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Dies ist ein eigenständiger Roman, er kann auch unabhängig von den anderen Teilen gelesen werden. Der Frühling ist da, und die Natur auf der kleinen Nordseeinsel blüht in sämtlichen Farben. Linda Becker gibt den Kindern auf dem neu gebauten Übungsplatz Reitunterricht, und Hannas liebste Teamkollegin Magdalena kehrt auf den Inselhof zurück. Doch Hanna kann diese positiven Veränderungen nicht richtig genießen, immer wieder verdüstert sich ihre Stimmung scheinbar ohne Grund. Zudem behauptet ein anonymer Absender in einem geheimnisvollen Brief, dass Hannas Mitarbeiterin Irina eine Gefahr für die Kinder auf dem Inselhof sei. Während unter den Jugendlichen die Frühlingsgefühle erwachen, muss Hanna kühlen Kopf bewahren. Als einer der Jungen die Nerven verliert und seine Freundin bei einem Streit verletzt, muss Hanna mehrere Entscheidungen treffen, die das Zusammenleben in der Gruppe von Grund auf verändern. Wird das Team vom Inselhof es trotz aller Widrigkeiten schaffen, den Kindern weiterhin ein gutes Zuhause zu bieten, oder findet Hannas großer Traum in diesem Frühling sein jähes Ende?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inselhof-Frühling
Von Jana Fried
Langeoog 4
1. Auflage April 2025
Copyright © by Jana Fried
Lektorat und Korrektorat: Heidemarie Rabe
Coverentwurf: Marie-Katharina Wölk
Astrid Schieferstein
Am Dornbusch 12
35428 Langgöns
Inhalt:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Hanna Schwindt saß auf der Holzbank neben dem eingezäunten Übungsplatz und schaute Lene bei der Reitstunde zu. Die Hufe des dicklichen Ponys schlugen gedämpft auf den sandigen Boden und wirbelten bei jedem Schritt kleine hellbraune Wolken auf. Aus der Ferne hörte sie das ewige Rauschen der Nordsee. Die Wellen rollten mit beruhigender Gleichmäßigkeit an den Strand. Ein leichter Wind streichelte sanft über ihre Wangen und spielte mit ihrem dichten rotblonden Haar. Ein Austernfischer flog einige Meter über ihrem Kopf in Richtung Wasser, auf den Dünen wogte das Gras, und ein paar Bienen kreisten summend über dem Fleck auf dem Boden, der von Lenes heruntergefallenem Schokoladeneis übrig geblieben war. Während Hanna so dasaß und die Gedanken schweifen ließ, musste sie immer wieder an ihre Tochter Lisa denken. Das kleine Mädchen auf dem Pony erinnerte sie in diesem Augenblick sehr an ihre Tochter, obwohl äußerlich keinerlei Ähnlichkeit bestand und Lisa ja schon lange kein kleines Mädchen mehr war. Lene besaß eine Haut, die schon braun wurde, wenn man die Sonne nur in einem Nebensatz erwähnte, und Lisa war ein heller Typ, genau wie Hanna. Sie war blond, bekam schnell Sonnenbrand und ihr Gesicht war mit Sommersprossen übersät. Nein, das Äußerliche war es ganz sicher nicht, was nun die Erinnerungen an ihre Tochter wachrief, während das Pony auf dem Übungsplatz mehr oder weniger brav seine Runden drehte. Es war die Art und Weise, wie Lene im Sattel saß. Stolz, aufrecht, mit ernstem und gleichzeitig freudig erregtem Gesichtsausdruck.
Dieser Anblick holte auf geheimnisvolle Weise alte Bilder aus den verstaubten Erinnerungskisten in Hannas Kopf hervor. Bilder von Lisas erster Reitstunde, als sie nicht älter gewesen sein konnte als Lene jetzt. Es ist nicht zu fassen, wie schnell die Zeit vergangen ist, dachte sie mit einem melancholischen Gefühl im Bauch, das mit Heimweh und Sehnsucht verwandt sein musste, denn es fühlte sich an wie eine Mischung aus beidem. Es kam ihr vor, als wäre Lisa erst gestern mit ihrer Ukulele aus lackiertem Holz ins Wohnzimmer marschiert, um eine ihrer charmanten Aufführungen zu geben. Zwar hatte die damals Dreijährige weder das Instrument beherrscht noch geplant, welchen Inhalt sie ihrem Publikum präsentieren wollte, aber dennoch war jede ihrer Darbietungen aus selbst erfundenen Liedern und spontanen Tanzeinlagen ein voller Erfolg gewesen. Nicht nur einmal hatten Hanna und Michel beim Anblick ihrer selbstbewussten Tochter Tränen in den Augen gehabt. Mal vor Lachen, mal vor Rührung, und immer gepaart mit der unbändigen Liebe für dieses wundervolle Wesen, in dessen kleinen Händen die Ukulele wie eine ganz normale Gitarre gewirkt hatte.
Hanna sah sich um und seufzte schwer, als läge ein Gewicht auf ihrem Brustkorb. Dabei gab es wirklich keinen Grund für Trübsinn. Auch jetzt war eine gute Zeit. Lisa ging es gut, sie war erwachsen geworden, und das war nicht immer leicht für sie als Mutter, aber das war nun mal der Lauf der Dinge. Nun hatte Hanna andere Aufgaben. Zum Beispiel mit aufmüpfigen kleinen Motzköpfen darüber zu diskutieren, ob es wirklich nötig ist, den Hasenstall sauber zu machen, dachte sie, als sie Paulina sah, die durch die Terrassentür den Rasen betrat und dabei aus der Wäsche guckte, als wäre sie auf dem Weg zu einem Gerichtstermin. In der Hand hielt sie das rote Eimerchen mit der silbernen Schippe und den roten Handfeger.
„Jetzt guck doch nicht, als wäre es die schlimmste Sache der Welt, dem Scholli und seinen Kumpels es mal ein bisschen schön zu machen“, sagte Hanna. „Du magst doch die Kaninchen, und wer Kaninchen hat, muss sich auch um sie kümmern.“ Insgesamt waren es neun Kaninchen. Scholli war das größte und dickste von allen. Er besaß graues Fell, mächtige Schlappohren und einen gewaltigen Appetit. Außerdem war er Paulinas Liebling. Gleich nach Dumbledore, ihrem eigenen Kaninchen.
„Wir können die doch bei dem Wetter endlich wieder ins Freigehege lassen, das gefällt dem Scholli sowieso am besten, weil er dann frisches Grünzeug fressen kann“, sagte sie.
