Der Igel im Meer - Sabine Geissel - E-Book

Der Igel im Meer E-Book

Sabine Geissel

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Beschreibung

Sommer 2010. Die Fußball-WM ist gerade vorbei, und in Karlsruhe steigt an diesem Wochenende "das Fest" - das größte Open-Air-Ereignis der Region. Sonntag­abend entdeckt ein Stadtstreicher die ausgeblutete Leiche des 28-jährigen Models Sofia Stern im Schlosspark. Ein brutaler Serienmörder, genannt der "Vampir", der in Karlsruhe und Freiburg bereits drei junge Frauen getötet hat, hat wieder zugeschlagen. So scheint es zumindest. Doch der war es nicht, wie sich sehr bald herausstellt.

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Sabine Geissel, 1965 in Kaiserslautern geboren, studierte Sozialarbeit in Freiburg, schrieb in Australien ihre Diplomarbeit und arbeitete danach in verschiedenen sozialen Einrichtungen. 1997 zog sie nach Karlsruhe, wo sie seit 1999 in einem Telekommunikationsunternehmen beschäftigt ist. Nach zahlreichen bislang unveröffentlichten Kurzgeschichten ist „Der Igel im Meer“ ihr erster Kriminalroman.

Sabine Geissel

Der Igel im Meer

Ein Karlsruhe-Krimi

Mit einem Nachwort von Hansgeorg Schmidt-Bergmann

Kleine Karlsruher Bibliothek

Wir danken der Stadt Karlsruhe

für die Unterstützung des Bandes.

Kleine Karlsruher Bibliothek

Band 7

Herausgegeben von Hansgeorg Schmidt-Bergmann & Thomas Lindemann

Titelbild: ONUK

Alle Rechte vorbehalten © 2016

Literarische Gesellschaft, Karlsruhe

PrinzMaxPalais · Karlstraße 10 · 76133 Karlsruhe

www.literaturmuseum.de

undInfo Verlag GmbH

www.infoverlag.de

ISBN 978-3-88190-894-8

Herr, es ist Zeit,

Der Sommer war sehr groß.

Leg’ deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

Und auf den Fluren lass’ die Winde los.

Befiehl’ den letzten Früchten voll zu sein,

Gib ihnen noch zwei südlichere Tage.

Dränge sie zur Vollendung hin, und jage

Die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

Und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern,

Wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke

Karlsruhe/Freiburg

Parkmorde noch immer ungeklärt

Auch eine Woche nach dem jüngsten Leichenfund im Freiburger Stadtgarten hat die Polizei offensichtlich noch keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Man geht mittlerweile davon aus, dass es sich in allen drei Fällen um denselben Täter handelt, der unter dem Namen „der Vampir“ in den letzten Wochen über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus traurige Berühmtheit erlangt hat.

Nachdem innerhalb von zwei Monaten nun schon die dritte junge Frau brutal ermordet wurde, appelliert Hauptkommissarin Beate Müller, Leiterin der überregionalen Sonderkommission, erneut an die Bevölkerung. Jeder kleinste Hinweis könnte wichtig sein. Bei der zu diesem Zweck eingerichteten Hotline seien zwar schon zahlreiche Anrufe eingegangen, bis jetzt sei allerdings jede Spur im Sand verlaufen.

Für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen, hat das Land Baden-Württemberg eine Belohnung von 10.000 Euro ausgesetzt.

Badische Neueste Nachrichten

vom 22. Juli 2010

1. Kapitel

Durch den dünnen Stoff seiner Shorts spürte er das Vibrieren des Handys auf seinem Oberschenkel. Es war ein simples Modell, so ein Billigteil, das sie einem im Mediamarkt für ein paar Euro hinterherwarfen. Es hatte noch nicht einmal eine Kamera. Wahrscheinlich würde es in seine Einzelteile zerfallen, sobald sein Zweck erfüllt war. Er hasste es fast so sehr, wie er den hasste, der es ihm in die Hand gedrückt hatte, damit er Tag und Nacht für ihn erreichbar war, bis ihr ‚Geschäft’ abgewickelt sein würde. Seitdem hatte er nicht gewagt, es abzuschalten und lud jede Nacht den Akku auf. Es widerte ihn an, die winzigen Bewegungen des brummenden Handys auf der Haut zu spüren, als wäre es etwas Lebendiges, ein ekliger großer Käfer, der in seine Intimsphäre vordrang, ihm mit aufdringlichem Brummen auf die Pelle rückte. Trotzdem war das noch besser als einer der drei verfügbaren Klingeltöne – einer grässlicher als der andere.

Er zerrte es aus der Tasche und drückte auf die Annahmetaste. „Was denn noch?“ Er lauschte dem Klang seiner Stimme nach. Sie klang nicht aggressiv oder genervt, wie er beabsichtigt hatte, sondern einfach nur ängstlich.

„Verlieren Sie jetzt bloß nicht die Nerven.“

„Und um mir das zu sagen, rufen Sie mich an?“ Wut stieg in ihm hoch, verdrängte die Angst und machte seine Stimme kräftiger.

„Was ist los mit Ihnen? Beim letzten Mal waren Sie nicht so zimperlich.“

„Reden Sie nicht mit mir, als ob ich ein Serienkiller wäre. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, ich muss noch ein paar Sachen erledigen.“

„Ich will ihren Terminkalender.“

„Was? Wozu denn?“

„Sagen wir mal, als Souvenir.“

„Und wenn sie keinen Terminkalender bei sich hat? Darf es dann vielleicht ihr Herz sein? Ich könnte es in Alufolie einpacken.“ Er wollte lachen, doch aus seiner Kehle kam nur ein trockenes Husten, und er griff nach dem Wasserglas, das auf dem Tisch stand, und trank es leer.

„Freut mich, dass Sie Ihren Humor nicht verloren haben. Und noch eins: Ich möchte, dass die Sache bis Ende der Woche erledigt ist. Wenn Sie nervös sind, nehmen Sie eine Beruhigungspille, trinken Sie einen Schnaps oder tun Sie Ihrem Schwanz was Gutes – das entspannt.“ Er lachte.

„War’s das jetzt?“

„Versauen Sie’s nicht.“ Die Verbindung wurde getrennt.

Arschloch! Er widerstand der Versuchung, das Handy auf den Boden zu schmeißen und es zu Staub zu zertrampeln und warf stattdessen das Glas an die hölzerne Küchentür. An der Stelle, an der es auftraf, platzte ein daumennagelgroßes Stück weiße Farbe ab und gab den Blick auf den ursprünglichen spinatfarbenen Anstrich frei – egal, er würde nicht mehr lange hier wohnen. Die Glasscherben spritzten in alle Richtungen. Aus dem Nachbarhaus hörte er das gedämpfte Weinen des Babys, das wohl durch den Krach aufgewacht war, gefolgt von einem zornigen dreifachen Klopfen. Es hörte sich an, als schlüge jemand mit einem Gummihammer an die Wand. Die darauf folgende Schimpftirade der genervten Mutter brachte ihn zum Grinsen, und er fühlte sich etwas besser. Geschah ihr recht. Schon oft genug hatte ihn das Geplärre ihres Balgs nachts aus dem Schlaf gerissen.

Barfuß durchquerte er die Küche, um Schaufel und Besen aus der Abstellkammer zu holen. Doch schon beim zweiten Schritt bohrte sich ein Glassplitter, der unbemerkt senkrecht im Fußboden steckengeblieben war, in seinen großen Zeh. Die drei Schritte, die er brauchte, um an die Küchenrolle zu kommen, hinterließen eine blutige Spur auf dem schmutzigen PVC.

