucs Haus in Greidach. Dessen langjährige Haushälterin Elfi würde er im nächsten Jahr heiraten. Jetzt schon wohnte er mit ihr in der Einliegerwohnung, in der sie ihn vor zehn Jahren verführte.
Endlich startete Christian sein Auto und fuhr nach Greidach. Während der kurzen Fahrt fiel ihm sein Auftritt vor Gericht ein. Wie viele Jahre ist das her? Damals sah er Wolff zum letzten Mal. Was ist aus ihm geworden?
Und Jan? Was weiß ich heute noch von Jan? Schade, dachte er. Das Internat hat mir meine Jugend geraubt. Jan, hm?
Wieder im Hier und Jetzt angekommen gratulierten ihm seine Geliebte und sein Großonkel zum Namenswechsel.
„Ich möchte gerne Chris genannt werden. So wie Lucien nur Luc genannt wird.“
Elfi und Luc stimmten zu. Seinem Großonkel Lucien Dechamps gefiel die Namensänderung besonders gut. Er war der Initiator.
Mendoza, Argentinien, Februar 1975
Christian Dechamps streifte planlos durch die Weinfelder.
Langweilig, dachte er, Reihe um Reihe, alle in die gleiche Richtung. Ohne die Kulisse der Anden würde es langweilig aussehen.
Chris achtete nicht darauf, welche Wege er nahm. Er wollte nur gehen. Vor wenigen Stunden kam er hier in der argentinischen Weinregion Mendoza an. Seine Gedanken flogen hin und her. Sein Großonkel Luc, der Weinhändler Lucien Dechamps, bat darum, ihn zu begleiten.
„Du kennst mein Interesse an internationalen Weinen. In meinem Alter möchte ich diese Reise nicht mehr allein antreten.“
Dieser alte Fuchs, überlegte Christian, ließ mich während des Flugs viele Seiten Text über meine Vorfahren und die Familie Saht lesen, in deren Haus ich geboren wurde.
Nach Informationen, die er weitgehend kannte, stockte ihm plötzlich der Atem. Luc schrieb über die Vertreibung von Christians Mutter Lena aus Deutschland. Er selbst wurde im Februar 1943 von einem seiner Nazikunden erpresst, Lena und den für sie fremden Ferdinand zur portugiesischen Grenze zu bringen. Das waren die ersten überraschenden Informationen in Lucs Text. Warum hat Luc das über Jahrzehnte verschwiegen?
Christian Dechamps hatte sich in den letzten Jahren nicht mehr mit seiner Mutter beschäftigt. Seine leibliche Mutter war für ihn außerhalb seiner gelebten Welt. Sie spielte keine Rolle mehr. Dieser Ordner mit Lucs Texten warf alle Fragen wieder auf. Für mich sind meine Mutter und mein Vater tot, ging es ihm beim Lesen durch den Kopf. Das war jedenfalls bisher mein Wissen. Luc muss mehr wissen. Weshalb lese ich das alles während eines Flugs nach Argentinien? Wir besuchen ein Weingut!
Entschlossen griff er erneut Lucs Ordner und blätterte voraus. Nach einigem Blättern stieß er auf einen handgeschriebenen Brief von Elena Cáliz Delcampo.
Dem Brief entnahm Christian, dass sie sich gerade auf dem Weg zu seiner leiblichen Mutter Lena und ihrem Mann Manuel befanden.
Gefühle übermannten ihn. Reise ich jetzt zu meiner Mutter Lena? Weshalb hat mir Luc das nicht früher gesagt? Wie kann ich damit umgehen? Wenige Wochen nach meiner Geburt ist sie verschwunden. Seither gilt sie als verschollen.
Das Zusammentreffen mit seiner Mutter am Flughafen verlief tränenreich und von Unsicherheiten überlagert.
Hier in den Weinfeldern dachte Chris erneut an diesen Brief. Alles, was ich zuvor dachte, gilt augenblicklich nicht mehr. Er war verwirrt. Meine Mutter ist eine fremde Frau für mich, wie kann ich sie kennenlernen? Sie nennt sich hier Elena Caliz Delcampo. Caliz heißt Kelch, der Mädchennamen ihrer Mutter. Delcampo steht für Dechamps.
Vor dem gemeinsamen Essen lernten Luc und Chris auch Lenas siebzehnjährige Tochter Sophia kennen. Christian fand seine Halbschwester ungewöhnlich hübsch. Sophia bemerkte, wie er am Wein nur nippte.
„Christian, ¿prefieres la cerveza? – Bier?“ Er benötigte einen kurzen Moment, bis er begriff.
„Ja, ja gerne Bier!“ Sophia holte ihm eine Flasche Bier und ein Glas, lächelnd stellte sie es ihm hin.
„Es argentino. Wie sagen? Prost?“ Dazu lachte sie ihren Bruder an. Chris bedankte sich freundlich und lachte ebenso. Leider sprach Sophia nur Spanisch.
Alles soll ich innerhalb weniger Stunden verkraften, raste es Christian durch den Kopf. Wieso hat Lena sich erst jetzt gemeldet? Sie ist hier verheiratet, hat eine fast erwachsene Tochter und lebt hier unbehelligt und scheinbar ganz gut. Weshalb hat sie sich nicht bereits vor Jahren gemeldet? Wie wichtig kann ich ihr gewesen sein?
Vor einer Rebe mit dicken Trauben blieb Chris stehen. Er wollte seine Gedanken sortieren. Sie fuhren Karussell. Was war das überhaupt für ein Bier?
Er blickte zu den gewaltigen Anden auf. Sie strahlten Ruhe und Ewigkeit aus. Wie hoch mögen die wohl sein? Einer erschien besonders mächtig. Was sagte Luc, dahinter liegt Chile?
Nach dem Essen besprachen sie, wie sie am besten die letzten Jahrzehnte aufarbeiten wollten. Jeder sollte sein Leben während dieser Zeit schildern.
„Ich möchte gerne anfangen“, erklärte Lena. „Ich denke, ihr wollt wissen, weshalb ihr über dreißig Jahre nichts von mir gehört habt.“
Chris begegnete bisher keinem Menschen. Jetzt wollte er zurück zu Lenas Bodega. Er wusste aber nicht mehr, wo er sich befand. Alles sah für ihn gleich aus.
Ein Auto kam auf ihn zu und hielt. Der Fahrer hatte das Fenster auf und sprach ihn an: „¿A dónde vas?“ Chris zuckte mit den Schultern, ahnte aber, dass er gefragt wurde, wohin er wolle.