„Ja, aber trotzdem muss jeden Tag der Stall sauber gemacht werden, und zwar gerade jetzt, wenn es wieder wärmer wird, weil dann auch die Fliegen wieder mehr werden.“ Paulina rümpfte die Nase.
„Die Fliegen kommen doch auch, wenn man den Stall sauber macht.“
„Aber am meisten Fliegen kommen dann, wenn es stinkt, davon werden die magisch angezogen.“
„Und die ärgern dann den Scholli und fliegen ihm ins Auge oder in die Ohren.“
„Nicht nur das, die legen ihre Eier in die kleinsten Wunden der Kaninchen, und das kann sehr böse ausgehen.“
„Ihre Eier?“ Hanna sah das Entsetzen in Paulinas Gesicht, als sie begriff, was die Erzieherin da eben Ungeheuerliches gesagt hatte.
„Ja.“
„Igitt, das ist ja ekelhaft, pfui Teufel“, sagte sie.
„Allerdings, und damit die Fliegen gar nicht erst angelockt werden, ist es wichtig, den Stall immer schön sauber zu halten.“
„Na gut, dann mache ich den Stall jetzt so gut sauber, dass die Fliegen einfach dran vorbeifliegen, weil er kein bisschen mehr stinkt“, sagte Paulina.
„Das ist eine prima Idee“, fand Hanna.
„Und ich gebe ihnen was zu trinken.“
„Mach das, und guck auf jeden Fall nach, ob sie noch genug zu fressen haben, weil Kaninchen andauernd fressen müssen. Die haben nämlich einen Stopfmagen“, sagte Hanna.
„Ich weiß das doch“, sagte Paulina und dampfte ab in Richtung Hasenstall. Das Gespräch war ihr vorgekommen wie ein Déjà-vu. Genau dasselbe Gespräch hatte sie mit Lisa auch geführt, als die klein gewesen war und keine Lust gehabt hatte, den Stall ihres Kaninchens Romeo sauber zu machen. Wieder erwischte sie der Gedanke an früher wie ein leichter Schlag in die Magengrube. Das war sehr schade. Sie wollte niemand sein, der bei jedem Gedanken an früher traurig wurde. Sie wollte jemand sein, der Dankbarkeit für das empfand, was er früher hatte erleben dürfen. Das Hier und Jetzt ist immer die beste Zeit des Lebens, denn so jung wie heute werde ich schon morgen nicht mehr sein, sagte sich Hanna trotzig, die gelernt hatte, wie viel Wahrheit oft in solchen Sprüchen steckte. Als Jugendliche und auch noch als junge Erwachsene hatte sie solche Weisheiten eher verlacht als ernst genommen. Aber es stimmte. Wenn man zufrieden sein wollte, musste man die Gegenwart wohlwollend betrachten. Und objektiv gesehen gab es gerade nichts, worüber sie sich hätte beschweren können. Ihre Ehe mit Michel verlief nach einigen Turbulenzen jetzt deutlich besser. Sie hatte wieder eine innige Beziehung zu ihrem Vater aufgebaut, nachdem zwischenzeitlich zehn Jahre lang absolute Funkstille geherrscht hatte. Sie lebte auf einer wunderschönen Nordseeinsel in einem traumhaften alten Bauernhaus und war Leiterin eines Kinderheims, das sich direkt am Rand der Dünen befand. Es hatte sich eine Menge getan in ihrem Leben. Dinge hatten sich weiterentwickelt. In eine gute Richtung.
Allein wie sich der Inselhof in den letzten Monaten verändert hatte, war kaum zu glauben. Es ist noch gar nicht lange her, dass Linda die Idee mit dem Reitunterricht hatte, und jetzt haben wir einen eigenen Reitplatz direkt vor der Haustür, dachte Hanna und betrachtete, was sie geschafft hatten. Als natürliche Grenze des Reitplatzes ragten auf der linken Seite die Dünen auf. Die anderen Seiten waren mit selbst gebauten Holzzäunen begrenzt, die zwar etwas schief und krumm dastanden, aber in Hannas Augen genau deshalb einen natürlichen Charme versprühten. Ihr Vater Frieder hatte beim Aufbauen immer wieder geschimpft wie ein Kesselflicker. Er hätte lieber alles hundertprozentig gemacht mit mehr Zeit und anderen Materialien, um dem Reitplatz einen ordentlichen Rahmen zu geben, aber in Hannas Augen passte das Ergebnis hervorragend nach Langeoog. Und auch zum Inselhof passte es ausgezeichnet, weil auch hier längst nicht immer alles perfekt lief und manchmal sogar ziemlich schräg. Genau wie der Zaun. Auch sich selbst hatte Hanna schon immer für alles andere als perfekt gehalten, und trotzdem war sie die meisten Jahre ihres Lebens ganz gut mit sich zurechtgekommen. Aber in letzter Zeit legte sich manchmal ein Schatten von unbekannter Herkunft über ihr Gemüt, selbst wenn die Sonne schien. Genau wie jetzt. Sie schloss die Augen, sog die frische Salzluft bis in den letzten Zipfel ihrer Lungen und versuchte, alle düsteren Gefühle beim Ausatmen aus ihrem Körper zu pusten.
„Sehr gut, immer wieder Zügel nachgreifen“, rief Linda Becker. „Und denk an die Beine.“ Es war erst die dritte oder vierte Reitstunde für Lene, und Hanna musste keine Expertin sein, um ihr Talent zu erkennen. Sie saß aufrecht und sicher im Sattel, die kaffeebraune Lockenpracht hüpfte im Rhythmus des Pferdes und ihre dunklen Augen leuchteten vor Verzückung. Ängstlichkeit schien für das fast siebenjährige Mädchen ein Fremdwort zu sein. Das Pony, ein dunkelbrauner Shetty namens Bommel, war stämmig und kurzbeinig, dafür aber umso motivierter. Immer wieder musste Lene das Tier zügeln, denn Bommel machte keinen Hehl daraus, wie gerne er losgaloppiert wäre, um dem deutlich größeren Sokrates zu folgen. Aber so weit war Lene noch nicht. Schritt und Trapp waren bis jetzt die einzigen Gangarten, die sie geübt hatte.
