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Dieses Buch kann auch unabhängig von den anderen Teilen gelesen werden. Hannas Leben ist perfekt, könnte man denken. Sie lebt als Gruppenleiterin auf dem Inselhof, die Kinder haben Sommerferien, und sie freut sich darauf, die nächsten Jahre gemeinsam mit ihrem Ehemann Michel hier zu verbringen, der sich schon jetzt gar nicht mehr vorstellen kann, Langeoog jemals wieder zu verlassen. Aber als sie mit Irina eine neue Mitarbeiterin einstellt und Janik, einer der Jugendlichen Bewohner, zu seinem Onkel nach Hamburg verschwindet, gerät das Gleichgewicht innerhalb der Gruppe durcheinander. Denn während Hanna versucht, den abgängigen Jugendlichen und dessen verzweifelte Freundin wieder auf die richtigen Wege zu lotsen, verdreht Irina den Männern des Inselhofes allein mit ihrer Anwesenheit die Köpfe. Als dann auch noch der Geschäftsführer der Einrichtung unangekündigt mit zwei reichen Gästen auftaucht, die im Inselhof Dünenblick die Möglichkeit erkennen, ihre eigenen Träume zu verwirklichen, ist das Chaos perfekt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inselhofsommer
von
Jana Fried
Langeoog 3
1. Auflage Mai 2019/2.Auflage April 2025
Copyright © by Jana Fried
Lektorat: Melanie Melchior
Coverentwurf: Marie-Katharina Wölk
Astrid Schieferstein
Am Dornbusch 12
35428 Langgöns
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
Inhalt:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Samstag 13. Juli
„So, noch ein letztes Türmchen, dann muss das Blech bloß noch für ein paar Minuten in den Backofen“, sagte Hanna mit Blick auf die Küchenuhr. „Ich hoffe, dass sie die Fähre bekommen hat.“
Isabell leckte sich beim Anblick der Lachs-Rösti über die Lippen. „Sieht jedenfalls sehr appetitlich aus. Wenn deine Tochter nicht rechtzeitig da ist, esse ich ihre Portion gerne auch noch mit“, sagte sie. Isabell half Hanna heute freiwillig beim Kochen.
Hanna drehte sich um, ging zum Küchenfenster und sah zum hundertsten Mal hinaus. Eine Gruppe Urlauber auf Fahrrädern fuhr in mäßiger Geschwindigkeit den asphaltierten Feldweg Richtung Meierei. Ansonsten bot sich ihr das gleiche Bild wie schon bei den vorangegangenen Blicken aus dem Küchenfenster. Eine saftige Wiese, auf der Kühe grasten. Über ihnen ein leicht bewölkter Julihimmel, rechts die meterhohen dicht mit Gestrüpp und Hagebutten bewachsenen Dünen.
Die Kühe bewegten sich wie in Zeitlupe von einem Grasbüschel zum nächsten, kauten und sahen hin und wieder gelangweilt auf, wenn die nächste Urlauberkolonne auf Drahteseln in Richtung Ostende rollte, wo man vor allem hinfuhr, wenn man Robben in freier Wildbahn beobachten wollte. Hanna und Milan hatten sich dort einmal unterstellen müssen, als sie ein heftiger Wolkenbruch überraschte und da war ihr zum ersten Mal klar geworden, wie sehr sie Milan mochte, dass ihre Gefühle zu ihm über normale Sympathie hinausgingen.
Isabell bestrich den letzten Rösti mit Schmand, legte eine Scheibe Räucherlachs darauf und garnierte das Ganze mit Lauchzwiebelringen, gelben Paprikastreifen und einem Viertel Radieschen. Das farbenfrohe Türmchen sah jetzt schon köstlich aus. Nach dem Backen würde sie es mit frischer Petersilie bestreuen und so angerichtet, wirkten Hannas Lachs-Rösti immer, als stammten sie aus der Küche eines Sternekochs. In Wirklichkeit stammten die Kartoffelecken aus der Tiefkühltruhe des Supermarktes, was der allgemeinen Vorfreude auf dem Inselhof aber keinen Abbruch tat. Die Kinder liebten dieses Gericht.
„Wie kommt es eigentlich, dass du heute so motiviert bist, mir in der Küche zu helfen?“, fragte Hanna. Isabell war bereits dabei, den Tisch zu decken.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Wenn ich demnächst in die Trainingswohnung gehe, muss ich doch wenigstens die einfachsten Gerichte kochen können.“
„Ach …, wenn alle nur halb so vernünftig wären wie du. Ich befürchte, wir müssen die Trainingswohnung erst einmal kernsanieren, wenn Janik ausgezogen ist“, entgegnete Hanna.
„Und einen Kammerjäger rufen“, sagte Isabell. Es war ein Scherz, doch Hanna spürte echte Besorgnis hinter dieser flapsigen Bemerkung. Sie und Janik waren ein Paar, doch seine momentane Einstellung zu den Dingen kam bei Isabell, die sich ernsthafte Gedanken um ein gemeinsames Leben mit ihm machte, nicht besonders gut an.