Er riss ein Tuch ab, wickelte seinen Zeh darin ein und humpelte ins Bad. Dort drehte er den Hahn der Badewanne auf und hielt seinen blutenden Fuß unter den kalten Wasserstrahl, ignorierte den kurzen brennenden Schmerz und beobachtete nachdenklich, wie sich das hellrote Rinnsal in die Wanne ergoss. Er hatte keine Probleme mit dem Anblick von Blut. Als Jugendlicher hatte er eine Zeitlang in einem Schlachthof gearbeitet, hatte frisch geschlachteten Schweinen die Bäuche aufgeschlitzt und die Eingeweide entnommen. Die Bezahlung war gut, die Arbeit hart, und er hatte jeden Abend Unmengen von Wasser und Duschgel verbraucht, um den Geruch loszuwerden. Seitdem aß er kein Schweinefleisch mehr.

Allmählich ließ die Blutung nach, und er drehte den Hahn wieder zu. Er überlegte, ob es wohl stimmte, dass sich auf der Südhalbkugel das Wasser beim Ablaufen in die entgegengesetzte Richtung drehen würde und lächelte. Er würde es bald herausfinden.

2. Kapitel

„Nehmt ihr mich noch mit?“ Sofia Stern lief auf den Aufzug zu, und einer der beiden Jugendlichen hielt geistesgegenwärtig seine Hand vor die Lichtschranke.

„Danke.“ Sie schenkte dem jungen Mann ein strahlendes Lächeln.

„P10?“, fragte dieser hoffnungsvoll.

„Genau.“ Sie lächelte immer noch.

„Cooler Schuppen“, mischte sich der Rothaarige ein und rückte seine Sonnenbrille zurecht.

Die Türen schlossen sich, und mit einem kleinen Ruck begann der Aufzug seine Fahrt nach oben. Sofia kramte in ihrer Handtasche, holte einen kleinen Klappspiegel heraus und überprüfte ihr Make-up.

Die Jungen tauschten einen Blick. Der Rothaarige steckte sich ein Fisherman’s Friend in den Mund und hielt ihr das Tütchen hin. „Lust auf was Scharfes?“ Sein schrilles Lachen endete in einem Grunzen, das er sicher nicht beabsichtigt hatte.

„Nein, danke.“ Sie verstaute den Spiegel wieder in ihrer Tasche. „Davon bekomme ich nur noch mehr Durst.“

„Möchtest du vielleicht etwas mit uns trinken?“, fragte der Blonde.

„Das ist nett von euch, aber ich bin verabredet.“ Sie verließ den Fahrstuhl und betrat das Parkdeck. Die für Karlsruhe so typische drückende Schwüle, die seit Tagen wie eine Dunstglocke über der Fächerstadt lag, war hier oben kaum noch zu spüren. Der Himmel hatte sich schon am Morgen zugezogen, für den späten Nachmittag waren Gewitter vorausgesagt.

Aus den Lautsprechern über der Bar erschallte der Fußball-WM-Song von Shakira. Junge Bedienungen servierten barfuss Getränke und kleine Gerichte.

Sofia setzte sich in einen Strandkorb, streifte die Riemchensandalen ab und grub ihre Zehen in den warmen Sand. Sie liebte diese Strandbar über den Dächern von Karlsruhe, auch wenn sie mit ihren achtundzwanzig Jahren schon etwas über dem Altersdurchschnitt lag.

Ein Mädchen in Hot Pants nahm Sofias Bestellung auf, kam wenige Minuten später zurück und stellte zwei Tequila Sunrise auf den niedrigen Tisch vor den Strandkorb.

Im Eingangsbereich erschien ein neuer Gast, sondierte die Lage und ging dann zielstrebig auf den Strandkorb zu. Er hatte sein Jackett über die Schulter gehängt und die Ärmel seines Hemdes bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt.

Sie rückte ein Stück zur Seite, um ihm Platz zu machen.

„Tut mir leid, Sofia – mein Kunde hat sich verspätet.“ Er gab ihr einen flüchtigen Kuss und sah sich nervös um.

Sofia lachte. „Hast du Angst, deine Frau zu treffen? Hier?“

„Nein, natürlich nicht.“ Er legte seine Hand auf ihr Knie und strich mit dem Zeigefinger über ihr nacktes Bein, bis er den Saum ihres kurzen Rocks berührte. „Britta ist übers Wochenende in Frankfurt, und ...“, er zögerte.

Sie nahm die Hand, die immer noch auf ihrem Oberschenkel lag und verschränkte ihre Finger mit seinen. „Und?“

„Du könntest zu mir kommen.“

„Nein!“ Sie ließ ihn los.

„Warum nicht?“

„Weil ich keine Lust habe, in eurem Ehebett zu schlafen.“

„Wir haben getrennte Schlafzimmer. Schon immer.“

„Trotzdem.“

„Dann lass’ uns zu dir gehen.“

„Du weißt genau, dass ich das nicht möchte. Außerdem kommt meine Schwester am Wochenende.“ Auf ihrer Stirn erschien eine kleine Falte, wie immer, wenn sie sich über etwas ärgerte.

„Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast.“

„Jetzt weißt du’s“, sagte sie schroff.

Sie schwiegen und nippten an ihren Cocktails. Er hätte lieber ein Bier gehabt. Geistesabwesend zog er den Zahnstocher mit der aufgespießten Kirsche aus der Orangenscheibe und steckte die Kirsche in den Mund. Er bereute es sofort.

Sofias Ton wurde sanfter. „Warum treffen wir uns nicht noch einmal in Knielingen? Vielleicht kaufe ich das Haus ja wirklich. Und keiner würde uns stören. Wir könnten am nächsten Morgen ausschlafen und dann irgendwo frühstücken gehen.“

Er griff nach seiner Serviette und überlegte kurz, ob er die Kirsche, deren widerlich süßer Geschmack sich in seiner Mundhöhle ausbreitete wie ein Grippevirus im Kindergarten, unauffällig entsorgen konnte, doch schließlich siegte seine gute Erziehung, und er schluckte sie hinunter. „Ich habe am Sonntag einen Termin in Lörrach und müsste spätestens um neun los.“

Sofia seufzte. „Das ist mitten in der Nacht.“

Er trank einen großen Schluck. „Aber deine Idee ist gar nicht so schlecht. Ich werde mich morgens rausschleichen, und du kannst so lange liegen bleiben, wie du möchtest.“

„Ich weiß nicht so recht.“

„Wir hätten die ganze Nacht. Endlich mal wieder. Und am Samstagabend könnten wir in den Blue Saloon gehen.“

„Also gut, aber erwarte nicht, dass ich noch da bin, wenn du zurückkommst.“

„Ich könnte mich beeilen.“

„Das musst du nicht – Kylie hat am Sonntag Geburtstag und macht eine Grillparty am Grötzinger Baggersee. Um eins geht’s los.“ Sie zupfte an seiner Krawatte. „Du kannst nachkommen, wenn du willst.“

Er verzog das Gesicht. „Lieber nicht. Was ist eigentlich mit deiner Schwester?“

„Sie kommt Freitagabend, das heißt, wir werden wahrscheinlich die Nacht durchtratschen und am Samstagmorgen gehen wir frühstücken.“

„Und dann lässt du sie allein?“ Er sah sie verwundert an. „Immerhin kommt sie extra aus Freiburg, um dich zu sehen.“

Sofia runzelte die Stirn. „Hör’ schon auf, Leo. Sie braucht keinen Babysitter. Außerdem hat sie sich für einen Wochenendkurs bei der Volkshochschule angemeldet, irgendwas mit Fotografie – Karlsruher Motive, oder so ähnlich. Du musst dir also keine Sorgen um sie machen.“

„Wie ist sie denn so, deine Schwester?“

„Sie ist ganz anders als ich.“ Sofia lächelte. „Ich war noch nie im Blue Saloon.“

„Es wird dir gefallen. Samstagabend spielt meine Lieblingsband.“ Er überlegte. „Oder war es Freitag?“ Er sah sich um. „Haben die nicht auch Zeitungen hier?“

Sofia schlüpfte in ihre Sandalen und stand auf. „Ich frag’ am Tresen – ich muss sowieso mal aufs Klo.“ Sie ging um den Strandkorb herum, und ihr Blick fiel auf einen Mann, der wohl die ganze Zeit hinter ihnen gesessen hatte. Jedenfalls hatte sie ihn nicht kommen sehen. Irgendetwas an seinem Aussehen irritierte sie. Vielleicht war es die Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern, die nicht so recht zu seiner spießigen Frisur und dem Vollbart passen wollte. „Entschuldigung, kann ich mir kurz Ihre Zeitung ausleihen?“

Er hob den Kopf, doch durch die dunkle Brille konnte sie seine Augen nicht erkennen. Sie war noch nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt ansah. „Ja, natürlich.“ Seine Stimme klang heiser und ein bisschen atemlos. Er faltete die Blätter zusammen, um sie ihr zu geben.

