Der Inselhof - Jana Fried - E-Book
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Der Inselhof E-Book

Jana Fried

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Beschreibung

Dieses Buch kann unabhängig von den anderen Teilen gelesen werden. Seit einem Jahr leitet Hanna den Inselhof Dünenblick, ein Heim für Kinder und Jugendliche auf Langeoog. Inzwischen kann sie sich überhaupt nicht mehr vorstellen, die kleine Insel je wieder zu verlassen. Als Michel, ihr Ehemann, für eine zweiwöchige Reise aufs Festland übersetzt, überschlagen sich die Ereignisse: Ein Fremder steht unangemeldet im Haus, er will seine Tochter sehen. Milan, Hannas ehemaliger Geliebter, kehrt aus Brasilien zurück, und im Internet taucht ein dubioses Foto auf, das Hanna an ihrer Ehe zweifeln lässt. Wird sie es schaffen, ihren Traum von einem Leben auf dem Inselhof zu retten?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Inselhof

von

Jana Fried

 

 

1. Auflage April 2018

Copyright © by Jana Fried

 

Lektorat: Melanie Melchior/ Heidemarie Rabe

Coverentwurf: 99Designs

Astrid Schieferstein

Am Dornbusch 12

35428 Langgöns

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

 

 Kapitel 1

 

 

Es war ein Samstag Anfang Juni. Überall auf der Insel, vom Pirolatal im Westen bis ans Ostende, leuchteten die Blüten der Hagebutten, als Hanna Schwindt auf die Terrasse des friesischen Bauernhauses tappte, das in den vergangenen Monaten ihr Zuhause geworden war. Wie jeden Morgen freute sie sich an der grasbewachsenen Dünenlandschaft, die unmittelbar hinter der Grundstücksgrenze aufragte und über der bloß ein paar Wölkchen hingen.

Hanna lebte nun seit einem Jahr auf Langeoog, und dieses Leben in Abgeschiedenheit gefiel ihr unvermindert gut. Zwar gab es hin und wieder Turbulenzen mit den Bewohnern des Hofes, doch im Großen und Ganzen prägte sich die Gemütlichkeit der autofreien Insel mit jedem Tag tiefer in ihre Seele. Wenn sie heute an die verstopften Straßen der Frankfurter Innenstadt zurückdachte, an ewige Parkplatzsuche, Staus und Abgase, war sie heilfroh, auf Langeoog zu sein, wo man mit Elektrofahrzeugen, Fahrrädern und Pferdekutschen auskam.

Michel, ihr Ehemann und Vater der gemeinsamen Tochter Lisa, stand mit dem Rücken zur Terrasse im Garten und hängte Wäsche auf. Die Luft roch nach feuchtem Sand, Salz und dem Duft ihres Weichspülers. Weiße Bettbezüge und T-Shirts wallten in der Nordseebrise auf und ab wie betrunkene Gespenster, was für Michel das Anbringen der Wäscheklammern zu einem regelrechten Kunststück machte.

„Tut mir wirklich leid, dass ich dich nicht aufs Festland begleiten kann, aber einer muss ja hier draußen nach dem Rechten sehen“, sagte Hanna mit Blick auf die traumhafte Kulisse und nippte an ihrem Kaffee. Sie hatte gut geschlafen. Erst, als sie Michels Wärme neben sich im Bett vermisste, war sie in ihre Hausschuhe geschlüpft und in die Küche gegangen, um die Kaffeemaschine anzuschalten - die mit dem altmodischen Filterkaffee. Diese Brühe aus der Pads-Maschine, die bei den Jugendlichen angesagt war, schmeckte ihr einfach nicht. Außerdem kostete ein Kilo Pads-Kaffee umgerechnet 60 Euro, was wirklich zu absurd war.

Hanna trug noch ihren Schlafanzug, die Gräser auf den Dünen bewegten sich in sanften Wellen.

„Glaub ich dir aufs Wort“, antwortete Michel, der am Nachmittag mit der Fähre nach Bensersiel übersetzen würde, um einen zweiwöchigen Besuchsmarathon bei Freunden und Verwandten in verschiedenen Teilen Deutschlands zu absolvieren.

Eine Möwe jagte kreischend über den Hof hinweg in Richtung Meer.

„Man muss wirklich aufpassen, dass man die Welt hinter dem Wasser nicht vollkommen vergisst“, sagte er.

Hanna nickte. Seit letztem Sommer leitete sie den Inselhof Dünenblick. Das riesige Grundstück lag an jenem einzigen, durchgängigen Weg, der vom Ende des Dorfes, bis ans Ostende von Langeoog führte. Nachbarn gab es keine. Vom Inselhof hatte man weder Sichtkontakt zur Jugendherberge im Westen noch zur Meierei im Osten. Es war ein völlig anderes Leben als zuvor in Frankfurt. Ein Leben mit den Gewalten der Natur, direkt in den Dünen einer Nordseeinsel.

