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Wird ihr Vater sie überhaupt noch erkennen? Und wie sind die neuen Kollegen auf der Insel? Mit diesen Fragen im Gepäck besteigt Hanna die Fähre nach Langeoog. Sie und ihr Vater haben sich seit dem großen Familienkrach vor zehn Jahren nicht gesehen. Doch nun hatte er einen Schlaganfall und Hanna muss herausfinden, ob die Erinnerungen an die glückliche, gemeinsame Zeit in seinem Kopf überlebt haben. Sie hat Angst, einem fremden Mann gegenüberzustehen, der seine Tochter völlig vergessen hat. Außerdem tritt sie auf Langeoog einen neuen Job im Kinder- und Jugend-Wohnheim an. Sie will der verlassenen Wohnung entfliehen, aus der ihr Ehemann mit einer zwölf Jahre jüngeren Frau nach Mallorca abgehauen ist. Auch die gemeinsame Tochter ist bei ihm auf den Balearen. Schon am Inselbahnhof trifft Hanna den höchst attraktiven Milan, der zudem einen sehr außergewöhnlichen Duft verströmt. Obwohl Hanna einen beliebten Parfum-Blog im Internet betreibt, ist ihr dieser geheimnisvolle Duft unbekannt. Während sie sich im Wohnheim Dünenblick einarbeitet, sich seelisch auf das Treffen mit ihrem Vater vorbereitet und versucht, dem Geheimnis von Milans Duft auf die Spur zu kommen, betreten auch Mutter und Schwester die Fähre nach Langeoog. Es kommt zum ersten Wiedersehen seit dem großen Krach. Eigentlich genug Potenzial für einige Turbulenzen, doch dann taucht auch noch der schuldbewusste Ehemann auf.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inseldüfte
von
Jana Fried
Überarbeitete Fassung Januar 2025/erste Auflage veröffentlicht 2017
Copyright © by Jana Fried
Lektorat: Melanie Melchior/ Heidemarie Rabe
Coverentwurf: 99Designs
Astrid Schieferstein
Am Dornbusch 12
35428 Langgöns
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Hanna Schwindt saß am Hafen von Bensersiel und schaute in den Nebel Richtung Langeoog. Vor einer halben Stunde war sie angekommen nach fünfhundert Kilometern Autobahn.
Auf der gesamten Strecke von Frankfurt nach Ostfriesland, die zur Hälfte aus Baustellen bestanden hatte, war trockene, heiße Luft durchs Beifahrerfenster gewirbelt. Jetzt allerdings hingen milchig feuchte Schwaden über der Nordsee. Es sah fast aus, als wären die Wolken aus dem Himmel gefallen und auf der Wasseroberfläche liegen geblieben, denn über dem Nebelstreifen leuchtete ungetrübtes Blau.
Der blöde Nebel passt jedenfalls ausgezeichnet, dachte Hanna.
Ihre Zukunft verbarg sich momentan hinter ähnlich dichten Schleiern wie Langeoog.
Sie atmete den schweren Geruch von Seetang mit der feuchten Luft ein, verschränkte seufzend die Arme und lehnte sich gegen die steinernen Treppenstufen. Hinter ihr lagen das graubraune Fährhaus, vor ihr die Anlegestelle und das trübe Hafenwasser. Die Urlauber strömten bereits über die Landungsbrücke auf das Schiff.
Hannas Magen knurrte, weil sie seit einer Tankstellen-Bockwurst vor sechs Stunden nichts gegessen hatte. Überhaupt blieb ihr Appetit in den letzten Monaten weit unter dem gewöhnlichen Maß. Das war der Kummer.
Während der Autofahrt war es ihr noch gelungen, sich eine Art Urlaubsstimmung einzureden. Strahlender Sonnenschein, gute Gute-Laune-Hits aus den Achtzigern im Radio, aus jener Zeit, in der sie mit ihren Eltern zum Familienurlaub an die Nordseeküste gefahren war.
Selbst als die Gegend flacher und grüner wurde, als immer mehr Kühe, Schafe und Windräder die Landschaft bevölkerten, hatte sie es geschafft, sich vom Zauber des Nordens berauschen zu lassen. Keine Sekunde hatte sie an ihren Vater gedacht.
Daran, wie er heute vielleicht ist.
Auch an Michel und Lisa hatte sie kaum denken müssen. Dafür an ihre ältere Schwester, an Sirke, wie sie damals mit ihrem Zahnspangenmund jedes Nummernschild einer Stadt zuordnete, während sie und Hanna gemeinsam auf der Rückbank des alten Opel Omega saßen. Papa am Steuer, Mama auf dem Beifahrersitz, die Tupperdose mit Salami- und Käsebrötchen auf dem Schoß, darunter die ausgebreitete, vom häufigen Gebrauch vollkommen zerknickte Straßenkarte.