Zwei Silbermöwen hatten sich nebeneinander auf dem Zaun niedergelassen. Immer wenn Lene und Bommel an ihnen vorbeiritten, stießen sie Rufe aus, die klangen, als würden sie das Mädchen mit dem Lockenschopf anfeuern. „Los, Los, Los!“, riefen die Möwen, aber Lenes konzentrierter Gesichtsausdruck verriet, dass sie von ihren gefiederten Fans keine Notiz nahm. Bei Sokrates handelte es sich um ein deutsches Reitpony, ein wunderschönes hochbeiniges Tier mit braunem Fell, das nicht den stämmigen Körperbau hatte, der vielen Ponys eigen war. Sokrates sah aus wie die geschrumpfte Ausgabe eines stolzen Turnierpferdes. Auf seinem Rücken saß Isabell, eine jugendliche Bewohnerin des Inselhofes mit deutlich mehr Reiterfahrung als Lene.
Es waren für eine Erzieherin natürlich äußerst unprofessionelle Gefühle, doch sowohl Lene als auch Isabell waren Hanna im vergangenen Jahr fest ans Herz gewachsen. Es fühlte sich hier auf dem Hof manchmal so an, als gehörten sie alle zu einer großen Familie. Hanna schaute in Richtung Nordsee. Über den Dünen schwebten ein paar harmlose Wolken und beim Blick in den ansonsten strahlend blauen Himmel atmete sie erleichtert auf. Endlich wird es Frühling! Jetzt kommt die gute Zeit, dachte sie. Es war zwei Tage vor Ostern, der erste sonnige Tag seit Wochen, und auch auf der Nordseeinsel erwachte die Natur zu neuem Leben. Zuvor waren Herbst und Winter zu einer düsteren, grauen und nassen Ewigkeit verschmolzen, und auch der März und der April hatten bisher kaum einen schönen Tag hervorgebracht. Ist doch auch kein Wunder, dass man irgendwann schlechte Laune bekommt, wenn es monatelang so düster und regnerisch ist, sagte sich Hanna. Denn sie grübelte in den letzten Tagen oft darüber nach, woher wohl dieser unbekannte Schatten kommen mochte, der dann und wann auftauchte und ihr scheinbar grundlos die Stimmung trübte.
Linda stand in der Mitte des Reitplatzes und rief hin und wieder ein paar Worte in die aufblühende Idylle Langeoogs. Mal an Lene gerichtet und dann wieder an Bommel, dessen Ausbildung offensichtlich auch noch nicht ganz abgeschlossen war. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Linda Lene auf Sokrates gesetzt hätte, überlegte Hanna, dennBommel schien doch sehr damit beschäftigt zu sein, sich selbst im Zaum zu halten. Es kam Hanna fast vor, als würde er gar nicht bemerken, dass Lene auf ihm saß. „Sehr gut, genauso weiter, du machst das klasse, Lene“, rief Linda. Sie und ihr Mann Marcel, der ein erfolgreicher Schriftsteller war, hatten bei der Rettung des Inselhofes, der kurz davor gestanden hatte, an einen stinkreichen Einzelgänger verkauft zu werden, eine entscheidende Rolle gespielt. Nun lebten sie im hinteren Teil der riesigen Scheune, die sie mit viel Geld und hervorragendem Geschmack zu einem einzigartigen Wohnkomplex umgestaltet hatten. Auch den vorderen Teil der Scheune wollten sie im Laufe der nächsten Jahre umbauen und ihrem Wohnbereich anschließen, aber vorerst seien sie völlig zufrieden und auf dem Inselhof glücklich wie selten zuvor in ihrem Leben, sagten sie. Dem Paar war es nie vergönnt gewesen, eigene Kinder zu bekommen, und Linda genoss es sehr, den Kids das Reiten beizubringen, während Marcel einen Einführungskurs in kreatives Schreiben anbot, an dem bis jetzt Isabell, Gabriel, Janik und auch Hanna teilnahmen.
Linda Becker trug ihr graues Haar lang und sie wirkte, als hätte sie bisher noch nie einen Gedanken daran verschwendet, es zu färben. Wieso auch? Sie war eine schöne Frau, und der Kontrast zwischen ihrem grauen Haar und dem jung gebliebenen Gesicht mit den wachen Augen verstärkte ihre Attraktivität sogar noch.
„Und hab ich dir zu viel versprochen? Ganz schön flott, der Bommel, oder?“, rief Linda, und Lene nickte fröhlich. Isabell hingegen ließ Linda einfach machen. Gelegentlich lobte sie das schlanke wunderhübsche Mädchen, das auf dem Inselhof zu einer jungen Frau herangewachsen war. Dann rief sie: „Sehr gut, Isabell“, oder „Jawohl, super Rhythmus, ganz klasse sieht das aus.“ Und das stimmte, da biss die Maus keinen Faden ab. Isabell und Sokrates machten zusammen einen sehr eleganten Eindruck, und man brauchte nicht viel Fantasie, um sich dieses Paar auf einem Dressurturnier vorzustellen.
Unvermittelt setzte Michel sich neben Hanna auf die Bank. Er küsste ihr Haar und streichelte ihr mit dem Zeigefinger liebevoll über die Wangen. Sie hatte nicht bemerkt, wie er sich von hinten genähert hatte, und fühlte sich seltsam überrumpelt. Auch seine Berührungen, die normalerweise ein Gefühl von Wärme und Zuneigung in ihr auslösten, fühlten sich in diesem Augenblick eher an, als wäre jemand unerlaubt in ihre Privatsphäre eingedrungen. Das registrierte sie mit leichtem Unbehagen.
Wahrscheinlich findet heute einfach irgendeine hormonelle Achterbahnfahrt statt, es geht ständig auf und ab, versuchte sie sich zu beruhigen. Es war ihr unangenehm, wenn sie plötzlich mit anderen Emotionen auf bekannte Dinge reagierte.
„Sie macht das wirklich gut, finde ich“, sagte Michel.
Hanna lächelte ihn an, ihre Mundwinkel waren unerwartet schwer.
„Lene?“
„Lene auch, natürlich, aber eigentlich meinte ich Linda. Ich find es super, wie sie auf die Kinder eingeht.“
„Ja, das stimmt, sie hat ein gutes Händchen für Lene, aber ob sie auch ein gutes Händchen für Bommel hat, weiß ich noch nicht so recht. Auch wenn ich mich mit Pferden nicht besonders auskenne, aber der macht ja im Prinzip, was er will.“
Michel grinste. „Sieht schon witzig aus mit seinen kurzen Beinen, der Bauch schleift ja fast auf dem Boden.“
Hanna stupste ihm den Ellenbogen in die Seite. „Hey, hör mit dem Mobbing auf, Bommel kann ja nichts dafür, das ist eben seine Statur.“
„Bei Isabell wirkt das schon richtig professionell“, sagte Michel.
„Isabell konnte aber auch schon ziemlich gut reiten, bevor sie zu uns kam“, sagte Hanna.
