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Die Familiensaga begleitet die bewegten Leben von Christian, Jan und Wolff. Drachenweide ist pralles Leben in drei Bänden: Wein, Liebe, Sexualität, Engstirnigkeit und Humor. Band III: Die Freunde haben sich nach Jahrzehnten wiedergefunden. Bei einem Treffen werden sie von ihren Frauen begleitet. Während die Freunde über alte Zeiten reden, lernen sich ihre Frauen kennen und beschnuppern sich. Trotz aller Unterschiede finden sie zueinander. Selbstbewusst treten sie in den Vordergrund. Plötzliche Überraschungen bringen Veränderungen. Unerwartet entwickeln die Frauen gemeinsam einen Plan. "Wo bleiben wir Männer dabei?" Orte: Mendoza, Orte im Saarland und Baden-Württemberg, Schweizer Voralpen, Hunsrück und Schwäbische Alb.
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Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2024
Frank Nüsken wurde in Wuppertal geboren, prägende Jahre seiner Kindheit verbrachte er im Bayerischen Wald. Während seiner Jugend in Oberschwaben begann er zu malen. In der Musikband Sondos trat er als Gitarrist und Sänger auf. In Ulm war er aktives Mitglied im Ulmer Weltladen. Hier erhielt er Impulse, die sein Denken veränderten. Seit vielen Jahren lebt er am südlichen Ausläufer des Hunsrücks.
Als Betriebswirt schulte er Auszubildende und Außendienstmitarbeiter eines Großunternehmens. Anschließend arbeitete er als selbstständiger Seminarleiter für Kommunikation. Als Coach begleitete er Veränderungsprozesse in Unternehmen. Arbeitseinsätze in Kolumbien und in Äthiopien veränderten seine Sichtweise auf unsere Welt. Gewonnene Erkenntnisse zu Ursachen und Wirkungen beeinflussen seine Arbeit als Romanautor.
„Starke Frauen“ widme ich Frauen, denen ihre Menschenrechte verwehrt werden, Frauen, die den Mut aufbringen, aufzustehen, um ihre Stimme gegen Unterdrückung und Unrecht zu erheben, aber auch Frauen, die sich für Natur, den Erhalt unserer Erde, für Frieden und Freiheit einsetzen.
Mein besonderer Dank gilt allen, die Drachenweide während der Entwicklung gelesen haben. Ihre Rückmeldungen, Anregungen und konstruktiven Beiträge waren für mich wertvoll.
Frank Nüsken
Drachenweide
Band III
Starke Frauen
Roman
© 2024 Frank Nüsken
Umschlag Gestaltung: Frank Nüsken
Foto Zweig: „Mein schöner Garten“
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.
Menschen bleiben jung, solange sie ihre Träume verfolgen, erst, wenn sie ihre Träume begraben, altern sie.
1996 bis 2019
Mendoza, Argentinien Januar 1996
Die Winzerin Sophia Caliz Zúñiga saß gemeinsam mit ihrer Mutter Elena Caliz Delcampo, genannt Lena, auf der Terrasse ihres Weinguts. Lena wischte zum dritten Mal ihre Brille.
„In drei Stunden müsste das Flugzeug ankommen. Wann wollt ihr losfahren?“
„Wir Zeit genug haben. Es reicht, wir eine Stunde vor Ankunft des Fliegers fahren.“ Sophia spürte die Unruhe ihrer Mutter. „Eine halbe Stunde wir benötigen für Fahrt zum Flughafen. Bis wir einen Parkplatz gefunden und an Ankunftsstelle sind, brauchen eine weitere Viertelstunde. Da wir haben noch ein Sicherheitspolster. Außerdem müssen Christian und Wolff am Transportband warten auf ihre Koffer und auch noch die Passkontrolle. Bist du aufgeregt?“
„Ja, ein bisschen. Wo bleibt Heide so lange? Sie wollte doch rechtzeitig kommen?“ Lena war die Anspannung anzumerken.
„Hier bin ich.“ Dr. Heide Sager kam mit breitem Lächeln um die Hausecke. Sie bewohnte derzeit das Gästehaus der Bodega.
Die deutsche Wissenschaftlerin vom Weininstitut der Universität Davis in Kalifornien lebte während ihrer Projektarbeit hier auf dem Weingut. Ohne Heide wäre die Aufregung um die Ankunft der Gäste aus Deutschland nicht entstanden.
„Heide, setz dich.“ Lena versuchte durch Reden ihre Anspannung abzubauen. „Was hatten wir für ein Glück, dass ausgerechnet du zu uns gekommen bist. Ich glaube nicht, dass mein Sohn Christian noch einmal hierher gereist wäre.“
„Wann war er zuletzt hier?“
„Er war nur einmal hier, 1975, gemeinsam mit meinem Onkel Luc. Seither warte ich darauf, ihn wiederzusehen.“
„Es war doch eher Sophia, die den Impuls gab. Sie fragte mich, ob ich Deutsche sei. So kamen wir auf meinen Freund Wolff.“
„Ich glaube immer noch nicht an Zufälle. Ausgerechnet dein Freund in Deutschland verbrachte seine Jugend in Oberschwaben, in der gleichen Schulklasse wie mein Sohn Christian.“
„Ich freue mich auf Wolff, vor mehr als einem Jahr sah ich ihn zuletzt. Seither war ich nicht mehr in Deutschland.“ Heide zeigte ihre Vorfreude durch erneutes breites Grinsen.
Sophias elfjähriger Sohn Santino kam mit einem Freund ins Blickfeld der Erwachsenen. Sie spielten auf der Bodega zwischen Schuppen, Geräten und Rebstöcken.
„Santino, vas al aeropuerto. Podemos dejar a tu amigo en casa por el camino. Tienes que ayudar a Heide a empujar el coche.“ Sophia übersetzte auch umgehend für Heide. „Santino, du mit fährst Flughafen. Freund bringen zu Hause absetzten. Ihr müsst helfen Heide, schieben Auto.“
„Está bien, mamá, estamos en los viejos barriles.“ Damit verschwanden sie wieder.
„Was hat er geantwortet?“ Heide mochte den Jungen gern.
„Er meinte ja Mama, wir spielen hinten bei den alten Fässern,“ übersetzte Lena.
„Sophia, ich freue mich über dein Deutsch, es wird täglich besser.“
„Danke Heide, ihr ja nur noch sprecht Deutsch mit mir.“
Wolff Richter, Agrar-Wissenschaftler und Dozent an der Uni Hohenheim, saß neben dem Finanzbeamten Christian Dechamps im Flugzeug nach Buenos Aires. Die beiden Jugendfreunde hatten sich 1964 aus den Augen verloren. Jeder lebte sein eigenes Leben, bis Heide vor wenigen Monaten den Kontakt herstellte.
