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James Grippando

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Beschreibung

Eine Mordserie erschüttert die Vereinigten Staaten. Und während FBI-Agentin Victoria Santos auf den Fährten des Killers verzweifelt nach neuen Anhaltspunkten sucht, sagt ein mysteriöser Anrufer bei einer Zeitung in Miami jedes Detail der Morde voraus.

Ein grausames Spiel um Zeit beginnt ...

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Über das Buch

Eine Mordserie erschüttert die Vereinigten Staaten. Und während FBI-Agentin Victoria Santos auf den Fährten des Killers verzweifelt nach neuen Anhaltspunkten sucht, sagt ein mysteriöser Anrufer bei einer Zeitung in Miami jedes Detail der Morde voraus.

Ein grausames Spiel um Zeit beginnt …

Über James Grippando

James Grippando ist Autor diverser New York Times-Bestseller. Er arbeitete zwölf Jahre als Strafverteidiger bevor sein erstes Buch »Im Namen des Gesetzes« 1994 veröffentlicht wurde und ist weiterhin als Berater für eine Kanzlei tätig. Er lebt mit seiner Familie im Süden Floridas.

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James Grippando

Der Informant

Roman

Aus dem Englischen von Lina Graf

Für Tiffany

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Teil Eins

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Teil Zwei

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Teil Drei

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Epilog

Danksagung

Impressum

Teil Eins

1

Gerty Kincaid befürchtete das Schlimmste.

Eine arktische Kältefront breitete sich aus, und Südostgeorgia machte sich auf den ersten Wintereinfall gefaßt. Laut Wetterbericht konnte bis zum späten Abend sogar Schnee fallen. Nach achtundsiebzig Lebensjahren war Gerty von dieser Nachricht nicht gerade begeistert. In der kleinen Stadt Hainesville war im Januar mit Eisstürmen und umkippenden Strommasten zu rechnen – und nicht mit duftigen, weißen Schneeflocken und einer friedlichen Winterlandschaft. Die Meteorologen konnten keine wissenschaftliche Erklärung dafür geben. So war es – und so würde es immer bleiben.

Mit dieser simplen Logik lebte man in der Stadt.

Es hieß, das Leben in Hainesville sei so vorhersehbar wie der liebliche Duft der Azaleen im Frühling und die Zwiebelernte im April. Genauer gesagt, die Ernte der Vidaliazwiebeln. Auf diese Zwiebeln gründete sich der ganze Stolz der Stadt, doch da echte Südstaatler nicht prahlen, wurden sie von niemandem weiter erwähnt. Hainesville hatte eine Ampel und 532 Einwohner. Das Schulgebäude, ein schlichter, weißer Holzkasten, beherbergte alle Schüler von der Vorschule bis zur zwölften Klasse. Das einzige Gotteshaus war die Baptistenkirche, erbaut aus roten Backsteinen, die in Georgia gebrannt wurden. Und es gab nur einen Doktor, eine eigentlich bereits pensionierte praktische Ärztin, die mit einer Parade samt Musikkapelle und der Überreichung des Rathausschlüssels geehrt worden war, als sie aus Atlanta hierher zog.

Am frühen Freitag abend blies ein heftiger Wind von Nordosten durch die Straßen der Stadt. Aus den Kaminen der alten Häuser, die noch immer ohne elektrische Heizung waren, quoll schwarzer Holzkohlerauch. Warm eingepackt in ihren beigefarbenen Trenchcoat und ihren karierten Wollschal, eilte Gerty den geschwungenen Weg zu ihrem Haus hinauf. Die vom eisigen Regen nassen Stufen vor ihrer Haustür glänzten im blassen, gelben Licht der Verandabeleuchtung. Es war gefährlich glatt, doch Gerty, die seit beinahe fünfzig Jahren, davon fast dreißig als Witwe, in dem alten, zweistöckigen weißen Holzhaus wohnte, hätte den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden.

Ihre Einkaufstasche unter einen Arm geklemmt, wühlte sie in ihrer Handtasche nach den Hausschlüsseln. Sie besaß einen riesigen Schlüsselbund, einen Messingring mit Hausschlüsseln, Autoschlüsseln, dem Schlüssel zu einem alten Schuppen, der ’67 abgebrannt war –, sogar mit Kofferschlüsseln, die sie noch nie benutzt hatte. Gerty behielt sie alle an ihrem Ring, denn sie hatte sich vorgenommen, dem Drängen ihrer Tochter, die ihr immer wieder vorschlug, zu ihr zu ziehen, erst nachzugeben, wenn sie die brauchbaren nicht mehr von den unbrauchbaren Schlüsseln unterscheiden konnte.

»Ach, verflixt«, murmelte sie. Ihre arthritischen Finger schmerzten, und die alten wollenen Handschuhe hinderten sie noch zusätzlich daran, den richtigen Schlüssel zu greifen. Der Schlüsselbund klimperte und klapperte wie ein Windspiel in ihrer zitternden Hand. Endlich hatte sie ihn gefunden. Sie öffnete die Tür und schlüpfte schnell hinein, damit nicht soviel kalte Luft in die Wohnung strömte.

Ein unheimliches gelbes Licht fiel durch die Lamellenfenster in der Tür und auf die handgestickte Spruchweisheit, die in einem goldenen Rahmen an der Wand hing. Gerty hatte die Petit point-Stickerei selbst entworfen und angefertigt. HILF DIR SELBST, stand da, SO HILFT DIR GOTT.

Sie drückte auf den Lichtschalter in der Diele, doch die erwartete Beleuchtung blieb aus. Muß ein Stromausfall sein. Aber dann fiel Gerty auf, daß die Außenbeleuchtung am Haus noch brannte. Vielleicht eine durchgebrannte Sicherung?

Sie brauchte eine Minute, um Mantel und Schal ordentlich an der Garderobe aufzuhängen. Dann suchte sie in dem fahlen, gelben Licht erneut nach einem Schlüssel. Sie brauchte den Schlüssel für das Sicherheitsschloß. Ihre Enkelin, inzwischen eine Großstadtpflanze und nach eigener Aussage mit allen Wassern gewaschen, war über Thanksgiving aus Richmond zu Besuch gekommen und hatte das altmodische Schloß mit Vorhängekette und schwerem Riegel durch ein modernes Sicherheitsschloß ersetzt. Es war eines von der Sorte, für die man einen Schlüssel braucht, um aus dem eigenen Haus heraus zu kommen. Das sollte verhindern, daß Einbrecher von außen durch ein eingeschlagenes Fenster griffen und das Schloß von innen öffneten.

Gerty fand das reichlich übertrieben. Was würden sie sich als nächstes ausdenken – eine Blutprobe, bevor man sich an seinen eigenen Eßtisch setzen konnte? Sie wußte, daß sie damit den Zweck der Anlage zunichte machte, aber sie hatte sich angewöhnt, den Schlüssel einfach stecken zu lassen, wenn sie zu Hause war.

Gerty starrte in ihr Wohnzimmer. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte die geschwungene Rückenlehne ihres viktorianischen Sofas ausmachen. Durch die Verandatür fiel ein Lichtstrahl auf den in Eiche gerahmten Spiegel über dem Kamin. Die hundert Jahre alten Holzdielen knarrten unter ihren Füßen.

»General Lee?« rief sie. »Wo bist du, mein Guter?« In ihrer Stimme lag ein reuiger Ton. Sie hatte versprochen, spätestens um fünf zu Hause zu sein, und der General war ein Kater, der es nicht schätzte, auf sein Abendessen warten zu müssen.

»Komm, mein Schatz. Tut mir leid, daß ich so spät bin.«

Sie blieb an dem Tisch neben der Treppe stehen und drückte auf den Schalter der Kristallampe. Sie ging nicht an. Anscheinend war im ganzen Wohnzimmer der Strom ausgefallen. Doch seltsamerweise schien die Digitaluhr auf dem Tisch die richtige Zeit anzuzeigen. Gerty sah zu, wie die letzte Ziffer umsprang. 19.42 Uhr.

Sie ging durch den schmalen Flur auf die Küche zu. Auf halbem Weg war sie außerhalb der Reichweite des schwachen Lichts, das von der Veranda hereinfiel. Sie war nun von völliger Dunkelheit umgeben. Bei ihren nächsten Schritten mußte sie sich auf ihre Erinnerung verlassen. Sie tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Sie zuckte zusammen, als die Neonröhre über dem Herd kurz aufflackerte. Ihr Herz schlug schneller, doch sie beruhigte sich wieder, als sie sich in der alten, vertrauten Küche umsah.

»General –« begann sie, brach jedoch gleich wieder ab. Der hellrote Fleck auf dem Boden hatte sie stutzig gemacht. Zuerst glaubte sie, es sei Kaffee, den sie vielleicht am Morgen verschüttet hatte, aber der Fleck war zu dick und zu rot. Sie nahm ein Stück Küchenkrepp von der Anrichte, um ihn aufzuwischen und verzog das Gesicht, als sie spürte, wie glitschig die Substanz auf dem Linoleum verschmierte.

Sie stand langsam auf und entdeckte eine Spur von roten Tropfen, die in Abständen von etwa dreißig Zentimetern quer durch die Küche verliefen. Die meisten waren ganz klein, aber einige waren so groß wie eine Vierteldollarmünze. Die Spur endete an der Tür zum Garten, in die eine kleine Katzentür eingebaut war.

»General Lee?« rief sie mit vor Sorge bebender Stimme. Hatte er sich im Dunkeln eine Pfote verletzt? überlegte sie. Blutete er? Womöglich hatte er sich nach draußen geschleppt, um im Gebüsch zu sterben. Von Panik erfaßt, stürzte sie auf die Gartentür zu, doch sie war verriegelt, und es steckte kein Schlüssel im Schloß.