Im vergangenen Jahr hatten sie und Michel den alten Bauernhof Stück für Stück in ein gemütliches Refugium verwandelt. Das Reetdach des Wohnhauses war teilweise erneuert, der Garten neu angelegt und aus einem Großteil der Scheune war ein Abenteuerspielplatz gemacht worden.

Michel hatte Lorbeerhecken geschnitten, Apfelbäume gestutzt, brüchige Backsteine ersetzt und Fensterrahmen weiß gestrichen. Natürlich waren immer noch einige Dinge zu tun, denn das Haus war riesengroß – „da hört die Arbeit niemals auf“ – wie Hannas Vater prophezeit hatte, aber zumindest der private Bereich konnte sich inzwischen sehen lassen. Von der zugestellten Bude, die ihre Vorgängerin aus der Wohnung gemacht hatte, war keine Spur geblieben.

„Hast du eigentlich Lene heute schon gesehen?“, fragte Hanna und zog die Nase kraus wie eines ihrer Kaninchen, zu denen sie später in die Scheune gehen würde, um das Stroh auszuwechseln.

„Hat ein halbes Marmeladenbrötchen mit Quark gefrühstückt und ist wieder in ihr Zimmer abgedampft.“

„Merkwürdig, normalerweise hängt sie doch bei jedem Schritt an deinem Hosenzipfel“, sagte Hanna.

Lene war die jüngste Bewohnerin des Inselhofes. Sie würde am ersten Juli sechs Jahre alt werden, und seitdem Michel ebenfalls fest auf dem Hof wohnte, hatte sich zwischen den beiden eine so herzerwärmende Beziehung entwickelt, dass es eine Freude war, sie gemeinsam zu sehen.

Wenn Michel einen Fahrradreifen flickte, stand Lene daneben und assistierte mit hoch konzentrierter Miene wie eine OP-Schwester bei der Herztransplantation. Erstaunlich daran war, dass das Mädchen mit den dunklen Locken unglaublich schnell von Michel lernte. Bereits jetzt wusste es, wie man den Aufsatz eines Akkuschraubers wechselte, erkannte verschiedene Holzsorten an der Maserung, und wenn es im Haus am Sonntagmittag nach Essen duftete, konnte man davon ausgehen, dass Lene neben Michel in der Küche stand und ihm beim Kochen half. Und half sie in der Küche, dann merkte sie sich jedes Mal die Abläufe, vom Häuten der Zwiebel, bis zum Eindicken der Soße, was die Fünfjährige bereits jetzt dazu befähigte, besser zu kochen als alle fünf jugendlichen Bewohner des Inselhofes.

„Ich weiß auch nicht, was mit ihr los ist, war total still beim Frühstück, und danach ist sie hoch in ihr Zimmer geschlichen. Ohne ein Wort. Obwohl heute Samstag ist“, sagte Michel, zuckte mit den Schultern, hob die Brauen und widmete sich wieder dem Kampf mit der Wäsche.

Normalerweise war Lenes Samstag nämlich für ganz besondere Stunden mit Michel bestimmt. Rund um den Hof wurde alles erledigt, was unter der Woche liegen geblieben war. Rasenmähen, Müllwegbringen, Zäune reparieren, den Ausbau der Abenteuerscheune vorantreiben und vieles mehr.

„Wirklich seltsam. Ich gehe mal hoch und sehe nach, was los ist“, sagte Hanna und lächelte ihrem Ehemann zu, der sich gerade fluchend ein Bettlaken vom Gesicht riss, dann verschwand sie im Haus.

 

Hanna klopfte an Lenes Zimmertür. Die Stube des Mädchens befand sich im ersten Stock, auf derselben Ebene wie der Privatbereich von Hanna und Michel.

„Wer ist da?“, fragte eine piepsige Stimme.

„Ich bin‘s, darf ich reinkommen?“

„Aber ich hab schlechte Laune.“

„Das halt ich schon aus.“

„Na gut, dann kannst du reinkommen.“

Hanna betrat das Zimmer. Es war dermaßen vollgestopft mit Spielsachen, Büchern und Kuscheltieren, dass man kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. An Weihnachten, Geburtstagen, ja sogar an Ostern, brachten die Postboten jedes Mal massenweise Pakete für Lene. Die meisten sendeten ihre Großeltern. Mit dieser Art von Zuwendung versuchten sie offenbar, ihr Gewissen zu beruhigen.