Als Sofia die Hand danach ausstreckte, fiel ihre Handtasche auf den Boden, kippte zur Seite, und verstreute einen Teil ihres Inhalts in den Sand.

„Ich mach’ das schon.“ Er bückte sich, hob die Tasche auf, räumte die Sachen wieder ein und reichte sie Sofia. „Die Zeitung können Sie behalten. Ich wollte sowieso gerade gehen.“

„Super, vielen Dank.“

Sie gab Leo die ‚BNN’ und steuerte auf die Toiletten zu, ging über die Holzbohlen, die am Tresen entlang führten, als wäre es ein Laufsteg.

Der Mann im Korbsessel sah ihr nach, bis sie um die Ecke bog. Es gab keinen Grund für ihn, länger zu bleiben. Er trank seinen Kaffee aus und stand auf. Jetzt würde er sich erst einmal eine neue Zeitung besorgen und dann einen ausgedehnten Spaziergang durch den Schlosspark machen.

3. Kapitel

Martin Marbach stellte die leeren Bierflaschen auf den Tresen, steckte das Pfandgeld ein und schob sich an der Schlange vorbei, die sich hinter ihm gebildet hatte. „Sollen wir gehen?“ Die Musik war so laut, dass er sich selbst kaum hören konnte, obwohl er das Gefühl hatte, sich die Seele aus dem Leib zu schreien. Er berührte seine Begleiterin am Arm, zeigte erst auf sie, dann auf sich und ließ seine Finger von seinem Körper weg durch die Luft laufen. Er sah, wie sie lachte und ihre Lippen das Wort ‚okay’ formten. Er bahnte sich einen Weg durch die unzähligen Fans der ‚Editors’, die vor der Hauptbühne standen, sich stampfend und klatschend im Rhythmus der Musik bewegten und es nicht vermeiden konnten, dabei ihre Nachbarn anzurempeln, weil einfach kein Platz war. Aber das nahm man hin, wenn man Samstagabend auf ‚das Fest’ ging. Nach einer Weile drehte er sich nach ihr um und streckte ihr die Hand hin. „Damit wir uns nicht verlieren!“, brüllte er. Akustisch konnte sie seine Worte unmöglich verstanden haben, doch sie nickte, nahm seine Hand und versuchte, Schritt zu halten.

Kurz bevor sie das abgesperrte Gelände verließen, drehte er sich noch einmal um und ließ seinen Blick über den dichtbevölkerten Hügel schweifen, eine wogende Masse von aneinander gedrängten schwitzenden Körpern, Tausende von Menschen. Ein paar standen, ein paar hatten sich auf das feuchte Gras gesetzt, bemüht, eine einigermaßen bequeme Position auf dem steilen Hang zu finden, ohne ihren Vordermann zu treten oder auf ihn zu rutschen. Der süßliche Geruch von Marihuana lag in der Luft und vermischte sich mit den Aromen von Pizza, Cevapcici und anderen multikulturellen Gerichten.

Ein Kaugummi kauender Typ mit glattrasiertem Schädel und einer schwarzen Weste, auf der ‚Security’ stand, tippte Marbach auf die Schulter. „Wie sieht’ s aus, wollt ihr rein oder raus?“

„Schon gut, wir gehen.“

Sie atmeten beide auf, als sich das Gedränge allmählich lichtete. Mittlerweile waren sie weit genug von den riesigen Lautsprechern an der Hauptbühne entfernt, so dass sie sich miteinander verständigen konnten, ohne sich anschreien zu müssen.

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. „Du kannst mich jetzt loslassen.“

Er blieb stehen. „Muss ich?“

„Willst du mich anbaggern?“ Sie lachte.

Er strich mit dem Daumen zart über ihre Finger. „Hättest du was dagegen?“

Sie entzog ihm ihre Hand. „Warum können wir nicht einfach Freunde sein?“

„Also gut.“ Er trat einen Schritt zurück und lächelte spöttisch. „Was machen wir zwei Freunde jetzt mit dem angebrochenen Abend?“

Sie ging nicht auf seinen leichten Ton ein. „Ich bin müde, ich möchte nach Hause.“ Sie ließ ihn stehen und lief an einer Reihe von Dixi-Klos vorbei hinunter an die Alb, wo sie ihre Fahrräder abgestellt hatten. „Das darf ja wohl nicht wahr sein!“

Marbach, der ihr gefolgt war, ging vor ihrem Rad in die Hocke. „Was ist los, hast du einen Platten?“

„Das wäre mir lieber. Irgendein Idiot hat sein Rad mit meinem zusammengeschlossen.“ Sie trat gegen das fremde Bügelschloss und stieß sich den Zeh an. Ihre Stimmung näherte sich dem Nullpunkt.

Marbach stand auf. „Das ist doch nicht so schlimm. Ich bringe dich nach Hause, und morgen holen wir dein Rad.“

Sie wühlte in ihrer Handtasche, suchte ihren Geldbeutel. „Jetzt tu’ nicht so, als ob ich drei Jahre alt wäre. Du musst mich nicht nach Hause bringen. Ich nehme die Straba.“

Marbach warf ihr einen wütenden Blick zu. „Herrgott noch mal, was ist denn plötzlich mit dir los? Wenn dir meine Gesellschaft so unangenehm ist, wieso hast du dich dann mit mir verabredet?“

„Red’ nicht so einen Quatsch! Du weißt genau, dass ich dich mag. Es ist nur, weil ...“

„Weil?“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen und sah sie herausfordernd an.

„Ich kann so was nicht. Du und ich ... das ist doch völlig schräg.“

Die Wut wich aus seinem Gesicht, und sein Blick wurde weich. „Mach’ es nicht so kompliziert, es ist viel einfacher als du denkst.“

„Klar, für euch Männer ist es immer einfach.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe, dann sah sie ihm direkt in die Augen. „Ich will keinen One-Night-Stand.“

„Ich auch nicht.“ Er hielt ihrem prüfenden Blick stand und unterdrückte einen erleichterten Seufzer, als sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. Er legte eine Hand auf den Lenker seines Fahrrades. „Was hältst du von einem Spaziergang?“

Sie liefen quer durch die Stadt und unterhielten sich über unverfängliche Themen. Er machte keinen Versuch mehr, sie anzufassen, doch als ihnen in einer schmalen Seitenstraße ein paar grölende Jugendliche entgegenkamen, die sich rücksichtslos an ihnen vorbeidrängten, wurde sie an ihn gedrückt und verlor beinahe das Gleichgewicht. Sie blieb stehen und hielt sich an seinem Arm fest. „Warte kurz. Meine Schuhe bringen mich um.“ Sie streifte die Sandalen ab und hob sie auf. Von den Riemen hatte sie rote Druckstellen, und auf der Oberseite ihres rechten Fußes hatte sich bereits eine Blase gebildet.