„Elena Caliz Delcampo“, versuchte er es mal. Der Fahrer schien verstanden zu haben. Er winkte ihm, einzusteigen. Während der Fahrt sprach er viele spanische Sätze, von denen Chris nichts verstand. Er lächelte vorsichtshalber. Genau vor dem Wohnhaus seiner Mutter wurde er abgesetzt. Chris bedankte sich auf Deutsch und Englisch, soweit er das konnte. Er schämte sich, zuvor nicht die mindesten Begrüßungs- und Dankesformulierungen in Spanisch gelernt zu haben.
Im Haus fand er niemanden. Der deutsche Finanzbeamte in ihm erwachte, er sah nach, was außer dem Wohnhaus sonst noch an Gebäuden und Räumlichkeiten zum Weingut gehörte. Dabei glaubte er, den Anschaffungswert der Einrichtungen und Materialien schätzen zu können. Plötzlich stand ein Mann hinter ihm. Chris erschrak, er sah fremdartig aus, vermutlich ein Nachfahre der Ureinwohner. Dieser sprach ihn in einer Sprache an, von der Christian lediglich eines verstand: Es war kein Spanisch. Deshalb reagierte er mit seiner frisch erlernten Antwort. Er lächelte freundlich.
Kurz darauf tauchte Lenas Mann Manuel auf. Die beiden unterhielten sich in dieser fremdartigen Sprache. Manuel schien dem Mann zu erklären, wer dieser Fremde war. Er wendete sich an Chris und zeigte in Richtung Weinfeld. „Elena allí.“ Auch Manuel lächelte, das war zumindest ein Zeichen von Freundlichkeit. Sophia kam mit einem Werkzeug um die Ecke. Sie sprach den fremden Mann freundlich an, jedenfalls entnahm das Chris aus Sophias Tonfall. Sie beherrschte ebenso selbstverständlich diese für ihn völlig fremde Sprache. Sie sah das staunende Gesicht ihres Bruders.
„Ich“, dabei zeigte sie auf sich, „ich Niño con Indios, Kind.“ Christian verstand in etwa, dass sie meinte, als Kind diese Sprache gelernt zu haben. Einen Reim konnte er sich daraus nicht machen. Er dachte daran, ihr vielleicht während seiner Anwesenheit hier ein paar Brocken Deutsch beizubringen. Jetzt fiel ihm ein, den Begriff con schon einmal gehört zu haben. Chili con Carne hatte er als Gericht einmal auf einer Speisekarte gelesen. Da er sich darunter nichts vorstellen konnte, aß er es auch nicht. Bei Elfi gab es das bisher noch nie. Aber con könnte mit heißen. Chili mit irgendwas?
Am Abend setzten sich Lena, Christian und Lucien für den ersten Teil von Lenas Erlebnissen zusammen.
„Bevor ich beginne, leben Anna und Viktor Saht noch?“
„Sie haben ihren Hof aufgegeben und leben seit Kurzem in einer landwirtschaftlichen Kommune in der Schweiz. Dort haben sie die Rolle der Großeltern übernommen. Anna kocht für alle und Viktor repariert alte Landmaschinen.“
„Da bin ich erleichtert. Warst du mal dort bei ihnen?“
„Ja, als ich noch in Friedrichshafen wohnte, habe ich sie in der Schweiz überrascht. Sie machten auf mich einen zufriedenen, fast glücklichen Eindruck.“
Lena war mit Christians Schilderung zufrieden.
Februar 1943
Die drei zogen sich in einen separaten Raum zurück, um Manuel und Sophia nicht zu stören.
„Heute beginne ich mit meiner Geschichte, dort wo du Luc uns vor zweiunddreißig Jahren abgesetzt hattest.“
Im Februar 1943 brachtest du uns durch Frankreich und Spanien bis zur portugiesischen Grenze. Ferdinand, der Sohn deines Erpressers Max und ich, kannten uns seit etwa zwei Tagen. Zuvor wurden wir gezwungen, Heiratsunterlagen zu unterschreiben, die uns als Ehepaar Schreiber ausgaben. Schon diese zwei Tage meiner Flucht waren bereits ereignisreich.
„Ich hatte die Ereignisse dieser Etappe aufgeschrieben. Christian hat unseren gemeinsamen Teil deiner Flucht während des Flugs gelesen“, unterbrach Luc. „Du kannst dort weitermachen, wo Du und Ferdinand mit Luis weitergereist seid.“
Nachdem du uns abgesetzt hattest, passierte ich als Waltraut Schreiber gemeinsam mit meinem Ehemann Ferdinand, die spanisch-portugiesische Grenze bei Calabor. Wir kannten uns erst achtundvierzig Stunden. Luis, der uns vor der Grenze im Empfang nahm, erklärte uns die weiteren Schritte. „Ich weiß, ihr nicht schlafen in Nacht“, begann er. „Ich fahren Porto de Leixões, Nähe Porto, dort Schiff nach Brasil – wartet schon. Schiff Name ist Gaivina.“
Schnell erfasste ich die Situation. „Wir sollen also nach Brasilien fliehen? Wer empfängt uns dort?“
„Hier Papier mit endereço – wie in Deutsch?“ Er reichte mir ein Stück Papier. Ich bemühte mich, es zu entziffern. Es musste sich um Namen und Anschrift der Kontaktperson in Brasilien handeln. Ich las laut vor was auf dem Zettel stand:
Doutor Paula Renata Marques da SilvaEstr. do Arraial, 2601 – TamarineiraRecife - PE, Brasil
“Offenbar sollen wir nach Recife reisen”, wandte ich mich an Ferdinand. Wusstest du das?
„Nein, aber ich bekam früher einmal am Rande mit, dass mein Vater Kontakt zu einer Brasilianerin hatte.“
„Na gut“, gähnte ich, „dann eben Brasilien. Es wird Zeit, Portugiesisch zu lernen.“ Ich nahm das Stück Papier mit der Anschrift an mich und las es Mal um Mal, um sie mir einzuprägen. Ferdinand und ich verschliefen die meiste Zeit der Autofahrt, sie dauerte mehrere Stunden. Jedes Mal, wenn ich wach wurde, wiederholte ich im Stillen die Anschrift in Recife. Erneut sah ich auf das Blatt Papier. Es dauerte viele Male, Einschlafen, Erwachen und Wiederholen der gesamten Anschrift, bis ich sicher war, mir diese auf Dauer zu merken. Ferdinand bemerkte davon nichts.
In einer Wachphase erklärte uns Luis: „Obacht euer Geld. Schiff sein gefährlich.“
Was immer er damit meinte, wir waren gewarnt, auf uns und unser Geld aufzupassen. Bisher trug Ferdinand das gesamte Geld bei sich. Noch während der Autofahrt teilten wir das vorhandene Bargeld auf. Wir überlegten, wie wir es am besten am Körper tragen konnten.