Wolff war es gelungen, Chris zu überzeugen, nach zwanzig Jahren erneut seine Mutter und seine Halbschwester zu besuchen. Jetzt flogen sie gemeinsam.
„Chris, bitte erzähle mir mehr zu deiner Geschichte. Ich weiß zu wenig von Dir. Wir haben eine Wissenslücke von mehr als dreißig Jahren. Zeit genug haben wir, um uns wieder neu kennenzulernen.“
In der Sitzreihe mit drei Plätzen nahm Christian den Fensterplatz ein. Wolff saß in der Mitte und auf dem Sitzplatz am Gang saß eine ältere Dame, sie nickte den beiden beim Belegen der Plätze zu und las danach viel oder schlief.
Zunächst tauschten die Freunde Erinnerungen Ihrer Kindheit und Jugend in Buchau am Federsee aus. Sie sprachen über Erlebnisse aus Schulzeit, Fußballverein und Pfadfinderlager. Wolffs und Christians Erinnerungen unterschieden sich. Chris erinnerte sich an den schwankenden Federseesteg, der im vorderen Bereich schmal verlief und nur auf der rechten Seite ein Geländer hatte.
„Weißt du noch, wie wir den Steg ins Schwanken brachten, meist, wenn Fremde oder Kurgäste dort unterwegs waren. Wie eine Schlange bewegte sich der Steg über mindestens zwanzig Meter im Moor. Die Leute krallten sich ans Geländer. Männer schimpften und Frauen kreischten.“
Wolff grinste. „Ja, ich geriet einmal mit dem Vorderreifen meines Fahrrads zwischen die Bretter, die damals noch längs verlegt waren, und landete mit dem Kopf auf dem Steg.“
Als alle Jugenderlebnisse ausgetauscht waren, wurde es ruhiger zwischen ihnen. Jeder hing seinen Gedanken nach, Christian überlegte wie er mit seiner Mutter Lena zurechtkommen würde. In seinem tiefsten Inneren fühlte er die Kränkung, ihn kurz nach seiner Geburt allein gelassen zu haben. Vielleicht können wir darüber noch einmal sprechen. Erneut dachte er dran, dass damals andere Zeiten herrschten, dass er sich in diese Situation wohl nicht hineinversetzen könne. Aber wollte er das akzeptieren? Gefiel er sich darin, der Gekränkte zu sein?
Wolff dachte ans Wiedersehen mit Heide. Was hat sie so plötzlich bewegt, mich wiedersehen zu wollen? Sie schrieb am Ende ihrer E-Mail, es dunkelt schon. Wolff summte die jahrhundertealte Volksweise aus der Minnezeit, Es dunkelt schon in der Heide. Er grinste beim Gedanken an ihren vertrauten Code. Wolff stellte sich Heide bildhaft vor, wie sie zuletzt in Deutschland war. Es könnte schon ein Jahr her sein. Hatte sie inzwischen eine andere Beziehung begonnen? Er freute sich auf sie. Auch auf die Landschaft war er gespannt, Heide bezeichnete sie als grandios.
Das gleichmäßige Fluggeräusch ließ die alten und neuen Freunde eindämmern. Beide schreckten auf, als eine Mahlzeit aufgetragen wurde. Das Gespräch plätscherte so dahin über das Essen, die Getränke, die Sicht auf den Atlantik, und andere Belanglosigkeiten. Jeder wartete auch auf die Möglichkeit, zur Toilette gehen zu können. Nach dem Essen drängte es viele Fluggäste zu den Flugzeugtoiletten. Gerade wollte Wolff aufstehen, da kam ihm seine Nachbarin rechts zuvor.
Um sich abzulenken suchte er das Gespräch mit Chris. „Du wurdest adoptiert und hieltest deine Mutter für tot. Wie war das für dich und wie ist es heute?“
Chris überlegte, bevor er antwortete. Beschäftigt er sich doch gerade selbst mit diesen Themen.
„Meine Mutter hatte sich in einen Fremdarbeiter verliebt. Er hieß Lev, er wurde mein Vater. Das war damals als Rassenschande streng verboten. Die Sache flog auf.“
Chris fasste die lange Geschichte in groben Ereignissen zusammen. „Drei Jahrzehnte hat keiner mehr was von ihr gehört. Als wir 1975 in Argentinien waren, erzählte sie uns diese Zusammenhänge und warum sie sich nicht melden konnte.“ Chris setzte zu einer Atempause an.
„Ganz schön abenteuerlich, klingt das“, reagierte Wolff.
„Ja, dabei ist das nur die Kurzform. Vielleicht erzählt sie dir Details, wenn wir dort sind. Bevor mein GroßonkelLuc zu dieser Fluchthilfe gezwungen wurde, schaffte er mich mit seinem Auto nach Buchau. Seine Schwester, Paula Hard und ihr Mann adoptierten mich, weil keiner wusste, ob Lena überhaupt noch lebte. Die Zeit in Buchau kennst du.“
Wolffs Nachbarin nahm wieder Platz, die Toilettenanzeige signalisierte Frei.
„Lass mich vor, es ist höchste Zeit.“ Christian preschte vor und quetschte sich an Wolff vorbei. Die Dame stand auf und ließ ihn durch.
„Langer Flug“, begann sie ein Gespräch mit Wolff.
„Ja“, Wolff sah sie an, „ich dachte, sie sprechen kein Deutsch, weil sie ein spanisches Buch lesen.“
„Ich habe zwei Muttersprachen, oder genauer, eine Mutter- und eine Vatersprache.“
„Sind sie Argentinierin?“
Chris kam deutlich entspannter zurück. Jetzt wollte Wolff endlich zur Toilette.
„Wir können danach weitersprechen.“ Die Dame ließ ihn vorbei. Als auch er wieder zurückkam, beantwortete sie Wolffs Frage.
„Ja ich bin Argentinierin, mein Name ist Mia, meine Mutter war Argentinierin und mein Vater Deutscher.“
„Ich heiße Wolff, wie das Tier. Ich reise zum ersten Mal nach Argentinien. Die Mutter meines Freundes lebt dort.“
Jetzt sah sich Chris gefordert, auch zu sprechen. „Mein Name ist Christian oder einfach nur Chris. Meine Mutter war lange verschollen, ich besuche sie jetzt zum zweiten Mal.“
Mia nickte freundlich und widmete sich wieder ihrem Buch.