„Wenn du willst, können wir fahren.“ Er wies einladend auf den Gepäckträger.

„Bloß nicht.“ Sie lachte. „Sonst kriege ich auch noch Blasen am Hintern.“ Sie ließ ihre Hand an seinem Arm nach unten gleiten, und wie von selbst verschränkten sich ihre Finger mit seinen.

„Da wären wir.“ Ohne ihre Hand loszulassen, lehnte er sein Fahrrad gegen die Hauswand.

„Danke fürs Nachhause-Bringen.“

„Meldest du dich noch mal, bevor du nach Freiburg fährst?“

„Mal sehen.“ Sie bemühte sich um einen lässigen Tonfall. „War schön, dich zu sehen.“ Der Gedanke an die leere Wohnung, die sie oben erwartete, deprimierte sie. Als er sie küssen wollte, drehte sie den Kopf weg und drückte flüchtig ihre Wange an seine. „Mach’s gut, Martin.“

Er sah ihr zu, wie sie den Schlüssel aus der Handtasche fischte. „Du hast nicht zufällig noch ein Bier im Kühlschrank?“

Soweit sie sich erinnerte, bestand der Inhalt des Kühlschranks aus einer halbvollen Flasche Ouzo, einem welken Salatkopf, zwei Bechern Himbeeryoghurt und einer angebrochenen Packung Käseaufschnitt. Ihre Vernunft streckte die Waffen. „Kann schon sein, ich kann es dir aber nicht versprechen.“

„Du musst mir überhaupt nichts versprechen.“ Er beugte sich über sein Fahrrad, um es abzuschließen.

„Wenn du dein Rad hier unten stehen lässt, ist es morgen früh weg.“ Erst als die Worte heraus waren, merkte sie, was sie bedeuteten.

Er verzog keine Miene. „Da hast du wahrscheinlich recht. Ich stelle es besser in den Keller. Hältst du mir die Tür auf?“

Im Treppenhaus kam ihnen ein junger Mann entgegen. Er hatte eine Sonnenbrille in die Haare geschoben und ein kleines Pflaster am Kinn. Die schwarzen Jeans betonten seinen knackigen Hintern und saßen dermaßen eng, dass man sich fragen musste, welche Hilfsmittel er benutzt hatte, um sie anzuziehen, und wie um alles in der Welt er jemals wieder aus ihnen herauskommen wollte. Ein ärmelloses Netzhemd spannte sich über seinen Waschbrettbauch und betonte seine muskulösen Arme, die mit mehreren Tätowierungen verziert waren. Um den Hals trug er ein schmales Lederband mit einem kleinen silbernen Anhänger, in den ein Name eingraviert war. Der Duftwolke nach zu urteilen, die ihn umhüllte, hätte er mit der Menge an Aftershave, das er aufgelegt hatte, locker das komplette Ensemble der Chippendales versorgen können. „Hallo Sofia.“ Er blieb stehen, nahm die glimmende Zigarette aus seinem Mundwinkel und schnippte die Asche auf den Steinfußboden. “Sag’ bloß, ihr seid wieder zusammen?” Er hatte eine merkwürdig hohe Stimme, die nicht zu seinem Äußeren passte. Bevor sie etwas erwidern konnte, wandte er sich an Marbach. „Dich habe ich hier ja schon ewig nicht mehr gesehen.“ Er warf einen Blick auf Marbachs vom vielen Waschen verblichenes gelbes T-Shirt, das vorne mit dem Fest-Logo bedruckt war. Auf der Rückseite stand in fetten schwarzen Buchstaben ‚CREW’. Es stammte noch aus seiner Zivildienstzeit beim Stadtjugendausschuss, als er auf dem Fest Getränke verkauft hatte. „Krasses Shirt, Alder.“

Marbach grinste. „Wie geht’s dir, Cengiz?“

„Alles cool, Mann.“ Er schob sich an ihnen vorbei, klopfte Marbach auf die Schulter und schaffte es, dabei seinen Bizeps anschwellen zu lassen. „Ich bin spät dran. Macht’s gut.“

An der Haustür drehte er sich zu ihnen um. „He, Sofia, schau’ doch mal bei Öznur vorbei, wenn du Zeit hast.“

Sie wartete, bis die Haustür zugefallen war. „Wer ist Öznur?“

Marbach sah sie erstaunt an. „Seine Schwester. Du hast sie bestimmt schon mal gesehen. Ab und zu hilft sie unten im Dönerladen aus.“

Sie schloss die Wohnungstür auf und ließ ihn eintreten.

„Komisch, wieder hier zu sein“, sagte er. Im Vorbeigehen strich er mit dem Finger über die Kommode im Flur und hätte dabei beinahe eine gerahmte Fotografie umgestoßen. Er warf einen flüchtigen Blick darauf, rückte sie gerade und folgte seiner Gastgeberin in die Küche.

Pro forma öffnete sie den Kühlschrank. „Kein Bier, wie’s aussieht.“ Sie griff nach der Ouzoflasche. „Wie wär’s damit?“

Er zuckte die Achseln und holte aus einem der Hängeschränke zwei Schnapsgläser, die sie bis zum Rand füllte.

„Salute.“ Eigentlich mochte sie den Geschmack nicht, aber der Alkohol half ihr, ihre Bedenken beiseite zu schieben. Marbach schenkte ihr gleich noch einmal nach. Sie kippte auch das zweite Glas hinunter und schüttelte sich.

Er stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank. „Morgen soll es den ganzen Tag regnen.“ Gedankenverloren fuhr er mit dem Finger über den Rand seines halbvollen Glases. „Dabei hat es beim Klassik-Frühstück noch nie geregnet, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, Freitagabend ja, aber nie am Sonntagmorgen.“

„Einmal ist immer das erste Mal.“ Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und trank es aus. „Ich habe keine Lust, über das Wetter zu reden.“

Von der Straße hoch drang gedämpftes Stimmengewirr durch das offene Fenster. Mehrsprachige Satzfetzen, vermischt mit schrillem Gelächter stiegen wie Rauchwolken nach oben, um schließlich im dunklen Himmel zu verpuffen.

Marbach drehte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellenbogen und ließ seinen Blick über die schlanke Silhouette der Frau schweifen, die neben ihm lag. Sie sah an ihm vorbei, auf ihrer Stirn hatte sich die gleiche steile Falte gebildet, die er schon hundertmal bei Sofia gesehen hatte.

Es war lange her, dass er zum letzten Mal in Sofias Bett gelegen hatte. Damals war er unglücklich gewesen, weil er gewusst hatte, dass es bald enden würde. Er kniff die Augen zusammen, als ob es ihm dadurch gelingen würde, die unwillkommene Erinnerung zu vertreiben. ‚Carpe diem’ dachte er, beugte sich vor und küsste sie auf das kleine Muttermal in ihrer Halsbeuge.

Die Flammen der Kerzen auf dem Nachttisch flackerten, als sie nach der leichten Sommerdecke griff, die zu einer unförmigen Wulst verdreht zu ihren Füßen lag und sie sich bis über die Brust hochzog.

„Ist dir kalt, Liebling?“ Er wunderte sich, wie selbstverständlich ihm dieses altmodische Kosewort über die Lippen kam.