Michel sah sich um und seufzte zufrieden.
„Hach, was für ein Glück, dass wir nicht von hier wegmüssen, wenn die Ferien vorbei sind“, sagte er und spielte auf die Urlauber an, die in Scharen die Insel verlassen würden, sobald die Osterferien endeten. „Ich freue mich schon so sehr auf die kommenden Monate!“
„Es wird echt langsam Zeit für besseres Wetter, so schön es hier draußen auch ist, irgendwann kommt der Lagerkoller, wenn man ständig aufeinander hockt“, gab Hanna zu. Der Inselhof lag ein ganzes Stück vom Dorf entfernt, zu Fuß war es eine halbe Stunde, und in der schlechten Jahreszeit konnte man sich im Haus ganz schön auf die Nerven gehen.
„Ich hab hier was für dich“, sagte Michel. Er stand auf, griff in die vordere Tasche seiner Jeans und zog einen Briefumschlag hervor. „Der Postbote war da, scheint was Privates zu sein. Jedenfalls nichts vom Amt oder so“, sagte er und überreichte seiner Frau den Umschlag. Hanna betrachtete ihn. Name und Adresse waren mit Kugelschreiber und in einer recht eckigen Handschrift notiert worden.
„Von wem ist der denn? Da steht ja gar kein Absender drauf.“
Michel zuckte mit den Schultern und warf Hanna einen fragenden Blick zu.
„Tja, also ich hab keine Ahnung, aber wenn das da eine Frau geschrieben hat, fresse ich einen Besen samt Kehrblech.“
Michel hatte recht. Hanna hielt es ebenfalls für eine Männerschrift, jedenfalls hatte sie noch keine Frau kennengelernt, die dermaßen unrunde Buchstaben zu Papier brachte. Aber das ist auf keinen Fall Milans Schrift, ging es ihr durch den Kopf und beim Gedanken an Milan schwappte unweigerlich eine kurze Welle der Aufregung durch ihren Körper. Dieser kurze Gedanke an ihn, ja der bloße Klang seines Namens, fühlte sich so belebend an. Der Gedanke war wie ein Sonnenstrahl, der durch den Morgennebel brach. Aber sie kannte Milans Schrift, sie war genauso unverwechselbar wie er selbst. Hanna musste sich endlich verbieten, beim ersten Gedanken an Milan Aufregung zu verspüren, sie durfte das einfach nicht mehr zulassen. Es war falsch. Es war auch falsch, überhaupt an Milan zu denken, und wenn sie neben Michel saß, fühlte es sich noch falscher an. Nur wie verbot man sich, etwas zu fühlen? Wenn das funktionieren würde, könnte sie sich ja auch gleich noch verbieten, so grundlos schlecht gelaunt zu sein.
„Mach ihn doch einfach mal auf“, schlug Michel vor.
Hanna riss den Umschlag auf. Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Stinknormales Druckerpapier. Es war in derselben Schrift beschrieben wie der Umschlag, mit demselben Stift, und es waren bloß wenige Zeilen. Hanna las.
Sehr geehrte Frau Schwindt, in Ihrer Einrichtung sollen Kinder ein neues Zuhause finden. Ich persönlich liebe Kinder, und ich bin der Meinung, dass man alles Erdenkliche tun muss, um ihnen eine sichere Umgebung zu schaffen. Aus diesem Grund fühle ich mich gezwungen, Ihnen Folgendes mitzuteilen. Es geht um ihre Mitarbeiterin Irina Müller. Frau Müller ist eine andere Person, als sie vorgibt. Sie ist eine andere Person, als Sie denken. Ihr Charakter ist schlecht und ihre Vergangenheit ist dunkel! Sehr geehrte Frau Schwindt, solange diese Person bei Ihnen arbeitet, sind die Kinder auf Ihrem Hof nicht sicher. Bitte nehmen Sie mich bei meinen Worten ernst, bitte entlassen Sie diese Frau unverzüglich.
Hanna hielt inne und blickte nachdenklich in den blauen Himmel. Bitte nehmen Sie mich bei meinen Worten ernst. Das klang, als hätte es jemand geschrieben, der nicht in der deutschen Sprache zu Hause war. Sie las weiter.
Ansonsten würde ich das als Kindeswohlgefährdung beurteilen, denn ansonsten ist das Wohl der Kinder auf dem Inselhof in großer Gefahr. Mit freundlichen Grüßen.
„Was ist das denn für ein Blick, von wem ist der Brief?“, fragte Michel stirnrunzelnd, während Hanna das seltsame Schriftstück langsam sinken ließ und ein Gesicht machte, als wären auf dem Brief alte Runen aufgemalt.
„Von wem der ist, kann ich mir vielleicht denken, aber lies erst mal selbst und sag, was dir dazu einfällt“, schlug Hanna vor und gab Michel den Brief. Das kann nur Hamid gewesen sein, dachte sie.
Hamid war Irinas Ex-Freund. Sie war vor ihm auf die Nordseeinsel geflüchtet, weil er angedroht hatte, sie nach Marokko zu verschleppen, sobald er sie gefunden hätte. Offenbar hatte er seine Taktik geändert und versuchte seiner Ex nun auf andere Weise das Leben schwer zu machen.
„Krass“, sagte Michel, als er fertig gelesen hatte. Er steckte den Brief in die Hosentasche. Seine erste Idee ging in dieselbe Richtung. „Glaubst du, das war ihr kranker Ex-Freund. Der war doch so ein Stalker, oder nicht?“
„Doch, doch, das stimmt“, sagte Hanna, aber irgendwas an der Sache kam ihr seltsam vor, und zwar abgesehen von dem Brief selbst, der war ja für sich schon seltsam genug.
Ein lauter Ruf von Linda Becker riss Hanna aus ihren Gedanken. „Sitzen bleiben, Lene, festhalten und sitzen bleiben“, rief die Reitlehrerin, und ihrer Stimme war die Aufregung anzumerken. Hanna hob den Blick und sah, wie Bommel im Galopp über den Reitplatz jagte. Trotz seiner kurzen Beine erreichte er eine erstaunliche Geschwindigkeit.
„Mist!“, sagte Michel.