Am frühen Nachmittag erreichten wir den Hafen Leixões. Die Hafenanlage wirkte klein und unscheinbar. Am Kai lag die Gaivina, ein mittelgroßes Frachtschiff. Offenbar wurden wir erwartet. Der Schornstein stieß schwarzen Rauch aus. Luis verabschiedete sich und wünschte „Boa jornada“. Ein mürrisch dreinschauender Mann begrüßte uns knapp und schob uns über den schmalen Steg auf sein Schiff.
„My Name is Nevio Pinto Moreira, I am the Captain of the Gaivina. Welcome on board. I show you your Cabin.” Wir stellten uns mit unserem Namen vor. Der Kapitän Pinto reagierte darauf schroff: „I know your names, I know you are refugees, come on.”
Beim Gepäck half er nicht. Filipe Pinto Moreira war ein gedrungener, stämmiger Typ im reiferen Alter. Er roch stark nach Portwein und Schweiß. Sein von Wind und Meer gegerbtes Gesicht verstärkte seine finstere Wirkung. Bei näherem Hinsehen bekam er die Ausstrahlung eines Magenkranken, was den ersten Eindruck bedrohlich erscheinen ließ. Sein gescheckt grauer Bart ließ auf Essensreste schließen. Dagegen überraschte seine Stimme, sie passte nicht zu seinem Äußeren, sie klang höher, als seine Erscheinung erwarten ließ.
Das Frachtschiff verfügte über eine Gästekabine, zum Glück eine Außenkabine mit Blick aufs Meer. „If you need something, came to the bridge. We leave immediately.” Damit verschwand er.
Fast hätten wir uns wie auf Hochzeitsreise beim Bezug des Hotelzimmers gefühlt. Doch beim Betrachten unserer Unterkunft verflog das Hochzeitsgefühl erst einmal. Der Raum maß etwa zehn bis zwölf Quadratmeter. Das auffallend schmale Doppelbett stand an der Innenwand. Es gab einen Kasten, den wir als Schrank ansahen, zwei Stühle und einen Tisch. In einer Ecke entdeckten wir ein Waschbecken und eine Wasserkanne. Die Kabine roch muffig, und staubig. Ich wunderte mich darüber, Staub riechen zu können. Das Mobiliar schien aus einfachem Holz gezimmert. Es bestand aus dem gleichen Holz wie die Wände unseres neuen Zuhauses. Erst bei näherem Hinsehen entdeckte Ferdinand eine schmale Tür, hinter der sich eine Toilette versteckte.
„Hm, Doppelzimmer mit Toilette“, scherzte er. Diese stellte sich als Holzplatte in Sitzhöhe mit einem kreisrunden Loch in der Mitte heraus. Als er den Deckel anhob, blieb der erwartete beißende Geruch aus.
„Die benutzte wohl schon lange Zeit keiner mehr.“
Mit unserem Besuch auf der Brücke warteten wir, bis das Schiff den offenen Atlantik erreichte. Das zunehmende Stampfen und Schaukeln des Frachters sahen wir als den geeigneten Zeitpunkt an, den Captain aufzusuchen.
Die Reiseroute sah vor, zuerst die Azoren anzulaufen, danach Madeira, die Kap Verden, um schließlich den Atlantik in Richtung Brasilien zu überqueren. Die Reisezeit schätze Kapitän Pinto auf zehn bis zwölf Tage.
Das Essen würde uns auf die Kabine gebracht. Wasser gab es in einem Waschraum der Mannschaft. „Please save water“, brummte Pinto. Er erlaubte uns, auf Deck zu gehen, wir sollten aber möglichst keinen Kontakt zur Mannschaft aufnehmen. Täglich stand uns eine Flasche Portwein zu. „A large part of our cargo consists of portwine.” Bei diesem Stichwort begriff ich, welch schwerer süßlicher Geruch sich im Raum mit dem Staub mischte. Es war der Portwein. Das ganze Schiff roch danach. Ich fragte mich, ob wohl der Portwein für die hohe Stimme des Kapitäns verantwortlich war? Auf der Kommandobrücke arbeiteten außer Pinto noch ein Steuermann und ein weiterer Mann, vielleicht ein Navigator. Diese nickten nur einmal kurz mit dem Kopf, als wir die Steuerzentrale des Schiffes betraten.
Diese beiden Männer schickte Pinto hinaus und begann sofort mit seinem Anliegen. Er nannte den Preis für die Reise. Fünfhundert Dollar wollte er von Ferdinand haben. Der reagierte schockiert. Aus den Reiseunterlagen, die wir vor wenigen Tagen im Auto fanden, ging hervor, dass alle Reisekosten bis zum Ziel bereits bezahlt seien. Ferdinand bemühte sich, das dem Kapitän begreiflich zu machen. Der stritt das ab. Er habe nichts erhalten. Wir vereinbarten, dieses Thema zu verschieben. Wir wollten erst einmal nachsehen, ob wir so viel Geld überhaupt besitzen. Außerdem ging es uns darum, Zeit zu gewinnen, um die Situation zu überdenken. Pinto ließ sich zunächst einmal darauf ein. Schließlich konnten wir nicht weglaufen.
Im Laufe der Schiffsreise kamen Ferdinand und ich endlich zur Ruhe und konnten entspannen. Ich dachte an dich Christian, meinen kleinen Sohn, den ich so leichtfertig zurückließ. Ich machte mir Vorwürfe, auf die gezielte Desinformation zu Levs Verbleib, deinem Vater, hereingefallen zu sein. Die letzten Wochen ließ ich im Geiste an mir vorüberziehen. Auch fühlte ich mich für Levs Festnahme mitverantwortlich. Hätte ich mich besser beherrschen können, damals als Siegfried kam?
„Ich weiß, dass Siegfried ein SS-Mann war. Seine Eltern Anna und Viktor erzählten mir die dramatische Geschichte.“ Christian machte deutlich, die Zusammenhänge zu kennen.
Du Luc informiertest mich während der Flucht durch Frankreich, Christian gemeinsam mit deiner Schwester Paula nach Buchau gebracht zu haben. Das beruhigte mich nur kurzfristig. Jetzt hatte ich nur noch Ferdinand an meiner Seite. Ich kannte ihn kaum, doch er war der Einzige, der mir Trost spenden konnte.