Wolff knüpfte an ihr vorheriges Gespräch an. „Wann hast du denn erfahren, dass du adoptiert wurdest?“
„So ungefähr mit sieben oder acht Jahren. Als Kind war mir das damals egal. Das Bewusstsein dazu entwickelte sich erst später, während meines ersten Besuchs bei meinen Großonkel Luc und den Bauern im Saarland, bei denen ich zur Welt kam. Da war ich bereits sechzehn und genoss gerade dieses Internat in Österreich.“
„Warum wurdest du aufs Internat geschickt? Freiwillig bist du doch sicher nicht dahin gegangen – denk ich mir.“
„Nein, mein Vater, also Alfred Hard, wollte das unbedingt. Er erwartete auch noch, dass ich für dieses Privileg dankbar zu sein habe.“
Wolff bemerkte Christians Tonfall während er über seine Vergangenheit sprach. Wolff empfand nicht nur beim Thema Internat einen Hauch von Vorwurf, sondern auch wie er von seiner Mutter sprach.
„Mich interessiert noch, wie du persönlich, als zutiefst Betroffener, mit der Geschichte deiner Mutter, umgehst. Du kennst inzwischen die Details, aber wie gehst du emotional damit um. Welche Gefühle bewegen dich? – Bin ich dir zu aufdringlich?“
„Nein, ist ok. Es beschäftigt mich erneut, seit ich mich entschlossen habe, mit dir gemeinsam nach Argentinien zu fliegen. Ich fühle mich, so glaube ich, gekränkt. Sie hat mich als Baby zurückgelassen, um den Mann, der mein Vater ist, aufzuspüren. Sie hätte ja auch anders handeln können. Wäre sie geblieben, wäre wahrscheinlich nichts passiert. Sie hätte sich doch denken können, was mit einem Fremdarbeiter geschieht.“
„Ich verstehe deinen Groll.“ Wolff zögerte weiterzusprechen. „Ich vermute, dass sie sich später, als es zu spät war, das auch gefragt hat. Wir können uns heute diese Zeit schlecht vorstellen. Wir konnten seit unserer Kindheit alles tun oder sagen, ohne dafür mit dem Leben bezahlen zu müssen. Da kann es leicht geschehen, eine falsche Entscheidung zu treffen. Vor allem, wenn man noch jung ist. Meinst Du, ich kann das deine Mutter fragen, wenn wir dort sind?“
Sie hatten die Stewardess überhört, die jetzt erneut nachfragte, ob sie einen Wunsch hätten. Sie bestellten Kaffee.
„Weiß ich nicht, aber ich denke schon.“
„Wäre es dir lieber gewesen, deine Mutter wäre damals von den Nazis umgebracht worden, oder du hättest einfach nichts mehr von ihr gehört und musstest die Ermordung vermuten?“
Chris sah sich aus der Reserve gelockt. „Manchmal hatte ich solche Gedanken, ich weiß, wie ungerecht und dumm das ist.“
„Ist es auch ein wenig egoistisch?“
Christian schnaubte, jetzt war ein Punkt erreicht, wo er sich gezwungen sah, über sich selbst nachzudenken. Hier im Flugzeug konnte er nicht ausweichen.
„Ich denke darüber nach, vielleicht ist es so.“ Das Gespräch der beiden geriet ins Stocken. „Ich denke, mit meiner Mutter bin ich beim Besuch in den Siebzigerjahren nicht zurechtgekommen. Möglich, dass ich eine falsche Erwartung hatte. Ich glaubte, sie sei wie ich, schließlich bin ich ihr Sohn.“ „Hm.“ Wolff sah Chris direkt an. „Du hast zwar einen Teil ihrer Gene geerbt, aber geprägt wurdest du von deinen Buchauer Eltern. Vielleicht kennst du die ewige Diskussion unter den Wissenschaftlern, was mehr Einfluss auf die Kinder hat, die Gene oder die Prägung durch die Bezugspersonen. Versuche, bei unserem Besuch herauszufinden, welche Eigenschaften du von deiner Mutter hast. Ich wette, es gibt welche, wenn du danach suchst.“
Christian nickte nachdenklich mit dem Kopf. Ihr Kaffee war inzwischen abgekühlt. Der lasche und fast kalte Kaffee lockerte ihre Stimmung. Sie lachten darüber. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte, weiterhin über dem Atlantik zu fliegen.
„Ich weiß nicht, wie ich gerade jetzt darauf komme, ich dachte daran, wie du bei unseren Fahrten als Pfadfinder gekocht hast. Damals hielten wir dich für den Weltmeister im Schwitzen.“ Beide lachten herzhaft. „Du weißt sicher, dass Argentinien viele große Rinderherden hat. Inzwischen kann man auch bei uns in Deutschland, Fleisch aus Argentinien kaufen. Verstehst du etwas vom Fleisch grillen?“
„Ja, ich grille häufig bei uns im Garten. Im Saarland und Umgebung wird auch viel geschwenkt, kennst du das?“
„Nein, was ist schwenken?“
„Beim Schwenken steht der Rost nicht fest über dem Feuer. Er hängt an Ketten und wird schwebend über dem Feuer hin und her geschwenkt, selbstverständlich mit Fleisch belegt.“ Chris machte Schwenkbewegungen mit den Händen. „Das geht so weit, dass fertig gewürzte Fleischstücke als ‚Schwenker‘ beim Metzger gekauft werden können.“
„Überlege, ob du dich damit einbringen kannst. Sieh hin, wie es die Einheimischen machen, anschließend kannst du deine Methode vorführen.“
Je näher sie ihrem Ziel kamen, sprachen sie über Argentinien, seine Kultur, von der sie beide zu wenig wussten, und von der Geschichte der letzten Jahrzehnte.
„Ich verstehe nicht, weshalb meine Mutter so lange in Argentinien geblieben ist.“ Chris zeigte sich beleidigt. „Sie hätte auch nach dem Krieg, oder als ihre Odyssee endlich zu Ende war, nach Deutschland heimkehren können. Ich begreife nicht, weshalb man sich dafür entscheidet, in einem Land zu bleiben, dessen politische Systeme ständig wechseln, aber stets militärisch oder diktatorisch waren. Selbst nach den schrecklichen Erlebnissen des Militärputschs und dem Tod ihres Mannes ist sie geblieben.“
Wolff bemerkte, wie emotional dieses Thema für seinen Freund war, es klang, als wollte er nicht verstehen. Vermutlich empfand er nach wie vor die Kränkung durch seine Mutter, nicht zu ihm gekommen, sondern bei ihrer Familie in Mendoza geblieben zu sein.