„Festhalten, sitzen bleiben“, wiederholte Linda Becker und Hanna fand diese Anweisung nicht sonderlich hilfreich. Hätte sie auf einem durchgehenden Pferd gesessen, wäre sie jedenfalls auch von selbst auf die Idee gekommen, sitzen zu bleiben und sich festzuhalten. Hanna sprang auf und lief in Richtung Reitplatz. Michel folgte ihr. Auch Hannas Herz war ohne Vorankündigung in den Galopp übergegangen. Sie erreichte den Zaun und stand hilflos da, denn sie hatte keine Ahnung, was sie tun konnte. Sie konnte Pumuckl und Hagrid Futter bringen und ihren Stall ausmisten, aber wie man Lindas wildgewordenes Pony zum Anhalten brachte, wusste sie nicht.
„Bleib stehen“, rief Linda.
„Ich weiß ja nicht, wie man bremst“, rief Lene, die in diesem Augenblick an Hanna und Michel vorbeigaloppierte. Der Freude in ihren Augen war Anspannung gewichen. Selbst die zuschauenden Möwen hatten ihre Anfeuerungsrufe eingestellt. Linda Becker öffnete das Türchen im Zaun und betrat den Reitplatz. Sie streckte die Arme seitlich vom Körper weg wie eine Verkehrspolizistin. Die Ampel ist rot, bitte stehen bleiben, sollte dieses Zeichen offensichtlich bedeuten. Aber das kümmerte Bommel nicht. Er sauste einfach an Linda vorbei. Jetzt bemerkte Isabell, was hinter ihr geschah. Sie reagierte geistesgegenwärtig. Vorsichtig zog sie an den Zügeln, dabei veränderte sie ihre Sitzposition, lehnte sich etwas nach hinten und schon wurde Sokrates langsamer. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie ihn zum Stehen brachte. Als Bommel das bemerkte, drosselte er ebenfalls die Geschwindigkeit und blieb freundlich schnaubend hinter seinem großen Vorbild stehen. Lene stieg hastig aus dem Sattel. Sie wollte jetzt so schnell wie möglich festen Boden unter den Füßen spüren. Doch sie war zu hektisch. Beim Absteigen blieb sie mit einem Fuß im Steigbügel hängen und fiel kopfüber in den Sand. Natürlich mit Helm.
„Aua, Mist!“, schimpfte sie. Linda Becker und Hanna rannten gleichzeitig los. Zum Glück ist Bommel nicht viel höher als ein Schaukelpferd, dachte Hanna und erreichte Lene kurz nach Linda.
„Alles okay?“, fragte sie und half Lene auf die Beine. Lene nickte, und ihr typisches Lächeln gewann bereits wieder die Herrschaft über ihr Gesicht. „Der war jetzt aber schon ganz schön schnell, der Bommel “, sagte sie.
„Galopp war doch heute noch gar nicht dran“, sagte Linda. Ihr Gesicht war gerötet und man hörte ihrer Stimme sowohl Aufregung als auch Verlegenheit an.
„Das hättest du dem Bommel wohl auch vorher mal sagen müssen“, entgegnete Lene, und alle lachten. Hanna beruhigte sich schnell, als sie sah, dass Lene körperlich und seelisch wohlauf war.
Michel näherte sich. „Na, heute ist ja endlich mal wieder was los auf dem Inselhof“, sagte er. Als er bei Hanna, Linda, Lene und den beiden Pferden angekommen war, streichelte er dem Pony über die Nase. „Na, Bommel, was ist denn in dich gefahren?“, fragte er. Bommel antwortete mit einem Schnauben. Linda lächelte.
„Das sind wohl die Frühlingsgefühle“, sagte sie.
Isabell saß neben Janik in den Dünen hinter dem Gesindehaus. Die Sonne stand schon tief, aber ihre wärmenden Strahlen vermittelnden Isabell ein Gefühl der Hoffnung, es war die Hoffnung auf einen Neuanfang, der jedes Mal ihre Seele berührte, wenn der Frühling tastend seine Finger in die Welt streckte. Doch gleichzeitig fühlte sie auch eine tiefe Verzweiflung, wenn sie den Blick von der Schönheit der Natur abwandte und in das Gesicht von Janik schaute. Es war, als würde sie jene Verzweiflung am eigenen Leib spüren, die sich in seinem Gesicht so überdeutlich abzeichnete.
„Wie soll es dann mit uns weitergehen?“, fragte er, den Blick starr auf den Horizont gerichtet, wo Himmel und Meer sich berührten. Obwohl das, was Janik vor sich sah, von überwältigender lichtdurchfluteter Schönheit war, blickte er drein, als würde er in eine stockfinstere Zukunft sehen.
„Wir schaffen das schon, ich werde ja auch nicht mehr ewig hierbleiben“, sagte sie.
„Lange genug, um eine schöne Zeit mit Gabriel zu verbringen“, knurrte er.
„Ich will nichts von Gabriel“, sagte sie und streichelte ihm über die Schulter. Janiks Miene wurde verächtlich.
„Ach ja?“
„Ja, ich möchte mit dir zusammen sein“, sagte Isabell, und bemerkte, wie schwer es ihr fiel, diese Worte auszusprechen. In Wirklichkeit war die Situation in ihrem Inneren deutlich komplizierter, denn sie hatte sehr wohl noch Gefühle für Gabriel. Wie das kleine, aber windbeständige Feuer eines Gasöfchens loderte es nach wie vor wärmend in ihrem Herzen, wenn sie an ihn dachte. Das bedeutete allerdings nicht, dass ihre Liebe für Janik erloschen war, ganz und gar nicht. Auch für ihn empfand sie Liebe, und das war es, was die Situation so kompliziert machte. Nur brauchte Janik sie im Augenblick ganz dringend. Sie war sein Anker, den er benötigte, um von den Stürmen in seinem Inneren nicht wieder aufs offene Meer hinausgetrieben zu werden, wo dunkle Tiefen und Seeungeheuer lauerten, die sich in seinem Fall als Depression und Drogenmissbrauch zeigen würden.
„Ich weiß ja nicht mal, wo sie mich hinstecken. Vielleicht Hunderte Kilometer weit weg. Jedenfalls steht eine Sache fest. Auf der Insel kann ich nicht bleiben, und das allein macht es schon fast unmöglich, eine Beziehung zu führen.“
„Wir können uns besuchen, und außerdem haben wir beide ein Handy.“
„Ganz toll, dann kannst du mir einen Kuss-Smiley schicken, wenn ich deine Zuneigung brauche.“ Er konnte schon goldig sein mit seinem Schmollmund. Isabell lehnte sich zu ihm rüber und schenkte ihm einen zärtlichen Kuss.
„Genau das wird mir dann fehlen“, sagte er traurig.
„Aber jetzt bin ich hier. Wenn du schon die Dinge nicht mehr genießen willst, die gerade tatsächlich passieren, weil du dir Sorgen um die Zukunft machst, wirst du immer unglücklich sein“, sagte Isabell und näherte sich ihm mit leicht geöffneten Lippen.