Seit drei Wochen lebte Janik nun allein im Gesindehaus, das Hanna nach dem überraschenden Auszug ihrer pädagogischen Mitarbeiterin Magdalena, in eine Trainingswohnung für die jugendlichen Bewohner des Inselhofes umfunktioniert hatte. Das Konzept dahinter sah es vor, den Jugendlichen die ersten eigenständigen Gehversuche in einem geschützten Rahmen zu ermöglichen. Sie bekamen zum Wochenbeginn einen bestimmten Betrag an Haushaltsgeld ausgezahlt und mussten sich selbst versorgen, was in Janiks Fall bisher bloß zu Vitaminmangel und einem ungepflegten Äußeren geführt hatte.
„Janik meinte, du hättest ihn beim Hilfeplangespräch mit Frau Beehrens schlecht dargestellt, jetzt ist er beleidigt und wohnt lieber freiwillig in seinem eigenen Müll, als dir ein bisschen entgegenzukommen“, sagte Isabell kopfschüttelnd und versuchte, damit das abweisende Verhalten ihres Freundes gegenüber Hanna zu erklären.
„Männer …“, sagte Hanna, öffnete den Backofen und schob das erste Blech hinein.
„Wenn Michel und Lisa in zehn Minuten nicht hier sind, fangen wir ohne sie an zu essen.“
„Lass doch einfach ein paar Rösti draußen und schieb sie schnell in den Ofen, sobald sie ankommen. Wenn es doch sowieso nur zehn Minuten dauert“, schlug Isabell vor.
„Ja, wieso eigentlich nicht? Ich hatte mir zwar vorgestellt, dass wir alle gemeinsam essen, allerdings habe ich Lisa so lange nicht gesehen, da ist es auch schön, wenn man sich mal in Ruhe unterhalten kann. Ja, du hast Recht, ich esse dann mit Michel und ihr“, sagte Hanna.
Seit einem knappen Jahr leitete sie nun den Inselhof Dünenblick, und mittlerweile bemerkte man ihren Einfluss nicht bloß am Aufblühen von Haus und Garten. Sie bildete sich ein, dass auch die Kinder aufgeblüht waren und sich langsam aber sicher von Hannas Vorgängerin, Frau Reck, erholten.
„Da kommen sie, aber ich glaube, sie sind zu dritt“, rief Isabell aufgeregt und zeigte aus dem Fenster.
„Tatsächlich!“, sagte Hanna und wischte sich die Hände an einem Küchentuch aus Papier ab. Die Freude beim Anblick ihrer Tochter war so groß, dass ihr Tränen in die Augen schossen.
Aber … wer ist denn der junge Mann?, fragte sie sich, als sie erkannte, dass tatsächlich eine dritte Person Michel und Lisa begleitete.
Doch, wie so oft auf dem Inselhof, blieb wenig Zeit für eigene Gedanken. Die Tür zur Küche flog auf und Elmina stand im Rahmen.
„Wann gibt’s denn Essen?“, fragte sie.
„Wie immer“, blaffte Isabell.
„Und was heißt das?“, fragte Elmina.
„Du müsstest doch eigentlich von uns allen am besten wissen, wann es Essen gibt, hast doch bis jetzt offenbar keins verpasst“, sagte Isabell scharf. Sie selbst war gertenschlank und zierlich, während Elmina große Probleme mit ihrem Gewicht hatte. Sie wog über 100 Kilogramm, wobei sie allerdings auch über 1,80m groß war. Elmina war eine Erscheinung. Pechschwarze Haare, die nordafrikanische Haut ihrer Eltern und ein Mundwerk wie Harald Juhnke.
„Hey, das muss doch jetzt wirklich nicht sein, oder Isabell? Mittagessen gibt’s hier in der Regel um 13.30 Uhr, das ist auch heute so, und das weißt du ganz genau, Elmina“, sagte Hanna. Es war erstaunlich, dass die Kinder selbst nach Monaten, in denen das Essen stets pünktlich auf dem Tisch gestanden hatte, immer wieder danach fragten. Hanna vermutete hinter solchem Verhalten das starke Bedürfnis nach Sicherheit und verlässlichen Abläufen. Dieses Bedürfnis hatten die meisten Kinder auf dem Inselhof.
„Wenigstens hab ich keinen Freund, der in einem Müllhaufen wohnt“, konterte Elmina Isabells Anspielung auf ihr Gewicht.
„Nein, das stimmt, du … hast überhaupt keinen Freund“, sagte Isabell kühl und mit der Hochnäsigkeit eines Supermodels.
„Wer sagt denn, dass ich einen haben will? Jedenfalls keinen, der riecht wie ein Obdachloser.“
„Schluss jetzt!“, rief Hanna dazwischen. „Ich will, dass ihr euch gegenseitig mit Respekt behandelt. Jeder hat Schwächen und Stärken, auch du, Isabell.“ Hanna bedachte das Mädchen mit einem strengen Blick. Sie wusste von Isabells Ängsten und inneren Unsicherheiten und mochte es nicht, wenn sie auf unverletzlich und obercool machte.