»Diese verdammten modernen Schlösser!«

Sie rannte aus der Küche durch den stockdunklen Flur ins Wohnzimmer. Keuchend und mit pochendem Herzen erreichte sie die Haustür, um die Schlüssel zu holen, die noch in dem Schloß stecken mußten, und blieb wie versteinert stehen.

Die Schlüssel waren nicht mehr da.

Ungläubig starrte sie auf das Schloß. Ihre Hände begannen zu zittern, doch sie stand immer noch reglos da, als sie die Dielen hinter sich knarren hörte.

Sie fuhr herum und schnappte nach Luft, als sie direkt in die Augen einer dunklen Gestalt blickte – der hünenhafte Mann, der hinter ihr stand, war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und trug eine Art Kapuze und einen enganliegenden Stretchanzug. Sie wollte aufschreien, doch im selben Augenblick schoß seine Hand auf sie zu und drückte ihr die Kehle zu. Sie war von seiner Schnelligkeit völlig verblüfft, und unter der Gewalt seines Griffs wurden ihre Knie weich.

»Ich kriege … keine Luft.« Ihre Stimme versagte, während sie verzweifelt um Luft rang.

»Das ist … mir egal«, erwiderte er, ihre erstickte Stimme hämisch nachahmend.

Er drückte noch fester zu, das Messer blitzte auf. Er hielt es mit der flachen Seite direkt vor ihr Gesicht, und einen Augenblick lang sah sie ihre Todesangst in dem unheimlichen Spiegelbild. Sie konnte seine Stimme hören, sogar ein paar Worte verstehen. Er redete auf sie ein, verlangte irgend etwas. Die Angst und der Schmerz ließen alles verworren klingen. Das Zimmer begann sich zu drehen. Aber die Stimme wurde immer lauter.

2

Spezialagentin Victoria Santos starrte in den Lauf der Handfeuerwaffe, mit der der Scharfschütze aus einer Entfernung von nur zehn Metern sein Ziel anvisierte. Er hatte die klassische Haltung angenommen, die Beine weit gespreizt, die Arme ausgestreckt und den Revolver mit beiden Händen umklammert. Es gelang ihm nicht, die Waffe ruhig zu halten, und seine Augen schossen wild hin und her. Er zeigte alle typischen Merkmale eines nervösen jungen Polizisten, der verzweifelt versuchte, auf den Mann hinter der Geisel zu zielen.

Mit eisernem Griff hielt der Geiselnehmer ihr mit der einen Hand ein Messer an die Kehle und mit der anderen ihren Arm auf den Rücken verdreht. Sie spürte seinen heißen Atem im Nacken. Fast zwei Minuten lang hatte der Polizist ihn am Reden gehalten, aber er wurde zunehmend ungehalten und schien kein Interesse daran zu haben, mit einer lebenden Geisel zu entkommen.

»Lassen Sie das Messer fallen!« schrie der Polizist.

»Leck mich!«

»Fallen lassen! Sofort!«

Sie spürte das Messer hart an ihrem Kehlkopf. Plötzlich fiel ein Schuß.

»Au!« schrie sie.

Dunkelrote Flüssigkeit lief über ihre Stirn und über die Sicherheitsbrille aus Plastik.

In dem überfüllten Saal wurde das Licht eingeschaltet, als Kevin Price, der Leiter des FBI-Seminars über Verhandlungstaktik mit Geiselnehmern, das Gummimesser beiseite legte und an das Mikrophon trat. Er war ein alter Hase mit dreißig Jahren Berufserfahrung und mit seinen grauen Haaren und dem spröden Charme ein gutaussehender Mann. Ein dunkelblauer FBI-Regenmantel hatte seine gestreifte Krawatte und sein blütenweißes Hemd gegen Verunreinigung durch die Übungsmunition geschützt. »Vielen Dank, Officer Crowling.«

Der Freiwillige legte die Übungswaffe verlegen auf den Requisitentisch und verließ eilig das Podium.

»In diesen Krisensimulationen geht es nicht darum, jemanden bloßzustellen«, fuhr Price fort. »Vielmehr soll demonstriert werden, wie leicht es im Ernstfall dazu kommen kann, daß wir am Ende mit einer toten Geisel dastehen. Die direkte Konfrontation mit dem Gangster ist eine der heikelsten Situationen, in die ein Polizist geraten kann. Da sind nicht nur gute Instinkte gefragt, sondern die richtige Ausbildung. In Bruchteilen von Sekunden muß über die richtige Verhandlungstaktik entschieden werden. Und man kann durchaus das Falsche oder Richtige tun und sagen.«

Victoria wischte sich die letzten Reste roter Farbe von der Stirn. »Ich schlage vor, wir machen eine Viertelstunde Pause«, sagte sie, »und wenn wir weitermachen, werden wir uns darüber unterhalten, wie man es vermeidet, die Geisel zu erschießen.«

Ein leichtes Lachen ging durch die Menge, gefolgt von dem Scharren und Murmeln von zweihundert Polizisten, die den Saal verließen und zu den Toiletten strebten.

Victoria zog ihren Regenmantel aus. Auch wenn sie in dem wasserdichten Mantel in der Hitze der Scheinwerfer ins Schwitzen geraten war, hatte sie keinen Grund, sich zu beschweren – immerhin hatte er ihr Kostüm vor den roten Spritzern bewahrt. Sie lächelte Price an, während sie sich die Stirn rieb. »Ich seh wahrscheinlich aus wie ein Zyklop.«

Er trat näher an sie heran, um nachzusehen, wo die Übungspatrone sie getroffen hatte. Mit ihren fünf Zentimeter hohen Absätzen war sie genauso groß wie er – ein Meter achtzig.

»Ein drittes Auge kann manchmal ganz nützlich sein«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. Dann lächelte er. »Aber im Ernst, so schlimm sieht es gar nicht aus. Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit, diese Demos authentisch zu gestalten.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte sie, während sie den Regenmantel zusammenfaltete. »Aber gestatten Sie mir eine Frage. Wie oft haben wir dieses Seminar jetzt schon durchgeführt?«

»Ach, du je! Sechs Jahre lang drei oder vier Vorstellungen pro Jahr. Etwa dreißig bis vierzig Mal, würde ich sagen.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber wie kommt es, daß ich immer die Geisel spiele und Sie den Geiselnehmer?«

Er wirkte perplex, so als habe er darüber noch nie nachgedacht. »Wahrscheinlich hab ich angenommen, daß das unwichtig ist.«

Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es unwichtig, vielleicht auch nicht. Ich wollte nur klarstellen, daß ich beide Rollen spielen kann. Außerdem«, fügte sie mit einem entwaffnenden Lächeln hinzu, »würde es mir wirklich Spaß machen, Ihnen mal die Kehle durchschneiden zu dürfen.«

»Ich werd’s mir merken«, erwiderte er grinsend.

Eine Mitarbeiterin trat hinter dem Bühnenvorhang hervor. »Ms. Santos?« sagte sie. »Telefon für Sie. Der Anrufer hat gesagt, es sei wichtig.«

Victoria beschlich eine böse Vorahnung. Seit vier Monaten leitete sie die FBI-Spezialeinheit, deren Aufgabe es war, einen in den Staaten operierenden Serienmörder zu fassen. Es war mit Abstand die wichtigste Aufgabe, die ihr übertragen worden war, seit sie von der Abteilung für Geiseldelikte zur Abteilung für die Aufdeckung von Kindesentführungen und die Ergreifung von Serienmördern in Quantico, Virginia, gewechselt war. Und meistens bedeutete ein »wichtiger Anruf« schlechte Neuigkeiten.

»Sie können das Gespräch im Büro entgegennehmen«, sagte die Assistentin. Victoria folgte ihr durch die Dunkelheit hinter dem Vorhang zwischen Seilzügen und Requisiten hindurch bis in das neben den Toiletten gelegene Büro. Es war ein fensterloser Raum, kaum größer als ein Wandschrank, der bis oben hin mit Stapeln von Büchern und Akten vollgestopft war. Der Schreibtisch war so mit Papieren übersät, daß das Telefon unauffindbar gewesen wäre, hätte nicht ein rotes Lämpchen am Apparat geblinkt. Victoria schloß die Tür, um ungestört zu sein, und nahm den Hörer auf.

»Santos«, meldete sie sich.

»Pete Weston hier. Tut mir leid, daß ich Sie mitten aus Ihrer Vorstellung reiße, aber Sie hatten mich gebeten, mich zu melden, sobald ich was Neues hätte.«

Sie rieb den letzten Rest Farbe aus den Augenbrauen, dann kniff sie die Augen zusammen, um sich ganz auf das Gespräch zu konzentrieren. Dr. Weston arbeitete als DNA-Experte im Labor der FBI-Zentrale, einer von Hunderten von Fachleuten, auf deren Unterstützung sie angewiesen war.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte sie. »Vielen Dank dafür, daß Sie bereit sind, an einem Samstag zu arbeiten. Irgendwelche Resultate?«

»Ja, aber es wird Sie nicht freuen.«

Sie seufzte, war jedoch nicht überrascht. »Was haben Sie rausgefunden?«

»Nun, ich habe mir als erstes die Proben von dem Tatort in Eugene, Oregon, angesehen. Sie werden sich erinnern, daß wir da ein paar Blutstropfen im Badezimmer gefunden hatten, um das Becken und die Wanne herum, ziemlich weit von der Leiche entfernt. Ich fürchte, daß wir leider die Möglichkeit, daß der Killer sich selbst geschnitten und eigene Blutspuren hinterlassen hat, ausschließen müssen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Einer plötzlichen Eingebung folgend, habe ich das nicht identifizierte Blut aus Oregon mit dem Blut der anderen vier Opfer aus Cleveland, New York, Arkansas und Miami verglichen. Bei Miami habe ich eine Übereinstimmung festgestellt. Er muß das Blut von dem Opfer aus Miami mitgenommen haben, oder es war noch ein Rest an seiner Kleidung. Vielleicht hat er es absichtlich am Tatort verspritzt.«

»Sie meinen, er sammelt das Blut seiner Opfer?« fragte Victoria ungläubig.