Ferdinand nannte ich inzwischen Ferdi. Er bemerkte, welch traurige Frau er so plötzlich bekommen hatte. Dennoch begann er mir Komplimente zu machen. Er wiederholte oft, wie schön ich sei. Er zeigte ehrliches Interesse an mir. Ich fand Ferdi auch attraktiv, wollte mich aber innerlich nicht von Lev lösen. Doch mit der Zeit begriff ich meine Lage. Ich befand mich auf einer Reise nach Brasilien. Es wurde Zeit, die Realität zu akzeptieren. Formal war ich mit Ferdinand verheiratet, er war attraktiv, freundlich und verhielt sich rücksichts- und liebevoll. Von ihm ließ ich mich ab jetzt wieder Lena nennen. Die lange Schiffsreise würde uns guttun. Ich ließ seine vorsichtigen Versuche zu, mich zu trösten.
„Lass dich einfach fallen“, flüsterte er mir zu. So ergab es sich, dass wir unsere junge Ehe zunächst zögerlich, bald aber häufig und zur beiderseitigen Freude vollzogen. Ich ging davon aus, so kurz nach der Geburt meines kleinen Jungen, vor einer erneuten Schwangerschaft geschützt zu sein. Anna Saht sagte mir das vor einigen Wochen.
Beim nächsten Zusammentreffen mit Pinto erklärte Ferdinand, nur 300 Dollar zu besitzen. Die sei er bereit zu bezahlen, aber erst bei unversehrter Ankunft. Pinto brummte, darüber nachdenken zu wollen. Doch kurz darauf schlug er vor, die erste Teilzahlung von 150 Dollar bei der Ankunft auf Madeira zu kassieren. Das wiederum wollte sich Ferdinand überlegen.
Die Gaivina nahm zuerst Kurs auf die Azoren, Ziel war der Hafen Horta auf der Insel Faial. Der Hauptwirtschaftszweig dieser Insel, der Walfang, war bereits vor dem Einlaufen in den Hafen am Geruch zu erkennen. Es roch nach einer ungewohnten Mischung aus Blut, Talg, Fleisch und etwas, was ich als toter Wal bezeichnete. Captain Pinto erlaubte nur einen kurzen Landgang. Der Ladevorgang sei schnell erledigt. Er empfahl einen kleinen Rundgang im Ort. Alles Geld und alles was für uns von Wert war, nahmen wir mit an Land. Schließlich waren wir vorgewarnt. Außerdem verließen wir unsere Kabine so, dass wir erkennen konnten, falls sie jemand in der Zwischenzeit betreten hätte. Diese Maßnahme erwies sich als hilfreich. Bei unserer Rückkehr aufs Schiff sahen wir Veränderungen an verschiedenen von uns markierten Stellen. Es hat demnach jemand unsere Kabine betreten und vermutlich nach Geld oder Wertsachen gesucht. Seit dieser Erkenntnis verhielten wir uns noch wachsamer und beobachteten alles auf der Gaivina aufmerksam.
Als wir uns eines Morgens kurz vor dem Zwischenziel Madeira befanden, wurden wir von ungewöhnlicher Unruhe auf dem Schiff geweckt. Aus allen Richtungen vernahmen wir Laufen und lautes Rufen. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, wagte es Ferdinand, die Kabine zu verlassen, um die Ursache zu erkunden. Auf dem Vorderdeck standen alle Mannschaftsmitglieder im Kreis und diskutierten. Ferdi vermutete eine Besprechung mit dem Kapitän, den konnte er aber weder sehen noch hören. Von der Mannschaft unbemerkt kehrte er in unsere Kabine zurück.
„Alle stehen auf Deck und diskutieren. Eine Besprechung vielleicht. Wenn es uns betrifft, wird uns der Kapitän sicher informieren.“
Es blieb ruhig auf der Gaivina. Wir warteten auf das Frühstück. Diese erste Mahlzeit am Tag war eintönig. Sie kam bisher aber stets pünktlich. Es war inzwischen neun Uhr, als es hart an der Tür klopfte. Ferdinand öffnete. Ein Mitglied der Mannschaft stand draußen und versuchte, sich verständlich zu machen.
„Excuse, name is Antonio Basurto – sou o timoneiro da Gaivina. – I helmsman on ship,“ Dabei machte Basurto unbeholfene Steuerbewegungen mit den Armen, wie mit einem Autolenkrad, um zu verdeutlichen, dass er Steuermann sei. „O nosso capitão morreu. Captain has died.“ Ferdis entsetzte Nachfragen, was denn mit dem Kapitän geschehen sei, konnte er weder verstehen noch beantworten, stattdessen meinte er: „Breakfast later.“ Er schien sich seinen englischen Text vorher sorgfältig zurechtgelegt zu haben. „I Boss now – Shipping Madeira, looking for doctor and police – End of your voyage in Madeira, please surch other ship to Brasil.”
Dieser Mischung aus Portugiesisch und Englisch entnahmen wir, dass der Kapitän verstorben sei und wir in Madeira das Schiff verlassen müssen. Der Tod des Kapitäns würde Untersuchungen nach sich ziehen, die zeitlich nicht abzusehen wären. Wir mussten uns ein anderes Schiff nach Brasilien suchen.
Von einem Moment auf den anderen war unsere gerade erst einsetzende Entspannung beendet. Diese Nachricht katapultierte uns in eine neue Realität. Damit standen wir erneut vor dem Nichts. Im Laufe der folgenden Stunden kamen uns mehr und mehr Fragen in den Sinn. Wo können wir unterkommen? Wie können wir weiterreisen? Müssen wir uns unauffällig gegenüber Behörden verhalten? Schließlich sind wir Flüchtlinge. Kann es sein, dass wir an Deutschland ausgeliefert werden? Wir beschlossen, weiterhin als Ehepaar auf Hochzeitsreise aufzutreten. Wir besaßen nur die Papiere, die uns als Ehepaar Schreiber auswiesen.
Wenige Stunden später standen wir am Kai des Hafens Funchal. Vor allen andern und bevor portugiesische Beamten auftauchten, ließ uns die Mannschaft an Land gehen. Als Glück im Unglück erkannte Ferdinand den Umstand, dass niemand Geld von uns forderte. Somit besaßen wir noch unsere gesamte Barschaft. Madeira war zu dieser Zeit bereits eine beliebte Ferieninsel, die seit dem 19. Jahrhundert besonders gerne von europäischer Aristokratie besucht wurde. Viele Menschen auf der Insel sprachen Englisch. Ich besaß nur wenig Englischkenntnisse, Ferdinand sprach leidlich Englisch. Es musste genügen, um zurechtzukommen.