Wie wäre es, wenn ihr eure Hintern auf die Fähre schwingt und eure Enkeltochter mal besucht? Lenes Großeltern waren schließlich keine vergreisten Pflegefälle, sondern, soweit Hanna das nach dem einzigen Treffen mit ihnen einschätzen konnte, vitale und stabile Persönlichkeiten im mittleren Lebensalter. Bloß hätte es eben eine drastische Beschneidung ihrer Freiheit bedeutet, das Mädchen bei sich aufzunehmen. Sie hätten nicht länger in den letzten Ecken der Welt herumgondeln können, wenn ein schulpflichtiges Kind im Haus wäre. Und dazu waren sie offenbar nicht bereit, weshalb ihr Gewissen sie drückte und sie es kaum übers Herz brachten, in Lenes Augen zu sehen. Augen, die so groß und braun waren, dass sie schon bei völlig Fremden Beschützerinstinkte wecken konnten.

Lene saß im Schneidersitz auf dem Bett und sah auf ihre Füße, als gäbe es dort etwas Trauriges zu betrachten.

„Worüber machst du dir Sorgen, Schätzchen?“, fragte Hanna und setzte sich behutsam neben die Kleine.

Lene zuckte mit den Schultern.

„Möchtest du nicht drüber reden?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Es wundert mich irgendwie, dass du nicht draußen bei Michel bist, wo doch heute Samstag ist.“

Bei Michels Namen schwoll eine zornige Falte zwischen Lenes Augenbrauen.

„Habt ihr Streit?“

Wieder Kopfschütteln.

„Na ja, heute ist jedenfalls herrliches Wetter. Falls du jemanden kennst, der gerne mit mir an den Strand gehen möchte, kannst du ihm ja Bescheid sagen. Ich bin so lange im Garten.“

„Ich!“, sagte Lene, wobei sich ihre Miene so blitzartig aufhellte, wie es nur bei kleinen Kindern geschieht.

„Was ist mit dir?“

„Ich will mit an den Strand.“

„Super Idee! Dann mach dich in Ruhe fertig, Zähne putzen, Strandsachen anziehen, in einer halben Stunde geht’s los. Ich frag so lange bei den anderen nach, ob noch jemand Lust hat.“

Hanna schloss die Kinderzimmertür und hörte bereits auf der Treppe, dass unten, in der Küche, die Post abging: Elmina und Paul zankten sich wieder einmal um die Aufmerksamkeit und Gunst der anderen. Die beiden waren momentan wie Hund und Katz. Nach wenigen Sekunden im selben Raum kam es meistens zu den ersten Auseinandersetzungen.

„Ach, kümmere dich mal um deinen eigenen Kram. Ist doch meine Sache, wie viel Butter ich auf mein Brot mache, ey!“, maulte Elmina.

„Aber ich muss mir deinen fetten Arsch doch jeden Tag ansehen.“

„Musst du doch gar nicht, guck doch einfach nicht drauf.“

„Daran kann man ja gar nicht vorbeigucken.“

Hanna rollte mit den Augen, als sie die Klinke der Küchentür nach unten drückte.

Neben Elmina und Paul hockten Wolfgang und Isabell am Frühstückstisch. Wie so oft schien die versammelte Bande vollkommen blind für die Schönheit der kleinen Nordseeinsel zu sein, die sich vor dem Küchenfenster heute sehr beeindruckend zeigte: Kühe weideten auf einem saftigen Grasstück vor den Dünen, der Himmel war blau, und einige große Silbermöwen segelten mit dem Wind. Wenn man ganz genau hinhörte, konnte man sogar die Brandung des Meeres hören.

„Hat jemand Lust auf einen Strandspaziergang?“, fragte Hanna.

„Ich komme mit“, sagte Paul.

Die anderen taten so, als hätte die Gruppenleiterin keine Frage gestellt, und beschäftigten sich weiter mit dem Frühstück.

„Sonst niemand?“, erkundigte sich Hanna nochmals.

„Bewegung ist gesund“, sagte Paul und grinste Elmina frech an.

„Freundschaften sind auch gesund. Wer keine Freunde hat, kann psychische Probleme bekommen“, konterte das Mädchen.

„Jetzt hört doch bitte auf damit“, bat Hanna.

Die Jugendlichen kannten die Schwachstellen der anderen besser als die eigenen Stärken.

„Wer mitkommen will, kommt mit, wer nicht, kann sich schon mal in die Liste für die Hausdienste eintragen.“

„Ich hab letzte Woche schon Bad und Klo gemacht“, sagte Elmina.