„Es ist absolut nicht nötig, Elmina auf ihre Gewichtsprobleme hinzuweisen, schließlich möchte man selbst auch nicht, dass ständig jemand auf den eigenen Schwächen oder Problemen herumtrampelt, oder?“
„Ja, stimmt schon“, sagte Isabell kleinlaut.
Wieder öffnete sich die Küchentür, diesmal gemächlich, und dort standen sie. Lisa, Michel und der fremde, junge Mann, der sie begleitete.
„Lisa, meine Lisa“, sagte Hanna, warf das Geschirrhandtuch in die Ecke und fiel ihrer Tochter um den Hals.
„Mama, ich hab dich vermisst!“
„Ich dich auch, mein Schatz.“
„Und mich?“, fragte Michel wie ein Kind, während Mutter und Tochter aneinanderhingen und sich in den Armen hielten.
„Ach den hast du auch wieder mitgebracht?“, fragte Hanna mit hochgezogenen Augenbrauen und Blick auf Michel. „Ich hab dir doch eine Nachricht auf WhatsApp geschrieben, du solltest ihn umtauschen.“
Michel kam auf sie, zuckte entschuldigend mit den Schultern und nahm sie in die Arme. „Leider war die Garantie abgelaufen“, sagte er und küsste sie auf den Mund.
„Und ich hab noch jemanden mitgebracht“, sagte Lisa und neigte den Kopf in Richtung des jungen Mannes, der immer noch im Türrahmen stand und die Wiedervereinigung der Familie in höflichem Abstand verfolgte.
„Das ist Alex, wir sind seit kurzem fest zusammen“, sagte Lisa und Hanna erkannte das verliebte Strahlen in den Augen ihrer Tochter. Dann traf sich ihr Blick mit dem des jungen Mannes. Er war Anfang zwanzig, blond, gepflegt, Seitenscheitel, sehr gutaussehend.
„Hi! Ich bin Hanna!“ sagte sie und reichte Alex die Hand.
„Ich bin Alex, freut mich Sie kennenzulernen.“
„Ihr kennt euch bestimmt von der Uni?“, wollte Hanna wissen.
„Ja, wir belegen ein gemeinsames Seminar in Familienrecht“, antwortete er.
„Oh je, Familienrecht fiel mir furchtbar schwer. Bestimmt war das Seminar so trocken, dass man sich umschauen musste, ob es wenigstens irgendwo anders im Raum irgendwas Interessantes gibt, und dann hast du unsere Lisa entdeckt, oder?“, fragte Hanna.
„Nein, für mich ist Familienrecht eher unkompliziert, aber es interessiert mich einfach nicht, weil ich später lieber in die Wirtschaft gehen will“, sagte Alex.
„Alex wird Anwalt“, sagte Lisa strahlend.
„Oh, sehr praktisch“, sagte Hanna. „Ich hoffe, ihr habt Hunger mitgebracht. Ich rufe jetzt die Rasselbande zum Essen. Allerdings hatte ich nicht mit einem zusätzlichen Gast gerechnet. Aber das ist kein Problem, ich hab sowieso keinen großen Hunger“, sagte sie und holte das dampfende Blech aus dem Ofen.
„Aber es ist doch sicher genug zu essen da?“, fragte Michel.
„Ja, nur glaube ich nicht, dass es sehr angenehm ist, wenn wir uns alle an den Tisch quetschen. Wir haben einen Platz zu wenig.“
„Ach … entweder rücken wir noch ein Stück zusammen, oder ich esse einfach mit den Kindern, und du gehst mit Lisa und Alex nach oben, da könnt ihr in aller Ruhe essen“, sagte Michel.
„Wenn dir das nichts ausmacht.“
„Nein, wir haben ja schon eine Weile gequatscht auf der Fähre und auf dem Weg“, sagte Michel.
„Okay, dann machen wir es so“, sagte Hanna, nahm sechs Rösti vom zweiten Blech, das noch gar nicht im Ofen gewesen war und legte sie auf ein Tablett. „Die nimmst du“, sagte sie zu Lisa und drückte ihr das Tablett in die Hand. „Ich kümmere mich noch schnell um den Gurkensalat.“
„Schon fertig“, sagte Isabell.
„Na da schau her, du wirst ja noch zur Sterne-Köchin.“
„Ich denke nicht, dass Sterne-Köchinnen Fix-Produkte benutzen, oder?“, sagte Isabell.
„Nein, das nicht. Trotzdem vielen Dank für die Hilfe“, sagte Hanna und löffelte etwas Gurkensalat aus der großen Glasschüssel in eine kleinere, die sie mit nach oben nehmen wollte.
„Dann zeig ich euch mal euer Zimmer“, sagte sie und führte Alex und Lisa die Treppe hoch in den ersten Stock, wo sich ihre Wohnung befand, die als Privatbereich genutzt wurde und von den Kindern nur mit ausdrücklicher Erlaubnis betreten werden durfte.