Jedes Jahr hatten ihre Eltern über das Ziel des Sommerurlaubes diskutiert, und jedes Jahr fuhren sie schließlich doch wieder an die Nordsee, an jenen Sehnsuchtsort ihres Vaters, der an der friesischen Küste geboren war und sie aus Liebe zu Hannas Mutter verlassen hatte.
Und jedes Jahr brauchten sie wiederdie olle Straßenkarte, dachte Hanna lächelnd.
Nach fauligem Treibholz, Muscheln und Algen, nach nassem Sand, Salz und frisch gepulten Krabben mit Butter hatten die Sommerferien ihrer Kindheit gerochen.
Mittlerweile war die Nordsee für Hanna selbst zur zweiten Heimat geworden. Hier stillte der Wind ihre Sehnsucht, sich wirklich zu spüren. Das Gefühl, launischem Wetter und erbarmungslosen Gezeiten ausgeliefert zu sein, machte die Menschen am Strand, im Watt und in den Marschen wieder zu einem Teil der Natur. Das war es, was Hannas Meinung nach vielen modernen Leuten fehlte, wenn sie abends nach einem Tag im Büro auf ihren Sofas lagen und durch virtuelle Welten in ihren Smartphones surften. Hanna spürte dieses unbefriedigende Gefühl in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnen. Sie wollte wieder näher am Ursprünglichen sein, wollte nach einem windgepeitschten Herbsttag unter eine Decke kriechen, ein Buch aufschlagen, Ostfriesentee trinken und damit zufrieden sein.
Als die letzten Passagiere an Bord gingen, eine junge Familie mit Mops, zwei Kindern und prallgefüllten Rucksäcken, stand Hanna auf.
Sie packte den Griff ihres Trolleys und brachte die letzten Schritte zur Fähre hinter sich. Ihren großen Koffer hatte sie bereits am Schalter im Fährhaus abgegeben bei einem grauhaarigen Mann, dessen friesisches Bellen selbst sie nicht richtig verstanden hatte. Ihr Vater beherrschte den Dialekt zwar auch, beim täglichen Umgang mit seiner Familie hatte er jedoch mehr oder weniger Hochdeutsch gesprochen.
Damals, als er noch mit seiner Familie gesprochen hatte.
Der Koffer war mittlerweile bei den anderen Frachtstücken auf dem Schiff, und sie würde ihn am Inselbahnhof Langeoog wiederbekommen. Sie kannte das alles.
Nur war sie jetzt beim Betreten der Landungsbrücke unendlich weit von jener Vorfreude entfernt, die sie als Kind gespürt hatte. Damals war es eine frohe Ungeduld gewesen, endlich den bügelförmigen Garnelenkescher vor sich her zu schieben, die zappelnden Minikrabben im Netz zu sehen, die Sonnenwärme auf dem T-Shirt, die Beine im flachen Wasser. Sand im Haar und Wind in den Ohren. Jetzt war es eher eine Art von Aufregung, die sich der Nervosität bedenklich näherte.
Zwei Dinge warteten hinter dem Nebel. Auf Langeoog.
Zum einen würde sie in zwei Tagen ihre neue Stelle im Wohnheim Dünenblick antreten, zum anderen ihren Vater wiedersehen.
Nach zehn Jahren!
Er hatte letzten Herbst einen Schlaganfall erlitten. Drei Monate später war die Nachricht erst an sie herangetragen worden, über Umwege und Zufälle. Bis heute hatte sie sich nicht getraut, ihn zu kontaktieren, zu groß waren ihre Ängste.
Dabei sind wir früher so ein gutes Team gewesen …
Ausgerechnet vom geschwätzigsten Weib der ganzen Insel, der Nachbarin ihres Vaters, hatte sie erfahren müssen, was passiert war.Von Elfriede Hanssen. Am Telefon! »Ja, ganz schrecklich, Kindchen, ganz, ganz schrecklich«, hatte sie immer wieder gesagt und auf verwertbare Reaktionen gelauert.
Hanna hatte ihr diesen Gefallen nicht getan, hatte geschwiegen.
Die Geschichte vom Nervenzusammenbruch der armen Tochter wollte sie dieser biestigen Strandkrabbe nicht ohne Weiteres liefern.
Obwohl Strandkrabbe es nicht trifft, fand Hanna, so hatte ihr Vater sie manchmal genannt. Meine kleine Strandkrabbe. Nein, Elfriede Hanssen war eine Miesmuschel. Hart wie Stein, verkalkt und ständig damit beschäftigt, Dreck und Gift aus der Umwelt zu filtern.