„Das kann ich heute übernehmen“, murmelte Isabell, ohne von ihrem Tee aufzusehen. Sie war ein introvertiertes, bildhübsches Mädchen, das bei allen in der Gruppe Respekt genoss. Mit ihr und Janik waren es insgesamt sechs Bewohner, die momentan unter Hannas Leitung auf dem Inselhof lebten. Janik, Isabell, Paul, Elmina, Wolfgang und Lene. Allerdings war der Personalschlüssel - mit Ben und Magdalena als pädagogische Mitarbeiter - für eine Gruppe mit sieben Kindern gedacht, was Hanna unter Zugzwang brachte. Am Montag würde ein Mädchen in Lenes Alter den Inselhof besuchen, gemeinsam mit einer Mitarbeiterin des Jugendamtes. Frau Staudinger. Hanna musste wegen des Personalschlüssels so schnell wie möglich ein siebtes Kind aufnehmen. Raffats Auszug war mittlerweile fast sechs Wochen her, und der Träger sah es nicht gerne, wenn die Plätze der Höfe nicht vollständig belegt waren. Ein gewisses Mitspracherecht hatte Hanna jedoch schon. Sie als Gruppenleitung musste schließlich entscheiden, ob der eventuelle Neuling gut in das bestehende Gruppengefüge passte. Sie brauchte also nicht die erste Anfrage annehmen, wenn sie ansonsten die „Harmonie“ unter den Bewohnern als gefährdet sähe. Doch man konnte auch nicht ewig alle Anfragen ablehnen, das ging aus wirtschaftlichen Gründen einfach nicht. Und ich glaube, es gibt nichts Besseres als ein Mädchen in Lenes Alter. Dann wäre Lene endlich nicht mehr so allein und hätte jemanden zum Spielen …

„Sehr gut, Isabell, dann machst du heute Bad und Toilette“, sagte Hanna.

„Ich kann das Wohnzimmer und den Flur machen“, schlug Elmina vor.

„Trag dich ein.“

Die Liste für die samstäglichen Hausdienste hing an der Küchentür, daneben baumelte ein Stift, der an einer Kordel festgebunden war.

Elmina trug ihre Dienste ein, setzte sich wieder an den Tisch und löffelte haufenweise Kakaopulver in ihre Milch. Paul ging in sein Zimmer, um sich strandfertig zu machen, während sich Hanna zu Isabell, Wolfgang und Elmina an den Tisch setzte.

„Hat jemand von euch mitbekommen, was mit Lene los ist?“, fragte sie.

Kopfschütteln. Schulterzucken.

„Reichst du mir bitte den Brotkorb, Wolfgang …“, bat Hanna.

Der Junge mit dem Milchbubengesicht und der Baseballkappe nickte, trank aber zuerst genüsslich einen Schluck Milchkaffee und biss noch einmal in sein Nutellabrötchen, bevor er Hanna die Brötchen reichte.

Während des Frühstücks, das Michel vorbereitet hatte, wurde ihre Stimmung immer besser. Sie schaute aus dem Fenster, freute sich auf den Strandspaziergang und war rundum glücklich mit ihrem Job, mit ihrem Leben. Nur wenn sie an Lenes traurigen Blick dachte, kam ein ungutes Gefühl auf. War da nicht auch Ängstlichkeit im Blick des Mädchens gewesen? Hanna war bei den Kindern für ihr außergewöhnliches Feingefühl bekannt, auf ihren Bauch konnte sie sich verlassen, und ihr Bauch sagte, dass mit Lene etwas nicht in Ordnung war.

 Kapitel 2

 

 

 

Die Sonne strahlte vom blauen Himmel. Der ungewohnt warme Wind schmeichelte der Haut wie ein seidiges, vorgewärmtes Tuch. Weit draußen durchkreuzte ein Fischkutter das glitzernde Wasser der Nordsee.

Hanna schloss die Augen, atmete tiefe ein und seufzte: „Ach ja, so lässt es sich arbeiten.“

„Du arbeitest doch gar nicht“, sagte Paul.

„Eben.“

„Aber andererseits bist du irgendwie doch immer bei der Arbeit.“

Mit diesen zwei Feststellungen hatte Paul die Vor- und Nachteile des Jobs hervorragend zusammengefasst: Gruppenleiterin des Inselhofes zu sein, fühlte sich häufig gar nicht nach Arbeit an, denn Hanna lebte, gemeinsam mit ihrem Mann Michel, auf diesem antiken Bauernhof. Es fühlte sich ganz einfach nach ihrem Leben an. Andererseits hatte sie auch so gut wie nie das Gefühl, wirklich Freizeit zu haben, denn selbst wenn sie frei hatte und ihre Mitarbeiter den Dienst abdeckten, war sie nicht unsichtbar. Falls die Kinder sie ansprachen, antwortete sie selbstverständlich, ganz egal, ob sie frei hatte oder nicht.

„Hey, guck mal, das da vorne ist doch der Milan, oder nicht?“, sagte Paul fröhlich.

Hanna beschirmte ihre Augen mit der rechten Hand. Die Sonnenstrahlen funkelten auf der Wasseroberfläche. Der Mann mit den roten Badeshorts, der aus der Entfernung aussah wie einer der Rettungsschwimmer von Malibu, hechtete in eine anrollende Welle, tauchte auf, schüttelte sich das Wasser aus dem Haar und sprang sofort in die nächste.

„Sieht wirklich so aus“, bestätigte Hanna.

Sie kannte Milans Oberkörper. Jeder Muskel, jede Vertiefung hatte sich ihr eingeprägt. Und sein Geruch … Oh Gott!

Hanna konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihr Herz plötzlich schneller klopfte.