Wir fanden ein Geschäft, das nach Souvenir für Touristen aussah. Hier kauften wir eine Übersichtskarte der Insel und einen Reiseführer in Englisch. Damit zogen wir uns erst einmal in den Santa Catarina Park zurück, um uns kundig zu machen und das weitere Vorgehen zu planen. In einem Café ließen wir uns nieder und aßen eine Kleinigkeit. Als deutschsprachige Touristen fielen wir nicht auf.
„Was müssen wir zuerst erledigen?“ Ich wollte Klarheit darüber bekommen, wo wir in der Nacht schlafen könnten. „Ich denke, wir benötigen ein Quartier, möglichst nicht allzu weit vom Hafen entfernt. Von dort aus können wir uns laufend erkundigen, wie wir nach Brasilien weiterkommen.“
Wir entschieden uns dafür, einfach loszugehen und uns nach Unterkünften, eine Pension oder ein kleines Ferienhaus, umzusehen. Unser finanzielles Polster gab uns die nötige Gelassenheit, zumindest in Geldfragen.
An einer Pension, oberhalb des Hafens, klopften wir an der Tür. Eine schwarzhaarige Frau mittleren Alters öffnete uns und begrüßte uns auf Englisch. Sie zeigte uns ein freies Zimmer und empfahl Vollpension. Mir fiel auf, wie uns die Frau unverhohlen mit Blicken begutachtete. Dabei war sie freundlich und keineswegs abwertend. Unterkunft mit Verpflegung gefiel uns. Nur konnten wir zu diesem Zeitpunkt nicht angeben, wie lange wir auf Madeira verweilen wollten. Die Dame reagierte zunächst nicht darauf. Als wir unsere Pässe vorlegten, sprach uns die Wirtin auf Deutsch an.
„Ach, sie kommen aus Deutschland, das freut mich aber. In diesen Zeiten finden selten Deutsche hierher.“ Ferdinand wurde skeptisch.
„Sind sie Deutsche?“
„Ich stamme aus Uitikon in der Schweiz, habe aber einige Jahre in Deutschland gelebt und meinen Schweizer Akzent neutralisiert.“ In deutscher Sprache konnten wir unserer Pensionswirtin besser erklären, weshalb wir noch nicht so genau festlegen wollten, wie lange wir bleiben.
„War es denn für sie leicht, aus Deutschland auszureisen?“ Auf diese Frage hatten wir uns vorbereitet.
„Wir holen unsere Hochzeitsreise nach und verbinden das Angenehme mit dem Nützlichen. Mein Mann arbeitet für den Tourismus Verband, und will auf unserer Reise lohnenswerte Ziele in Brasilien ausfindig machen.“
Wir waren uns noch nicht sicher, wie wir auftreten konnten. Wie beliebt oder unbeliebt waren derzeit Deutsche außerhalb des Landes? Konnten wir der Schweizerin trauen? Portugal war im Krieg neutral, hatte aber selbst eine faschistische Diktatur unter Salazar. Madeira war weit vom Mutterland entfernt. Die Wirtin erkannte unsere Unsicherheit.
„Wie lange leben sie schon hier auf Madeira“, fragte Ferdinand.
„Ich lebe bereits seit zehn Jahren hier. Mein Mann stammt von hier und somit ließen wir uns hier nieder. Wir wollten außerhalb des unruhigen Europas leben. Und“, sie machte eine Pause, „Madeira ist die Blumeninsel im Atlantik. Schöner als hier kann ich es mir nirgends vorstellen.“
Ich ergriff das Wort: „Wir sind froh, hier bei ihnen unterzukommen, unsere Englischkenntnisse sind nicht so perfekt.“ Nach kurzem Nachdenken fragte ich die Wirtin, die sich als Rena vorstellte, „kommen derzeit wenig Deutsche hier her?“
„Na ja, ich denke, wir können offen miteinander reden, derzeit kommen Deutsche nur ungewollt auf der Reise nach Südamerika hierher. Es sind entweder Flüchtlinge, die vom herrschenden System verfolgt sind und ihre Haut retten wollen oder es sind Nazis, die in Südamerika nach Unterschlupfmöglichkeiten für die Führungselite Ausschau halten. Die letztgenannte Gruppe kommt nur im äußersten Notfall auf die Insel. Sie reist stets in geheimer Mission und auf eigenen Schiffen. Ich hatte nur einmal eine Begegnung mit diesen Nazis. Die benehmen sich eher großkotzig. Und wenn ich ehrlich bin, ich kenne inzwischen die Ausreden von Flüchtlingen.“
Wir fühlten uns ertappt, ich hakte aber nach: „Was sind das denn für Ausreden?“
„Na, die klingen so ähnlich wie ihre.“ Rena trat sicher auf. Sie schreckte nicht davor zurück klare Worte zu gebrauchen. „Ich halte sie für Flüchtlinge, also die Kategorie eins. Das sehe ich ihnen an – und wenn das zutrifft, heiße ich sie herzlich willkommen.“ Beim Blick in unsere Pässe ergänzte Rena: „Wenn sie schon überall in den Ländern waren, die in ihren Pässen vermerkt sind, müssten sie weltgewandter auftreten. Bleiben sie zunächst einmal hier, wir haben einen guten Wein auf der Insel und herrliche Ausblicke. Die Inselbewohner sind friedliebende Menschen. Normalerweise will hier keiner mehr weg.“
Felipe, Renas Mann tauchte aus dem Hintergrund auf. Rena sprach ihn auf Deutsch an und er reagierte mit schweizerischem Akzent: „Freut mich, dass sie zu uns gefunden haben. Ich habe einige Jahre in der Schweiz gelebt. Da habe ich Rena kennengelernt.“ Im weiteren Verlauf der Unterhaltung erzählten wir unsere Flucht Geschichte und vertrauten uns somit den Gastgebern an. „Ich begleite sie morgen erst einmal über unsere schöne Insel. Damit sie Madeira nie wieder vergessen“, meinte Felipe. Wir bezogen unser Zimmer und entspannten uns.
Am Folgetag fuhren wir mit Felipe über die Insel. Er besaß eine Kombination aus Personenwagen und Kleintransporter, ein amerikanisches Woodie, ein Fahrzeug mit teilweisem Holzaufbau. Damit beschaffte er Frischwaren für die Pensionsküche vom Markt und fuhr bei Bedarf Gäste über die Insel.
Es war Felipe ein Anliegen, uns bei einer kleinen Inselrundfahrt die Schönheiten Madeiras zu zeigen.
„Ich kann euch nur wenig an einem Tag zeigen, aber ihr bekommt ein paar Eindrücke.“
Wir begannen in Funchal mit der Festung Fortaleza do Pico de Sao Joäo auf dem Pico dos Frais. Hier stiegen wir aus, um den wunderbaren Blick auf die Stadt zu erleben. Danach fuhren wir in die Berge Madeiras.