Genau wie das glitschige Meerestier ernährte sich die Hanssen von dem, was andere krank machte.
Selbst wenn ihr Hanna keine Geschichte geliefert hatte, Elfriede Hanssen war sicherlich verschlagen genug, um sich eine auszudenken. Aus Hannas Schweigen würde sie wahrscheinlich die Story eines armen, verstummten Mädchens machen, das vor Trauer kein Wort mehr sprechen konnte.
Doch darüber zerbrach sich Hanna nicht den Kopf. Sie war einfach traurig, dass Elfriede Hanssen vor ihr Bescheid gewusst hatte.
Im Inneren des Schiffes war es voll und stickig. Hanna fragte sich, wie man überhaupt auf die Idee kommen konnte, die Überfahrt hier drinnen anzutreten. Das Gefühl, wenn sich die Schiffsschrauben in Bewegung setzten, wenn die Fähre langsam Fahrt aufnahm und sich vom Festland entfernte, war ohne Wind im Gesicht doch nicht mal halb so schön. Wahrscheinlich bekommt man hier drinnen gar nichts davon mit.
Sie stieg die Treppen nach oben, ging hinaus und stellte sich mit ihrem Trolley ans Heck des Schiffes. Hier hatte sie auch mit ihrem Vater stets auf das Auslaufen gewartet.
Für einen Moment schwemmte diese Erinnerung alle Sorgen von ihrer Seele und sie lächelte beim Gedanken daran, ihren Vater bald wiederzusehen.
»Nana«, hatte er sie immer gerufen. Weil sie sich selbst so genannt hatte, als sie noch zu klein gewesen war, um ihren Namen richtig auszusprechen. »Nana Bus« hatte bedeutet, dass Hanna die Brust wollte. Selbst die zwanzigjährige Hanna rief er noch Nana. »Wo ist Nana?«
Das hatte lustig geklungen, als wäre sie ein kleines Äffchen.
Meine Nana …
So beruhigend hatte das auf sie gewirkt, hatte alles auf sie gewirkt, was er in ihrer Gegenwart tat. Ja, Frieder Behnke besaß die Gabe, Gemüter allein mit seiner Anwesenheit zu beruhigen.
Wenn Papa sich im Aufenthaltsraum des Wohnheims Dünenblick an den Tisch setzen würde, würde das die Jungs und Mädels garantiert mehr beruhigen als all die Pillen und Säfte, die sie schluckten.
Ihr Vater konnte während einer Autofahrt sechs Stunden lang Reime mit seiner fünfjährigen Tochter machen und deren Mutter damit in den Wahnsinn treiben. Er konnte in den Baumarkt gehen, sich Holz und Farbe kaufen und einen Tag später hatte er daraus einen riesigen massiven Tisch gebaut, weiß gestrichen. Landhausstil. Für solche Tische wurde man im Laden locker tausend Euro los.
Das alles hatte ihr Vater gekonnt. Aber jetzt?
Hanna wusste keine Einzelheiten über die Krankheit.
Offensichtlich war es ihm noch möglich, den Haushalt alleine zu bewältigen, denn Hilfe wollte er partout keine annehmen. So hatte es zumindest die alte Hanssen erzählt. Aber konnte er immer noch Tische bauen? Konnte er reimen? Strahlte er noch immer diese Ruhe aus, oder war er jetzt ein völlig anderer Mensch?
Was Hanna am meisten Angst machte, war genau dieser Gedanke.
Ein anderer Mensch.
Sie fürchtete sich davor, einen fremden Mann zu treffen, der alle Erinnerungen an die gemeinsame Zeit verloren hatte, oder einen Mann, dem diese Erinnerungen nichts mehr bedeuteten.
Sie stand am Heck der Fähre und schaute nach unten.
Die Schiffsschrauben wirbelten das braune Wasser des Hafenbeckens auf, welches wie der dunkle Schlamm vom Grund eines Gartenteiches roch.
Die kalte weiß lackierte Reling vibrierte unter Hannas Fingern, und ein frischer Wind wehte ihr ins Gesicht. Der Kapitän drehte die Fähre, sie stachen in See.
Nach kurzer Zeit war der brackige Hafengeruch verflogen und salzige frische Luft wehte um ihre Nase. Es roch nach Eisen, nach Fisch und Wasser. Sie schloss die Augen und sog den Geruch des Meeres ein, der so vielen Menschen ein Versprechen auf Leben war.
Über dem Heck des Schiffes flog eine Möwe, immer exakt die Geschwindigkeit haltend, immer im selben Abstand zum Metallgestänge der Reling, als wäre sie an einem Seil festgebunden. Hanna beobachtete das Tier, wie es ohne jede Anstrengung und nur mit gelegentlichen Flügelschlägen segelte. Dann verschwand der Vogel plötzlich im Nebel und Hanna sah kaum noch die eigenen Füße.