Milan hatte als Teilzeitkoch auf dem Inselhof gearbeitet, als Hanna dort letztes Jahr als pädagogische Mitarbeiterin angefangen hatte. Er war im Zubereiten feinster Speisen allerdings dermaßen talentiert, dass er mittlerweile sein eigenes Restaurant auf Langeoog eröffnet hatte.

Er ist talentiert in allem, was er tut.

Für die Wintermonate hatte er einem seiner Mitarbeiter die Verantwortung übertragen und war nach Brasilien gereist, um auszuspannen. Hanna hatte bereits gewusst, dass er im Sommer wiederkommen würde, doch der Anblick seines nackten, braun gebrannten Oberkörpers war jetzt und hier eindeutig eine Überraschung.

Auch wenn die Affäre mit Milan beendet war, kribbelte es bei seinem Anblick ganz gewaltig. Nein! Das war definitiv zu Ende! Michel und sie hatten sich zusammengerauft, er hatte seine Midlife-Crisis offenbar überwunden, und der weitere Plan bestand aus einer gemeinsamen Zukunft auf dem Inselhof.

Sie drehte sich zur Seite und stutzte: „Wo ist denn Lene?“

„Da hinten“, sagte Paul und zeigte in die Richtung, aus der sie kamen. Lene stand etwa zwanzig Meter entfernt. Sie hatte ihnen den Rücken zugewandt.

„Was macht sie da?“, fragte Hanna.

„Sieht aus, als ob sie eine Sprachnachricht abschicken will.“

„Sie hat doch gar kein Handy.“

Paul zuckte mit den Schultern: „Sieht aber aus, als hätte sie eins.“

„Lene!“, rief Hanna gegen das Rauschen der Wellen an.

„Komme gleich“, rief Lene, ohne sich umzudrehen.

Ihre Körperhaltung sah tatsächlich aus, als spräche sie entweder in ein Diktiergerät oder in ein Smartphone. Ihre dunklen Locken wogten in der Meeresbrise.

„Lene!“

„Ja?“

Bevor das kleine Mädchen sich umdrehte, schob es eilig etwas in die rechte Hosentasche. Zumindest wirkte es aus Hannas Perspektive so.

„Was hast du denn da eben gemacht?“, fragte Hanna, als Lene zu ihr und Paul aufgeschlossen hatte.

„Nichts!“

„Sah aus, als hättest du ein Smartphone dabei.“

„Ich?“

„Ja, du …“

Lene errötete und grinste verlegen.

„Ein Handy?“

„Sag ich dir nicht.“

Lene war mit knapp sechs Jahren noch zu jung für ein Smartphone. Jedenfalls nach den Gruppenregeln des Inselhofes, die Hanna und Michel sich mit den Kindern ausgedacht hatten. Mit zehn Jahren durfte man ein Smartphone haben, vorher nicht. Und selbst das fand Hanna für manche zu früh. Die Kinder mussten erst lernen, die grundlegenden Herausforderungen der Welt zu meistern. Bewegung, Sprache, Sozialverhalten. Doch heute war es völlig normal, dass bereits Kindergartenkinder mit Tablets und Touchscreens umzugehen wussten, noch bevor sie einen Purzelbaum konnten. Es war stets ein Balanceakt, die Kids nach den Werten zu erziehen, die Hanna und Michel wichtig waren, sie aber deshalb nicht zu Außenseitern zu machen. Wer mit Handy und Laptop nicht umgehen konnte, wurde leicht angestarrt wie ein Alien.

„Darüber sprechen wir später noch“, sagte Hanna mit bemüht strengem Blick.

Milan hatte Hanna und die Kids jetzt erkannt. Winkend stapfte er durch das kniehohe Wasser auf die drei zu.

„Na, das ist ja der Knödelkönig samt Gefolge“, sagte Milan, als er salzwassertriefend und strahlend vor ihnen stand.

Mit Knödelkönig meinte er Paul. Diesen Titel hatte der Junge sich erworben, als er bei einem Abendessen knapp zwanzig von Milan mit Zwiebeln und Speck gefüllte Kartoffelknödel verdrückt hatte. Danach verbarrikadierte er sich stundenlang im Bad, und während dieser Stunden hatte man erstmals vom großen Knödelkönig gesprochen.

„Ich dachte, du bist in Brasilien“, sagte Paul mit breitem Grinsen, als träfe er einen alten Kumpel nach langer Zeit wieder.

„Ja, da war ich auch. Absolut spannend und wunderschön war es da. Aber die Nordsee ist eben die Nordsee“, antwortete er und drückte Paul an seinen nassen Oberkörper. „Und bei dir alles klar, mein Großer?“

Paul nickte strahlend, er hatte zu Milan eine besonders herzliche Beziehung.

Dann trafen sich die Blicke von Hanna und Milan. Seine Augen waren grün und mit goldenen Flecken gespickt.