Sie antwortete nicht, setzte sich auf und schlang die Arme um ihre Knie. „Hast du noch eine Zigarette?“

Er tastete mit der Hand nach seiner Jeans, die vor dem Bett auf dem Fußboden lag und kramte eine halbvolle Packung Gauloises aus der Hosentasche. „Ich dachte, im Schlafzimmer wird nicht geraucht.“

„Das ist jetzt auch egal“, sagte sie und ließ sich von ihm Feuer geben. Sie inhalierte mit geschlossenen Augen, drehte sich um und blies den Rauch aus dem Fenster. „Wir hätten es nicht tun sollen.“

Er nahm ihr die Kippe aus der Hand und zog selbst daran, „Es war schön, und wir wollten es beide.“ Er griff nach einer leeren Kaffeetasse, die auf der Fensterbank stand, schnippte die Asche hinein und gab ihr die Zigarette zurück.

Sie nahm einen weiteren tiefen Zug und sah dem dünnen Rauchfädchen nach, das durch das offene Fenster in den Nachthimmel stieg. Sie legte die Zigarette in die Tasse und strich mit den Fingern über den roten Satin des Bettbezugs. Ihre dunklen Haare fielen nach vorn und verdeckten ihr Gesicht. „Fühlt es sich für dich nicht seltsam an?“

„Kein bisschen.“ Er rückte näher an sie heran und drückte sein Gesicht in ihr Haar. „Es fühlt sich wunderbar an.“

„Aber ich bin nicht ...“

„Ich weiß ganz genau, wer du bist.“ Er fasste sie am Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. „Und auch, wer du nicht bist.“

Sie sah ihm in die Augen, und plötzlich musste sie lachen. „Vielleicht sollten wir uns für ‚Verbotene Liebe’ casten lassen. Meinst du, wir hätten eine Chance?“ Sie gab ihm einen Kuss. „Tut mir leid, dass ich so kompliziert bin.“

„So seid ihr Frauen eben – das bin ich gewöhnt“, sagte er leichthin und hätte sich im nächsten Moment am liebsten die Zunge abgebissen.

Sie legte sich zurück und zog sich die Decke bis zum Hals. „Manche mehr, manche weniger“, sagte sie, „meine Schwester zum Beispiel ...“

„Jetzt hör’ schon auf!“ Er streckte sich neben ihr aus und schob eine Hand unter seinen Hinterkopf.

Sie sagte nichts und beobachtete die tanzenden Schatten, die die Kerzenflammen an die Zimmerdecke warfen.

Er stellte die Tasse auf seinen Bauch und rauchte die Kippe zu Ende. „Ich glaube, ich suche mir einen neuen Job.“

„Was? Wieso das denn? Ich denke, es läuft so gut bei euch.“

„Für Kess vielleicht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mir der alte Schleimscheißer auf den Sack geht.“

„Und was willst du machen?“

„Ich war doch heute in Stuttgart, um Fotos für diese Modezeitschrift zu machen.“

„WearIt!?“

„Ja, genau. Jedenfalls habe ich mich eine Weile mit der Chefredakteurin unterhalten. Wir hatten einen ganz guten Draht zueinander. Sie kennt sich aus in der Branche und hat mir angeboten, mich ein paar wichtigen Leuten vorzustellen.“

„In Stuttgart?“

„Stuttgart, München, Berlin ... wo auch immer. Es wird Zeit, dass ich aus diesem öden Kaff herauskomme.“ Er drückte den Zigarettenstummel aus und stellte die Tasse zurück auf die Fensterbank.

„Du willst einfach weg von ...“

„Nein, das ist es nicht“, unterbrach er sie. Er rieb seine Nase an ihrem Hals. „Ach, Sternchen. Manchmal kommt es mir vor, als würden wir uns schon ewig kennen. Dabei sind es gerade mal ...“

„ ... knapp zwei Jahre.“ Sie war froh, dass er ihr wehmütiges Lächeln nicht sehen konnte.

Er beugte sich über sie und blies die Kerzen auf dem Nachttisch aus. „Lass’ uns jetzt schlafen.“ Er lachte leise. „Du kannst dir schon mal überlegen, was du mir morgen zum Frühstück anbieten willst.“

„Himbeeryoghurt mit Salat“, murmelte sie. Plötzlich merkte sie, wie müde sie war. Sie drehte ihm den Rücken zu, und er zog sie an seine Brust. Die Selbstverständlichkeit seiner Geste trieb ihr die Tränen in die Augen. Sein Atem wurde tiefer, und sie fragte sich, ob er wohl schon eingeschlafen war. Und ob es wirklich sie war, an die er dachte, wenn er sie in den Armen hielt.

4. Kapitel

Alfred Weber, Fußgängerzonenprediger, Lebenskünstler und verkrachte Existenz in einem, machte sich auf den Weg zu seiner Parkbank. Er spürte die Müdigkeit in jeder Faser seines verbrauchten Körpers. In seiner Flasche war noch ein kleiner Rest Schnaps, den würde er sich genehmigen, sobald er sich hingelegt hatte – das half beim Einschlafen, fast noch besser als Beten.

Sie hatten ihn heute wieder ausgelacht, doch das störte ihn schon lange nicht mehr. Wenigstens nahmen sie ihn wahr, hörten ihm sogar manchmal zu, die armen verirrten Seelen, und er predigte und schrie das Wort Gottes hinaus, bis ihm die Stimme versagte, oder die Polizei kam und ihn davonjagte. Manchmal nahmen sie ihn auch mit. Sie gaben ihm Kaffee und belegte Brote. Wenn es kalt war oder regnete, ließen sie ihn in einer der Arrestzellen schlafen – sofern gerade eine frei war. Der blonde Kommissar hatte ihm neulich sogar ein noch fast volles Päckchen Zigaretten zugesteckt.

Weber blieb stehen und rückte seinen Rucksack zurecht. Die Riemen schnitten ihm in die Schultern. Das Herz wurde ihm schwer, wenn er daran dachte, dass er sich dieses Jahr wohl für den Winter eine Bleibe würde suchen müssen. Er war zu alt, um, nur durch einen zerschlissenen Schlafsack vor der Eiseskälte geschützt, unter einer Brücke zu schlafen, wo er seine Essensvorräte gegen Ratten verteidigen musste. Aber noch war Sommer, und die Nächte waren mild.

Nicht weit weg vom See gab es eine Baustelle. Die Stadt war dabei, einen weiteren Spielplatz anzulegen. Und dort hatte er vor ein paar Tagen die Bank entdeckt. Vom Weg aus konnte man sie nicht erkennen, weil sie durch Büsche verdeckt war. Es sah aus, als hätte man sie dort rein zufällig hingestellt. Wahrscheinlich war sie den Arbeitern im Weg gewesen. Für Weber war sie das ideale Schlafquartier, wenigstens so lange, bis die Bauarbeiten beendet sein würden. Außerdem verirrten sich die Schlossparkbesucher nur selten hierher, so dass er meistens seine Ruhe hatte.

Umso erstaunter war er, als ihm kurz vor seinem Ziel ein bärtiger Mann entgegenkam, der einen leeren Rollstuhl, über dessen Rückenlehne eine Jacke hing, vor sich her schob und ihn fast anrempelte. Er trug eine grüne Baseballmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte.

Weber lief ein paar Schritte weiter, dann drehte er sich noch einmal nach dem Fremden um und beobachtete, dass dieser stehen geblieben und jetzt neben dem Rollstuhl in die Hocke gegangen war, um einen kleinen Zweig zu entfernen, der sich in einem der Räder verhakt hatte. Die Jacke war heruntergerutscht und lag auf der Erde, so dass Weber freie Sicht auf die Rückseite des Rollstuhls hatte. Er entdeckte einen Aufkleber. Auf die Entfernung konnte er nur verschwommene Zacken- und Wellenlinien erkennen, die sich in seiner Phantasie zu einem Bild zusammenfügten von einem kleinen Igel, der im Meer schwamm und sich von den Wellen schaukeln ließ.