Um 18 Uhr deckte Hanna gemeinsam mit Michel den Tisch für das Abendbrot. Sie stellte Teller und Glas auf Paulinas Platz, hielt einen Moment inne und sah nachdenklich aus dem Fenster. Draußen weideten Schafe auf saftigem Grün. Drei Lämmer, die erst wenige Wochen alt sein konnten, sprangen zwischen den ausgewachsenen hin und her, als wollten sie sie zum Spielen auffordern.
„Weißt du, was mir nicht ganz einleuchten will?“, fragte Hanna.
„Nein, vor allem nicht, wenn ich absolut keine Ahnung habe, worüber du überhaupt gerade nachdenkst.“
„Der Brief. Wenn das Irinas Ex war, was will er damit eigentlich erreichen?“
„Na ja, wahrscheinlich will er ihren Ruf ruinieren, ihr schaden, sie fertigmachen, will, dass sie ihren Job verliert … so was in der Art.“
„Klar, aber findest du, das passt zu dem, was Irina über ihn erzählt hat?“
„Mmh … eigentlich hatte ich eher das Bild eines rachsüchtigen Cholerikers im Kopf. So einen Brief zu schreiben, das ist intrigant und hat etwas sehr Berechnendes. Das will nicht so recht zusammenpassen.“
„Das stimmt auch. Aber das meine ich gar nicht“, sagte Hanna.
„Was meinst du dann?“
„Wenn er einen Brief schreibt, der hier ankommt, bedeutet das vor allen Dingen eine Sache.“
„Nämlich?“
„Es bedeutet, dass er weiß, wo sich Irina aufhält!“
„Da hätte ich auch selbst drauf kommen können, ja“, sagte Michel nickend.
„Und sie schwört Stein und Bein, sobald er herausfindet, wo sie sich aufhält, kreuzt er da auf. Er liebt es, Irina einzuschüchtern, er will ihr Angst machen. Einen Brief schicken? Und dann auch noch einen, der nicht an sie, sondern an mich adressiert ist? Das passt nicht, oder?“
Die Küchentür schwang auf und Irina kam herein. Ihr freundliches Lächeln verschwand, als sie in die Gesichter von Hanna und Michel blickte. Es war Irina nicht entgangen, dass ihr Gespräch plötzlich verstummte, als sie den Raum betreten hatte.
„Soll ich lieber wieder rausgehen, damit ihr weitersprechen könnt?“, fragte sie und man merkte ihrer Stimme die Verunsicherung an. Kurz trat eine unangenehme Stille ein, die Küchenuhr tickte.
„Aber nein, wir haben nur …“, begann Hanna und stockte. Zum Glück kam Michel ihr zu Hilfe.
„Manchmal besprechen die Eheleute auch mal Privates, weil sie kurzzeitig vergessen, dass sie in einer öffentlichen Einrichtung wohnen“, sagte er. Sehr gut, dachte sie. Michel hatte sie gerettet.
Irina lachte erleichtert auf. „Ach so, hahaha, das ist witzig, ich dachte schon, ihr hättet über mich geredet.“
Hanna und Michel lachten ebenfalls. Ebenfalls erleichtert.
„Es ist eben immer mal wieder ein bisschen chaotisch, wenn sich Privatleben und Beruf vermischen“, sagte Hanna. Und als wollte Paulina nun mal einen endgültigen Punkt hinter alles Private machen, stürmte sie in die Küche und zeterte los, ohne vorher Hallo zu sagen. Sie war nicht höher als der Türgriff, aber meckern konnte sie wie eine Große.
„Lene sagt, ich darf nicht reiten, weil ich zu doof bin und weil die Pferde merken, ob jemand doof ist und ihn dann runterwerfen.“ Paulinas graue Augen hatten sich verdüstert wie der Himmel an einem stürmischen Herbstnachmittag.
„Das ist doch Blödsinn, und das weißt du auch sehr genau“, sagte Irina.
„Aber ich habe selbst gehört, wie Linda erzählt hat, dass Pferde sehr schlau sind und ganz genau merken, was in einem vorgeht“, beharrte Paulina.
„Sie meinte, dass Pferde merken, ob jemand schon sicher im Sattel sitzt, aber sie wissen ganz bestimmt nicht alles, was in deinem Kopf vorgeht, so hat Linda das bestimmt nicht gemeint. Abgesehen davon, selbst wenn sie in dein Oberstübchen schauen könnten, du bist alles andere als doof, Paulina!“
Hanna schüttelte den Kopf und unterstützte Irina:
„Also so ein Riesenquatsch. Wir haben doch schon mehrere Male darüber gesprochen. Es können nun mal nicht alle gleichzeitig Reitunterricht bekommen, weil Linda auch noch andere Dinge zu tun hat. Das ist der einzige Grund. Aber du bist als Nächste dran, das ist doch alles längst abgemacht“, sagte sie. „So, und jetzt hilf mal ein bisschen beim Tischdecken, damit wir pünktlich Abendbrot essen können.“
„Wieso ich? Janik ist doch heute dran mit Tischdienst“, maulte Paulina, nach einem Blick auf den Plan, der an der Wand hing. „Außerdem habe ich heute schon den Stall ganz allein sauber gemacht, das hat bestimmt mindestens eine Stunde gedauert.“ Äußerlich war sie mit ihrem glatten blonden Haar und der hellen Haut das genaue Gegenteil von Lene. Die beiden waren die jüngsten Bewohner des Inselhofes, aber wenn ihnen etwas querkam, konnten alle in Deckung gehen.
„Janik ist nicht gekommen, und ich habe keine Lust, ihm ständig nachzulaufen. Er muss dann eben mit den Konsequenzen leben, wenn er seine Dienste nicht macht.“
„Aber wieso soll ich das jetzt machen?“, fragte Paulina mit verschränkten Armen.
„Du sollst es doch gar nicht allein machen, ich habe nur gefragt, ob du ein bisschen hilfst“, antwortete Hanna.
„Gar nicht hast du gefragt, du hast gesagt, dass ich helfen soll.“
Hanna verdrehte die Augen und wollte gerade ihre Bitte neu formulieren, als Isabell zur Küchentür hereinkam.