Sieh mich nicht so an!

„Genug Urlaub gemacht? Jetzt wieder harter Alltag?“, fragte sie.

„Urlaub kann man das wirklich nicht nennen. Wenn du den ganzen Tag surfst, fühlst du dich abends wie ein Straßenbauarbeiter. Alles hat mir wehgetan. Und dann noch die Partys jede Nacht!“

„Das klingt hart!“

„Aber ich hab mich trotzdem sehr auf Langeoog gefreut. Die Nordsee, die Inselruhe, mein eigenes Haus. Und jetzt kommt der Sommer!“

„Hast du ein paar Anregungen für dein Restaurant vom Zuckerhut mitgebracht. Gibt’s da jetzt Reis mit schwarzen Bohnen?“

„Jede Menge Ideen. Hey, wenn ihr Lust habt, kommt doch mit der Gruppe vorbei. Ich lade euch ein, die Rechnung geht aufs Haus.“

Milan hatte mit neunzehn Jahren eine Firma gegründet. Sie stellten ein Schneidesystem her, mit denen man Nahrungsmittel in exotische Formen bringen konnte, um an den Buffettischen der Welt aus der Masse hervorzustechen. Das Ganze hatte gut funktioniert und drei Jahre später verkaufte Milan seine Firma für eine Menge Geld. Er war sechs Jahre jünger als Hanna, besaß aber schon ein eigenes Haus, ein Restaurant und wahrscheinlich einen siebenstelligen Betrag auf der Bank, weshalb es ihm nicht im Geringsten wehtat, eine achtköpfige Gruppe zum Abendessen einzuladen.

„Das ist nett. Mal sehen, wann es klappt. In den nächsten zwei Wochen jedenfalls nicht. Michel ist auf dem Festland, und er sollte schon dabei sein, wenn ich mit der ganzen Horde ins Restaurant gehe, allein werde ich dabei wahnsinnig.“

„Ich würde mir ja auch sehr gerne mal ansehen, wie weit ihr auf dem Hof gekommen seid mit dem Renovieren.“

Hanna nickte verlegen. Sie wollte Milan auf keinen Fall auf den Inselhof einladen, während Michel auf dem Festland war. Michel wusste zwar, dass Hanna letzten Sommer eine kurze Affäre gehabt hatte - er selbst war damals mit der 23-jährigen Bozena nach Mallorca geflüchtet, um dort vergeblich auf seinen zweiten Frühling zu warten - aber Michel wusste bisher nicht, dass Milan diese Affäre gewesen war. Und das, obwohl die beiden sich sogar etwas kannten. Gut kannten sie sich nicht, bloß von ein paar kurzen Besuchen, aber es war doch immer ein sehr bedrückendes Gefühl der Schuld für Hanna, die beiden im selben Raum zu sehen. In diesen Augenblicken fühlte Hanna sich wie eine Lügnerin.

„Ich sag dir Bescheid, wenn es mal passt. Wir müssen jetzt auch weiter“, sagte sie und lächelte Milan unsicher an.

„Bis dann! Großer Knödelkönig, habe die Ehre …“, sagte Milan und rannte zurück ins Wasser, wo er planschend wie ein Kind in den Fluten abtauchte.

 

Lene war bereits ein Stück vorgelaufen. Wieder sah man bloß ihren kleinen Rücken, und wieder wirkte es aus Hannas Perspektive, als würde das Mädchen eine Sprachnachricht aufnehmen.

„Sie hat auf jeden Fall ein Handy“, sagte Paul, der sich im vergangenen Jahr zu einem jungen Mann gemausert hatte. Nur noch wenige Dinge brachten ihn aus der Ruhe. Mit Ungerechtigkeit und Elmina konnte er nach wie vor nicht umgehen, aber ansonsten fand man in dem schlaksigen Kerl oftmals einen sehr angenehmen Gesprächspartner.

„Oder ein anderes Aufnahmegerät.“

„Nee, glaube ich nicht, wozu soll das gut sein?“

„Lene …“, rief Hanna.

Das Mädchen drehte den Kopf und ließ einen Gegenstand in die rechte Hosentasche gleiten. „Komm, wir wollen langsam zurück in Richtung Heimat gehen.“

Das Gesicht des Mädchens wirkte unglücklich.

Irgendetwas scheint ihr wirklich große Sorgen zu machen …

Lenes Schmollmund war dick angeschwollen, die Augen verkniffen und ihre Arme hatte sie vor dem Oberkörper verschränkt.

„Will noch nicht zurück“, sagte sie.

„Aber heute ist Samstag. Da haben wir jede Menge zu tun. Hausdienste, aufräumen, einkaufen … Außerdem kommt heute Mittag mein Papa mit Lumpi. Er will doch mit dem Kaninchengehege anfangen und er hatte gehofft, dass du ihm dabei helfen kannst“, sagte Hanna.