Ein Schauer krabbelte über ihren Rücken, als die Temperatur schlagartig in den Keller fiel und von den Menschen um sie herum nur noch Schatten blieben.
Sie ging zwei Schritte zurück und tastete nach der orangefarbenen Plastikbank.
Der Nebel war so dicht, dass es ihr nicht mehr ganz geheuer war an der Brüstung. Direkt unter ihr die eisigen grauen Fluten.
Die Schiffsschraube.
Sie hatte wohl schon zu viele Krimis gesehen.
… Jedenfalls würde ich in jedem Krimi die blöde Kuh verfluchen, die bei dieser gespenstischen Stimmung an der Schiffsschraube rumzusteht.
Da brauchte man sich nicht wundern, wenn man zur Vorlage für den nächsten Ostfriesland-Krimi wurde.
Eine ganze Weile fuhren sie blind. Graue Schatten, gedämpftes Tuscheln der Passagiere, als verlange dieses Naturschauspiel eine besondere Art von Respekt.
Gelegentlich teilte die Möwe durch kurze Schreie mit, dass sie den Kontakt zum Schiff nicht verloren hatte.
Hanna konnte sich bloß an eine einzige Überfahrt erinnern, bei der ähnlicher Nebel geherrscht hatte. Damals war sie mit Sirke und ihrer Mutter auf der Fähre gewesen, um zum ersten Mal nach der Trennung den Vater auf Langeoog zu besuchen.
Ihre Mutter war keine geschwätzige Frau. Sie redete stets gerade so viel wie nötig. Nur an jenem Tag auf der Fähre hatte beim Abtauchen im Nebel etwas ihre Zunge gelöst. Wie andere Leute zu reden beginnen, wenn sie getrunken haben, so schien damals der Nebel auf Hannas Mutter zu wirken. Beinahe die gesamte Fahrt von Bensersiel nach Langeoog redete sie. In Hannas Ohren klangen ihre Ausführungen wie Beschwichtigungsversuche. Sie nahm den Mann, der sie und seine Töchter verlassen hatte, in Schutz. So sei das eben manchmal bei den Menschen, auch bei den Frauen. Irgendwann käme bei vielen in diesem Alter das Gefühl auf, noch mal etwas Neues versuchen zu müssen, das sei vielleicht ein ganz natürliches Phänomen. »Die Kinder aus dem Gröbsten draußen, die gemeinsame Pflicht mit dem Partner erfüllt, beginnt man plötzlich wieder seine eigenen Wünsche zu spüren.«
Daraufhin hatte Hanna gefragt, ob das dann ein Freifahrtschein sei, alles zu verraten, was man sich früher einmal geschworen hatte.
Erst bei diesem Wort Verrat hatte der Redeschwall ihrer Mutter abrupt geendet.
Heute, beim Gedanken an ihren Ehemann, der mit seinem Neuanfang, mit Bozena, auf den Balearen war, kamen ihr das Gespräch von damals und die Ausführungen ihrer Mutter beinahe prophetisch vor.
Die Kinder aus dem Gröbsten draußen, die gemeinsame Pflicht mit dem Partner erfüllt, beginnt man plötzlich wieder seine eigenen Wünsche zu spüren. Auch das passte wie die Faust aufs Auge. Lisa war mittlerweile achtzehn Jahre alt, gerade erst hatte sie das Abitur bestanden.
Die Fähre sollte den Hafen von Langeoog um 14:30 Uhr erreichen.
Um 14:28 Uhr färbte sich der Nebel plötzlich golden im Sonnenschein, öffnete sich dann wie ein Vorhang und gab den Blick auf den Inselhafen frei.
Die Möwe beendete ihr Begleitkommando und flog weiter in Richtung Inselmitte.
Hanna verließ das Schiff inmitten lächelnder Menschen. Die allermeisten von ihnen waren sicherlich Urlauber. Hauptsächlich junge Familien, viele mit Hunden. Den Kindern stand die Ferienfreude in den Gesichtern, sie malten sich aus, was sie in den nächsten Tagen am Strand und in den salzigen Wellen der Nordsee tun würden.
In einem guten Juli war Langeoog um einiges erholsamer als die Touristenhochburgen am Mittelmeer. Wenn man eine Gutwetterperiode erwischte, kannte Hanna kaum einen besseren Ort für den Sommer. Der frische Wind sorgte auch an den sonnigsten Tagen für Abkühlung. Der vierzehn Kilometer lange Sandstrand und die einmalige Dünenlandschaft boten jedem ein ruhiges Plätzchen, der danach suchte. Hanna hoffte, dass es ein guter Sommer werden würde.