„Hast du einmal überlegt, wie alt deine Mutter war, als sie Deutschland verlassen musste und welches Deutschland sie kannte? Ihre Zeit in Südamerika und speziell in Argentinien ist allein zeitlich dagegen länger. Und was sollte sie von einem Deutschland halten, dass den Militärs lieber deutsche Produkte exportierte als auf Menschenrechte zu pochen. Deutschland schaute weg, als selbst Deutsche von den Militärs verhaftet und gefoltert wurden. Lenas Leben fand in Argentinien statt, ihr Zuhause ist nicht mehr im Saarland.“
Christian Dechamps behielt trotzig sein beleidigtes Gesicht. „Entschuldige Chris, wenn ich so zu dir spreche. Ich wollte dich nicht kränken. Aber du bist nicht mehr der verlassene Säugling. Es geht dir gut, du hast alles, was du brauchst. Sprich mit deiner Mutter über dieses Thema. Das könnte euch beiden helfen.“
„Ist schon gut, ich habe noch nie so viel über diese Zusammenhänge gesprochen wie mit Dir. Danke für deine Gedanken. Ich werde darüber nachdenken.“
„Darf ich mich einmischen? Es geht mich nichts an, aber es ist nicht vermeidbar, dass ich euer Gespräch mitbekomme.“ Mia schien es wichtig, sich zum letzten Thema einzubringen. Bisher hielt sie sich heraus, als die beiden über Kultur und Fleisch in Argentinien spekulierten. Wolff nickte ihr ermunternd zu.
„Danke“, begann Mia, „entschuldigt, aber ich glaube, zum letzten Thema mitreden zu können. Ich lebte mit meinen Eltern viele Jahre in Deutschland, dort ging ich zur Schule und fühlte mich ganz normal heimisch. Als sich meine Eltern trennten, war ich bereits volljährig, ich begann mein eigenes Leben. Meine Mutter zog zurück in ihre Heimat. Als Kind lernte ich von meiner Mutter ihre Sprache, Spanisch. Dafür bin ich ihr heute noch dankbar. Nur wenn du eine Sprache beherrschst, kannst du dich in ein Volk, eine Gesellschaft hineinfühlen und integrieren. Als ich meine Mutter zum ersten Mal in Argentinien besuchte, fand ich eine andere Welt vor. Ich erlebte Menschen, die sich gegenseitig unterstützten, die kaum neidisch auf die Nachbarn schauten, sondern freundlich waren und ihr Leben akzeptierten. Damals wunderte ich mich. Die Leute ertrugen Diktaturen, Terrorregime, Wirtschaftskrisen, Staatspleiten und mehr. Klar, ich traf auch Leute, die ich hinterhältig, neidisch und missgünstig wahrnahm. Aber es waren wenige. Das vorherrschende Klima war herzlich. Erst als ich wieder in Deutschland war, begriff ich das so richtig. Während meiner drei Wochen in Argentinien fühlte ich mich so wohl, wie ich es in Deutschland nie erlebte. Mein Umfeld, meine Freunde und alle Menschen kamen mir gehässig, egoistisch und oberflächlich vor. Meine Freunde in Deutschland zeigen mir heute, wenn ich alle paar Jahre wieder dorthin reise, ihr neues Auto, ihre neuen Gartenbänke, ihre Wohnung und mehr. Mir fällt auf, es ist normal, man zeigt sich, was man hat. Es zählt, was man hat, nicht was man ist. Das mag euch übertrieben vorkommen. Nachdem ich das über mehrere Besuche und Jahre erlebte, entschloss ich mich, in Argentinien zu leben.“
Wolff fragte Mia, was er vielleicht jetzt schon wissen sollte über die Argentinier und das Land.
„Richtet euren Fokus nicht darauf, was auf den ersten Blick bei euch besser ist als bei uns, sondern darauf, was die Menschen ausmacht. Seht und hört genau hin, ihr werdet es merken.“
Chris fragte nach der Anredeform, er merkte, dass Mia die beiden sofort mit Vornamen und mit du angesprochen hatte. Mia gefiel diese Frage, weil sie genau das meinte.
„Du hast schon genau hingehört. Bei uns sprechen sich die Menschen vorwiegend mit du und Vornamen an.“ Sie überließ die Freunde wieder ihren eigenen Gesprächen und widmete sich dem spanischsprachigen Buch.
„Was genau wollte sie uns mit ihrem Einwand sagen?“ Chris beugte sich zu Wolff und flüsterte.
„Sie gab dir ihre Antwort auf die Frage, weshalb Lena nicht nach Deutschland zurückgekehrt ist.“
Alle in der Sitzreihe beschäftigten sich mit dem stummen Nachhall der Unterhaltung. Wolff besaß ein kleines Wörterbuch Deutsch – Spanisch. Er blätterte darin und suchte nach Begrüßungs- und Abschiedsformeln, nach bitte und danke. Auch wolle er auf Spanisch fragen können, ob jemand Englisch spricht. Chris schloss die Augen, er versuchte zu schlafen, schreckte jedoch hoch, als Wolff ihn anstieß. Es gab noch einmal einen kleinen Imbiss. Die Flugbegleiterinnen servierten Empanadas, gefüllte Teigtaschen mit Hackfleisch und anderen Inhalten, die sie nicht sofort identifizieren konnten. Wolff erkannte Oliven und Chris schmeckte gekochtes Ei. Er suchte, weitere Inhaltsstoffe in der Teigtasche, und sah nebenbei kauend aus dem Fenster. Fast erschreckt rief er, mit vollem Mund, grün, ich sehe grünen Wald. Den Wechsel von Meer zum Land hatten sie verpasst. Danach sprachen sie mehr über das, was unter ihnen zu sehen war, Wolff beugte sich öfter zu Chris hinüber, um hinaus zu sehen. Schließlich bat er Mia, ihn vorbeizulassen. Er vertrat sich die Beine, wollte sich bewegen und ging den Gang nach vorn. Im abgetrennten Bereich der Toiletten gab es Fenster, die ihm einen ungehinderten Blick auf die Landschaft boten. Er sah auf sein Flugticket, um sich über die Ankunftszeit zu informieren. Bewusst buchten sie einen Flug, der es ihnen erlaubte, noch am gleichen Tag nach Mendoza weiterzufliegen.
In Buenos Aires angekommen, verabschiedeten sie sich von Mia. Sie erreichten rechtzeitig den Anschlussflug. In Südamerika begann gerade der Sommer. Es blieb lange hell. Noch bei Tageslicht landeten sie in Mendoza. Bei niedrig stehender Abendsonne wirkten die riesigen Berge der Andenkordilleren wie eine dunkle Kulisse. Chris sah diese Berge bereits bei seiner ersten Reise im Sonnenlicht. Wolff fand die Wucht des riesigen Bergmassivs umwerfend. Umgehend suchte er nach dem Aconcagua. Es musste dieses Massiv sein, kein Berg rechts oder links ragte höher in den Abendhimmel. Hinter den schwarzen Bergsilhouetten stand ein goldgelber Himmel, der nach oben hin dunkler wurde. Hinter den Bergen müsste Chile liegen, überlegte er.
Noch in Deutschland hatte Wolff gelesen, dass die Region Mendoza auf rund siebenhundert Metern Höhe liegt. Der Aconcagua misst knapp siebentausend Meter. Die ebene, vom Weinanbau geprägte Landschaft, wird vom Gebirge um weit über sechstausend Höhenmetern überragt. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Wolff war gespannt, wie das bei vollem Tageslicht aussehen wird.