Lene kaute auf ihrer Unterlippe. „Ich will aber nicht heim“, sagte sie.

„Was ist denn los, Lene?“, fragte Paul fürsorglich. Ansonsten war Lene stets diejenige, die sich am meisten auf die Samstage freute.

„Ich will mit Michel mitfahren“, sagte Lene plötzlich mit aufleuchtenden Augen, als sei ihr die Idee gerade gekommen.

„Das geht nicht, Schätzchen“, sagte Hanna, die nun glaubte, den Grund für Lenes schlechte Laune zu kennen: Michel war wie ein Vater für das Mädchen, die beiden hatten einen sehr guten Draht zueinander, und nun war Lene traurig, weil Michel ohne sie aufs Festland gehen wollte. Sie fühlte sich abgewiesen und verlassen. Was auch kein Wunder ist, wenn man ihre Vorgeschichte kennt. Die Kleine hatte bei der Mutter gelebt. Gemeinsam waren sie vor dem Vater geflüchtet, der zu Gewaltausbrüchen neigte und dann Frau, Kind und Mobiliar gleichermaßen misshandelte. Von diesen Erfahrungen hatte Lene keine bewusste Erinnerung gespeichert. Sie war damals noch zu klein gewesen. Aber auch Lenes Mutter war kein tugendhafter Mensch. Sie trank in Anwesenheit ihrer Tochter flaschenweise Schnaps, nahm harte Drogen und ließ das Mädchen nachts allein. Schließlich hatte sie Lene, ohne großen Kampf, in die Hände des Jugendamtes gegeben. Lene hatte die Erleichterung ihrer Mama gespürt, als sie die Verantwortung hatte abgeben können. Danach war sie noch zweimal zu Besuch gekommen. Mittlerweile gab es seit einem Jahr überhaupt kein Lebenszeichen von ihr.

„Michel muss auch einige Erwachsenendinge erledigen, wo du gar nicht mitkönntest. Und allein lassen würde er dich niemals. Deswegen bleibst du bei uns. Wir machen uns eine schöne Zeit, okay?“

Lene nickte, doch es sah nach einem erzwungenen Nicken aus. Das Gesicht der Kleinen blieb düster.

 

Auf dem Rückweg trödelte Lene so sehr, dass Hanna Schwierigkeiten hatte, die Geduld zu wahren. Sie selbst liebte lange Strandspaziergänge. Es machte ihr auch nichts aus, langsam zu gehen, denn dabei konnte man den Sand unter seinen Füßen nach Muscheln und anderen Schätzen absuchen, die von der Flut angespült worden waren. Aber Lene blieb alle paar Meter plötzlich stehen und bewegte sich erst wieder, wenn man sie mehrmals dazu aufgefordert hatte.

So kenne ich dich überhaupt nicht, Lene. Alles nur, weil Michel für zwei Wochen weggeht? Oder ist da noch irgendwas anderes?

„Ich hab irgendwie das Gefühl, etwas stimmt nicht so ganz mit dir, Lene“, sagte Hanna, nachdem sie wieder auf das Mädchen gewartet hatten. Auch Paul war mittlerweile genervt. „Warum willst du denn nicht nach Hause?“

Lene zuckte mit den Schultern. Sie überlegte einen Augenblick, dann zog sie ein Smartphone aus ihrer Hosentasche und reichte es Hanna.

„Dankeschön“, sagte Hanna und runzelte die Stirn. „Woher ist das?“

„Kam in dem Paket“, sagte Lene.

„In welchem Paket? In dem von Oma und Opa?“

Lene nickte. „Das war aber gar nicht von Oma und Opa.“

„Es war nicht von Oma und Opa?“

Hanna erinnerte sich mit absoluter Sicherheit an die Namenszüge auf dem Adressaufkleber. Dort hatten die Namen von Lenes Großeltern gestanden.

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Von wem war es dann?“

„Von meinem Papa.“

„Was?“

„Hat er dich angerufen?“

„Nein, er hat Sprachnachrichten geschickt.“

„Darf ich die anhören?“

Hanna konnte nun deutlich die Furcht in Lenes Augen sehen. Doch sie vertraute der Erzieherin. Sie nickte vorsichtig.

Hanna nahm das Smartphone, öffnete den Nachrichtendienst und fand die Sprachnachrichten des Vaters. Es war der einzige Kontakt, der in dem Gerät gespeichert war. Dann drückte sie auf den Abspielpfeil. Was sie hörte, ließ ihr Herz vor Sorge und Wut schneller schlagen.

 

 Kapitel 3

 

 

 

 

„Ich kann doch jetzt nicht alles absagen“, brummte Michel, der gerade dabei war, seinen Koffer für die Reise zu packen. „Wir haben doch auch ein Recht, auf ein bisschen eigenes Leben, oder?“

„Und wenn er tatsächlich kommt … was soll ich dann machen?“

„Ach … der kommt schon nicht hierher, das glaub ich nicht. Wieso sollte er sich plötzlich so sehr für Lene interessieren, dass er sie tatsächlich bei sich haben will? Wahrscheinlich war er betrunken, als er die Nachricht aufgesprochen hat“, sagte Michel.