»In gewisser Weise, ja. Aber das heißt nicht, daß Sie es mit einem Vampir zu tun haben. Wenn dem so wäre, würden wir wahrscheinlich Blut aus Kaffeetassen untersuchen.«

Victoria sagte nichts, obwohl sie dazu neigte, ihm zuzustimmen. Von dem psychologischen Profil, das sie gemeinsam mit Kollegen ausgearbeitet hatte, wußte sie bereits, daß es sich bei dem Killer keineswegs um einen durchgedrehten Wahnsinnigen handelte, einen sogenannten unkoordinierten Soziopathen, der dumm genug war, Blut, Haare oder Gewebe von sich selbst am Tatort zu hinterlassen, damit die Leute von der Spurensicherung ihre Plastiktütchen damit füllen konnten. Abgesehen davon allerdings wußte niemand so recht, mit wem sie es zu tun hatten. Die widersprüchlichen Signale machten den Fall so verwirrend, und beim Gedanken an eine weitere Sackgasse zog sich ihr Magen zusammen. »Wie sicher sind Sie, was die Übereinstimmung angeht?«

»So gut wie hundert Prozent.«

»Mir ist das sicher genug«, sagte sie. »In Anbetracht der Vorgeschichte war es wohl ziemlich unrealistisch, einen entscheidenden Durchbruch zu erwarten. Trotzdem vielen Dank, Doc. Sie leisten gute Arbeit.«

Sie legte auf und schob einen Stapel Bücher beiseite, um sich auf die Schreibtischkante zu setzen. Nach kurzem Nachdenken kramte sie ihr Diktiergerät aus ihrer Handtasche.

»Samstag, elfter Januar«, fing sie an. »Laborresultate legen Änderung des Täterprofils nahe. Die Grausamkeit der Taten, das Ausmaß des am Tatort angerichteten Blutbads und das Fehlen von Hinweisen auf eine Vergewaltigung legen nach wie vor unplanmäßiges Vorgehen nahe. Die ausgeklügelte Inszenierung sowie das zunehmende Frisieren von Beweismitteln dagegen lassen darauf schließen, daß der Täter mit äußerster Konzentration vorgeht und es gezielt darauf anlegt, die Polizei zu verhöhnen und die Ermittlungen zu behindern, so daß davon auszugehen ist, daß es sich bei dem Täter um einen intelligenten, planmäßig vorgehenden Serienmörder handelt.«

Sie hielt inne und holte tief Atem, als sei ihr gerade erst das ganze Ausmaß ihrer Schwierigkeiten bewußt geworden. Dann schaltete sie das Diktiergerät wieder ein. »Um es kurz zu fassen«, sagte sie mit ernster Stimme, »wir wissen nicht, ob der Täter gezielt oder spontan mordet. Anscheinend haben wir es mit einem einzigartigen soziopathischen Hybriden zu tun. Ein Killer, auf den zwei Beschreibungen passen.«

An jenem klaren, kalten Sonntag war der Gottesdienst um zwölf Uhr mittags zu Ende. Gegen 12.45 Uhr klingelte im Büro des Sheriffs von Candler County in Metter das Telefon. Die Angehörigen der Gemeinde arbeiteten gewöhnlich nicht am Wochenende, da es jedoch höchste Zeit war, Verpflegungsnachschub für die Knastbrüder auf der anderen Seite der Sicherheitsschranke zu bestellen, machte Barbara Easton Überstunden. Die Bibel hatte sie gelehrt, niemals am Sonntag zu arbeiten, aber als neunzehnjährige, alleinerziehende Mutter brauchte sie das Geld, um sich und ihr Kind zu ernähren. »Büro des Sheriffs«, meldete sie sich höflich mit leichtem Südstaatenakzent.

»Guten Tag.« Die Stimme des Mannes war völlig ruhig, sie verriet keinerlei Dringlichkeit. Allerdings klang seine Aussprache gedämpft und undeutlich, wie verstellt. »Ich möchte einen Mord melden.«

»Einen Mord? Sie meinen, jemand ist ermordet worden?«

»Das ist die einzige Art von Mord, die mir bekannt ist.«

»Wo? Ich schicke einen Krankenwagen.«

»Zu spät. Wie ich schon sagte: Sie ist tot.«

»Okay. Äh. Beruhigen Sie sich erst mal, ja?« Sie fingerte nervös an ihren Haaren herum, sprach mehr zu sich selbst als mit dem Anrufer. »Sind Sie sicher, daß sie tot ist?«

»Absolut sicher. Ich bin derjenige, der sie getötet hat.«

Sie öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus. »Sie –« krächzte sie schließlich. »Sie rufen an, um Ihren eigenen Mord anzuzeigen?«

»Es ist nicht mein Mord, Mädel. Ich bin nicht tot. Ich bin der Mörder.«

Der herablassende Tonfall verlieh seinen Worten noch mehr Nachdruck. Barbaras Hände begannen zu zittern, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. »Sind Sie – soll das ein schlechter Scherz sein?«

»Ich werde mich so deutlich ausdrücken, wie es mir möglich ist, Lady. Die letzte Person, mit der ich gesprochen habe, liegt jetzt als Leiche auf dem Fußboden in ihrem Schlafzimmer.«

Barbara hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Sie arbeitete erst seit einem Monat als Sekretärin. In ihrer Ausbildung hatte man ihr nicht beigebracht, mit so etwas umzugehen, aber ihr Instinkt sagte ihr, daß sie ihn dazu bringen mußte, mit einem Polizisten zu reden. »Sir, möchten Sie mit dem Sheriff sprechen?«

»Ich möchte mit jemandem sprechen, der verdammt noch mal weiß, was er tut. Und zwar ein bißchen plötzlich.«

»Eine Sekunde.« Mit zitternden Fingern drückte sie die Halten-Taste, legte den Hörer neben den Apparat und hastete den Korridor hinunter. »Sheriff!« rief sie. »Kommen Sie, schnell!«

Sheriff John Dutton stand im Hinterzimmer neben der Kaffeemaschine und plauderte mit seinem Stellvertreter. Er war zweiundfünfzig Jahre alt, hatte sehr helle, sommersprossige Haut und welliges, rotes Haar, das bereits stark ergraut war. Nachdem er achtundzwanzig Jahre lang im Streifenwagen durch die Stadt gekreuzt und allabendlich mit seinen Kumpels im örtlichen Egg ’N You Diner zusammengehockt war, hatten sich etwa zwölf Kilo Übergewicht um seine Hüften angesammelt. Keuchend und mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen stürzte Barbara ihm entgegen.

»Da ist ein Mann am Telefon«, stieß sie hervor. Ihre Brust hob und senkte sich, als sie nach Luft rang. »Er sagt, er hat jemanden ermordet.«

Der Sheriff sah sie ungläubig an, doch ihre Augen sagten ihm, daß sie es todernst meinte. Er ließ seinen Schoko-Donut auf die Anrichte fallen und rannte zum Telefon. Ein riesiger Schlüsselbund klimperte an seinem Gürtel, und seine dicken Oberschenkel in der engen Polyesterhose verursachten ein rhythmisches Geräusch, als sie beim Laufen aneinanderrieben. Er ließ sich in den Schreibtischstuhl fallen und hielt den Atem an. »Hat er sonst noch was gesagt?« erkundigte er sich schnell, bevor er das Gespräch entgegennahm.

»N-Nee. Nur, daß er einen umgebracht hat. Aber seine Stimme klingt irgendwie komisch. Als ob er sie verstellt.«

Er nahm den Hörer in die Hand, zögerte und verzog das Gesicht. Seit Jahren hatte er immer wieder eine moderne Telefonanlage beantragt, aber der County-Etat reichte noch nicht einmal für ein Gerät aus, mit dem man die Notrufe aufzeichnen konnte, die unter der neuen Nummer 911 eingingen, von den Anrufen im Büro des Sheriffs ganz zu schweigen. »Geben Sie mir mein Diktiergerät«, bellte er.

Barbara eilte an seinen Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand, durchwühlte eine Schublade voller Kugelschreiber, Bleistifte und zerknülltem Schokoladenpapier und brachte ein Diktaphon zum Vorschein. Hastig reichte sie es dem Sheriff, der den Hörer abnahm, das Diktiergerät einschaltete und es an die Hörmuschel hielt. Er räusperte sich nervös, dann drückte er auf den blinkenden Knopf am Apparat. »Hallo, hier spricht Sheriff John Dutton. Mit wem spreche ich?«

»Prince Charles«, lautete die sarkastische Antwort. »Ich werde Ihnen wohl kaum unter die Nase reiben, wer ich bin, Sie Trottel.«

»Okay, kein Problem. Überhaupt kein Problem.« Er hatte den ruhigen, verständnisvollen Tonfall angeschlagen, mit dem er bei Dutzenden von Familienzwistigkeiten verhindert hatte, daß sie in einem Blutbad endeten. »Wie ich höre, wollen Sie einen Vorfall anzeigen.«

»Keinen Vorfall. Einen Mord.«

»Möchten Sie mir mehr darüber erzählen?«

»Was wollen Sie denn hören, Sheriff? Wie sie mich angefleht hat, sie zu verschonen? Oder wie sie geschrien hat, als ich sie getötet habe?«

Der Sheriff holte tief Luft, zwang sich, keine Gefühle zu zeigen. »Das heißt also, das Opfer ist eine Frau?«

»Jetzt kommen wir der Sache näher.«

»Wer ist es?« Er schloß die Augen aus Furcht, daß er sie kennen könnte.