Auf Langeoog gab es so gut wie keine Verbrennungsmotoren. Stattdessen fuhren die Einheimischen mit kleinen Elektrofahrzeugen, die stark genug waren, um Koffer oder Getränkekisten zu transportieren. Allerdings gab es auch von diesen E-Karren, wie man sie hier nannte, nicht besonders viele. Die meisten Leute waren mit Fahrrädern oder Pferdekutschen unterwegs.
Um die Touristen vom Hafen zu ihren Unterkünften im Dorf zu transportieren, betrieb man eine kleine Schmalspurbahn, die in gemächlichem Tempo durch die Landschaft zog.
Hanna ging auf die stehende Bahn zu. Jedes Abteil war in einer anderen Farbe lackiert. Knalliges Rot, Orange, Lila, leuchtendes Gelb und Kornblumenblau. Bunt und klein, wie sie war, wirkte die Inselbahn eher wie die Attraktion eines Freizeitparkes, doch täglich mehrmals tat sie ihre Pflicht und kutschierte Menschen über die eingleisige knapp drei Kilometer lange Strecke vom Hafen zum Bahnhof.
Hanna setzte sich in den blauen Wagen. Die Container mit den Koffern wurden verladen, die Inselbahn tuckerte los.
Durch das Fenster schaute Hanna Schwindt in einen strahlenden Tag. Die Wiesen standen gut im Saft und waren grün wie die Deiche, Pferde grasten auf riesigen Weiden. Es roch nach Pferd auf Langeoog.
Alles wie immer. Bloß mein Vater vielleicht nicht.
Der Bahnhof von Langeoog war sehr klein. Logischerweise. Von hier aus fuhr schließlich bloß die Inselbahn zum Hafen und wieder zurück. Wenn man Essen oder Trinken kaufen wollte, musste man den Bahnhof verlassen und einen der Läden im Dorf aufsuchen. Kurz gesagt: Bei jeder Tupperparty herrschte mehr Trubel als hier. Das Schwächegefühl in Hannas Beinen kam also nicht von überforderten Sinnen, die ihr manchmal bei Menschenansammlungen in Städten oder Flughäfen Probleme machten. Sie war angekommen auf der Insel. Das war es.
Sofort wähnte sie ihren Vater in jeder Person mit passender Körperstatur. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als sei sie zu unvorbereitet in diese Situation geraten, auf diese kleine Insel, auf der bloß knapp zweitausend Menschen wohnten. Und einer davon war er. Papa …
Außerdem spürte sie nun die Trennung von Michel noch viel deutlicher als zuvor. Er war dort und sie war hier. So war dieses spezielle Gefühl auf einer Insel. Abgeschnitten vom Rest der Welt und gleichzeitig sicher vor ihm.
Sie empfand noch viel für Michel. Kein Wunder, schließlich waren sie seit der Jugend zusammen gewesen. Wenn es keine Liebe mehr war, dann doch zumindest tiefe Verbundenheit. So genau konnte sie da keine Grenze ziehen. Und eine gewisse Verbundenheit musste allein durch die gemeinsame Tochter auf Lebzeiten bestehen, das war ihr ein großes Anliegen.
Mit siebzehn hatte sie Lisa zur Welt gebracht. Sie selbst war jetzt fünfunddreißig, Lisa war achtzehn und dass sie nun für ein halbes Jahr bei Michel auf Mallorca bleiben würde, machte Hanna nervös.
Das Mädchen hatte das wirklich anstrengende Abitur bestanden und wollte nun etwas Zeit für sich. Das war im Grunde vollkommen okay. Andere tourten nach dem Abi monatelang mit Rucksack und ausgestrecktem Daumen durch Südamerika oder Asien, da war es ihr lieber, ihre Tochter bei Michel auf den Balearen zu wissen. Er liebte Lisa über alles.
Nur trudelte Lisa momentan durch die Gegend wie ein Blatt im Wind. Sie hatte sich bisher einfach keine klaren Ziele gesetzt und deshalb befürchtete ihre Mutter insgeheim, Lisa könne sich von den Schwärmereien ihres Vaters anstecken lassen, der momentan dabei war, irgendeine Bar zu eröffnen.
»Eine Strandbar auf Mallorca, so was haben die da mit Sicherheit noch nicht«, hatte sie seine Idee damals belächelt.
Kurz nach seinem vierzigsten Geburtstag war Michel ungebremst in die Midlife-Crisis gerast. Sein Charakter hatte sich innerhalb von Tagen verändert. Ein paar Monate und unzählige Streits später fühlten sich beide, als wären sie gemeinsam betrunken von einer Party abgehauen, dann aber in einer Sackgasse aufgewacht, nüchtern, im erbarmungslosen Tageslicht.