„Aber, dass er ihr das Handy unter falschem Absender schickt, weil er sich ausgerechnet hat, dass die Pakete der Großeltern nicht kontrolliert werden, wirkt doch ziemlich nüchtern und berechnend …“

„Was hat er denn genau gesagt?“

Nach dem Strandspaziergang war Hanna zuerst in die Küche gegangen, um ihrer Mitarbeiterin Magdalena von dem Handy und den Nachrichten des Vaters zu erzählen. Danach ging sie in den ersten Stock zu Michel. Auch er musste sofort erfahren, was Lenes Vater geplant hatte. Die Kontrolle der Hausdienste musste deshalb warten.

Eigentlich wollte Michel jetzt schon unterwegs sein, dachte Hanna schuldbewusst, als sie auf die Uhr schaute.

„Ich spiele es mal ab“, sagte sie und wählte die Nachricht aus, die Lenes Vater dem Mädchen aufgenommen hatte. Es erklang eine dunkle, kratzige Stimme, die auf Michel alles andere als sympathisch wirkte. Und tatsächlich ein wenig angeduselt, fand er: „Hallo Mäuschen! Bestimmt isses nich so leicht für dich, in einem Kinderheim zu wohnen, oder? Aber … na ja, ich weiß, dass du stark bist, mein Löwenherz, und ich weiß, dass du es noch etwas aushalten wirst. Aber eine Sache verspreche ich dir, mein Schatz. Ich hole dich da raus! Bitte zeige niemand das Handy und diese Nachrichten, das soll unser Geheimnis sein, okay? Wir fangen ein ganz neues Leben an, mein Löwenherz, versprochen. Und denk dran, dass du mit niemandem darüber redest. Die Leute vom Kinderheim wollen nicht, dass du deinen Papa siehst, weil sie dann kein Geld mehr für dich bekommen. Sie bekommen Geld für dich, Lene, deshalb sollst du bei ihnen bleiben, nicht weil sie dich liebhaben. Vergiss das nicht, mein Löwenherz!“

„Also für mich klingt das schon leicht alkoholisiert“, bemerkte Michel, nachdem er die Nachricht angehört hatte.

„Und du kannst jetzt wirklich mit ruhigem Gewissen wegfahren, obwohl du weißt, was Lenes Vater vorhat?“

Hanna erkannte, wie Michels Gesicht eine dunklere Farbe annahm. „Kannst du dich denn noch daran erinnern, wovor du selbst gewarnt hast, als wir hier eingezogen sind? Du hast gesagt, dass man nie vergessen darf, die Grenze zwischen Privatleben und Job zu ziehen. Aber wenn ich jetzt alle meine Besuche bei Freunden absage, weil irgendein besoffener Vater sich in den Kopf gesetzt hat, sein Gewissen mit bescheuerten Versprechen zu beruhigen, die er sowieso niemals halten wird, dann passiert genau das. Lene ist mir wirklich wichtig. Das weißt du! Aber erstens glaube ich einfach nicht, dass dieser Typ tatsächlich kommt, und zweitens werde ich mein Leben nicht nach diesen Rabeneltern richten. Du weißt doch, was man von den Versprechen dieser Leute halten kann“, sagte er.

Die Erfahrung des letzten Jahres hatte tatsächlich gezeigt, dass selbst offizielle Zugeständnisse, Abmachungen und Versprechen von den Angehörigen der Inselhofkinder zu 90 Prozent gebrochen wurden. Also selbst Vereinbarungen, die bei den Hilfeplangesprächen getroffen wurden, konnten selten eingehalten werden. Und dieses Versprechen hatte ein offenbar angetrunkener Vater seiner Tochter als geheime Nachricht gesendet. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in den nächsten zwei Wochen hier auftauchen würde, war nicht wirklich hoch.

„Eher taucht ein weißer Hai vor Langeoog auf und frisst alle Robben“, sagte Michel wie zur Bestätigung. Es stimmte: Man durfte sein Leben nicht nach diesen Leuten ausrichten, denn man gab schon genug Freiheit ab, wenn Arbeitsplatz und Lebensmittelpunkt am selben Ort lagen. Also brauchte man Prinzipien, damit es nicht aus dem Ruder lief.

„Okay, aber ich muss das dem Jugendamt und Lenes Vormund melden.“

„Genau das solltest du auch tun. Damit hast du deine Pflicht erfüllt, und dann machst du hier ganz normal weiter. Ich bin ja auch bald wieder da, und falls wirklich was sein sollte, komme ich selbstverständlich so schnell wie möglich zurück.“

Hanna lächelte Michel an.

---ENDE DER LESEPROBE---