„Wie alt ist Lena, deine Mutter jetzt?“
„Oh, lass mich nachrechnen. Sie müsste jetzt fünfundsiebzig Jahre alt sein.“
„Dann wird sie uns nicht selbst abholen, denke ich.“ Wolff überlegte, ob sie von Heide abgeholt würden.
„Sicher wird uns Sophia abholen, denke ich. Als ich sie zuletzt sah, war sie siebzehn.“
Die Fernreisenden mussten lange auf ihre Koffer warten. Chris nervte die Warterei, er wirkte angespannt. Wolff wehrte sich dagegen, von seiner Stimmung angesteckt zu werden. Aber auch er war unsicher, wie sein Wiedersehen mit Heide verlaufen würde. Nach der Passkontrolle, die flott ablief, öffnete sich endlich die Ausgangstür vor ihnen. Unmittelbar gegenüber stand Heide mit einer jüngeren Frau und einem Jungen. Sie winkten sofort eifrig und hüpften dabei vor Freude. Sofort liefen sie auf die beiden Männer zu und umarmten sie heftig. Heide griff sich Wolff und Sophia warf sich Chris an den Hals. Das Kind blieb in Sophias Nähe. Chris war überrascht, damit hatte er nicht gerechnet. Sophia war seine Halbschwester, aber sie kannten sich bisher kaum. Plötzlich stieß Chris von hinten jemand an.
„Merkt ihr jetzt, was ich meinte?“ Es war Mia, sie saß im gleichen Flugzeug nach Mendoza, ohne dass die Freunde es bemerkten.
„Herzlich willkommen in Mendoza, Christian.“ Chris benötigte Zeit, bis er begriff, dass Sophia extra für seinen Besuch, Deutsch gelernt hatte.
Es dauerte länger als erwartet, bis die Damen den ihnen bereits bekannten Mann frei gaben. Sie konnten nicht anders als ihn lange zu drücken. Die frei gewordenen Arme schlangen sie jetzt um den Ankömmling, den sie noch nicht kannten.
„Heide hat mir von dir schon erzählt.“ Sophia sprach Deutsch. Heide umarmte Chris herzlich.
Santino, Sophias Sohn, war stolz einen Satz Deutsch auswendig gelernt zu haben: „Herzlich willkommen Onkel Christian.“ Und zu Wolff: Herzlich willkommen Wolff.“ Beide umarmten auch den elfjährigen Santino. Jeder bekam von ihm einen Schmatz auf die Backe. „Me alegro“, ergänzte er noch.
Sie verluden ihre Koffer im Auto und wollten einsteigen, doch Heide hielt sie zurück.
„Die Batterie ist schwach, wir müssen das Auto kurz anschieben.“
Wolff setzte an, zu erklären, dass sie erst die Zündung – Heide bremste ihn. „Wir benötigen dabei nur deine Kraft, Sophia weiß, was zu tun ist, sie macht das täglich. Diese Übung lockerte die Stimmung endgültig. Schließlich saßen alle im Auto und lachten.
„Könnt ihr die Batterie nicht laden oder laden lassen?“ Chris fand es lästig, sich täglich anschieben zu lassen.
„Ist Argentina“, meldete sich Sophia heiter.
„Werft eure Maßstäbe über Bord, hier wird geschoben“, ergänzte Heide.
Lena war zu Hause geblieben. Sie überließ den beiden jungen Frauen und Santino die Fahrt zum Flughafen. Mit fünfundsiebzig Jahren fühlte sie sich körperlich noch, und geistig voll leistungsfähig. Sie spürte ihre Anspannung. Wie würde sich Christian verändert haben? Sie wünschte sich, einen besseren Zugang zu ihm. Sie beschloss, ihn einfach zu überrumpeln und ihn zu drücken und zu umarmen. Er würde bestimmt locker werden. Als die Ankömmlinge vorfuhren, stand sie vor dem Haus und wartete.
Chris rechnete nach der stürmischen Begrüßung durch seine Schwester damit, auch von Lena entsprechend begrüßt zu werden. Er war dazu bereit. Als Lena ihn fest in ihre Arme schloss, tat er das Gleiche, er drückte seine Mutter fest und lange, es überraschte ihn selbst. Später bewertete er diese Begrüßung als den Moment, zu sich selbst gefunden und sich gegenüber seiner Mutter geöffnet zu haben. Alle lachten und freuten sich über das Wiedersehen. An diesem Abend saßen sie bis in die Nacht draußen auf der überdachten Terrasse, erzählten voneinander und lernten sich neu kennen.
„Hier fehlt doch noch jemand. Ist Alfredo auch hier?“, fragte Christian.
„Alfredo auf Seminar, Weinbau. Kommt in ein paar Tagen zurück.“
Zuvor wurden die Gepäckstücke auf die Schlafstätten der beiden verteilt. Wolff schlief bei Heide. Das wollte sie so und erschien allen logisch. Heide war auch die Erste, die aufstand und Wolffs Hand ergriff. „Wir gehen schlafen“, und an Wolff gerichtet, „es ist schon ganz dunkel geworden.“ Wolff stand bereitwillig auf und verschwand mit ihr.
Chris erhielt ein eigenes Zimmer. Doch bevor auch er ins Bett ging, unterhielten sie sich noch zu dritt. Anders als bei seinem ersten Besuch auf dem Weingut, verstand Sophia fast alles in Deutsch. Große Anteile sprach sie jetzt in der Sprache ihrer Mutter. Viele Stunden hatte sie investiert, um Deutsch zu lernen. Ihrer Mutter Lena war es wichtig geworden, ihr ihre Muttersprache beizubringen. Heide tat ein Übriges. Täglich übte sie mit Sophia. Viele Gespräche ihrer täglichen Arbeit nutzten sie als Lerneinheiten. Sie unterhielten sich auf Deutsch.
„Ich habe viel über uns beide nachgedacht.“ Lena sah Christian direkt an. „Ich will versuchen, dich besser zu verstehen und einen besseren Zugang zu dir zu bekommen. Lass uns damit morgen anfangen.“
„Genau darum wollte ich dich auch bitten. Wolff gab mir dazu heute einige Impulse. Ich freue mich darauf.“
„Ich will auch sein, richtige Schwester von dir, ich will dich Bruder richtig kennen.“
Christian berührten ihre Worte, er stand auf und drückte sie. „Meine Schwester, ja.“ Es war ein emotionsgeladener, aber freundlicher Abend. Mit dieser Stimmung gingen alle schlafen.