„Gut ein Drittel unserer Insel ist mit Lorbeerwald bedeckt. Das sind immergrüne Wälder die über einer Höhe von etwa 500 Metern liegen und weitgehend Urwälder sind. Hier finden sich alte Baumsorten. Sie gehören zu den subtropischen Nebelwäldern.“ Felipe legte sich richtig ins Zeug, um die Besonderheit Madeiras zu erklären.
„Nebelwälder?“, ich sah keinen Nebel und wollte mehr dazu erfahren.
„Nebelwald nennt man Waldgebiete, welche durch aufsteigende Wolken in Höhen ab ungefähr 500 Metern mit Feuchtigkeit versorgt werden. Felipe führte uns auf einen kurzen Pfad, um uns einen Eindruck zu verschaffen.
Im Landesinneren zeigte er uns das Nonnental, Curral das Freiras. Dort versteckt liegt der kleine Ort, Câmara de Lobos, der früher Unterschlupf für entflohene Sklaven und Seeräuber war. Es ist ein einsames Tal auf über 600 Metern Höhe, ganz in der Nähe des höchsten Berges der Insel, des Pico Ruivo. Ein Höhepunkt war für uns die Klippe von Cabo Gerao. Felipe ließ uns aussteigen, um den Pfad zur Klippe zu gehen. Vom Blick war ich überwältigt. Jetzt begriff ich, was Menschen unter dem Wort ‚atemberaubend‘ verstanden.
„Hier will ich bleiben“, rief Ferdinand aus. Beide standen wir da und starrten auf das tief unten liegende weite Meer. Ich empfand ein Glücksgefühl. Glück während einer Flucht? Gibt es das? Erst beim zweiten Blick erkannte ich die Terrassen unterhalb. Manche landwirtschaftlich bearbeiteten Terrassen konnten wohl nur vom Meer aus erreicht werden.
Wir besuchten noch das Hochplateau Paul da Serra, einen Wasserfall und machten einen Abstecher zu den berühmten Leavadas, den Bewässerungsgräben, die das Wasser aus den Bergen in die fruchtbaren Tallagen befördern.
Die Dämmerung setzte bereits ein, als wir wieder in der Pension ankamen. Zum Ausklang des Tages saßen wir gemeinsam auf der Terrasse und tranken Rotwein. Ferdinand und ich waren erfüllt von den Erlebnissen und Eindrücken des Tages.
„Ich will hier nicht mehr weg“, seufzte Ferdinand, „hier ist das Paradies.“ Er war so beeindruckt von Madeira, dass er überlegte, wie wir hierbleiben könnten.
„Leider konnte ich euch an einem Tag nur wenig von Madeira zeigen“, entschuldigte sich Felipe. „Es gibt noch viele schöne und sehenswerte Orte auf unserer Insel. Aber ein Tag muss genügen, damit ihr Madeira euer Leben lang in Erinnerung behaltet.“
Wir bedankten uns herzlich bei Felipe für sein Engagement und seine Führung.
Erstaunlich schnell gewöhnten wir uns an die neue Situation. Schon nach kurzer Zeit fühlten wir uns auf Madeira erkennbar wohl. Ferdi und ich besprachen die Möglichkeit, einfach hierzubleiben und uns unauffällig zu verhalten. Vielleicht hätten Rena und Filipe die Möglichkeit, uns eine Arbeit zu beschaffen, wovon wir leben könnten. Beim Mittagessen besprachen wir diese Möglichkeit mit unseren Gastgebern.
„Es gibt eine Hürde, die ihr überwinden müsstet. Ihr müsstet euch hier bei der Behörde anmelden. Genau genommen umgehend nach Ankunft auf der Insel. Das würde wahrscheinlich auch jetzt noch akzeptiert, aber ich kann euch nicht garantieren, wie man euch dort einschätzt.“
„Was könnte uns dort erwarten? Gibt es Ressentiments gegenüber Flüchtlingen oder gegenüber Deutschen?“ Ferdinand sah sich von Renas Informationen verunsichert.
Felipe zögerte. „Nun, in den Behörden arbeiten vorrangig Beamte vom Festland, das heißt aus Portugal. Aber da kommt ihr ja her und wolltet weiter nach Brasilien fliehen. Also könnten diese Beamten nach dem Grund suchen, warum ihr aus Portugal geflohen seid. Bedenkt, Portugal ist ein faschistisches Land, ebenso wie Deutschland.“
„Hinzu kommt noch was“, ergänzte Rena, „die Mannschaft eures Schiffs hat euch an Land gesetzt, bevor die Behörden informiert wurden. Die meinten das wahrscheinlich wohlwollend. Aber der Captain starb während der Reise. Was ist, wenn euch unterstellt würde, damit zu tun gehabt zu haben. Wir wissen nicht, ob er eines natürlichen Todes gestorben ist. Heute Vormittag lag die Gaivina noch im Hafen. Den Grund dafür können wir nicht einschätzen.“
Wir waren enttäuscht und machten nachdenkliche Gesichter. „Wie schätzt ihr unsere Chance ein, hierbleiben zu dürfen, wenn wir uns bei der Behörde melden?“ Auf meine Frage schauten sich Rena und Felipe an, ihre Mimik zeigte Unsicherheit.
Schließlich machte Felipe einen Vorschlag. „Wir sind unsicher und wagen nicht, euch derzeit einen Rat zu geben. Alles kann falsch sein. Ich werde mich mal im Hafenviertel umhören. Vielleicht bekomme ich einen Hinweis. Entscheiden aber müsst ihr selbst. Derzeit lebt ihr hier – na ich will nicht illegal sagen– aber eben nicht legal. Auf Dauer kann auch uns, das Schwierigkeiten bescheren.“
Felipe hörte sich im Hafen um. Er bemühte sich, über Vertraute herauszufinden, welche Art Beamten derzeit in der Meldebehörde arbeiten. Die Gaivina lag weiterhin im Hafen. Vor dem Zugang zum Schiff stand ein Polizist. Das gefiel Felipe ganz und gar nicht. Er suchte nach einem Hafenarbeiter, den er kannte. „Was ist mit dem Schiff, warum wird es bewacht?“ „Die Besatzung darf das Schiff nicht verlassen. „O capitão foi assassinado.“ Der Kapitän wurde ermordet und die Mannschaft wird bewacht. Das war eine schlechte Nachricht.