Sie hatten sich getrennt, zuerst probeweise, um Abstand und einen klaren Blick auf die ganze Situation zu bekommen, wie man das so sagte. Das war jetzt sechs Monate her. Und was war seitdem passiert?
Der Abstand zwischen Hanna und Michel war nach kurzer Zeit offenbar schon groß genug gewesen, um es einer anderen Frau zu ermöglichen, zwischen sie zu schlüpfen. Bozena. Sie war mit Michel nach Mallorca gegangen, sie machte jene Spinnereien mit, zu denen Hanna nicht bereit gewesen war.
Während Hanna vor dem gelben Fracht-Container mit der Nummer 23 stand und in dem Kofferstapel nach ihrem Gepäck schaute, bemerkte sie einen angenehmen Geruch, der sich dezent in die frische Luft der Nordseeinsel mischte. Es war wie ein Hauch von Leder, Sandelholz und Mandarine. Ein Herrenduft. Leder und Sandelholz kannte Hanna aus einigen Männerparfums, die Mandarine hingegen war in dieser Zusammenstellung doch ziemlich ungewöhnlich. Ungewöhnlich, aber ausgezeichnet!
Und da war noch eine andere Note, die Hanna nicht zuordnen konnte. Sie schwebte harmonisch und zart über dem Rest und machte diesen Duft endgültig besonders. Es kribbelte in ihrem Bauch.
Sie schloss die Augen und sog den Geruch ganz bewusst ein, um die geheimnisvolle Zutat herauszufiltern.
Hanna kannte sich in der Welt der Gerüche besser aus als neunundneunzig Prozent der Menschheit. Sie war eine leidenschaftliche Parfum-Testerin. Proben wurden ihr mittlerweile kostenlos zugesandt, denn sie führte einen bekannten Internet-Blog, in welchem sie über die neusten Düfte sprach, sich für alte Schätze begeisterte und manch teures Wässerchen in den virtuellen Gulli kippte. Sogar ein wenig Geld verdiente sie mit ihren Besprechungen, seit gewisse Firmen ihre Seite für Werbeanzeigen nutzten.
Nein, dieser Duft, der offenbar von einem der Männer hinter ihr kam, war ihr bei den Testungen bisher definitiv nicht unter die Nase gekommen.
Hanna war geradezu aufgeregt wegen dieses Duftes. Aufgeregt wie jemand, der nach langer Zeit endlich wieder einen Buchrückentext außerordentlich gut findet und schon nach den ersten Zeilen weiß, dass er dieses Buch lesen muss.
Sie drehte sich unauffällig um, weil sie erraten wollte, wer da so gut roch und schaute in ein paar grüne Augen. In diesen Augen glänzten goldene Flecken. Es war wie ein Feuerwerk. Grün und Gold umspielten einander in einer Art Camouflage-Muster. Die Iris war von einem dunklen Rand umgeben und insgesamt wirkten diese Augen so unverschämt attraktiv, dass Hanna die anderen Personen gar nicht mehr anzuschauen brauchte. Der Duft kam von diesem Mann! Für den Bruchteil einer Sekunde verfiel Hanna sogar dem Glauben, dass diese eine verführerische Note, die sie nicht zuordnen konnte, aus den Poren seiner Haut kommen musste.
Plötzlich sahen diese Augen sie direkt an und der Mann, dem sie gehörten, bewegte seine Lippen. Schöne Lippen. Redete er mit ihr?
Hanna runzelte die Stirn, neigte den Kopf etwas zur Seite und bemerkte erst zu spät, dass sie wahrscheinlich aus der Wäsche schaute wie ein Schimpanse, der versucht, einem Menschen von den Lippen zu lesen.
»Darf ich?«, fragte er und schob sich an sie heran.
»Was?«, fragte sie.
»Meinen Koffer … ich würde gerne meinen Koffer aus dem Container holen.«
»Ach so.«
Der Mann nickte freundlich. Er hatte hohe Wangenknochen, sein Kinn war ausgeprägt und kantig, sein Haar dunkelbraun und kraftvoll.
»Natürlich«, sagte Hanna und machte einen Schritt beiseite.
Auch die Leichtigkeit, mit der er den schweren Koffer vom Boden des Containers hob, gefiel ihr.
Verwirrt eiste sie den Blick von dem Fremden los und durchforstete das übrige Gepäck systematisch nach dem eigenen Koffer.
»Ihrer nicht dabei?«, fragte der Mann mit den grünen Augen.
»Nein, wahrscheinlich ein Zahlendreher.«
»Was?«
»Vielleicht war es der Container mit der Nummer 32.«
»Okay … dann viel Erfolg noch«, sagte er und ging lächelnd in Richtung Hauptstraße. Beim Lächeln bildeten sich Grübchen in seinen Wangen. Auch das noch, dachte Hanna und schüttelte leicht den Kopf.