Heide nahm Wolff auf dem Weg ins Gästehaus der Bodega bereits fest in den Arm und kuschelte an ihm. Seit Tagen war sie aufgeregt vor Freude, ihn hier wieder zu sehen. Kaum im Gästehäuschen angekommen, konnten sie nicht schnell genug die Kleidung ablegen, um nach der Dunkelheit zu sehen. Nachdem das geglückt war, schliefen sie schnell ein.
Heide hielt sich bereits seit einigen Wochen zum wiederholten Mal auf diesem Weingut auf. Sie betreute das wissenschaftliche Projekt ihrer kalifornischen Universität, in der hiesigen Weinregion. Heide kümmerte sich außerdem um ein weiteres Projekt-Weingut in der Nähe. Während ihrer Aufenthalte wohnte sie bei Lena und Sophia.
In den folgenden Tagen sprach sie mit Wolff über ihre Arbeit. „Davis ist eine angenehme kalifornische Stadt. Die Uni lässt mir viele Spielräume.“
Bei ihrem Einsatz in der Weinregion Mendoza ging es um die Umstellung auf ökologischen Weinbau, Heides Spezialthema. Finanziert wurde das Forschungsprojekt von Weinbau Verbänden in USA und in Argentinien. Durch ihre guten Kontakte zum Verband gelang es Sophia, ihre Bodega als Projektbetrieb einzubringen. Im Laufe der Arbeit freundete Heide sich mit der jüngeren Winzerin an. Sie verstanden sich blendend.
„Manchmal fühle ich mich hier wie zu Hause und würde am liebsten hierbleiben.“
Wolff erinnerte sich an Heide bei ihrem letzten Besuch in Deutschland. Damals erlebte er sie als strebsam, geschäftstüchtig und an ihrer Karriere interessiert. Jetzt schien sie anders. War es diese Landschaft? Waren es diese Menschen hier?
„Was könntest du denn hier tun? Gibt es denn hier wissenschaftliche Möglichkeiten für dich?“
„Ich habe mich darüber noch nicht informiert. Es ist einfach ein Gefühl, was mich beschäftigt.“
„Na da bin ich gespannt, was daraus wird.“ Damit beendeten sie vorerst dieses Thema.
Sie schlenderten durch das Weingut, nebenbei zeigte Heide erste Ergebnisse ihrer Arbeit. „Es ist nicht ganz einfach hier. Diese Ebene unterscheidet sich deutlich von europäischen Weinregionen. Wir befinden uns hier genau genommen in einer kargen Steppe, die wird hier Monte genannt.“
„Steppe?“ Wolff sah sich um, sein Blick verharrte am Massiv des Aconcagua. „Kommt von diesem Eis kein Wasser hier herunter?“
„Ja, nur durch das Wasser aus den Gletschern des Aconcagua wirkt diese Region wie eine Oase. Es regnet hier selten, also wird Wasser aus dem Rio Mendoza, dem Río Tunuyán und anderen Wasserläufen zum Bewässern genutzt. Zwischen den Winden und Wolken des Pazifiks von Westen und dem Weinbaugebiet hier, steht die bis zu siebentausend Meter hohe Wand der Anden.“
Wolff hörte interessiert zu. Er beschäftigt sich selbst beruflich mit Auswirkungen von Umwelt und Klima auf Böden.
„Das System der Bewässerung wurde von indigenen Ureinwohnern geschaffen. Als die Europäer hier ankamen, nutzte der Stamm der Huarpe diese Bewässerung. Sie ist die Voraussetzung für die grüne Oase hier.“
„Wie ist das in Kalifornien, wo du sonst arbeitest?“
„Ich arbeite vorwiegend im Anbaugebiet bei Sonoma, das liegt nördlich von San Francisco hinter einer Hügelkette. Der Weinbau findet zwischen dieser Hügelkette und den Rocky Mountains statt. Die Wettereinflüsse, die vom Pazifik kommen, können die Hügel weitgehend überwinden. Es regnet dort aber auch selten.
„Zurück hierher.“ Wolff begann sich für Weinbau zu interessieren. „Mit fällt auf, dass die Reihen der Weinreben weitgehend in Richtung Westen, zu den Bergen hin ausgerichtet sind. Hat das einen Grund?“
„Wenn es hier regnet, kommt das Wetter meist von Süden, aus Patagonien. Die Winde, die mit dem Regen kommen, sind oft heftig, deshalb wurden die Reben quer zur Windrichtung angeordnet. Außen, auf der Wetterseite, stehen die robusteren Sorten.“
Wolff blickte auf diese Landschaft. „Wäre hier nicht diese gigantische Bergkulisse, würde es langweilig aussehen.“
„Sag das nur nicht, den Einheimischen. Es ist nicht anders, als bei anderen landwirtschaftlichen Anbauflächen. Sieh dir Obstplantagen in Südtirol an, da kaschieren auch die Berge das Bild oder einfach nur Getreidefelder, die riesige Flächen einfarbig wirken lassen. Hier im Weinbau ist es zumindest grün und teilweise auch bunt. Schließlich gedeihen hier auch Blumen.“
„Was glaubst Du, wie lange die Gletscher noch Wasser hergeben?“
„Ja, ja, ich kenne deine Bedenken“, reagierte Heide genervt. „Die Gletscher schmelzen, dafür sind die Winzer hier nicht verantwortlich. In naher Zukunft wird es Verteilungskämpfe ums Wasser geben. Lass es uns jetzt noch so genießen, wie es ist.“
Die folgenden Tage waren mit Arbeiten, Unterhaltungen, Weinproben und kleinen Ausflügen in die Stadt und die Region Mendoza ausgefüllt. An einem Nachmittag saßen Lena, Sophia und Christian zusammen. Sophias Sohn Santino tauchte ab und zu auf, beschäftigte sich aber mit anderen Dingen. Christian ergriff die Gelegenheit, sein Anliegen ohne Vorwurf mit Lena zu besprechen.
„Wir wollten uns über unser gegenseitiges Verständnis unterhalten. Ich möchte jetzt gerne damit beginnen. Ist das für euch in Ordnung?“
„Ja, das ist gut. Wir sind unter uns. Kann Sophia dabei sein?“
„Ja, gerne.“ Chris gefiel seine Schwester, er genoss ihre Anwesenheit. Seine Hemmungen waren verflogen. Das neue Gefühl, eine Schwester zu haben, empfand er wohltuend. Langsam begriff er, dass alle bisherigen Widerstände von seiner eigenen gekränkten Grundhaltung abhingen.