»Sie heißt Gerty. Wohnt drüben in Hainesville.«

Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn, das Gesicht schmerzverzerrt. In Hainesville gab es nur eine Gerty; auf der ganzen Welt gab es nur eine Gerty. Er schluckte seine Wut hinunter und zwang sich, seinen freundlichen Ton beizubehalten – Hauptsache, der Typ hörte nicht auf zu reden. »Wollen Sie mir wirklich nicht sagen, wer Sie sind, Partner?«

»Klar. Ich bin der Typ von nebenan, du Arschloch. Ich bin der Typ, der bei Piggly Wiggly hinter dir in der Schlange steht.«

»Haben Sie auch einen Namen?«

»Noch so ’ne blöde Frage, Sheriff, und ich werde Sie bitten müssen, das Mädel wieder an den Apparat zu lassen.«

»In Ordnung. Bleiben Sie dran, ja?« Er trank einen Schluck kalten Kaffee aus Barbaras Styroporbecher, ohne sich um die Lippenstiftspuren am Rand zu scheren. »Sagen Sie mir nur noch eins: Kannten Sie Gerty – oder hat sie Sie gekannt?«

»Bin ihr noch nie vorher begegnet. Hab sie noch nie gesehen.«

»Aber warum um Himmels willen haben Sie sie dann umgebracht?«

»Weil ich ein schlechter Mensch bin.«

»Also, Sie müssen doch irgendeinen Grund haben. Man bringt doch nicht irgend jemanden grundlos um.«

»Sie denken viel zu logisch, Sheriff.«

»Ich will nur wissen, warum Sie es getan haben. Das ist alles.«

»Okay. Ich sag Ihnen, warum.« Die Stimme klang plötzlich wütend. Er sprach jetzt langsam und akzentuiert, mit unheimlichen Pausen zwischen den einzelnen Worten, so als antworte ein anderer Teil von ihm. »Weil … ich … Lust dazu … hatte.«

Der Sheriff zuckte zusammen. Er klang, als ob er das ernst meinte – der Typ hatte einfach Lust gehabt zu töten. »Wo ist sie jetzt? Wo ist der Leichnam?«

Der Mann seufzte, dann war Stille. Wertvolle Sekunden verstrichen. Der Sheriff spürte, wie sein Hals trocken wurde. Er fürchtete, er hätte ihn verloren. »Hören Sie, Partner. Wir wollen keine Spielchen spielen. Wo haben Sie die Leiche hingebracht?«

»Ich habe sie nirgendwo hingebracht. Ich fass’ es einfach nicht, daß ihr Provinzbullen noch nicht hier seid. Scheiße, Mann, wenn ich hier sitzen und warten müßte, bis du und dein vertrottelter Hilfssheriff sie finden, wird nie jemand meine Arbeit zu schätzen wissen!«

»Wieso? Wann haben Sie sie denn getötet? Sagen Sie mir wenigstens das.«

»Vor zwei Tagen.«

»Und wieso rufen Sie erst jetzt an?«

»Ich war noch nicht fertig mit ihr.«

»Was soll das denn heißen?«

Er machte einen sarkastischen, gelangweilten Seufzer. »Es heißt, daß ich jetzt mit ihr fertig bin.«

»Sie verdammter Hurensohn! Was haben Sie mit ihr gemacht?« Der Sheriff saß nur noch auf der Stuhlkante, das Gesicht rot vor Wut.

»Tut mir leid, Sheriff«, sagte der andere kühl. »Das war Ihre letzte blöde Frage.«

Es klickte in der Leitung, dann ertönte das Freizeichen.

3

Zwei Vergewaltigungen, neun Raubüberfälle und eine Schießerei mit tödlichem Ausgang. Nach dreizehn Jahren bei der MIAMI TRIBUNE hatte Mike Posten genug Verbrechen gesehen, um die tägliche Liste so emotionslos herunterbeten zu können wie: »Zwei Spiegeleier mit Speck und Toast«.

Mit einer Größe von einsfünfundachtzig konnte er, wenn nötig, einschüchternd wirken, und bei ein paar von den Typen, mit denen er zu tun bekam, war das absolut nötig. Er war ein angenehmer Gesprächspartner, ohne ein Süßholzraspler zu sein, hatte warme braune Augen und ein entwaffnendes Lächeln, das ihm früher einmal den Ruf eines Herzensbrechers eingetragen hatte. Seine Lehrer an der Journalistenschule hatten gemeint, er hätte, wenn er auch kein Schönling sei, das Talent und die Ausstrahlung, um es bei einem der größeren Nachrichtensender zu etwas zu bringen. Er hatte jedoch schon immer das gedruckte Wort als höchste Form des Journalismus betrachtet. Die Zeitung am Morgen hielt die Welt im Gleichgewicht. So respektlos er auch manchmal sein konnte, betrieb er sein Handwerk mit einer Hingabe, die ihm den Pulitzerpreis und die widerwillige Bewunderung seiner Kollegen eingetragen hatte.

Jener Montagmorgen war besonders anstrengend gewesen. Den größten Teil des Vormittags hatte Mike in »Little Havanna«, Miamis kubanischem Viertel, damit vergeudet, einen Betrunkenen zu interviewen, dessen Schuhe mit Erbrochenem beschmiert waren. Der Mann behauptete, er hätte in einer Mülltonne ein Paar Sportschuhe gefunden, in denen noch die Füße steckten. Normalerweise hätte Mike ohne Mittagspause durchgearbeitet, aber heute hatte er etwas Persönliches zu erledigen.

Der Mittagsverkehr rollte zügig über den MacArthur Causeway. Die sechs Spuren in Richtung Westen, die die Wolkenkratzer von Miami mit der vorgelagerten Insel Miami Beach verbanden, schienen durch das blaugrüne Wasser von Biscayne Bay zu pflügen. Nach Süden hin erstreckte sich der Government Cut, ein schmaler Wasserweg für Ausflugsdampfer und Lastkähne, der wie ein kilometerlanger Finger vom Atlantik her ins Landesinnere schnitt. Im Norden lagen kleine Inseln, von prächtigen Villen gesäumt, die irgendwann Leuten wie Al Capone oder Julio Iglesias gehört hatten.

Mike und Karen Posten fuhren in getrennten Wagen vom Sprechzimmer ihres Eheberaters zu einem Restaurant in Miami Beach. Sie war in ihrem Infiniti in Führung gegangen. Er folgte ihr in seinem schwarzen Saab Cabrio. Es war eine Metapher für den derzeitigen Status ihrer Beziehung, dachte Mike – getrennt, er in der Rolle des Verfolgers. Vor zwei Monaten hatte sie ihm nahegelegt, sich eine Wohnung zu suchen. Sie hatte geschworen, daß es keinen Geliebten gab. Sie fühlte sich weder physisch noch psychisch mißhandelt. Es gab keine finanziellen Probleme. Und vor allem gab es keine Leidenschaft in ihrer Beziehung. In acht Jahren Ehe hatten sie beide Karriere gemacht, und die Leidenschaft war der Gewöhnung gewichen. So hatte es jedenfalls ihr Berater formuliert.

»Hab sie verloren«, brummte Mike, als er nach Norden in den Ocean Drive einbog. Wahrscheinlich sahen Dutzende von Autos genauso aus wie ihres, schließlich handelte es sich bei dem Modell, das sie fuhr, um Floridas derzeitig beliebteste Luxuslimousine. Mike hätte einen Wochenlohn darauf verwettet, daß er eines Tages beim Polizeifunkabhören nicht etwa vernehmen würde, der Verdächtige sei in einer weißen, viertürigen Limousine entkommen, sondern daß es vielmehr demnächst heißen würde, der Verdächtige sei nicht in einem schwarzen Infiniti unterwegs.

Einige Blocks entfernt entdeckte er seine Frau, die gerade eins der Straßencafés betrat, die South Beach so attraktiv machten. Da es zwecklos war, auf dem Ocean Drive einen Parkplatz zu suchen, reihte er sich mit seinem Cabrio in die Schlange vor dem Parkservice ein, direkt hinter einem flammendroten Porsche, auf dessen Nummernschild die Buchstaben LEDIG DR prangten. Sollte jemals einer auf die Idee kommen, die Legalisierung von Drive-by-Shootings zu fordern, dann mußten Typen wie dieser Porschefahrer der Auslöser sein.

Der Ocean Drive war, zumindest in den Augen der Einheimischen, die Straße mit den schönsten und farbenprächtigsten Art deco-Hotels der Welt. An einem sonnigen Nachmittag wie diesem tummelten sich auf dieser Flaniermeile leichtbekleidete Strandhäschen und alles, was sehen und gesehen werden wollte. Touristen schlürften Espresso und parlierten in einem Dutzend verschiedener Sprachen. Inlineskaters kurvten zwischen Passanten hindurch und entschuldigten sich für Rempler und Frontalzusammenstöße mit einem ziemlich coolen »Sorry«.