Michel hatte die ehemalige Rumpelkammer ihrer Vorgängerin innerhalb von drei Tagen in ein bewohnbares Gästezimmer verwandelt und Hanna hatte sich den ganzen Tag darauf gefreut, Lisa den Raum zu zeigen. Jetzt allerdings, wo noch ein weiterer Gast dort schlafen sollte, wirkte das Zimmer sehr klein.
„Viel Platz ist natürlich nicht“, sagte sie, als sie die Tür öffnete.
„Das reicht uns schon, Mama“, sagte Lisa.
„Ja, ist doch prima“, sagte Alex und sah nickend auf das französische Bett, das beinahe den ganzen Raum einnahm.
„Aber jetzt werden wir zuerst mal lecker essen, gib mal her“, sagte Hanna und nahm Lisa das Tablett ab, ging in die Küche, wo sie den Gurkensalat und die Rösti auf die Anrichte stellte und den Tisch deckte, während ihre Tochter und deren neuer Freund sich einen Augenblick lang im Zimmer akklimatisierten.
Hanna heizte den Ofen an, schob die Lachsrösti hinein und öffnete einen Weißwein. Sauvignon Blanc aus Südfrankreich, der seit Wochen im Kühlschrank auf diesen Tag gewartet hatte. Hanna vermisste ihre Tochter jeden Tag, an dem sie nicht zusammen waren. Sie war im letzten Sommer eigentlich bloß befristet als pädagogische Mitarbeiterin auf dem Inselhof eingestellt worden, hatte jedoch sehr bald die Leitung übernommen und dazu einen unbefristeten Vertrag bekommen, nachdem Frau Reck nahezu bewusstlos neben einer leeren Wodkaflasche im Garten gelegen hatte und kein anderer Mitarbeiter bereit gewesen war, seinen Lebensmittelpunkt auf den Inselhof zu verlegen. Das war nämlich zwingende Voraussetzung für die Leitungsstelle und ein wichtiger Bestandteil des Konzeptes. Kinder, Jugendliche und Gruppenleitung lebten gemeinsam auf dem riesigen Grundstück zwischen Marschland und Dünengebirge, als gehörten sie einer Familie an.
Zuerst hatte Hanna große Bedenken wegen der Verantwortung gehabt, dann aber entschieden, es einfach auszuprobieren, und mittlerweile war ihr Beruf gleichsam ihr Leben geworden. Sie wohnte, lachte, aß, stritt und lernte mit den Kindern, während sie im Alltag meistens überhaupt nicht mehr daran dachte, dass dies ein Job war, für den sie bezahlt wurde. Die Kinder lagen ihr sehr am Herzen, etwas zu sehr vielleicht, wenn sie an die Empfehlungen in dem Buch – „Nähe und Distanz/die schwierige Balance in der Heimerziehung“ - dachte.
Die Rösti dufteten bereits aus dem Ofen. Sie brauchten nicht lange in ihrem Superofen, den Michel auf Kosten der Einrichtung erkämpft hatte. Der Räucherlachs zerfiel schon nach wenigen Minuten zu zarten, schmackhaften Stücken, die auf der Zunge schmolzen wie Butter. Die Rösti brauchten normalerweise zwanzig Minuten, doch Hanna hatte die Erfahrung gemacht, dass der Inselhof-Superofen das locker in 13 Minuten schaffte. Sie goss den Weißwein in eine Karaffe und schenkte sich selbst ein Glas ein.
Nach Wochen im Kühlschrank war der Wein kalt wie Bergquellwasser und er schmeckte auch beinahe so erfrischend, fand Hanna.
Als sie kurze Zeit später beisammen am Esstisch saßen, freute sich Hanna darüber, dass sowohl Lisa als auch ihr neuer Freund ein Glas Weißwein mit ihr tranken.
„Zum Wohle, auf schöne, erholsame Ferien!“, sagte sie und hob das Glas.
„Ferien auf dem Inselhof, das klingt super schön“, sagte Lisa. Sie führten die Gläser aneinander, und nachdem jeder einen Schluck genommen hatte, begannen sie mit dem Essen.
Die Rösti mit Räucherlachs schmeckten köstlich. Der Gurkensalat mit frischem Dill und saurer Sahne ebenfalls.
„Schmeckts?“, fragte Hanna.
„Ja, sehr lecker, Mama“, sagte Lisa.
Alex nickte ebenfalls zustimmend und hob den Daumen, offenbar, um nicht mit vollem Mund sprechen zu müssen, wie Lisa es getan hatte, doch als er den zweiten Rösti unangetastet auf seinem Teller liegen ließ, kam Hanna der Verdacht, Alex habe nur aus Höflichkeit gegessen, was er aber in ihrem Haus gar nicht hätte tun müssen.
„Magst du keine Rösti?“, fragte Hanna.
„Doch, schon“, sagte er.