„Im Flugzeug machte mir Wolff bewusst, dass ich mein Leben lang darüber beleidigt war, im Stich gelassen worden zu sein.“ Chris sah Lena freundlich an. „Er meinte, ich sei kein verlassenes Baby mehr, sondern ein erwachsener Mann. Und dazu mischte sich auch noch unsere Sitznachbarin Mia ein.“
„Ich sah Mia Flughafen“, fiel Sophia ein, „sie war mit euch Flug?“
„Ja, sie saß neben uns bis Buenos Aires. Sie machte mir den wesentlichen Unterschied zwischen Deutschland und Argentinien klar.“
„Wir kennen Mia“, ergänzte Lena, „sie besucht uns manchmal. Dabei unterhalten wir uns in Deutsch.“
„Gut, solange ich nichts von dir wusste, als deinen Namen und das Wenige, was mir erzählt wurde, war ich zufrieden. Alle hielten dich für tot. Als Kind nahm ich das so hin. Als Jugendlicher erzählten mir Anna und Viktor Saht Details von dir und von Levs Verhaftung. Und auch wie du dich auf den Weg machtest, ihn zu finden. Von da an kamen mir Zweifel, wie wichtig ich dir gewesen sein konnte, wenn du mich zurücklässt, um einen Mann zu finden, der kaum Chancen hatte, zu überleben.“
„Ja, ich verstehe inzwischen gut, wie du dich fühlen musstest. Aus heutiger Sicht war mein Handeln damals überstürzt. Ich bitte dich um Verzeihung. Ich war 22 Jahre alt, verlor in diesem Jahr beide Eltern, war zum ersten Mal verliebt und ließ mich durch viele Horrormeldungen über die Handlungen der Behörden zur Eile treiben. Bitte vergib mir.“
Christian stand auf und nahm sie in die Arme: „Ich vergebe dir, jetzt kann ich es.“
Es flossen ein paar Tränen, zu denen Sophia mit beitrug. Lena nahm den Gesprächsfaden wieder auf.
„Hinzu kamen die Überlegungen, was wäre, wenn Lev gefoltert würde, würde er zugeben, mit mir geschlafen zu haben? Ich weiß nicht, was ein Mensch unter Folter alles sagen kann. Wäre das der Fall gewesen, wäre es schnell herausgekommen, dass du sein Kind bist. Für solche Kinder bestanden damals folgende Möglichkeiten: Sie hätten dich geholt und einfach umgebracht, oder sie hätten dich in ein Heim für vergleichbare Kinder mit sogenanntem unreinem Blut gesteckt, da hättest du langsam sterben können. Eventuell hätten dich die Nazis zur Adoption freigegeben, wenn damit Geld zu verdienen gewesen wäre. In allen Fällen säßen wir jetzt nicht zusammen. Ich war zu naiv, um zu begreifen, dass ich in eine Falle gelockt wurde. Vielleicht hätten wir einen anderen Weg gefunden, wenn ich geblieben wäre.“ Lena weinte erneut. „Jahre lang war ich verzweifelt über diese Situation. Ich hatte keine Chance, sie zu ändern.“
Für Christian war noch nicht alles geklärt. „Nachdem du 1975 für mich plötzlich wiederauftauchtest, schlich sich bei mir erneut eine Kränkung ein. Während des Fluges wusste ich noch nichts vom bevorstehenden Aufeinandertreffen mit dir. Luc ließ mich im Unklaren, ich konnte mich nicht vorbereiten. Ich mache Luc damit keinen Vorwurf, er wollte mich überraschen.
Nachdem ich deine leidensvolle Geschichte kennengelernt hatte, wollte ich nicht verstehen, weshalb du dich erst 30 Jahre später meldest. Es war wieder das gleiche Gefühl der Minderwertigkeit. Ich glaube, erst Wolff, der bis dahin nur wenige Informationen kannte, gab mir den wesentlichen Hinweis. Er war schon als Mitschüler so. Ich bin ab jetzt auf der Suche nach unseren Gemeinsamkeiten. Wahrscheinlich habe ich viele Verhaltensweisen von meinen Buchauer Adoptiveltern übernommen. Es fällt mir nicht leicht, die einfach über Bord zu werfen. Aber da ist auch noch Erbgut. Das will ich jetzt kennenlernen.“
Christian hatte für sich einen großen Schritt gemacht. Er hatte eine Last abgeworfen und fühlte sich erleichtert. Lena kämpfte erneut mit ihren Tränen, griff aber das Thema wieder auf.
„Mit Sophia unterhielt ich mich oft darüber, was ich tun könne, um dir näher zu kommen. Bei unserem ersten Treffen vor über zwanzig Jahren waren wir beide offenbar nicht in der Lage, diese Situation zu meistern. Ich fühlte mich schuldig, wusste nicht, wie ich mit Vorwürfen hätte umgehen sollen. Und dir muss es entsprechend gegangen sein. Da bekamst du plötzlich deine Mutter, die dir völlig fremd war. Ich bin so froh, dass du wieder hierhergekommen bist. Ich drohe alt zu werden. Ich liebe dich, meinen Sohn, den ich kaum kenne. Ich bin einverstanden, lass uns nach Gemeinsamkeiten suchen.“
Sophia stand auf, verschwand und kehrte mit Gläsern und einer Weinflasche zurück.
„Dieser Wein ist unser Bester, für dich lieber Bruder Christian aufgehoben.“
Die Geschwister entwickelten mit Freude ihre neu entdeckte Verwandtschaft. Chris der Biertrinker genoss Sophias Wein.
Heide und Wolff kamen von ihrem Rundgang zurück, sie gesellten sich zu den drei leicht Beschwipsten. Umgehend wurden sie zu Wein und Gespräch eingeladen. Die Stimmung war fröhlich. Chris lachte laut. Wolff und Chris erzählten Erlebnisse aus ihrer gemeinsamen Jugend. Ein Brüller war Christians Geschichte über die Duschen im Internat. Duschen war nur in Badehose erlaubt. Als ihn seine Mitschüler griffen und duschten, weil er stank, konnte er darüber nicht so lachen, wie jetzt.
Das gesellige Zusammensein zog sich bis in den Abend hinein. Der Frühsommer am Fuße der Anden umschmeichelte sie mit milden Temperaturen.
„Was haltet ihr davon, wir morgen alle einen Ausflug nach Las Cuevas.“ Heide mischte sich in Sophias Vorschlag ein.
„Darf ich erklären?“ Sophia nickte. „Es geht hinauf bis unterhalb des Aconcagua-Gletschers, die kleine Grenzsiedlung zu Chile liegt auf einer Höhe von über dreitausend Metern. Es ist ein Tagesausflug, wir benötigen ungefähr einen halben Tag hin und ebenso lange wieder zurück. Habt ihr Lust?“
Wolff und Chris äußerten sich begeistert. Wann jemals würden sie eine solche Gelegenheit wiederbekommen?
„Fahren wir mit dem Auto?“ Chris stellte sich bereits vor, das Auto die Serpentinen bergan zu schieben, falls der Motor zwischendurch ausgehen sollte.