Seine zarte Duftspur hing noch eine Weile in der Luft, vermischte sich jedoch bald mit dem Geruch einer ankommenden Pferdekutsche und ging schließlich im animalischen Dunst der Vierbeiner verloren.
Wo ist denn mein blöder Koffer, fragte sich Hanna, zog eine nachdenkliche Grimasse, kratzte sich am Kopf und fühlte sich dabei schon wieder recht affig.
Dann sah sie den blauen Container mit der Nummer 32 und entdeckte, dass in diesem tatsächlich ihr Koffer stand. Als Einziger übriggeblieben.
Ob dieser Zahlendreher in ihrem Kopf entstanden war, weil dort die Zahl 23 in den letzten Wochen so oft herumgespukt hatte?
Dreiundzwanzig, sie konnte es immer noch nicht begreifen, wenn sie daran dachte. Diese Frau war gerade mal fünf Jahre älter als Lisa … Bozena, slawische Schönheit. 23 Jahre alt!
Hanna selbst war mittlerweile bedingt durch ihren Kummer eine sehr schlanke Frau. Auch vor ihrer Trennung hatte sie eine gute Figur gehabt, nun war allerdings kein Gramm zu viel auf den Rippen. Nur an Po und Oberschenkeln wollte sie noch arbeiten, die wollte sie gerne noch etwas strammer haben. Ihr rotblondes Haar war dicht, wellig und wies keine einzige graue Strähne auf. Ihre Haut war eher blass und auf den Wangen rosig, sie hatte Sommersprossen und braune Augen, geschwungene volle Lippen und eine schöne gerade Nase mit kleinem Stups. Hanna Schwindt sah gut aus. Die großen Füße und die fast unsichtbaren Wimpern waren bloß kleine Schönheitsfehler. Die richtigen Schuhe und ein bisschen Tusche, da gab es keinen großen Aufwand. Sie war zufrieden mit ihrem Äußeren.
Nur ist Bozena eben zwölf Jahre jünger …
Hanna machte ein paar schnelle Schritte, wuchtete das Gepäckstück auf die Räder, befestigte den Trolley auf dem großen Koffer und folgte dem schönen Mann auf die Hauptstraße.
Die Straße führte vom Inselbahnhof ins Zentrum des Dorfes, in welchem sich zahlreiche Geschäfte und Restaurants aneinanderreihten. Von der Hauptstraße würde irgendwann eine Abzweigung folgen, die sie nehmen musste, um zum Wohnheim zu kommen.
Sie war zwar schon sehr oft auf Langeoog gewesen, aber für Straßennamen interessierte sie sich noch weniger als für die Ergebnisse der Fußball-Bundesliga. Ihre Schwester Sirke hätte man um vier Uhr nachts wecken und nach dem Weg zum Wohnheim fragen können, sie hätte die Straßennamen der Reihe nach runtergerattert.
Nebenbei hätte sie auch noch die Fußballergebnisse vom Wochenende verkündet.
Rückblickend versetzte es Hanna einen Stich, wenn sie daran dachte, dass ihre Schwester solche Dinge meistens nur gelernt hatte, um ihrem Vater zu gefallen. Auch das mit den Nummernschildern hat sie deswegen gemacht.
Er hatte aber stets Hanna bevorzugt. Ihr brachte er die Dinge bei, die er dem Sohn gezeigt hätte, den er nicht bekam. Und wenn Sirke sich noch so sehr für Jungenthemen interessierte, für ihren Vater blieb sie immer ein typisches Mädchen.
Jedenfalls fand Hanna es heute ein Stück weit ungerecht, wie er ihre ältere Schwester damals behandelt hatte. Nie bösartig, nie abwertend, aber immer doch mit etwas weniger Leuchten in den Augen als bei ihr.
Nur, was konnte man gegen seine Gefühle tun?
Abgesehen davon war es Sirke nach dem schrecklichen Weihnachtsfest vor zehn Jahren offenbar leichter gefallen, den Bruch mit ihrem Vater zu überwinden.
Ein Schwarm Fahrradfahrer rauschte fast lautlos an Hanna vorbei.
Sie war inzwischen im Zentrum des Dorfes angekommen, dort wo auch ein größerer Supermarkt seine Waren anbot. Ihr Magen knurrte wieder, sie hatte noch immer nichts gegessen außer der Tankstellen-Bockwurst. Für die Figur war das wirklich gut, sie war besser in Form als jemals zuvor, aber wenn sie unglücklich sein musste, um dünn zu werden, dann hatte eine schöne Figur auch keinen Vorteil mehr, denn man war ja dann trotzdem unglücklich.