Am Abend schilderte Felipe, was er erfahren hatte. Das drückte unsere Stimmung. Mein Gemütszustand wurde depressiv: „Ständig muss ich um mein Leben fürchten, ohne je etwas verbrochen zu haben.“ Ich sank förmlich in mich zusammen und weinte. Ferdinand wollte mich trösten, fand aber keinen Zugang zu mir. Er selbst war ebenso deprimiert, weil er wusste, dass alles seine Schuld war. Hätte er in Deutschland nicht die Verbindung mit dem Widerstand aufgenommen, wären alle noch in Deutschland. Doch diesen Vorwurf machte ich ihm nie. Ich wusste, dass ich mich freiwillig in die Fänge des Staates begeben hatte.
Schließlich äußerte sich Ferdi: „Wenn einer der Mannschaft beschuldigt wird, wird er versuchen uns die Tat in die Schuhe zu schieben. Damit säßen wir in der Falle, bestenfalls überstellt man uns nach Deutschland.“ Er machte eine Pause und blickte melancholisch.
„Danke für alles, was ihr für uns getan habt, Danke für die wunderschöne Rundfahrt über eure herrliche Insel. Ich fühlte mich hier wohl und war mir sicher, dass dieses Gefühl auf Dauer anhalten würde. Gerne würde ich mich im Tal der Nonnen verstecken. Wie ihr schon sagtet, ich werde Madeira nie mehr in meinem Leben vergessen. Aber wir müssen schnell und unauffällig hier weg.“
Ich hatte mich wieder beruhigt: „Gibt es vielleicht jemand auf der Insel, der uns neue Pässe ausstellen könnte? Eine neue Identität? – Unsere deutschen Pässe sind ja auch gefälscht.“ Die Gastgeber sahen sich an und schüttelten langsam die Köpfe.
„Nein, wir kennen niemanden, und wenn, welche Sprache würdet ihr perfekt sprechen, damit das nicht auffällt, und mit welchem Schiff wärt ihr hergekommen? Ich kenne niemanden, der das tun könnte, ich bin skeptisch. Wir leben auf einer Insel, da kann keiner so einfach rein und raus.“ Felipe machte das deutlich. Er versprach, am kommenden Morgen noch einmal zum Hafen zu gehen, um sich über Schiffe nach Brasilien zu informieren.
Diese Nacht bleibt mir ewig in Erinnerung. Ferdinand und ich verbrachten eine unruhige Nacht. Selbst an den Traum erinnere ich mich noch. Ich träumte, durch eine unbekannte Stadt zu gehen, an jeder Ecke stand eine finstere Gestalt und flößte mir Angst ein. Ich schlug einen anderen Weg ein, doch auch dort stand ein Mann, der mich zu bedrohen schien. Da plötzlich tat sich unerwartet eine schmale Seitengasse auf, ich lief hinein und sah am Ende Lev stehen. Lev rief ich und rannte los, doch von der Seite wurde ich von einem Unbekannten ergriffen und in einen Hauseingang gezerrt. Keuchend wachte ich auf und griff Schutz suchend nach Ferdi, sein Bett war leer.
In den Morgenstunden tauchte Ferdinand wieder auf. Er konnte nicht schlafen und war unten am Hafen. Es wird ein Schiff erwartet, welches angeblich nach Brasilien weiterfährt. Er hatte versucht, sich in englischer Sprache zu verständigen. Um nicht aufzufallen, erzählte er den wenigen Menschen, denen er begegnet war, genau das, dass er nicht schlafen könne und deshalb in der Stadt und im Hafen rumläuft.
„Ich denke, nicht als Deutscher aufgefallen zu sein.“
Ich hatte mir Sorgen um ihn gemacht und war zunächst erleichtert, ihn wiederzusehen. Bei weiterem Nachdenken beschlich mich ein mulmiges Gefühl.
„Ich halte es für leichtsinnig in unserer Situation nachts rumzulaufen. Hältst du dein Englisch für so gut, dass du damit nicht auffällst?“
„Ich war und bin verzweifelt. So gerne wäre ich hier auf der Insel geblieben. Hier gibt es Frieden, der Krieg scheint so weit weg, und dennoch verfolgt uns unsere Situation. Ich schäme mich, für meinen Leichtsinn in Deutschland und auch dafür, dass mein Vater dich ausgenutzt hat, um mich zu retten. Außerdem habe ich die Kameraden, die Mitstreiter für ein besseres Deutschland zurückgelassen. Die halten für ihre Überzeugungen ihren Kopf hin. Ich habe meine Haut gerettet – sicher nicht ganz freiwillig.“
Beide beweinten wir unser Schicksal und entwickelten langsam neue Hoffnung, in Brasilien zur Ruhe zu kommen. Vielleicht wird uns das Schiff dort hinbringen.
Lautes Klopfen an der Tür schreckte uns auf. Felipe trat ein und sah ärgerlich aus. Er sprach direkt Ferdinand an: „Du hast in dieser Nacht ziemliches Unheil angerichtet. Jetzt vermuten verschiedene Menschen, dass ihr ein Schiff nach Brasilien sucht. Hast du dir eingebildet, mit deinem deutschen Englisch nicht aufzufallen? Ich muss jetzt zusehen, nicht selbst in die Schusslinie zu geraten. Schließlich beherbergen wir euch und haben euch nicht der Behörde gemeldet. Wir leben hier auf einer Insel, da kennt fast jeder jeden.“
Ferdi zeigte tiefe Reue und entschuldigte sich.
„Ich war so verzweifelt und habe leider nicht genug nachgedacht. Sollten wir uns selbst den Behörden stellen?“
„Nein, ich muss jetzt nachdenken und werde in den Hafen gehen. Ihr rührt euch bitte nicht von der Stelle!“
Das saß. Jetzt nahm die Enttäuschung depressive Züge an. Besonders Ferdinand zermürbte sich für seinen Leichtsinn. Rückblickend fand er seinen Hafenrundgang für unverzeihlich. Rena brachte uns das Frühstück aufs Zimmer. Sie gab sich Mühe, uns zu beruhigen.
„Felipe hat gute Freunde, wir werden sehen, welche Möglichkeit er findet.“
Gegen Mittag kam ihr Mann zurück. Er besprach sich lange mit Rena. Endlich kamen sie in unser Zimmer und erklärten uns die weiteren Schritte.