‚Der kleine Igel Fridolin zieht in die weite Welt, die Nase in die Luft gestreckt, die Stacheln aufgestellt.’ Weber spürte ein heftiges Stechen in der Brust, wie immer, wenn er ohne Vorwarnung mit seinem früheren Leben konfrontiert wurde, als er für einen kleinen Verlag Kinderbücher illustriert hatte, um sein Theologiestudium zu finanzieren, als er noch mit Peter zusammen gewesen war und voller Optimismus in die Zukunft gesehen hatte, die ihm so rosig erschienen war, wie die Seidenschleifen, die die Einladungskarten zu Peters vierzigstem Geburtstag verziert hatten. Er sprach ein kurzes Gebet, und es gelang ihm, die Erinnerung beiseite zu wischen.

Er überlegte, ob er zu dem Fremden zurückgehen und ihn darauf hinweisen sollte, dass die Jacke heruntergefallen war, aber seine innere Stimme riet ihm davon ab, und er setzte seinen Weg fort.

Als er kurze Zeit später bei seiner Bank ankam, stellte er verärgert fest, dass sie schon besetzt war – schlimmer noch: da lag jemand. „He, hau ab, das ist mein Platz. Such’ dir was Eigenes!“

Die Gestalt war bis zum Hals mit einer dunkelroten Fleecedecke zugedeckt und rührte sich nicht.

Weber schlurfte näher, stellte den Rucksack ab und beugte sich über den Schlafenden, um ihn wachzurütteln. Verdutzt hielt er inne. Vor ihm lag eine junge Frau, und sie sah nicht aus wie eine Stadtstreicherin. Sie sah aus wie ein Engel, ihr Gesicht, als wäre es von einem meisterhaften Bildhauer mit viel Liebe zum Detail aus weißem Marmor gemeißelt worden.

Erschrocken trat er zwei Schritte zurück, bekreuzigte sich, griff nach seiner Schnapsflasche und leerte sie in einem einzigen Zug. In seinem Magen breitete sich Wärme aus, und er entspannte sich etwas.

Er wartete darauf, dass etwas passierte, dass sich die himmlische Lichtgestalt erheben und ihm ihre Botschaft verkünden, oder einfach dahin zurückkehren würde, woher sie gekommen war, aber nichts geschah.

Schließlich gab er sich einen Ruck, schaltete die kleine Taschenlampe an, die er immer bei sich trug, trat vorsichtig näher und hob die Decke an. Ihr kurzes rotes Sommerkleid war bis zum Bauch hoch gerutscht, darunter trug sie einen hauchdünnen Slip, durch den das dunkle Dreieck ihrer Scham hindurchschimmerte. Hastig deckte er sie wieder zu. Mit zwei Fingern berührte er ihre Wange – ihre Haut war kalt. Dann sah er die feine dunkle Linie an ihrem Hals. Und er begriff.

5. Kapitel

„Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich Männer und Frauen sind.“ Hannas Gegenüber lehnte sich zurück und sah sie an, als ob er für diese ausgesprochen intelligente Erkenntnis den diesjährigen Philosophiepreis erwarten würde.

Sie unterdrückte ein Gähnen und warf verstohlen einen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten konnten ganz schön lang sein, wenn schon nach den ersten Sätzen klar war, dass man sich nichts zu sagen hatte.

„Glaub’ mir, das merke ich immer wieder“, schob er noch nach.

„Ach ja, woran denn?“

Er beugte sich vor und zeigte mit dem Finger auf sie. „Siehst du, das ist genau das, was ich meine.“ Seine Stimme klang vorwurfsvoll. „Ein Mann hätte mir einfach nur Recht gegeben, eine Frau muss immer alles hinterfragen.“ Er lehnte sich wieder zurück, verschränkte die Arme und warf ihr einen triumphierenden Blick zu.

Das konnte ja heiter werden. Und ‚Nenn-mich-Joe’ alias Johannes-Gottfried, wie er sich in winzigen wie gestochen wirkenden Buchstaben auf seinem Namensschild verewigt hatte, war nur der erste von zwölf Männern, die Hanna heute beim ‚Late-Nite-Speed-Dating’ kennenlernen durfte. Na gut, genaugenommen waren es elf, Harald kannte sie bereits. Er war Journalist und wollte einen Artikel über moderne Methoden des Kennenlernens schreiben war also sozusagen undercover hier. Hanna hatte er gebeten mitzukommen, um ihm dann ihre Eindrücke aus weiblicher Sicht mitzuteilen.

Sie lächelte unverbindlich, haarscharf an Johannes-Gottfrieds linkem Ohr vorbei, dann riss sie sich aber zusammen und versuchte, sich an die Liste mit Fragen zu erinnern, die ihr Harald ans Herz gelegt hatte. „Bist du das erste Mal bei einem Speed-Dating?“

Daraufhin folgte ein längerer Monolog über die Singleszene im Allgemeinen und die Möglichkeiten, in dieser Stadt interessante Frauen kennen zu lernen, im Besonderen. Nötig hätte er das ja nicht, betonte er, er würde auch so genügend Angebote bekommen.

Als Hanna fragte, warum er denn dann hier wäre, ertönte der Gong.

„Darüber können wir uns bei unserem nächsten Treffen unterhalten“, sagte er noch und stand auf, um die nächste Kandidatin mit seinen Weisheiten zu beglücken.

Die Verkupplungs-Aktion fand in einer schummrigen Bar in der Nähe des Hauptbahnhofs statt. Das fensterlose Kellergewölbe war in ein warmes rotgoldenes Licht getaucht, das wohl eine romantische Atmosphäre schaffen sollte. Zumindest schmeichelte die schwache Beleuchtung der äußeren Erscheinung der Teilnehmer. Im Hintergrund lief eine Kuschelrock-CD. Zwölf kleine Tische mit jeweils zwei Stühlen waren im Raum verteilt. Auf jedem standen jeweils eine schmale weiße Kerze und eine gläserne Vase, die eine einzelne rote Rose enthielt. An den Vasen lehnten kleine Schilder, die mit einer Nummer zwischen eins und zwölf bedruckt waren.

Der Veranstaltungsleiter hatte ihnen an der Bar eine kurze Einführung in den Ablauf des Abends gegeben. Daraufhin hatte jede Frau eine Nummer gezogen, sich an den entsprechenden Tisch gesetzt und auf den ersten Kandidaten gewartet.

Hanna trank einen Schluck von ihrem ‚Sex on the Beach’ und wappnete sich für die Begegnung mit Nummer zwei. Sie war froh, dass sie sitzenbleiben durfte und den Männern die Aufgabe zufiel, weiterzuwandern.

Nummer zwei ließ sich auf den gerade frei gewordenen Stuhl fallen und zerrte an seiner Krawatte. Nachdem er sie zusammengeknüllt und in seinen Aktenkoffer gestopft hatte, öffnete er den obersten Hemdknopf und wischte sich mit einem karierten Stofftaschentuch über die Glatze. „Verdammt heiß hier drin.“ Er kniff die Augen zusammen, und Hanna registrierte verwirrt, dass er auf ihren Busen starrte.

„Hallo Hanna“, sagte er schließlich und sah ihr in die Augen. Ach so, das Namensschild. Sein Name war Herbert. Wenigstens wollte er nicht ‚Herby’ genannt werden. „Und, schon mal bei so was gewesen?“

Das war doch eigentlich ihre Frage. „Nein, das ist das erste Mal“, antwortete sie wahrheitsgemäß, „und du?“

Auch von den nächsten vier Kandidaten riss sie keiner vom Hocker. Sie war ein bisschen enttäuscht. Sie hatte sich das Ganze spannender vorgestellt.