„Ich übernehme Janiks Tischdienst, ihm geht’s nicht gut, er kommt nicht zum Essen“, sagte sie und öffnete den Kühlschrank, um Butter, Käse und Wurst herauszunehmen. Kaum war die Kühlschranktür offen, huschte ein Schatten unter dem Esstisch hervor. Es war Mufasa, der große norwegische Waldkater, der offensichtlich regelmäßig von jemandem etwas aus dem Kühlschrank bekam, denn früher hatte er auf das Öffnen der Kühlschranktür genauso wenig reagiert wie auf die Bitte, sein Katzenklo selbst sauber zu machen. Mit Stolz vorgewölbtem Brustkorb und hypnotisch hin und her schlagendem Schwanz saß er da und maunzte Isabell an.
„Was hat der denn schon wieder?“, fragte Hanna.
„Hunger, schätze ich“, antwortete Isabell und bildete einen Stapel aus Frischkäse, Margarine und Aufschnitt.
„Ich meine nicht Mufasa, sondern Janik“, stellte Hanna klar.
Isabell seufzte.
„Musst du ihn selbst fragen.“
Hanna sah sie streng an.
„Deine Hilfsbereitschaft in allen Ehren, Isabell, aber du solltest nicht immer direkt einspringen, nur weil Janik seinen faulen Hintern wieder mal nicht hochbekommt, ich dachte, das hätten wir längst geklärt.“
„Nein, es geht ihm wirklich nicht gut“, sagte Isabell und stellte den Brotkorb auf den Tisch. Hanna zog die Augenbrauen nach oben und stemmte die Hände in die Hüften. Janik hatte in den vergangenen Tagen Verhaltensmuster gezeigt, die er eigentlich längst abgelegt hatte. Er war launisch, seine Antworten hatten oft einen sarkastischen Sound, und er zog sich viel zu oft zurück. Hanna glaubte, dass ihm der bevorstehende Auszug aus dem Inselhof sehr zu schaffen machte. Das war völlig verständlich, schließlich war die Gruppe sein Zuhause. Aber früher oder später erging es jedem Bewohner so. Irgendwann endete die Hilfsmaßnahme für jeden. So mies, wie das bei Janik gelaufen ist, wünscht man das allerdings nicht mal seinem ärgsten Feind, dachte Hanna. Sie hoffte jedenfalls, dass Janik nicht wieder angefangen hatte, Drogen zu nehmen, zu trinken oder sonst irgendeinen Scheiß zu machen, denn damals hatte er sich ganz ähnlich benommen wie in letzter Zeit.
„Dann wird das ja heute eine gemütliche kleine Runde beim Abendessen“, sagte Michel. Er hatte bereits am Kopf des Esstisches Platz genommen und wartete mit verschränkten Armen, dass es endlich losging. Auch Mufasa wartete weiterhin, hatte den Blick aber jetzt vom mittlerweile geschlossenen Kühlschrank abgewandt und sah erwartungsvoll zu Michel. Heimlich riss Michel ein Stück Aufschnitt von der Scheibe ab, die bereits auf seinem Brot lag und warf es dem Kater hin. Hanna blieb es jedoch nicht verborgen. Sie schüttelte den Kopf. „Ganz tolles Vorbild, Michel, wirklich prima, du bist schlimmer als ein kleines Kind“, sagte sie, denn es war durchaus problematisch, den Kindern zu erklären, weshalb weder die beiden Katzen noch Lumpi etwas vom Tisch bekommen sollten, wenn ihr Mann das Gegenteil vorlebte.
„Ich will jetzt endlich anfangen! Hunger, Hunger, Hunger!“, antwortete Michel, hielt Messer und Gabel in den Fäusten und klopfte damit auf den Tisch. Paulina und Lene lachten. Hanna rollte mit den Augen.
„Fehlt nur noch Paul“, sagte sie, als dieser fröhlich pfeifend in die Küche spazierte. Elmina übernachtete bei einer Freundin, Gabriel hatte sich abgemeldet, um den Abend am Strand zu verbringen, und Wolfgang war über die Osterferien in einem Ferienlager auf dem Festland.
„Na, da hat aber jemand gute Laune, hab ich irgendwas verpasst?“, fragte Michel und musterte Paul.
„Wieso? Darf man hier jetzt nicht mal mehr grundlos gut gelaunt sein, oder was? Ich freue mich einfach nur, dass wir heute endlich mal satt werden.“
„Was soll das denn heißen? Du tust ja so, als hätten wir nicht genug zu essen im Haus“, sagte Hanna etwas verärgert, weil sie auf dem Inselhof großen Wert darauf legten, die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder beim Thema Essen einzubeziehen, es aber diesbezüglich trotzdem immer wieder zu Konflikten kam.
„Solange Elmina nicht da ist, reicht es auf jeden Fall“, entgegnete Paul spitzbübisch grinsend, aber bei diesem Thema verstand Hanna mittlerweile überhaupt keinen Spaß mehr. Elmina war stark übergewichtig und litt inzwischen sehr darunter, auch wenn sie es vor Paul nie zugegeben hätte. Ihm begegnete sie stets mit großer Schlagfertigkeit. Vor Hanna hingegen hatte sie bereits deutlich geäußert, wie traurig sie über ihre körperliche Verfassung war. Bei Elmina ging es nicht um ein paar Pfunde. Sie wog über hundert Kilo, und das schadete nicht nur ihrem Selbstbewusstsein, sondern auch ihrer Gesundheit. Wenn es andere Themen betraf, verspürte Hanna oft eine gewisse Freude an den Wortgefechten, die sich Paul und Elmina lieferten. Aber das Thema Gewicht stand bei ihr auf der Roten Liste.
„Paul, ich habe nichts dagegen, wenn ihr euch gegenseitig ein bisschen aufzieht, das gehört dazu, aber Beleidigungen, die unter die Gürtellinie gehen, möchte ich in diesem Haus nicht mehr hören “, sagte sie.
Paul zuckte die Achseln. „Elmina ist doch gar nicht da, wie kann ich jemanden beleidigen, der gar nicht da ist?“
„Über jemanden schlecht zu reden, der nicht da ist, gehört sich genauso wenig, das macht man einfach nicht, das ist hinterhältig“, entgegnete Hanna und fragte sich, wie oft sie diesen Text noch würde aufsagen müssen, bis er endlich mal in Pauls Kopf hängen blieb. Sie mochte Paul sehr gerne, und er hatte sich in vielen Bereichen zum Guten entwickelt, aber sobald Elmina ins Spiel kam, latschte er mit Siebenmeilenstiefeln zurück in den Kindergarten.