„Aber keinen Lachs?“
„Doch, Lachs auch.“
„Aber du kannst doch jetzt unmöglich schon satt sein.“
„Doch, doch, ich hab im Dorf eben noch ein Fischbrötchen gegessen, und ich hab mir angewöhnt, nicht weiter zu essen, wenn ich satt bin.“
„Ach so, sehr vernünftig. Aber du kannst ruhig sagen, wenn du lieber was anderes möchtest, da sind wir hier nicht so.“
„Wie gesagt, ich bin satt“, antwortete Alex.
„Okay, dann vielleicht noch einen Schluck Wein?“
„Nein, danke.“
„Vielleicht was Anderes?“
„Ich hatte genug, danke“, sagte Alex und hob abwehrend die Hände, als Michel die Küche betrat. Seine Stirn war von einer senkrechten Falte in zwei Hälften geteilt.
„Alles okay?“, fragte Hanna.
„Nein, Isabell wollte eben zu Janik ins Gesindehaus. Die Tür war offen, er hat eine Menge Dinge mitgenommen und ist verschwunden“, sagte Michel.
„Verschwunden?“
„Ja, genau. Er hat seinen Koffer gepackt und ist auf dem Weg nach Hamburg, zu seinem Onkel Rene.“
„Mist!“
„Er hat Isabell eine WhatsApp-Nachricht geschrieben, nachdem er gegangen ist.“
„Was ist denn los mit ihm in letzter Zeit?“, fragte Hanna, ohne eine Antwort zu erwarten. Janik war immer sehr vernünftig und erwachsen, nett und hilfsbereit gewesen, doch seit einigen Wochen hatte sich das geändert. Er war aufbrausend, unzuverlässig und in seiner Wohnung sah es aus wie Kraut und Rüben.
„Ich glaube, Isabell weiß mehr, als sie bisher gesagt hat“, antwortete Michel.
„Wie kommst du darauf?“
„Sie will mit uns reden, mit uns beiden allein, ich denke, es geht um Janik“, sagte Michel.
Samstag 13. Juli
„Ein Krimineller? Was genau meinst du damit?“, fragte Hanna. Sie saß mit Michel und Isabell im Wohnzimmer des Gesindehauses, das wirkte wie nach einem Bombentreffer. Schubladen und Schranktüren standen teilweise offen. Zwei Schubladen der Wohnzimmerkommode waren dermaßen heftig aufgerissen worden, dass sie aus den Schienen gebrochen waren. Als hätte Janik unter Zeitdruck etwas Wichtiges gesucht, dachte Hanna. Überall lagen verstreute Klamotten, Müll und andere Gegenstände. In der Küche und auch auf dem Wohnzimmertisch stapelten sich dreckiges Geschirr, leere Dosen und Verpackungen.
Isabell zuckte mit den Schultern. Hinter ihrer Stirn arbeitete es.
„Andere Frage. Wie kommst du darauf, dass Janiks Onkel Rene ein Krimineller ist?“
Rene war der Bruder von Janiks Vater. Hanna hatte ihn bisher noch nie getroffen, sie kannte ihn nur aus Janiks Erzählungen, aus welchen sie immer eine gewisse Bewunderung herausgehört hatte. Und natürlich war es vollkommen verständlich, wenn das letzte männliche Mitglied seiner Familie Janik in gewisser Weise als Vorbild diente. Auch Rene war in einem Heim aufgewachsen, hatte es schwer gehabt und sich seinen Platz in der Gesellschaft erkämpft. Wo genau dieser Platz war, konnte Hanna nur vermuten. Jedenfalls lebte er – angeblich ohne Unterstützung des Staates – in einer eigenen Wohnung und er besaß, laut Janiks Erzählungen – sogar einen recht neuen Audi.
Isabells Stirn legte sich in Falten. Sie schien einen innerlichen Kampf auszufechten, dann sagte sie. „Janik hat es mir erzählt.“
„Was hat er erzählt?“
„Das kann ich nicht sagen.“
„Wieso?“
„Weil ich es ihm versprochen habe.“
„Und hat Janiks Verschwinden auch mit kriminellen Dingen zu tun, oder machst du dir einfach Sorgen, dass dein Freund bei seinem Onkel ist und es ihm dort nicht gut geht?“
„Das ist schwierig zu beantworten.“
Hanna dachte an die negativen Veränderungen, die sich in den letzten Wochen in Janiks Charakterzügen manifestiert hatten.
„Isabell, falls Janik in Schwierigkeiten ist, solltest du darüber nachdenken, ob es für ihn vielleicht besser wäre, wenn du dein Versprechen brichst.“ Isabells Mundwinkel zuckten, bogen sich nach unten, ihr Kinn begann zu zittern.
„Ich liebe ihn wirklich, weißt du“, sagte sie mit Tränen in der Stimme, „aber in letzter Zeit mache ich mir sehr große Sorgen. Ich hab Angst, ihn zu verlieren.“
„Wieso hast du Angst, ihn zu verlieren?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf, als wehrte es sich gegen den Drang, die Wahrheit zu sagen.