Nummer Sieben, ein schmächtiger Jüngling mit mausbraunen Haaren und Pickeln auf der Stirn, der so penetrant nach Rasierwasser roch, als hätte er darin gebadet, kam zu ihrem Tisch, riss die Blume aus der Vase und hielt sie ihr unter die Nase. Wasser tropfte auf ihre Beine. „Du wolle Rose kaufe?“ Dann ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und brach in irres Gelächter aus.

Nummer Acht war Harald. „Na, amüsierst du dich?“

„Eigentlich nicht – nur Langweiler und Größenwahnsinnige bis jetzt.“ Sie warf einen Blick auf Nummer sieben, der am Nebentisch gerade einen Schmerzensschrei ausgestoßen hatte und jetzt wie ein Baby auf Schnullerentzug an seinem Daumen lutschte – anscheinend hatte er bei seiner Rosennummer einen Dorn erwischt. „Und Bekloppte.“

Harald folgte ihrem Blick und lachte. „Und sonst? Keiner, mit dem du dich verabreden würdest? Angenommen natürlich, du wärst Single.“

„Bis jetzt nicht. Und wie ist es bei dir gelaufen?“

„Nicht ganz so schlecht, ich erzähl’s dir nachher.“

„Wann war deine letzte Beziehung, wie lange hat sie gedauert und wer hat sie beendet?“

„Wie bitte?“ Irritiert hob Hanna den Kopf und sah, dass der zweite Stuhl an ihrem Tisch schon wieder besetzt war. Nummer neun trug zu Jeans und T-Shirt eine khakifarbene ärmellose Weste mit mehreren Taschen. Von seinem Äußeren her passte er – wie Harald sich ausdrücken würde – nicht in ihr Beuteschema. Sie stand auf dunkelhaarige, schlanke Männer – wie Paul. Dieser war blond, und unter seinem T-Shirt war die leichte Wölbung eines beginnenden Bauchansatzes zu erkennen. ‚Chris’ stand auf seinem Namensschild.

Er stellte sein halbvolles Colaglas auf dem Tisch ab und holte aus einer der Taschen einen kleinen Schreibblock und einen Kugelschreiber. Als er eine Seite des Blocks umblätterte, flackerte die Flamme der Kerze bedenklich. „Wir haben fünf Minuten Zeit, um uns ein Bild voneinander zu machen“, sagte er ohne aufzusehen, „die sollten wir doch nicht mit Smalltalk verschwenden.“ Sein Kugelschreiber schwebte über dem Block, als wäre er ein Kellner und würde auf ihre Bestellung warten. Endlich hob er den Kopf und sah ihr ins Gesicht. „Hast du ein Problem mit meiner Frage?“

Sie bemerkte eine feine, fast verblasste Narbe, die seine rechte Augenbraue leicht nach oben zog und seinem Gesicht einen Ausdruck wacher Aufmerksamkeit verlieh. Seine Wimpern waren so hell wie sein Haar. Sie lächelte spöttisch. „Wäre ein Diktiergerät nicht sinnvoller?“

Er legte Stift und Block auf den Tisch, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Er hatte ziemlich große Füße. „Also gut, spielen wir nach deinen Regeln. Über was willst du reden?“

„Erzähl’ mir, wie die anderen Frauen auf deine Frage reagiert haben.“

Er trank einen Schluck und strich sich über das stoppelige Kinn. „Dazu reicht die Zeit nicht. Außerdem geht es jetzt nicht um die anderen Frauen, sondern um dich und mich.“

„Das klingt ja ganz schön dramatisch.“

„Ist es auch.“ Plötzlich lachte er. „Tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen, du sahst so gelangweilt aus.“

‚Ertappt’, dachte sie. Sein Lachen war ansteckend. Sie spürte, wie sich ihre Mundwinkel nach oben zogen. „Und wozu das Schreibzeug?“

„Ich habe ein schlechtes Gedächtnis, also schreibe ich die Namen auf und ein paar Stichpunkte dazu, dann kann ich später meine Eindrücke besser sortieren.“

„Und, was steht hinter meinem Namen?“

„Gar nichts, du bist die Erste, die mir auch so in Erinnerung bleiben wird.“

„Ach ja, warum denn? Weil ich nicht so reagiert habe, wie du erwartet hast?“ Allmählich begann die Unterhaltung, ihr Spaß zu machen.

Er grinste anerkennend, und die feinen Lachfältchen, in die seine graublauen Augen eingebettet waren, vertieften sich. Er gefiel ihr.

Mit einem Anflug schlechten Gewissens dachte Hanna an den Fragenkatalog, den ihr Harald ans Herz gelegt hatte. Andererseits war dieser Chris der Erste, der aus dem langweiligen Einheitsbrei der hier versammelten Männlichkeit herausstach. Er würde vielleicht Haralds Geschichte ein bisschen Würze verleihen.

Die fünf Minuten mussten bald um sein. Sie bewegte den Strohhalm in ihrem Cocktail hin und her und überlegte, was sie Chris noch fragen könnte.

Er schien ihre Gedanken zu erraten. „Na, mach’ schon, du darfst mich fragen, was du willst.“ Er wandte sich ihr zu, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt, die Hände locker auf den Oberschenkeln und sah sie erwartungsvoll an. Er strahlte eine ruhige Selbstsicherheit aus, ohne den Eindruck von Ich-Bezogenheit zu vermitteln, und das machte ihn attraktiv. Sein Blick war konzentriert auf sie gerichtet. Immer noch lag ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht, das mehr von seinen Augen als von seinem Mund auszugehen schien.

Sie betrachtete die Vase, in der sich die Kerzenflamme spiegelte, und plötzlich wusste sie, was sie ihn fragen würde. „Wovor hast du Angst?“

Er runzelte die Stirn und antwortete nicht sofort. Sie freute sich, dass sie es geschafft hatte, ihn mit ihrer Frage zu überraschen. „Du musst nicht darauf antworten, wenn du nicht ...“

„Vor dem freien Fall“, sagte er. „Als ich achtzehn wurde, haben ein paar Schulfreunde zusammengelegt und mir einen Gutschein für einen Tandemfallschirmsprung geschenkt. Obwohl ich ziemlich Schiss davor hatte, kam es natürlich nicht in Frage zu kneifen. Als ich dann gesprungen bin, war es hundertmal schlimmer als ich es mir vorgestellt hatte.“ Sein Blick war nachdenklich geworden. “Ich habe so geschrien, dass ich eine Stimmbandentzündung bekommen habe.“

Hanna hatte mit einer flapsigem Antwort, einem coolen Spruch gerechnet, immerhin hatte sie ihm eine sehr persönliche Frage gestellt. Die Ernsthaftigkeit, mit der er darauf reagiert hatte, berührte sie.

Der Gong ertönte. Mist, gerade jetzt, wo es interessant wurde.

Chris erhob sich zögernd. Er war größer, als sie gedacht hatte. Er öffnete noch einmal den Mund, als ob er etwas sagen wollte, dann schien er es sich anders zu überlegen, zog die Oberlippe zwischen die Zähne und nickte kurz, als hätte er einen inneren Monolog geführt und wäre zu einer Entscheidung gekommen.

Impulsiv streckte sie ihm die Hand hin. „Hat mich gefreut.“

Sein Händedruck war kräftig. „Mich auch.“ Er sah sie lange an. „Sehr sogar.“ Erst als ihm Nummer Zehn auf die Schulter tippte und kopfschüttelnd auf seine Armbanduhr zeigte, ließ er ihre Hand los.

Ganz in der Nähe ertönten die ersten Takte eines Songs von Nickelback. Chris holte ein Handy aus einer seiner vielen Taschen, warf einen Blick auf das Display und seufzte. Dann entfernte er sich ein paar Schritte und telefonierte.