Mike hatte sich noch nie der sogenannten Schickeria von South Beach zugehörig gefühlt, auch wenn sein achtunddreißigjähriger Körper vom jahrelangen Schwitzen an der Ruderbank und seiner Leidenschaft für Sportarten wie Basketball und Squash immer noch gut durchtrainiert war. Als er mit Anfang Dreißig beginnende Geheimratsecken bei sich entdeckte, war er kurzfristig in Panik geraten, doch der Haarausfall hatte sich wieder gelegt, und inzwischen stand außer Frage, daß sein dichter, dunkler, leicht graumelierter Haarschopf ihm bis in seine mittleren Jahre erhalten bleiben würde.

Als er endlich sein Parkticket bekam, saß Karen bereits an einem schmiedeeisernen Tisch unter einem Cinzano-Sonnenschirm. Er suchte Blickkontakt mit ihr und winkte ihr von weitem zu. In ihrem marineblauen Kostüm und ihrer Perlenkette wirkte sie ein wenig fehl am Platz, aber wie sie dasaß und sich mit der Speisekarte Luft zufächelte, sah sie trotzdem phantastisch aus. Sie trug ihr dichtes, braunes Haar schulterlang, links etwas länger als rechts – ein verwegener Schnitt für die jüngste Partnerin bei Saunders & Sires, der größten und vor allem spießigsten Anwaltskanzlei von Miami. Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie sechs Jahre jünger als Mike, aber sie besaß die unheimliche Fähigkeit, je nach Bedarf jünger oder älter zu wirken. In jedem Fall sah sie umwerfend aus – trügerisch schön für eine Frau, die das beste Juraexamen ihres Jahrgangs abgelegt und als Chefredakteurin für die UNIVERSITY OF MIAMI LAW REVIEW gearbeitet hatte.

Mike erreichte ihren Tisch, als der Kellner gerade zwei Teller Salat servierte.

»Ich hab’s ziemlich eilig«, sagte Karen, »deshalb hab ich einfach für dich mitbestellt. Brathähnchen und gemischten Salat.«

»Klingt gut.« Er zog einen Stuhl heran, legte sich eine Stoffserviette über die Knie und beäugte mißtrauisch die glänzende Edelstahlschüssel, die seinen Salat enthielt.

»Sie servieren den Salat in Hundenäpfen«, erklärte Karen. »Deswegen heißt der Laden ›Das hundsgemeine Café‹. Raffiniert, was?«

»Das ist mehr als raffiniert«, erwiderte er grinsend. »Ich würde sagen, das ist etwa so originell wie die Vorstellung, daß in der Russischen Teestube die Vorspeisen in Teetassen serviert werden.«

Nachdem sie sich eine Weile über belanglose Dinge unterhalten hatten, aßen sie schweigend ihren Salat, nicht, weil sie sich nichts zu sagen gehabt hätten, sondern weil ihnen der Mut fehlte, über das zu sprechen, was sie bewegte. Erst als sie ihre Näpfe fast geleert hatten, gelang es ihnen, das Gespräch in ernstere Bahnen zu lenken.

»Die Therapiestunde ist heute gut gelaufen«, sagte Mike. »Findest du nicht?«

»Auf jeden Fall besser«, erwiderte sie achselzuckend. »Ich denke allerdings, daß wir noch einiges vor uns haben.«

Er starrte auf seinen Napf. Langsam kam er sich vor wie ein Hund. Wirf mir einen Knochen zu, Karen.

»Mike, bitte versteh mich nicht falsch, aber ich wünschte, du würdest nicht immer von mir erwarten, daß ich den Status unserer Beziehung kommentiere. Du scheinst dich einzig dafür zu interessieren, wie nahe wir einer Lösung unserer Probleme sind. Aber du redest nie über das, was wir tun müßten, um unsere Beziehung wieder in Ordnung zu bringen.«

»Tut mir leid. Mir hat einfach ganz gut gefallen, was Dr. Newsome heute über unser psychologisches Profil gesagt hat – daß wir uns so ähnlich sind.«

Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Das hat sie nicht gesagt. Sie hat gemeint, daß wir jeweils das psychologische Spiegelbild des anderen sind.«

»Was bedeutet, daß wir genau gleich sind.«

»Es bedeutet, daß wir vollkommen gegensätzlich sind. Wenn man in den Spiegel schaut, ist alles umgekehrt.«

Er schaute verwirrt weg. »Tja, so kann man das auch sehen.«

»Wünschen Sie noch etwas?« unterbrach sie der Kellner.

»Nein, danke«, sagte Karen. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Tut mir leid, aber ich muß zurück in die Kanzlei. Ich habe um halb drei eine außergerichtliche Anhörung mit einem stellvertretenden Bankdirektor.«

»Soll das heißen, du hast keine Zeit mehr für das Hundekuchensoufflé?«

Sie lächelte und öffnete ihre Handtasche.

»Ich lad dich ein«, sagte er. »Du kannst die Rechnung übernehmen, wenn wir in der Russischen Teestube dinieren.«

»Abgemacht.«

Sie verabschiedeten sich mit einem flüchtigen Kuß. Er sah ihr nach, wie sie zu ihrem Auto ging, in der Hoffnung, sie würde sich noch einmal umdrehen, ihm vielleicht noch ein Lächeln schenken. Sie schenkte ihm keins.

Er bestellte sich noch ein Evian mit Zitrone, dann beobachtete er die Leute, die über den breiten Gehweg des Ocean Drive flanierten. Eine bildschöne Brünette in einem raffiniert geschlitzten Schlauchkleid stöckelte auf die FORD-Agentur zu. Ein altersschwacher Rentner schlurfte mit seiner Gehhilfe vorbei. Unglaublich, dachte Mike, South Beach war der einzige Ort auf der Welt, wo selbst der reaktionäre Bulle aus Brooklyn, der hier seinen Urlaub verbrachte, genauso ins Bild paßte wie der extravagante Transvestit, der mit sechs Pudeln an der Leine daherkam. Friedliche Koexistenz. Warum kam ihm dann das Gespräch mit Karen wie ein Boxkampf vor?

Um 14.10 Uhr hörte er über sein Handy zuerst seinen Anrufbeantworter im Büro und dann den in seiner Wohnung ab. Das heißt, Zacks Wohnung. Während er darauf wartete, daß es zum viertenmal klingelte, fiel ihm plötzlich auf, daß er seit fast zwanzig Jahren denselben besten Freund hatte. Karen schien mit niemandem länger als einige Monate in Kontakt zu bleiben. Vielleicht waren sie tatsächlich vollkommen gegensätzlich.

»Hallo«, meldete sich Zack.

»Idiot. Wieso nimmst du ab? Ich wollte nur meinen Anrufbeantworter abhören.«

»Mann, ich freu mich auch, deine Stimme zu hören, Alter.«

»Tut mir leid. Ist nicht grade mein glorreichster Tag heute.«

»Kein Problem. Jedenfalls blinkt kein Lämpchen an deinem Anrufbeantworter, es scheint dich also niemand zu lieben. Aber heute morgen ist ein Päckchen für dich angekommen. Irgendwie komisch. Es steht überall drauf: ›Wichtig. Sofort öffnen‹, dabei ist es noch nicht mal per Luftpost gekommen, das heißt, es ist seit drei Tagen unterwegs.«

»Von wem ist es denn?«

»Kann ich dir nicht sagen. Ich kann den Absender nicht lesen. Sieht so aus, als ob es in Atlanta aufgegeben worden ist.«

»Los, mach’s auf.« Mike hörte, wie das Päckchen aufgerissen wurde, dann hörte er überhaupt nichts mehr, weil ein Jeep voller Brasilianerinnen in Bikinis mit voll aufgedrehten Lautsprechern vorbeifuhr.

»Hmm«, sagte Zack. »Das ist ja merkwürdig.«

»Was?«

»Es ist nur ein Blatt Papier. Steht nichts drauf, nur der Name einer Frau. Mit Schreibmaschine getippt. Kennst du eine Gertrude Kincaid?«

Mike blieb die Luft weg. Seit das erste Opfer in Miami gefunden worden war, verfolgte er die Spur der »Zungenmorde«. »Ich schreibe gerade an einem Artikel über sie.«

»Eine von deinen Quellen?«

»Nein. Ein Opfer. Sieht so aus, als ob sie die Nummer sechs ist, die auf das Konto von diesem Serienmörder geht, über den ich schon mehrmals berichtet hab. Erst heute morgen hab ich ihren Namen erfahren. Kleine Stadt in Georgia. Die Polizei hat gestern ihre Leiche gefunden, aber sie nehmen an, daß sie irgendwann am Freitag umgebracht wurde.«

»Freitag?«

»Ja, wieso?«

»Wie ich schon sagte, das Päckchen ist drei Tage unterwegs gewesen. Und es ist am Donnerstag abgeschickt worden.«

Mike konnte plötzlich seinen eigenen Atem hören. »Rühr nichts an, okay? Laß alles so, wie es ist. Ich komme sofort.« Er schaltete das Handy ab und rannte zu seinem Wagen.

4

Die alle Rekorde brechende Kaltfront schob sich an jenem Montag nachmittag über das südliche Georgia. Eine unheimliche Dunstglocke aus grauen Wolken lag über der braunen, hügeligen Landschaft, die von dem plötzlichen Einbruch der arktischen Kälte in einen Schockzustand versetzt zu sein schien. Auf den Feldern entlang des Highway 46 standen Rinder dichtgedrängt beieinander, um sich gegenseitig vor dem kalten Nordwind zu schützen. Wo die langen Stacheldrahtzäune aufhörten, säumten kahle Eichen und Azaleen die stillen Straßen von Hainesville.