„Übermorgen legt ein Schiff hier an, dass nach Brasilien weiterfährt. Ob ihr als Gäste akzeptiert werdet, können wir erst herausfinden, wenn das Schiff hier ist. Ein Freund von mir wird es dennoch per Funk versuchen. Doch Funk kann auch abgehört werden. So lange könnt ihr hier aber nicht ohne Gefahr für uns alle bleiben. Ich habe für euch eine kurzzeitige Unterkunft aufgetrieben. Es ist ein altes Haus an einem einsamen Strand. Dieser Strand ist nur per Boot zu erreichen. Ich habe jemanden organisiert, der euch dorthin bringt. Packt jetzt eure Sachen, ich begleite euch zu Fuß zum Strand, an dem ihr abgeholt werdet. Zieht euch bitte so an, dass ihr zum Boot durchs Wasser waten könnt. Euer Gepäck holt hier gleich jemand ab und bringt es zum Boot. Wie viel Geld habt ihr, um den Bootsfahrer, den Hausbesitzer und schließlich die Bestechung des Kapitäns und die Überfahrt zu bezahlen?“
Da die Geldübergabe auf dem letzten Schiff nicht mehr zustande kam, besaßen wir noch ausreichend Geld.
„Was glaubt ihr, wie viel wir bezahlen müssen? Auch ihr bekommt noch Geld, für alles, was ihr für und getan habt. Wir haben noch etwa fünfhundert Dollar.“
„Ok, damit müssten wir auskommen. Ich bezahle vorab das Boot und die Unterkunft für das Strandhaus. Lebensmittel beschaffen wir euch, damit ihr dort nicht verhungert. Am besten verhandeln auch meine Freunde für euch mit dem Schiffskapitän. Wenn ich mehr weiß, komme ich zu euch. Dann können wir abrechnen. Wir müssen auf Umwegen zum Strand, außerhalb der Stadt.“
Von Rena verabschiedeten wir uns herzlich und bezahlten noch für unsere bisherige Unterkunft und Verpflegung.
„Danke für alles!“
„Schreibt uns mal, wenn ihr gelandet seid. Ich wünsche euch alles Gute!“ Damit verließ Rena den Raum.
Über steile Pfade außerhalb der Stadt führte Felipe uns zum Strand. Beim ersten Blick aufs Meer sahen wir ein Boot im seichten Wasser dümpeln. Unten angekommen erkannten wir einen Mann in kurzen Hosen. Der übernahm uns und brachte uns zu unserem Exil. Felipe stieg den Pfad wieder hinauf. Der Bootsmann sprach nur Portugiesisch. Am Ziel stellte er unser Gepäck und die von Felipe besorgte Verpflegung auf den trockenen Strand. Er zeigte auf das einzige Haus an diesem Küstenabschnitt. Danach winkte er uns zu und fuhr davon. Wir waren allein. Vorsichtig näherten wir uns dem alten, leicht verfallenen Gebäude. Es war ein kleines Haus mit einfachem Satteldach. Die Tür ließ sich öffnen, drinnen gab es zwei Räume, einen Wohn- und Küchenraum sowie ein Schlafzimmer. Ein Plumpsklo fanden wir im Außenbereich in einem Holzverschlag. Die folgende Zeit verbrachten wir damit, unser Gepäck und die Verpflegung ins Haus zu tragen. Felipe riet uns zuvor mehrfach, sich nicht zu viel am Strand zu zeigen.
„Achtet auf Schiffe und achtet auf den oberen Rand der Steilwand über euch. Es ist besser, wenn ihr nicht gesehen werdet.“
Jungverliebte träumen von einem solchen Urlaubsdomizil. Einsamer Strand, unzugänglich für andere, ein Bett für zwei und die notwendige Verpflegung. Niemand würde durch sie gestört, egal wie laut sie sich verhielten. Wir beide waren zwar ein junges Paar, unsere Liebe jedoch war eher durch äußere Umstände erzwungen. Wir lüfteten das Haus gründlich durch, ließen die frische Meeresluft herein und packten nur die notwendigsten Sachen aus. Der Atlantik warf seine Wellen an den Strand, das Dröhnen der tosenden Brandung drang durch die geöffneten Fenster ins Haus. Vor meiner Flucht sah ich noch nie das Meer, jetzt genoss ich dieses Brausen der Brandung, es entspannte mich. Das Meer vom Strand aus zu erleben war für mich nicht mit dem Meer, das ich auf dem Schiff kennenlernte, zu vergleichen. „Hier könnte ich Ferien verbringen“, rief ich und streckte meine Arme in die Höhe. Mein Mann konnte mich nicht verstehen, eine große Welle schlug laut auf den glatten Sand. Wir beschlossen einige Vorsichtsmaßnahmen, bevor wir zum Strand gingen. Wenn wir das Haus verließen, wollten wir unseren Kopf bedecken, um von oben nicht erkannt zu werden. Außerdem nahmen wir uns vor, vom Fenster aus aufs Meer zu blicken, ob ein Schiff zu sehen sei. Diese Maßnahmen ermöglichten kein entspanntes Liebesleben. Es fiel uns schwer, sich ständig im Haus aufzuhalten. Der Strand und diese einmalige Lage lockten nach draußen. Erst in der Dämmerung wagten wir uns hinaus und setzten uns ans Meer.
Ferdinand dachte weiterhin daran, heimlich auf der Insel zu bleiben, sich zu verstecken. Ich hielt es für notwendig, ihn davon abzubringen.
„Wie stellst du dir das vor? Hier können wir nicht lange bleiben. Sollen wir uns in den Wäldern verstecken und von Beeren leben? Ich glaubte nicht daran, illegal auf der Insel leben zu können.“
Ferdinand verabschiedete sich langsam von seinen Träumen und Illusionen. Realismus und Ernüchterung kehrte ein.
„Wir müssen uns den Behörden stellen, oder von hier verschwinden.“
Als wir ins Haus zurückkamen, stellten wir fest, dass einige Lebensmittel fehlten. Irgendjemand musste sich hier auf diesem kleinen Stück Land unterhalb der Felsen versteckt halten. Im Dunkeln sahen wir keine Fußspuren. Ängstlich verriegelten wir Tür und Fenster. Wer könnte sich hier aufhalten? Versucht hier jemand, zu überleben, so wie Ferdinand es sich vorstelle?
Lena hielt inne, sie glaubte, es reicht für diesen Tag, der Wein war inzwischen ausgetrunken.
„Ich fand es spannend.“ Luc gefiel es. „Wann geht es weiter?“
„Morgen machen wir weiter.“
„Ich bin interessiert, wie es weitergeht.“ Luc sprach und Chris nickte dazu.
Lena hatte noch ein anderes Anliegen.
„Christian, willst du Anna und Viktor Saht morgen früh anrufen? Mit ihrer Hilfe habe ich dich geboren. Wir sind es ihnen schuldig, informiert zu werden. Jetzt ist es dort schon mitten in der Nacht. Ich halte es für besser, wenn du zuerst mit ihnen sprichst, bevor sie mit mir reden. Sie müssen zuerst darauf vorbereitet werden.“