Der Veranstaltungsleiter kam auf ihn zu und sah ihn vorwurfsvoll an. Hanna beobachtete, wie er kurz mit Chris sprach und ihm ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber in die Hand drückte. Chris warf einen Blick auf den Zettel, machte irgendwo ein Kreuz, setzte seine Unterschrift darunter und verließ dann mit schnellen Schritten den Raum. An der Tür drehte er sich nach ihr um. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er, winkte ihr zu und ging.

6. Kapitel

Mit quietschenden Reifen bremste der anthrazitfarbene Jaguar vor dem Südeingang des Karlsruher Hauptbahnhofes. Zwei Rucksacktouristen sprangen erschrocken zur Seite, und ein Taxifahrer, dessen Fahrzeug er geschnitten hatte, drückte erst auf die Hupe und steckte dann den Kopf aus dem Fenster, um den Fahrer der Nobelkarosse anzubrüllen.

Unbeeindruckt von dem Aufruhr, den er verursacht hatte, sprang Benjamin Strasser aus dem Wagen, knallte die Tür zu und war schon halb in der Bahnhofshalle verschwunden, als er sich noch einmal umdrehte und hastig die Zentralverriegelung aktivierte.

Aus der Masse an Reisenden, die ihm von Gleis 2 entgegenkamen, schloss er, dass der ICE pünktlich eingetroffen war. Er rannte die Rolltreppe hinauf, rempelte einen alten Mann an und drängte sich an zwei Freundinnen vorbei, die nebeneinander auf einer Stufe standen und sich die Ohrstöpsel eines MP3-Players teilten.

Er sah sie sofort. Sie stand genau dort, wo sie ausgestiegen war, ihre Hand auf dem Griff eines Rollkoffers, auf dem sie ihre Aktentasche abgelegt hatte.

Als sie ihn erkannte, hob sie den Arm und sah demonstrativ auf die Uhr. Ungeduldig schob sie den Riemen der Handtasche, der von ihrer Schulter geglitten war, an seinen Platz zurück. Sie kam ihm keinen Schritt entgegen. „Du bist spät“, sagte sie kühl.

Er griff wortlos nach ihrem Koffer.

„Wie siehst du überhaupt aus?“ Mit klappernden Absätzen lief sie neben ihm her und betrachtete missbilligend die abgewetzten Jeans, das nicht mehr allzu saubere Hemd und die Turnschuhe ohne Schnürsenkel. „Und warum bist du so verschwitzt?“ Im Gegensatz zu ihm wirkte Britta von Hohenstein frisch und ausgeruht, obwohl sie, wie er wusste, einen anstrengenden Tag hinter sich hatte. Ihr hellgraues Kostüm saß perfekt. Es war elegant und zeitlos und so raffiniert geschnitten, dass es die körperlichen Attribute seiner Trägerin auf unaufdringliche Art hervorhob. Darunter trug sie eine figurbetonte lachsfarbene Bluse, es waren gerade so viele Knöpfe geöffnet, dass der Brustansatz und der spitzenbesetzte Abschluss ihres zur Bluse farblich passenden Dessous zu sehen waren.

Er stellte den Koffer auf der Rolltreppe ab und wandte sich zu ihr um. „Ich war joggen und habe mich in der Zeit verschätzt. Also bin ich direkt losgefahren.“

„Ich kann es nicht leiden, wenn man mich warten lässt.“

Er schob den Koffer von der Rolltreppe. „Zwei Minuten, Britta. Mach’ nicht so einen Wind.“

Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu. „Was ist los, Ben?“

„Nichts.“

„Hast du Ärger mit deiner Freundin?“

Sie war sich nicht einmal sicher, dass er zurzeit eine Freundin hatte. Obwohl er ihr engster Mitarbeiter war, wusste sie über sein Privatleben so gut wie nichts. Zwei oder drei seiner Freundinnen hatte sie kennen gelernt, als sie ihn von der Arbeit abgeholt hatten. Alle waren sie Anfang zwanzig, hatten lange Beine und trugen kurze Röcke. Sie konnte sich weder an ihre Namen noch an ihre nichtssagenden hübschen Gesichter erinnern. Keine seiner Beziehungen schien lange zu halten. Leo hatte ihn kürzlich mit einer neuen Frau gesehen und gemeint, es wäre etwas Ernstes. Doch in letzter Zeit wirkte Ben oft abwesend und gereizt, was nicht gerade für ein glückliches Liebesleben sprach.

Er warf ihr einen bösen Blick zu.

Also doch. ‚Willkommen im Club‘, dachte sie.

Am Wagen angekommen, hielt er ihr die Beifahrertür auf und wartete, bis sie eingestiegen war. Nachdem er ihr Gepäck verstaut hatte, setzte er sich hinter das Steuer und ließ den Motor an.

„Warte.“ Sie zerrte an ihrem Sicherheitsgurt. „Das blöde Ding klemmt schon wieder.“

Als er sich über sie beugte, stieg ihm der schwere blumige Duft ihres Parfums in die Nase. Mit einem heftigen Ruck gelang es ihm, den Gurt herauszuziehen, dabei wurde sein Arm für einen Moment an ihre Brüste gepresst. Er sog scharf den Atem ein.

Sie senkte ihre Stimme zu einem verführerischen Flüstern: „Mach’ schon, steck’ ihn rein!“

„Was?“ Ungläubig starrte er sie an.

„Na los, schnall’ mich an, damit wir fahren können.“

Mit einem metallenen Klicken rastete der Sicherheitsgurt in die Halterung ein. Strasser trat das Gaspedal durch, und der Jaguar machte einen Satz nach vorn. Seine Hand zitterte leicht, als er den zweiten Gang einlegte. Der Wagen rollte vom Parkplatz und nahm Kurs auf die Südtangente.

„Du hättest eben dein Gesicht sehen sollen!“ Sie warf ihm von der Seite einen Blick zu und lachte.

Verdammtes Miststück! Er hasste sie dafür, dass sie so souverän war, so gelassen neben ihm saß, während er versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren und die sexuelle Spannung, die in der Luft lag, zu ignorieren. Er sah stur geradeaus und warf nur ab und zu einen Blick in den Rückspiegel.

Als sie von der Schnellstraße Richtung Durlach abfuhren, ertönten aus ihrer Handtasche die Anfangstakte von ‚La vie en rose’. Britta holte ihr Handy heraus und drückte auf die Annahmetaste. „Was gibt’s?“ Sie hörte einen Moment zu und trommelte gereizt mit den Fingern auf ihrer Handtasche. Trotzdem schaffte sie es, ihrer Stimme einen neutralen Klang zu geben. „Kein Problem, ich bin todmüde, ich will nur noch duschen und ins Bett. Schönen Gruß an Konstantin!“ Sie klappte das Handy zu und warf es in die Tasche zurück.

„Leo?“, fragte Strasser scheinheilig.

„Wer sonst.“ Sie ließ den Verschluss der Handtasche zuschnappen. „Ganz der aufmerksame Ehemann – warte nicht auf mich, Schatz, es wird sicher spät.“

„Du tust ihm unrecht, er hat sich wirklich mit seinem Bruder verabredet. Ich war dabei, als er mit ihm telefoniert hat. Sie wollten ins Vogelbräu nach Ettlingen.“

Britta klappte den Sonnenschutz hinunter und warf einen Blick in den Spiegel. „Ja, ich weiß, es geht auch nicht um heute Abend. Er denkt, ich weiß nicht, mit wem er es den Rest des Wochenendes getrieben hat.“ Ohne Vorwarnung griff sie ihm zwischen die Beine. „Ihr Kerle seid doch alle gleich.“

Strasser stöhnte auf. Vor Schreck hatte er das Steuer herumgerissen und wäre fast auf die Gegenspur gekommen. „Willst du uns umbringen?“

Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und lächelte. „Kann es sein, dass du deinen kleinen Freund in letzter Zeit ein bisschen vernachlässigt hast?“