Spezialagentin Victoria Santos parkte ihren Mietwagen Marke Oldsmobile in der Peach Street vor dem Haus Nummer 501. Auf dem Briefkasten am Ende der Einfahrt stand der Name »Kincaid«. Als sie ihre Wagentür öffnete, fuhr gerade ein blauweißer Lieferwagen mit der Aufschrift ACTION NEWS ab. Sie ging davon aus, daß dies nicht die einzigen Medienleute waren, die während der letzten vierundzwanzig Stunden, seit man die Leiche entdeckt hatte, hier aufgekreuzt waren. Ein neugieriger Nachbar hinter einem weißen Lattenzaun beobachtete, wie sie sich unter den gelben Polizeiabsperrungen hindurch duckte und über die mit roten Ziegeln gepflasterte Einfahrt auf das Haus zuging. Drei Männer in braunen Lederjacken und dunkelbraunen Hosen, der Polizeiuniform von Candler County, standen auf der überdachten Veranda in dem durch ein weiteres gelbes Band abgesperrten, der Polizei vorbehaltenen Bereich des Tatorts. Es war so kalt, daß Victoria ihren Atem sehen konnte. Kleine Gesprächswölkchen kamen aus allen Richtungen, schienen miteinander zu wetteifern.

Victoria rieb sich die Hände und zog ihren Trenchcoat enger um sich, während sie leise über die Kälte fluchte. Sie war Welten entfernt von der feuchten Hitze Kubas, wo sie vor dreiunddreißig Jahren geboren worden war, und auch vom warmen Klima in Miami Beach, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. Seit zehn Jahren, seit sie die FBI-Akademie abgeschlossen hatte, lebte sie im Norden, doch sie hatte sich noch immer nicht an das Klima gewöhnt. Seltsamerweise war es heute morgen in Virginia wärmer gewesen als hier in Georgia, und sie hatte keine Zeit gehabt, sich nach dem Wetter zu erkundigen, bevor sie nach Savannah geflogen war, geschweige denn in Ruhe zu packen. Sie war mit der Bubird – wie die Mitarbeiter das FBI-eigene Flugzeug nannten – fünf Minuten nach einem dringenden Anruf ihres Chefs direkt von der Startbahn in Quantico hergeflogen.

»Santos, FBI«, sagte sie und zeigte kurz ihren Ausweis. Sie stand auf der vorletzten Stufe, direkt vor der Absperrung. »Ich suche Sheriff John Dutton.«

Die Blicke der Männer, die ihre Unterhaltung abrupt abbrachen, machten sie leicht nervös. Sie war größer als der Sheriff, aber eine Stufe tiefer als die Männer auf der Veranda kam sie sich viel kleiner vor. Wahrscheinlich hätten sie sie bei einem Gemeindeflohmarkt attraktiv gefunden, doch hier empfanden sie sie lediglich als Eindringling.

Sheriff Dutton trat einen Schritt vor, die Hände lässig auf die Hüften gestützt. Er kam so nah an sie heran, daß sie das Namensschild auf seiner Brust lesen konnte, aber er stellte sich nicht vor. »Ich nehme an, Sie sind die Unterstützung, die sie uns aus Washington schicken.«

»Nicht direkt aus Washington. Ich arbeite außerhalb von Quantico, Virginia. Vielen Dank, daß Sie uns benachrichtigt haben.«

»Meine Idee war das nicht, irgend jemanden zu benachrichtigen. Aber der Staatsanwalt wollte unbedingt die Bundespolizei einschalten. Weiß der Teufel, was er sich davon verspricht – wir kümmern uns schon selbst um unsere Angelegenheiten.« Er bedachte Victoria mit einem abschätzenden Blick. »Ich sage es Ihnen nur, Miss, ich leite diese Untersuchung.«

Noch keine fünf Minuten am Tatort, und schon watete sie knietief in Testosteron, dachte sie. »Ich bin absolut willens, Ihre Autorität zu respektieren, Sheriff. Allerdings sollten Sie wissen, daß meine Anwesenheit hier ihre Gründe hat. Ich habe in den letzten vier Monaten in fünf verschiedenen Staaten zusammen mit den jeweils örtlichen Behörden in fünf Mordfällen ermittelt, die vermutlich mit diesem hier in Verbindung stehen.«

»Was Sie nicht sagen … Also, im Moment ist das hier der einzige Mord, an dem wir interessiert sind. In Hainesville gibt’s nichts Wichtigeres als eine Angelegenheit, die die Gemeinde betrifft.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Dann können Sie sich hoffentlich ebenfalls vorstellen, daß wir die Sache vollkommen im Griff haben. Der Tatort ist abgesichert. Das habe ich höchstpersönlich in die Hand genommen, um sicherzustellen, daß nichts verändert wird. Ich habe den ersten Bericht geschrieben, einen Grundriß gezeichnet, Fotos gemacht und einen Videofilm gedreht. Das können Sie sich alles ansehen. Aber ich lasse es mir nicht gefallen, daß hier irgend jemand mit ’ner Hundemarke aufkreuzt und sich ungefragt in meinen Fall einmischt.«

»Seien Sie versichert, ich möchte mit Ihnen zusammenarbeiten, um diesen Killer zu schnappen. Über den Tatort können wir uns später unterhalten. Zunächst möchte ich gern die Leiche sehen.«

»Die ist schon lange weg. Ein Leichenwagen hat sie gestern abgeholt. Die Leute von der Kripo haben sie zur Gerichtsmedizin in Macon gebracht.«

»Ich weiß, ich bin auf dem Weg dorthin. Aber ich hatte gehofft, Sie würden mich begleiten und mir ein paar Hintergrundinformationen geben. Ich bin sicher, daß Ihre Erkenntnisse auch für mich von großer Bedeutung sind. Ich hoffe, ich kann auf Sie zählen?«

Beinahe hätte sie auch noch mit den Wimpern geklimpert – dabei hatte sie Mühe, ein ernstes Gesicht zu bewahren. Mit ihrer gerichtsmedizinischen Ausbildung hätte sie die Autopsie praktisch selbst durchführen können und brauchte keinen Provinzsheriff, der sie durch die Leichenhalle führte. Andererseits war es taktisch unumgänglich, zu Beginn einer Untersuchung den Beamten der örtlichen Polizei zu versichern, daß man nicht vorhatte, sie aus ihrem eigenen Fall zu drängen.

»Also gut«, sagte er, anscheinend geschmeichelt. »Ich fahre.«

Innerhalb von zwei Minuten waren sie im Streifenwagen unterwegs auf der Autobahn in Richtung Westen. Normalerweise diente das Bestattungsunternehmen von Cunningham als Leichenschauhaus für Hainesville. Doch der örtliche Gerichtsmediziner, der ansonsten als Notfallarzt im Kreiskrankenhaus von Candler County arbeitete, hatte bereits eine unnatürliche Todesursache diagnostiziert, und deswegen war die Leiche zur Obduktion ins gerichtsmedizinische Institut von Georgia gebracht worden. Es war eine einstündige Fahrt, größtenteils Autobahn, so daß Victoria reichlich Zeit hatte, ihre Aufzeichnungen noch einmal durchzusehen.

»Was können Sie mir über Mrs. Kincaid erzählen?« fragte sie, als sie schließlich von ihren Papieren aufblickte. Die Scheibenwischer flitzten quietschend über die Windschutzscheibe, wischten dicke Tropfen weg, die Vorboten des ersten Schnees seit über fünf Jahren in Candler County.

»Alter achtundsiebzig, Witwe. Ihr Mann, ein Abgeordneter, ist gestorben, als sie Anfang Vierzig war. Sie hat nie wieder geheiratet, hat ihre damals zweijährige Tochter ganz allein großgezogen und wurde vor fünfzehn Jahren als erste Frau zur Bürgermeisterin von Hainesville gewählt. Vor ein paar Jahren ist sie in Rente gegangen, aber sie kam immer noch zu jeder Stadtratssitzung. Lebte allein, fuhr überallhin im eigenen Wagen und stieg jedem aufs Dach, der ihr nahezulegen versuchte, sie sei vielleicht zu alt dafür. Als sie das letztemal einen Sonntagsgottesdienst verpaßt hat, muß Johnson noch Präsident gewesen sein, und die Tage, die sie in ihrem Leben krank war, kann man an einer Hand abzählen. Deshalb ist es gleich aufgefallen, als sie gestern früh nicht in der ersten Reihe in der Kirche saß.« Er drehte sich zu ihr und sah sie direkt an. »Und darum ist es so wichtig, daß ich das Tier zu fassen kriege, das sie umgebracht hat.«

»Und darum bin ich hier. Um Ihnen dabei zu helfen.«

»Ich weiß, warum Sie hier sind«, sagte er verächtlich. »Sie halten uns für ein paar Dorftrottel, die mit einem Mordfall überfordert sind, bloß weil hier seit der Zeit, als die Bösen in blauen und die Guten in grauen Uniformen rumliefen, kein Mord mehr passiert ist. Aber da irren Sie sich gewaltig, Miss. Wir wissen genau, was wir tun.«

»Da bin ich absolut sicher. Meine Anwesenheit hat nichts damit zu tun, ob Sie gute oder schlechte Polizisten sind.« Sie überlegte, wie sie ihm ihre Anwesenheit erklären konnte, ohne ihn zu beleidigen. »Haben Sie schon mal von CASKU gehört, Sheriff?«

Er zog die Augenbrauen zusammen und dachte scharf nach, schien sich jedoch nicht zu erinnern, um was es sich handelte. »Schon mal gehört. Das ist ’ne Abkürzung für … irgendwas.«