„Bitte, wir haben immer noch die Verantwortung für Janik, und falls er dabei ist, irgendwelche Dummheiten zu machen oder sich sogar selbst in Gefahr bringt, solltest du uns das sagen.“
„Aber ich habe solche Angst, dass er aus der Einrichtung rausfliegt, wenn ich es euch sage. Und dann geht er zu seinem Onkel und gerät erst recht in Schwierigkeiten.“
„So schnell fliegt man hier nicht raus, Isabell“, sagte Hanna.
„Ich glaube, Janik nimmt irgendwelche Drogen. Sein Onkel verkauft sie in Hamburg, das hat er mir mal erzählt. Ich glaube, er will in dessen Geschäfte einsteigen. Aber das ist nur eine Vermutung. Er redet ja kaum noch mit mir.“
„Und du meinst nicht Cannabis, weil das wissen wir ja schon, dass er damit eine Weile zu tun hatte?“
„Nein, ich weiß ja, wie er ist, wenn er gekifft hat. Dann ist er immer sehr friedlich und ruhig und will nur rumliegen und essen, aber in letzter Zeit war es ganz anders. Er hat kaum noch Appetit und ist selbst bei den schönsten Dingen seltsam angespannt und verkrampft.“
„Klingt nach Aufputschmitteln“, sagte Michel. „Ja, das denke ich auch. Haben wir die Kontaktdaten von diesem Onkel in Janiks Akte?“, fragte Hanna. Nun erschien ihr Isabells Sorge um einen Rauswurf Janiks weniger unwahrscheinlich, denn es gab gewisse Tabus, welche, zum wiederholten Male gebrochen, die Jugendamtsmitarbeiterin Beehrens dazu veranlassen konnten, die Maßnahme zu beenden – und der Gebrauch harter Drogen gehörte dazu. Doch bis jetzt war es nicht mehr als ein Verdacht und somit gab es keinen Grund, Frau Beehrens über mehr zu informieren als über Janiks Abgängigkeit.
„Nein, soweit ich weiß, haben wir überhaupt nichts über ihn.“
Hanna schaute Isabell an. Auch sie hatte Gewicht verloren in letzter Zeit. Sie sah nicht gesund aus. „Hat er dir denn auch erzählt, wo genau sein Onkel Rene wohnt?“
„Ja, in Hamburg, im Schanzenviertel.“
„Aha, aber eine genaue Adresse hat er wahrscheinlich nicht gesagt?“
„Nein“, sagte Isabell.
„Geht er denn ans Handy, wenn du ihn anrufst?“
„Ich denke schon.“
„Würdest du ihn nach der Adresse fragen?“
„Aber …“
Es klopfte an der Tür.
„Wer ist da?“, fragte Hanna.
„Ich bin‘s, Lene“, sagte eine piepsige und dennoch selbstbewusste Stimme. Das Mädchen mit den dunklen Locken betrat den Raum mit einem Strahlen. Sie war gerade sechs Jahre alt geworden und heilfroh, mit Paulina endlich jemanden zum Spielen auf dem Inselhof zu haben. Und ihre Kameradin ließ nicht lange auf sich warten, sie huschte wenige Augenblicke nach Lene ins Gesindehaus. Wenn sie die beiden zusammen sah, weitete sich Hannas Herz. Lenes Haut war ziemlich dunkel und auf ihrem Kopf wucherte widerspenstiges Haar. Sie hatte kaffeebraune Augen, in denen oft ein wilder Glanz lag. Paulinas Haar hingegen war glatt, blond und eher dünn, ihre Haut war hell, ihre Augen grau wie Kieselsteine und von ruhiger Intelligenz. „Was gibt’s denn, Mädels. Wir haben hier gerade noch eine Besprechung.“
„Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass die Paulina und ich mit Opa Frieder und Lumpi spazieren gehen“, sagte Lene.
„Ist er schon da?“
„Ja, er wartet draußen auf uns.“
Hanna stand auf und ging zur Tür. Ein paar Meter weiter stand ihr Vater mit seinem Hund Lumpi, der bereits an der Leine zog, weil er den Duftspuren auf dem kleinen Trampelpfad ins Dünengebirge folgen wollte, welches den Inselhof vom Strand trennte. Lumpi war ein germanischer Bärenhund, was wirklich gut beschrieb, wie er aussah, nämlich groß, braun und zottelig. Stark war er ebenfalls, und Opa Frieder, wie Lene ihn nannte, musste stets auf einen heftigen Ruck an der Leine gefasst sein, denn Lumpi hatte seinen Jagdtrieb nicht ganz im Griff, und wenn er ein Kaninchen oder einen Fasan aufgespürt hatte, raste er oft völlig unvermittelt los und riss sein Herrchen damit jedes Mal fast von den Beinen.
„Hallo, Papa“, rief Hanna.