„Nein, wir nehmen den Bus. Es fahren regelmäßig Busse über die Anden bis nach Santiago de Chile. Wir steigen in Mendoza ein.“
Sophia übernahm wieder. „Fahrt dauert vier Stunden. Wir müssen sein früh oben, treffen dort Rückfahrt Bus.“
Alfredos Vater erklärte sich bereit, während dieses Tages seinen Enkel Santino und die Bodega zu betreuen.
Sie erlebten eine lange und spektakuläre Busfahrt in die Anden. Die Strecke verlief nur bergauf, zuerst nach Norden später weiter nach Südwesten und ab Punta da Vacas genau nach Westen hinauf in die Kordillere. Wolff beobachtete neben der Straße eine streckenweise unterbrochene Eisenbahnlinie.
„Es gab immer mal wieder Konflikte zwischen den Nachbarländern. Das führte zur Stilllegung der Bahn“, erklärte Lena. „Wenige Jahre zuvor wurde unterhalb der alten Passhöhe, der Christo Redentor Tunnel eröffnet. Oben am alten Pass, dem Paso de la Cumbre, steht auf über 3.800 Metern Höhe, die Christusstatue.“
„Ist, Christo Redentor de los Andes, soll beide Völker erinnern an friedliches Zusammenleben.“ Sophia übernahm die Rolle der Reiseleiterin. „Leider wir haben nicht genügend Zeit, dort hochfahren.“
Während der gesamten Fahrt begleitet sie der Rio Mendoza, meist links neben der Straße.
Die Fahrt verlief durch den Parce Provincial Aconcagua, bis zum Grenzort Las Cuevas. Die fünf Reisenden wurden merklich stiller. Besonders in Serpentinen boten sich ihnen aus dieser Höhe grandiose Ausblicke. Der Weitblick ließ sie demütig werden. Schroff über ihnen ragte mächtig der Aconcagua mit seinem Gletscher in die Höhe. Der Bergriese ist der höchste Berg der gesamten südlichen Erdhalbkugel. In Las Cuevas mussten sie aussteigen. Der Bus fuhr weiter durch den Tunnel auf die Westseite des Passes hinunter nach Chile.
„Hier noch nicht halbe Höhe von Aconcagua.“ Anschließend verfiel Sophia aber ins Spanische.
Lena half mit Deutsch weiter. „Wenn wir die Köpfe nach oben strecken, können wir erahnen, welche Höhe der Berg hat. Über uns fließt aus dem Gletscher, der Rio de las Cuevas, er wird weiter im Tal zum Rio Mendoza.“
Alle reckten ihre Köpfe zum Aconcagua. Sie sahen graubraunen Bergrücken. Christian meinte, beim Atmen die dünne Luft bereits zu spüren.
„Jetzt alle blicken bitte nach Süden.“ Sophia streckte ihren Arm deutlich in die Richtung. „Ihr dort seht Serpentinen zu altem Pass? Oberhalb steht Christusstatue.“
„Leider wir haben nicht Zeit, dort hinaufzufahren. Wir müssen den nächsten Bus nehmen für Rückfahrt, kommt aus Chile.“
Während der Rückfahrt saßen Lena und Chris nebeneinander. „Wie gefällt dir diese Landschaft?“
„Ich bin hin und her gerissen. Es wechselt zwischen überwältigenden Glücksgefühlen bei Weitblick und bedrückender Kargheit und Enge unter Felswänden.“
„Ja, das verstehe ich, mir geht es hier ebenso. Mir fehlen die Wälder, die ich aus Deutschland noch kenne.“
„Ich habe verstanden, warum du hier in Argentinien geblieben bist.“ Chris schob seine Brille zurecht. „Aber weshalb bist du in den letzten zwanzig Jahren nicht einmal nach Deutschland zu Besuch gekommen?“ Chris wollte auch das noch verstehen. Lena wurde nachdenklich.
„Ich bin mir darüber selbst nicht im Klaren. In den letzten Jahrzehnten habe ich oft mit dem Gedanken gespielt, fand aber sofort wieder Hindernisse, warum ich zu dem jeweiligen Zeitpunkt nicht verreisen konnte. Mal war es die Militärjunta, ich hatte Angst, nicht mehr zurückkommen zu können, später war es das Verschwinden Manuels, ich fühlte mich für die Bodega verantwortlich, oder es war Sophia, die noch zu jung war, um sie allein zu lassen. Alles waren Gründe, die man mir auch als Ausreden vorhalten könnte. Hilf mir, es herauszufinden, warum ich innerlich nicht wollte.“ Chris war überrascht. Sie bat ihn, um Hilfe, ihre Gründe zu finden.
„Kann es sein, dass du Angst hattest, dich rechtfertigen zu müssen?“
„Vielleicht, es fällt mir schwer, zu vermitteln, wie es mir ging, als ich auf mich allein gestellt war, kaum Geld und ohne Orientierung. Rückblickend sieht manches einfacher aus, als es im Moment war. Aber, das klingt bereits nach einer Rechtfertigung.“
„Ja, ein wenig. Mir kommt es vor, als fändest du nicht die passenden Worte für die damalige Situation.“
„Mag sein. Ich möchte nicht in die alte Schleife meiner langen Flucht verfallen. Wir sind aber auf der Suche nach den Gründen, weshalb ich, als es mir vielleicht möglich gewesen wäre, nicht nach Deutschland kam.“
„Ich denke, es könnte auch an mir gelegen haben. Ich habe mich damals nicht offen genug gezeigt, war verschlossen und in meiner gekränkten Grundhaltung gefangen. Vor wenigen Tagen wäre es mir noch schwergefallen, das auszusprechen.“
„Da magst du recht haben.“ Lena warf einen Blick aus dem Fenster in die Weite. „Aber auch ich habe nicht genug zur Verständigung beitragen können. Ich glaube, ich habe Angst vor Deutschland. Diese Angst ist sicher unbegründet, aber vorhanden.“
„Du kannst diese Angst nur überwinden, wenn du einmal wieder hinfährst. Noch bist du körperlich und geistig in der Lage dazu.“
Chris wurde in einer Haarnadelkurve an sie gedrängt. Sie ließ es zu und hielt ihn fest.
„Ich überlege es mir.“ Lena schwieg und wirkte abwesend.
„Ich würde mich freuen, wenn du kämst. Auch über Sophia würde ich mich freuen.“
Lena zögerte, da kam ihrem Sohn der richtige Gedanke.
„Ich kenne eure finanziellen Mittel nicht, aber ich kenne meine. Ich erlebte in meinem Leben nicht nur Kränkungen. Ich hatte auch viel Glück. So erbte ich das Haus in Buchau,Lucs Anwesen und mehr. Ich habe Geld genug, um euch einzuladen und die Flug- und Reisekosten zu tragen. Es ist mir wichtig, dass ihr beide nach Deutschland kommt.“
Lena entspannte, hatte aber noch Hemmungen, ja zu sagen.