»Es handelt sich um die Child Abduction and Serial Killer Unit, die FBI-Sondereinheit in Quantico, die sich auf die Aufklärung von Kindesentführungen und Serienmorden spezialisiert hat. Diese Einheit ist ziemlich neu, und sie wurde eingerichtet, um überall, egal ob auf lokaler, auf Staats- oder Bundesebene die zuständigen Beamten bei ihren Ermittlungen in Fällen von Kindesentführung oder bei der Ergreifung eines Serienmörders zu unterstützen. Meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, daß Sie jede Art von Dienstleistung erhalten, die Sie brauchen – Fallanalysen, Erarbeitung von Ermittlungsstrategien, Koordination der technischen und gerichtsmedizinischen Ermittlungsergebnisse, Nutzung der Dienste von FBI-Archiven und -Laboreinrichtungen. Außerdem koordiniere ich unsere Persönlichkeitsanalysen von unbekannten Serienmördern. Das nennt sich ›Profiling‹.«

»Jetzt, wo Sie’s mir beschreiben, ich hab tatsächlich schon mal davon gehört. Von Ihnen kommen immer diese grauenhaften Formblätter.«

»Wahrscheinlich meinen Sie die Formblätter von VI-CAP, Violent Criminal Apprehension Program, das Programm zur schnelleren Ergreifung von Gewalttätern. Die Formblätter sind wirklich endlos lang, aber es ist einfach äußerst wichtig, daß die Informationen, die nach Quantico zurückfließen, so vollständig und so genau wie möglich sind, wenn sich die Mühe lohnen soll. Um die Täterprofile zu entwickeln, wurden zunächst bereits verurteilte Mörder wie Manson, Richard Speck und Ted Bundy befragt. Inzwischen verfügen wir über eine riesige Datenbank, die Täterprofile von praktisch jedem Serienmörder dieses Jahrhunderts umfaßt. Es geht darum herauszufinden, wie diese Typen funktionieren, was sie umtreibt, was sie vor, während und nach den Morden empfinden. Wir lernen immer noch dazu, aber die Spezialisten in Quantico können sich jetzt die Ermittlungsergebnisse in einem bestimmten Fall ansehen und daraus ein psychologisches Täterprofil entwickeln. Das gibt dann den Ermittlern vor Ort Anhaltspunkte, nach was für einer Art von Täter sie suchen müssen.«

»Aber wenn es sich, wie Sie sagen, um den sechsten Mord handelt, muß es doch inzwischen ein Täterprofil geben.«

»Es ist leider kein wirklich brauchbares. Dieser Fall ist besonders kompliziert. Wir nehmen an, daß es sich um einen männlichen Täter handelt, aber nur deshalb, weil es kaum weibliche Serienmörder gibt. Das klassische Opfer ist weiblich, zwischen fünfzehn und dreißig Jahre alt. In diesem Fall haben wir drei männliche und – Mrs. Kincaid mitgezählt – drei weibliche Opfer, die Altersspanne reicht von einunddreißig bis achtundsiebzig. Der klassische Serienmörder ist ein sadistischer Psychopath und Triebtäter, der sich seine Opfer innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe sucht. Im vorliegenden Fall wurde keins der Opfer sexuell mißbraucht, drei der Opfer sind weiß, zwei schwarz und eins lateinamerikanischer Herkunft. Als ob das nicht schon verwirrend genug wäre, stammen die Opfer auch noch aus sechs verschiedenen Staaten und aus sechs sehr unterschiedlichen Orten. Manhattan. Eugene, Oregon. Miami. Cleveland. Fayetteville, Arkansas. Und jetzt Hainesville.«

»Da kann ich aber keinen roten Faden entdecken. Was veranlaßt Sie denn zu der Annahme, daß es einen Zusammenhang zwischen den Morden gibt?«

»Das verdanken wir wiederum dem VI-CAP. Mit Hilfe des Computers können wir Zusammenhänge zwischen Verbrechen aufdecken, die in verschiedenen Staaten begangen worden sind, die so niemals aufgefallen wären – Sie kennen ja den Witz von dem Killer, der in Oregon seinen Namen auf die Stirn des Opfers schreibt, während die Polizei in Cleveland, die denselben Täter sucht, keine Ahnung hat, gegen wen sie ermitteln soll. VI-CAP hat uns auf eine Übereinstimmung hingewesen, nachdem das dritte Opfer in Miami gefunden wurde. Es ist die sonderbare Vorgehensweise des Täters. Zugegeben, das ist die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Opfern, die den Gedanken an einen einzigen Täter nahelegt, aber es ist ein sehr eindeutiger Anhaltspunkt. Eher eine Art Unterschrift als eine einheitliche Vorgehensweise: Alle Opfer wurden mit mehreren Messerstichen getötet. Und jedem Opfer wurde die Zunge aus dem Mund gerissen.«

Dutton zuckte zusammen bei dem Gedanken, wie schmerzhaft es war, sich auch nur auf die Zunge zu beißen. Plötzlich fiel ihm wieder das geronnene Blut auf Gertys Lippen ein. »Wenn Sie sagen ›herausgerissen‹«, sagte er vorsichtig, »meinen Sie doch sicher ›herausgeschnitten‹.«

»Teilweise.« Sie starrte aus dem Seitenfenster, tief in Gedanken an die fünf Opfer, die Gerty vorangegangen waren. »Aber hauptsächlich gerissen.«

Sie hörte den Sheriff einen tiefen Seufzer ausstoßen. Dann fuhren sie schweigend bis zur Leichenhalle. »Sieht nach einem Herzinfarkt aus«, sagte Dr. Percy Ackerman, der Gerichtsmediziner. Er war klein und untersetzt und hatte einen sehr runden Kopf, der von graumelierten Stoppeln bedeckt war, nicht länger als ein Dreitagebart. Er stand am Kopfende des Obduktionstischs, seine grüne Chirurgenkleidung und Gummihandschuhe von diversen Körperflüssigkeiten befleckt.

Victoria betrachtete den nackten, grauen Körper der alten Frau. Zwei tiefe Einschnitte gingen jeweils von den Schultern durch die Brüste und trafen am Brustbein aufeinander. Ein längerer, noch tieferer Schnitt zog sich vom Brustbein hinunter bis zum Schambein und bildete zusammen mit den oberen Schnitten das klassische »Y« der Pathologen. Leber, Milz, Nieren und Eingeweide lagen säuberlich präpariert neben einem Stück Brustkorb auf dem Seziertisch hinter Dr. Ackerman. Die Leiche war im wahrsten Sinn des Wortes eine menschliche Hülle, erinnerte auf seltsame Weise an die ausgehöhlte Hälfte einer Wassermelone auf einem Vorspeisentisch. Victoria rieb sich ein wenig Wick-Vaporub unter die Nase, um den Gestank zu lindern. In Augenblicken wie diesen war sie davon überzeugt, daß der einzige Unterschied zwischen einem Serienmörder und einem Gerichtspathologen die medizinische Ausbildung war. Das und ein Gewissen.

»Sie meinen, Gerty ist an einem Herzinfarkt gestorben?« fragte Sheriff Dutton ungläubig.

»Was ich sage, ist, sie wurde buchstäblich zu Tode erschreckt. Medizinisch ausgedrückt, kann extreme Angst oder extremer Schrecken eine plötzliche und massive Ausschüttung von Epinephrin – besser bekannt als Adrenalin – auslösen, was wiederum Herzkammerflattern verursacht. Genau das scheint hier passiert zu sein. Allerdings möchte ich noch darauf hinweisen, daß ihre fortgeschrittene Arteriosklerose sie besonders anfällig für einen Herzinfarkt gemacht hat.«

»Tja«, sagte Victoria, »man kann wohl kaum jemandem den Schädel mit einem Brecheisen einschlagen und sich anschließend mit dem Argument verteidigen, der Schädel des Opfers sei zu dünn gewesen. Ein Mörder muß sein Opfer mit all seinen Schwächen und Verletzlichkeiten nehmen. Die Todesursache mag vielleicht ein Herzinfarkt gewesen sein, aber Sie sind doch sicher mit mir einer Meinung, daß es sich in diesem Fall um Mord handelt.«

»Absolut.«

Sie ging um den Tisch herum und sah genauer hin. »Versuchen Sie, mir zu beschreiben, was sie zu Tode erschreckt hat. War es etwas, das der Mörder ihr angetan hat? Oder sieht es so aus, als hätte sie ihn in der Tür stehen sehen, und das war bereits mehr, als ihr armes Herz verkraften konnte?«

»Gerty Kincaid war kein Angsthase«, schnaubte der Sheriff verächtlich.

»In diesem Fall«, seufzte Dr. Ackerman, »würde ich sagen, war ihr Herz zu ihrem eigenen Unglück viel zu stark. Ein plötzlicher natürlicher Tod wäre ein Segen für sie gewesen.«

Victoria wich die Farbe aus dem Gesicht, plötzlich kam ihr die kühle Luft, die aus der Deckenbelüftung strömte, eiskalt vor. »Sie gehen also davon aus, daß sie erst gestorben ist, nachdem er ihr die Zunge herausgerissen hat.«

»Der Mörder hatte sie fast ganz herausgerissen«, sagte Dr. Ackerman, wie um sich zu entschuldigen. »Das war der Grund, warum der Staatsanwalt Sie benachrichtigt hat, denn er glaubte an einen Zusammenhang mit den Zungenmorden, über die er in der Zeitung gelesen hatte.