„Hallo, Nana“, sagte ihr Vater, der sie gelegentlich noch mit diesem Kosenamen ansprach, den sie sich selbst als kleines Mädchen gegeben hatte.
„Macht ihr heute eine größere Tour?“
„Na, vielleicht so zwei, drei Stündchen“, sagte er. „Wir müssen sehen, wie sich das Wetter entwickelt. Da drüben kommt es ziemlich dunkel“, sagte er und zeigte in Richtung Westen, wo der Himmel trüb war.
„Dann komm doch nach dem Spaziergang zum Kaffee. Lisa würde sich sicherlich freuen.“
„Ist sie denn schon da?“, fragte er, wobei seine Augen zu strahlen begannen.
„Ja, sie sind zum Mittagessen gekommen.“
„Also, da müsste ich ja eigentlich schon mal guten Tag sagen, bev … bevor wir spaz … spazieren gehen.“ Hannas Vater Frieder hatte vor einiger Zeit einen leichten Schlaganfall gehabt und manchmal blieb er mitten im Satz kurz hängen. Ansonsten merkte man ihm nichts weiter an.
„Mmh …“, machte Hanna und zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, jetzt störst du sie lieber nicht. Lisa hat nämlich ihren Freund mitgebracht und gerade wollten sie sich für ein Mittagsschläfchen hinlegen.“
„Gut, dann lass ich unsere Prinzessin ein wenig schlafen und sage ihr hallo, wenn wir vom Spaziergang zu … zurückkommen.“
„Ja, lasst euch ruhig Zeit. Ich habe in einer Stunde ein Vorstellungsgespräch, und es wäre gar nicht schlecht, die beiden Kleinen währenddessen bei dir und Lumpi zu wissen. Michel hat später noch in der Scheune zu tun und ich weiß nicht, ob er die beiden dabei gebrauchen kann.“
„Ach … wir werden uns die Zeit schon vertreiben, ihr beiden Krabben, was?“
Die Mädchen nickten und waren mittlerweile genauso wild darauf, endlich loszugehen, wie Opa Frieders Hund Lumpi.
„Alles klar, dann wünsche ich euch eine abenteuerliche Zeit“, sagte Hanna, die wusste, dass ihr Vater gerne ein paar Geschichten und Spiele einbaute, wenn er mit den Mädchen über die Insel wanderte. Sie selbst wollte das Gespräch bezüglich Janik noch zu Ende bringen, bevor sie das Büro für das Vorstellungsgespräch bereit machen würde, was im Grunde bedeutete, aufzuräumen und Kaffee zu kochen.
Als Hanna in Gesindehaus zurückkehrte, tippte Isabell gerade wie wild auf ihrem Smartphone herum. Michel sah nachdenklich aus dem Fenster.
„Wie geht es denn jetzt weiter?“, überlegte Hanna halblaut.
„Du bist die Chefin“, sagte Michel. Das sagte er gerne, wenn es schwierige Entscheidungen zu treffen galt.
Für eine Vermisstenmeldung war momentan kein Grund, befand Hanna. Janik war kein kleines Kind mehr, und er war mit gepacktem Koffer zu seinem Onkel nach Hamburg aufgebrochen und nicht etwa spurlos verschwunden. Viel wichtiger würde es sein, im Laufe des Tages herauszufinden, ob er gut im Schanzenviertel angekommen war. Dann wäre es gut, dachte Hanna, das Gespräch mit seinem Onkel Rene zu suchen, falls man dessen Adresse und Telefonnummer herausbekäme. Alle anderen Schritte mussten wohl überlegt werden.
„Bei einem so sensiblen Thema sollte man keine Schnellschüsse machen“, sagte sie. „Wir sollten versuchen, mit Janiks Onkel Kontakt aufzunehmen. Über alles andere mach ich mir Gedanken. Jetzt muss ich zuerst mal das Chaos im Büro beseitigen, ansonsten wird unsere Bewerberin ihre Bewerbung vermutlich zurückziehen, sobald sie zur Tür hereinkommt.“
Nach Magdalenas Weggang war es mittlerweile höchste Zeit, eine neue pädagogische Mitarbeiterin einzustellen, denn außer Michel und Hanna arbeitete momentan bloß noch Ben auf dem Inselhof, und der hatte in den letzten Wochen so viele Überstunden aufgebaut, dass er am Ende seiner Kräfte angekommen war.
Das Gespräch war für 15 Uhr angesetzt. Um 14.59 Uhr klingelte es an der Haustür des Inselhofes. Das machte einen sehr guten ersten Eindruck, denn es war gar nicht leicht, auf Langeoog pünktlich zu sein, schon gar nicht, wenn man sich nicht mit den örtlichen Begebenheiten auskannte.
Aber Irina hatte die Fähre bekommen und offenbar auch eingeplant, dass es auf einer autofreien Insel keine Taxis gab, was bei einer Strecke von drei Kilometern, die es vom Bahnhof bis zum Hof zurückzulegen galt, ein bedeutender Faktor war, wenn man pünktlich kommen wollte.