Obwohl Hanna auch Elmina sehr mochte, musste sie sich während des Abendessens eingestehen, dass es ohne sie am Tisch sehr viel ruhiger war. Draußen vor dem Fenster strahlte die Frühlingssonne. Fasane und Kaninchen spazierten so zahlreich über das satte Grün der Inselwiesen, dass man den Eindruck bekommen konnte, man befände sich im Streichelzoo. Zum Glück wurde dieser Eindruck bei einem Blick nach rechts sofort für nichtig erklärt, denn dort lagen die beeindruckenden Dünen, auf denen das lange Gras im Wind sanft hin und her wedelte.
In die andächtige Stille, die nur vom Schmatzen der Inselhofbewohner untermalt war, räusperte sich Irina.
„Bevor ich es wieder vergesse, Hanna, ich wollte dich fragen, ob ich nächstes Wochenende vielleicht meinen Dienst mit dir tauschen könnte, also den Nachtdienst von Samstag auf Sonntag, weil ich mal aufs Festland müsste“, sagte sie. Hanna wunderte sich. Erst vor einer Woche hatten sie den betreffenden Dienst abgesprochen, und normalerweise blieb Irina auf der Insel, solange sie niemand zwang, diese zu verlassen. Es wäre jetzt eher unprofessionell, sie nach dem Grund zu fragen, denn auf professioneller Ebene geht es mich nichts an, dachte sie. Nur kam es ihr aufgrund des seltsamen Briefes, der heute angekommen war, komisch vor, dass Irina ausgerechnet jetzt aufs Festland wollte.
„Wer fährt denn freiwillig aufs Festland?“, fragte sie deshalb ganz unverbindlich.
„Ich hab was zu erledigen“, sagte Irina ernst und biss danach sofort einen extra großen Bissen ihres Käsebrotes ab, was in Hanna den Verdacht aufkommen ließ, dass sie dazu nichts weiter sagen wollte.
„Von mir aus können wir das machen, ich bin ja sowieso immer hier“, sagte Hanna, der es in der Tat relativ egal war, ob sie nun am Samstag oder am Sonntag Nachtdienst hatte.
Nachdem Irina geschluckt hatte, wechselte sie eilig das Thema.
„Und wer von euch freut sich denn schon auf Ostern?“, fragte sie in die Runde.
„Ich“, sagte Lene freudestrahlend.
„So, und warum?“
„Weil wir dann Osternester suchen.“
„Das hab ich mir gedacht. Aber weißt du denn auch, weshalb wir Ostern feiern?“, fragte Irina.
Lenes Lächeln ging in einem nachdenklichen Gesichtsausdruck unter.
„Weil dann ausnahmsweise die Hasen Eier legen?“, schlug sie vor, und am Tisch brach Gelächter aus. Lene sah sich verärgert am Tisch um.
Irina wandte sich an Paul, der am meisten gelacht und dabei einige Brötchenkrümel ausgeprustet hatte.
„Weißt du denn, warum wir Ostern feiern? In deinem Alter sollte man das eigentlich wissen“, fragte sie in einem Tonfall, der auf Hanna ähnlich befremdlich wirkte wie ihre Frage nach dem Tauschen der Dienste.
„Ich glaube, da wurde Jesus gekreuzigt“, sagte Paul.
Irina hob die Augenbrauen und ihre Lippen wurden schmal.
„Und du denkst, das wäre ein Grund zum Feiern?“
Paul zuckte mit den Schultern und biss in sein Salamibrötchen.
„Nein, Ostern ist der größte Feiertag der Christen, der Tag, an dem jeder eine ganz neue Art von Hoffnung in sein Herz lassen sollte, weil Jesus den Tod besiegt hat.“
Plötzlich flog die Tür auf, und Gabriel stand in der Küche. Er wirkte aufgeregt und sein dunkles Haar und seine Kleidung waren völlig durchnässt, obwohl draußen keine Wolke am Himmel war. Seinen klugen grünen Augen glühten vor Aufregung.
„Wie siehst du den aus?“, fragte Paul.
„Ihr müsst sofort mitkommen, an den Strand, schnell“, sagte er, drehte sich um und war wieder verschwunden. Hanna, die sich gerade eine geschnittene Tomate gepfeffert hatte, sah mit offenem Mund in eine Runde von Gesichtern, die genauso erstaunt wirkten wie sie selbst.
„Was ist denn in den gefahren?“, fragte sie, doch natürlich konnte ihr das niemand beantworten. Für eine Sekunde sahen sie sich gegenseitig an, um schließlich wie auf Kommando aufzuspringen. Stuhlbeine quietschten, Bestecke fielen klappernd auf Teller und im Nullkommanichts waren alle angezogen. Sogar Paulina, die normalerweise ungefähr eine Viertelstunde brauchte, um sich Jacke und Schuhe anzuziehen, besonders wenn man es eilige hatte, stand innerhalb von dreißig Sekunden vor dem Haus und war bereit, loszugehen. Die Dringlichkeit in Gabriels Blick war so unmissverständlich gewesen, dass niemand auch nur daran gedacht hatte, sitzen zu bleiben. Sie liefen los. Hanna und Michel vorneweg, am Gesindehaus vorbei, in die verschlungenen Pfade hinein, die zwischen den Dünen hindurch zum Strand führten, und während sie liefen, sprach keiner ein Wort. Die angespannte Stille, die sich über ihnen ausgebreitet hatte, fühlte sich an, als wären sie eine Gruppe von Feuerwehrleuten auf dem Weg zu einem gefährlichen Einsatzort.
Ich muss unbedingt wieder regelmäßig joggen gehen, stellte Hanna fest und dachte mit Wehmut an ihre Form aus dem letzten Sommer zurück, als das tägliche Laufen für sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden war. Man gewöhnt sich an alles, ans Laufen und genauso ans Nichtlaufen, ich muss es mir also nur wieder angewöhnen, schärfte sie sich ein, während Isabell und Paul sie überholten. Michel war schon ein ganzes Stück voraus und Irina blieb vermutlich nur hinter ihr, um die Hierarchie zu wahren. Letztes Jahr war Hanna eine Stunde am Stück gelaufen, ohne dabei an ihre körperliche Grenze zu kommen, aber Herbst und Winter hatten sie in einen lethargischen Zustand versetzt, und jetzt keuchte sie bereits nach zwei Minuten wie eine alte Dampflok. Sie sah nach hinten und stellte dankbar fest, dass Irina, Paulina und Lene noch ein ganzes Stück zurück waren. Hundert Meter vor ihr liefen Michel, Paul und Isabell gerade durch die letzten Dünen auf den Strand. Was wird denn da jetzt los sein, fragte sie sich, und mit einem Mal fiel ihr Janik ein, dem es nicht gut ging und der beim Abendessen gefehlt hatte.