»Okay«, sagte Victoria. »Aber folgendes ist wichtig: Glauben Sie, der Mörder hat das vor oder nach ihrem Tod erledigt?«

»Ich würde sagen, es war perimortem – beim oder kurz vor dem Eintritt des Todes. Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, daß sie mißhandelt wurde. Sehen Sie hier«, sagte er, als er eine der Hände umdrehte, so daß der Handteller nach oben zeigte. »Sie hat sich die Fingernägel so fest in die Handfläche gedrückt, daß sie geblutet hat. Ich würde sagen, wenn jemand sich die Fingernägel so tief in die Haut drückt, läßt das auf anhaltende, unerträgliche Schmerzen schließen.«

»Einige der anderen Opfer wiesen die gleichen Symptome auf«, sagte Victoria ruhig. »Was können Sie mir über den Todeszeitpunkt sagen?«

»Der Körper war schon teilweise durch Verwesungsgase angeschwollen. Unter der Haut hatten sich einige Blasen gebildet, aus Nase und Vagina lief Flüssigkeit. Ich habe den Todeszeitpunkt auf Freitag festgelegt in der Annahme, daß sie seit etwa zwei, zweieinhalb Tagen tot ist. Eine genaue Uhrzeit zu bestimmen, ist sehr schwierig.«

Victoria nickte. Seine Untersuchungsergebnisse waren zweifellos fundiert, aber sie vermutete, daß seine Einschätzungen des Todeszeitpunkts durch die Zeitungsberichte beeinflußt waren, nach denen Gerty Kincaid am Freitag morgen zum letztenmal lebend gesehen wurde.

Dr. Ackerman verweilte noch zwanzig Minuten lang bei Ausführungen über Totenflecken und die Einzelheiten seiner Untersuchung, bis Victoria erklärte, es sei Zeit für sie, zu gehen. Schweigend gingen sie und Sheriff Dutton zum Parkplatz. Die Sonne war gerade untergegangen. Der graue Himmel färbte sich schwarz, und die Kälte hatte kleine Wassertropfen auf der Kühlerhaube des Streifenwagens zu Eis gefrieren lassen.

»Macht er gute Arbeit?« fragte sie beiläufig, als sie in den Wagen stiegen.

Dutton schaltete die Heizung ein, doch sie blies nur kalte Luft ins Wageninnere. »Wer? Dr. Ackerman? Er ist der beste Pathologe in Georgia – vielleicht sogar im ganzen Südosten der Vereinigten Staaten, auch wenn er nicht so einen schauerlichen Spitznamen hat wie ›der Meisterschlitzer‹ oder ›Dr. Blutrausch‹ und keine Würstchen mit Ketchup ißt, während er seine Autopsien macht. Bloß weil er ein Südstaatler ist, heißt das noch lange nicht, daß er so ein hinterwäldlerischer Trottel ist, wie man sie immer im Fernsehen sieht.«

»Ich wollte nicht andeuten, daß ich der Meinung bin, er sollte lieber Hirsche zerlegen. Nehmen Sie das nicht zu persönlich, Sheriff, aber Sie scheinen auf meine Fragen jedesmal ziemlich empfindlich zu reagieren.«

Er zögerte, schien sich sorgfältig eine Antwort zurechtzulegen, während er den Streifenwagen an der Ecke Oglethorpe Street und Second Avenue zum Stehen brachte. »Ich – empfindlich? Mag sein. Aber ich glaube, es entspricht eher dem, was Frauen sagen, wenn sie behaupten, daß sie doppelt so hart arbeiten müssen, um halb soviel Anerkennung zu bekommen wie Männer. Im Gesetzesvollzug geht es uns Kleinstadtpolizisten wahrscheinlich so ähnlich wie einer Frau beim FBI. Niemand traut einem zu, daß man es mit den Großen aufnehmen kann.«

Victoria lächelte vor sich hin. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn mochte, aber sie konnte ihn plötzlich verstehen.

Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich meine, Sie werden doch bestimmt oft gefragt, wie eine Frau auf die Idee kommt, ihren Lebensunterhalt mit der Jagd nach Serienmördern zu verdienen.«

»Ja«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Manchmal, wenn mein Abendessen mal wieder aus einer Tüte Riopan besteht, frage ich mich das selbst.«

Er tat einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »Und warum machen Sie es?«

Sie starrte aus dem Fenster, sagte lange nichts und wandte sich ihm wieder zu. »Ich tue es für die Opfer.«

Der Sheriff öffnete das Fenster einen Spaltbreit, um den Rauch entweichen zu lassen. »Sie wirken engagierter als die meisten. An ihren Fragen habe ich gemerkt, daß Sie hofften, die arme alte Gerty wäre gestorben, bevor dieses Monster ihr die Zunge herausgerissen hat.«

»Das war nicht nur Mitgefühl. Ich habe die Mitschrift von dem Anruf gelesen, die Sie mir geschickt haben – von dem sogenannten Geständnis. Gegen Ende des Gesprächs hat er gesagt, er sei erst einige Tage nach dem Mord mit ihr fertig gewesen. Das war einer der Punkte, die den Fall für das FBI so interessant gemacht haben. Daß er tatsächlich den Nerv hatte, überhaupt den Sheriff anzurufen, deutet darauf hin, daß er langsam anfängt, nach Aufmerksamkeit zu gieren. Aber davon abgesehen dachten wir, es könnte sich um den ersten Fall handeln, bei dem er das Opfer noch nach dem Mord mißhandelt hat. Wenn wir es mit Leichenverstümmelung zu tun hätten, würde das das Täterprofil erheblich ändern. Aber nach Ansicht Ihres Dr. Ackerman ist das nicht der Fall. Der Mörder hat versucht, ihr die Zunge kurz vor oder beim Zeitpunkt ihres Todes herauszureißen, genau wie in den anderen Fällen.«

»Aber warum hat er in diesem Fall aufgehört, bevor er die Zunge vollständig herausgerissen hatte? Glauben Sie, er wurde von jemandem überrascht?«

»Nein. Ich glaube, er hat aufgehört, weil sie an einem Herzinfarkt gestorben ist. Daraus schließe ich, daß dieser Psychopath mit einem toten Opfer nichts anfangen kann. Seine Handschrift ist es nicht, den Leuten die Zunge herauszureißen, tot oder lebendig. Seine Handschrift ist sadistische Folter.«

Dutton spürte, wie sein Mund trocken wurde. »Okay, Sie sagen, der Täter weiß mit toten Opfern nichts anzufangen, aber ich habe den Typen auf Band, und er sagt, daß er uns erst nach zwei Tagen angerufen hat, um uns über den Mord zu informieren, weil er noch nicht fertig war mit der Leiche. Was fangen wir denn damit an?«

»Ich würde sagen, es gibt zwei Möglichkeiten. Erstens, der Anrufer ist der Mörder, aber er lockt uns mit seiner Geschichte über sein Verhalten nach dem Mord absichtlich auf eine falsche Fährte. Zweitens, er ist nicht der Mörder – aber aus irgendeinem irrwitzigen Grund will er uns glauben machen, er sei der Täter.«

»Wieso sollte irgend jemand das wollen?«

Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Ihre Vermutungen sind ebenso ergiebig wie meine. Aber eines ist sicher. Dieser Anruf und die Tonbandaufnahme müssen absolut vertraulich behandelt werden. Das letzte, was wir für unsere Ermittlungen brauchen können, ist ein landesweiter Medienrummel über einen Anruf, der möglicherweise nur gemacht wurde, um uns auf die falsche Fährte zu locken.«

»Keine Sorge. Das ist einer der Vorteile von kleinen Polizeistationen. Es gibt keine undichten Stellen.«

»Das will ich schwer hoffen«, brummte sie vor sich hin, während sie sich gleichzeitig darüber im klaren war, daß es auf der ganzen Welt keine Polizeistation ohne undichte Stellen gab.

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Mike fuhr mit hoher Geschwindigkeit über den Bayshore Drive, auf die nackten Segelmasten zu, die wie ein Winterwald aus dem Yachthafen von Coconut Grove ragten. Kurz nach drei erreichte er das Apartmenthaus und fuhr mit dem Aufzug direkt bis zu Zacks Suite im zwanzigsten Stock.

Obwohl Zacks Karriere bei der NBA schon früh durch eine Knieverletzung ruiniert worden war, hatte eine riesige Abfindungssumme ihn davor bewahrt, sich einen neuen Beruf suchen zu müssen. Ein kurzes Gastspiel als Sportreporter bei der TRIBUNE, zu dem Mike ihm verholfen hatte, beendete er nach kurzer Zeit wieder, um sich seiner großen Leidenschaft zu widmen – dem Fliegen. Er kaufte sich ein kleines Geschwader von Wasserflugzeugen, mit denen er seriöse Geschäftsleute von Miami nach Palm Beach oder Key West und zurück flog. Aber am besten fühlte er sich, wenn er allein aufstieg, an der Küste entlang über türkisfarbene Riffe hinweg oder nach Westen über die Everglades mit ihrem wogenden braunen Riedgras kurvte.

Die Aussicht aus Zacks Penthouse war nicht weniger spektakulär. Von der durchgehenden Fensterfront und dem Eckbalkon blickte man direkt auf Biscayne Bay und die Skyline von Miami. Im Innern der Wohnung verspiegelte Wände, auf Hochglanz polierte Fußböden aus brasilianischem Marmor und moderne italienische Möbel, die so unbequem aussahen, daß es sich nur um teure Stücke handeln konnte.

»Es liegt in deinem Zimmer«, sagte Zack, als Mike durch das Eßzimmer hastete.