„Hallo!“, sagte Hanna und reichte ihr die Hand.
„Hi! Ich bin Irina!“
„Ich bin Hanna, die Leiterin des Inselhofes!“
Irina hatte braunes Haar, und ihre ebenfalls braunen Augen strahlten vor Energie. Hanna vermutete schon allein dieses ersten Eindruckes wegen einen großen Arbeitswillen.
„Wie bist du denn vom Bahnhof hergekommen?“, fragte Hanna.
„Mit dem Fahrrad. Ich hab mir noch von Zuhause eins reserviert. Das stand schon bereit und hat auf mich gewartet, als ich aus der Inselbahn gestiegen bin.“ Die Inselbahn beförderte die Menschen vom Hafen zum Bahnhof und zurück. Es war eine Schmalspurbahn mit bunten Waggons und der einzige Grund, warum es auf Langeoog einen Bahnhof gab.
„Das ist gut, Bewegung an der frischen Nordseeluft kann niemals schaden“, sagte Hanna. Und es erklärt auch, warum sie so verdammt frisch und gesund aussieht.
„Dann mal rein in die gute Stube“, sagte Hanna, als Irina eintrat und sich im Flur umschaute. „Soll ich dir zuerst das Haus zeigen, oder wollen wir das nach dem Gespräch machen?“
„Ach … mir ist das gleich“, sagte Irina.
„Gut, dann unterhalten wir uns zuerst ein bisschen“, entschied Hanna. „Hier entlang.“ Sie führte die Bewerberin durch einen kleinen Nebenflur ins Büro, marschierte schnurstracks zum Schreibtisch und setzte sich auf ihren gewohnten Platz. Irina blieb stehen und sah sich die Fotos der Kinder an, die überall an den Wänden hingen.
„Die ist ja süß“, sagte sie.
„Ja, die ist wirklich süß, aber ich warte darauf, dass die Stimmung kippt.“
„Weshalb warten Sie darauf?“
„Bitte nenn mich doch Hanna und sag du, wenn es dir recht ist.“
„Ja, klar, gerne …“
„Paulinas Eltern sind beide tödlich verunglückt. Das ist erst wenige Monate her, und bisher verhält sie sich so, als sei nichts gewesen“, sagte Hanna.
„Oh Shit, das ist der Schock. Da kommt sicher noch was auf euch zu.“
„Das vermute ich auch. Aber jetzt geht’s ja erstmal um dich, setz dich doch.“
Irina setzte sich Hanna gegenüber an den Schreibtisch. Während Hanna in einem Stapel Unterlagen wühlte, atmete Irina lange und hörbar aus. Offenbar spürte sie, dass nun der offizielle Teil folgen würde.
„Du brauchst überhaupt nicht aufgeregt zu sein. Wir machen kein klassisches Vorstellungsgespräch. Wir unterhalten uns einfach ein bisschen und trinken dabei Kaffee. Möchtest du einen?“
„Ist das eine Fangfrage?“
„Wie?“
„Na ja, die richtige Antwort wäre vermutlich, dass ich nur Schwarztee trinke. Mit braunem Kandis natürlich.“
Hanna lachte. Humor hat sie also auch, das ist doch schon ein sehr guter Anfang.
„Nein, die richtige Antwort ist: Ja, gerne“, sagte Hanna und ergänzte: „Den Kaffee hab ich nämlich schon gekocht und Tee müsste ich erst noch zubereiten.“
„Okay, ich nehme dann gerne einen Kaffee, mit etwas Milch, wenn es geht, aber ohne Zucker“, sagte Irina.
Nachdem beide versorgt waren, überflog Hanna die Bewerbungsunterlagen noch einmal: „Irina Müller, geboren am 1. Mai 1992 in Sankt Petersburg“, sagte Hanna. „Du bist in Russland geboren, aber dein Name ist Müller?“
„Ja, wir sind sogenannte Russlanddeutsche. In Sankt Petersburg lebten wir mit dem russischen Nachnamen, und als wir nach Deutschland gingen, hat unsere Familie den Namen unserer deutschen Vorfahren angenommen. Papa meinte, das sei besser für die Integration, und ehrlich gesagt, glaube ich das auch.“
„Aber du bist schon quasi dein ganzes Leben in Deutschland, richtig?“
„Genau, wir sind kurz nach meiner Geburt nach Stuttgart gezogen, später dann nach Frankfurt.“
„Aber du sprichst auch russisch, oder?“
„Ja, natürlich“, sagte Irina.
„Wie bist du ausgerechnet auf den Inselhof gekommen bei deiner Bewerbung?“
„Ich will sehr gerne was Neues Kennenlernen, das gehört, glaube ich, zu meinem Charakter.“
„Kannst du das bisschen genauer beschreiben, was genau zu deinem Charakter gehört?“, fragte Hanna neugierig.
„Das war schon immer so. Ich brauche neue Herausforderungen. Zuerst habe ich in einer Krabbelgruppe gearbeitet, aber irgendwann war mir das zu wenig.