Jetzt jedenfalls hatte sie Hunger! Zuerst wollte sie in den Supermarkt gehen, um sich dort in der Bäckerei ein belegtes Brötchen zu kaufen, aber dann blieb sie stehen.
Eigentlich muss es zuerst mal ein Fischbrötchen sein, dachte sie, denn so war es seit jeher Tradition gewesen.
Ein popeliges Käsebrötchen konnte sie überall auf der Welt bekommen, doch frischen Fisch gab es eben bloß an der Küste.
Hannas Vater hatte immer mit dem Kopf geschüttelt, wenn er irgendwo in Frankfurt auf dem Schild eines Restaurants etwas von »frischem Fisch« gelesen hatte.
»Müssen die im Main gefischt haben«, sagte er dann friesisch knapp.
Man ist doch eigentlich erst richtig angekommen, wenn man das erste Fischbrötchen gegessen hat, sagte sich Hanna und ging zu einer Bude, an der es Matjes-, Fischfrikadellen- und Nordseekrabbenbrötchen zu kaufen gab.
Die Bude stand eingekesselt zwischen Drehständern voller Ansichtskarten, Schlüsselanhängern und anderen kleinen Mitbringseln.
»Moin!«, sagte der Verkäufer hinter dem Tresen, ein wuchtiger Mann mit Bauch und Schnauzbart.
»Moin! Ein Matjesbrötchen, bitte.«
»So soll es sein«, sagte der Verkäufer, belegte das Brötchen vor Hannas Augen mit einem saftigen Hering, grünem Salat und ordentlich roten Zwiebeln.
»Dann mal goadn Aftit!«, sagte er.
Hanna riss ihm das Stück beinahe aus den Pranken.
Das knusprige Brötchen, der salzige Geschmack des Fisches, der knackige Salat und die leichte Schärfe der Zwiebeln, das alles hatte sie als Kind nicht so sehr gemocht wie heute. Sie hatte es mit einem Lächeln gegessen, weil ihr Vater alles andere nicht gerne sah, aber für ihre zarten kindlichen Geschmacksknospen war das ein wenig zu streng gewesen.
Jetzt in diesem Augenblick war ein Fischbrötchen das einzig Wahre.
Hanna hob den Daumen, nickte dem Verkäufer zu und sah die Hauptstraße hinunter, an deren Ende ein Pfad in die Dünen führte.
Dieser schmale Weg war der Hauptzugang zum Strand, weshalb auf ihm immer ein gewisser Betrieb herrschte.
Gleich nach ein paar Metern gelangte man zum Wasserturm. Der große symbolträchtige Turm ragte strahlend weiß in den blauen Himmel. Entweder hatte das raue Küstenklima seinem Äußeren nicht geschadet, oder man erneuerte die weiße Farbe regelmäßig. Jedenfalls sah der Turm für Hanna aus wie immer.
Alles wie immer, dachte sie wieder, aber als sie an ihren Vater dachte, blieb ihr der Bissen beinahe in der Kehle stecken.
Gar nichts war wie immer! Bloß äußerlich war alles gleich geblieben. Die Nordsee rauschte so laut, dass man sie bis hinunter ins Dorf hörte, aber die Nordsee würde auch noch rauschen, wenn ihr Vater, sie selbst und alle Kinder, die heute hier auf Langeoog von der Fähre gestiegen waren, längst nicht mehr existierten.
Sie hatte ihr Matjesbrötchen gegessen und zog nun mit dem Koffer durch die Barkhausenstraße.
Aus einem Touristen-Info-Ständer vor einem Hotel hatte sie sich einen Ortsplan geschnappt, war rechts abgebogen und ging nun in Richtung Dorfrand, wo bald das Wohnheim stehen musste.
Die Leute in der Barkhausenstraße saßen draußen an reich gedeckten Tischen, aßen Muscheln und Lamm, tranken blassgelbe und rote Weine.
Die Stimmung war freundlich, die Menschen im Ferienrausch. Sie quälten sich heute nicht mit Gedanken an fehlendes Geld und überschüssige Pfunde. Man trank bereits mittags, hielt den Pegel bis zum Abend und erzählte sich dann von der frischen Nordseeluft, die einen so müde machte, dass man um neun schon ins Bett gehen wollte.
Hanna liebte diese einzigartige Heiterkeit auf der Insel und wenn alles stimmte. Wenn die Sonne schien, das Grün auf den zwanzig Meter hohen Dünen leuchtete und der Sand beinahe weiß war wie in der Karibik. Wenn der Duft von frisch gebratenem Fisch durch die Straßen züngelte und kein Auto die friedliche Atmosphäre mit Motorengeräuschen und Abgasen trübte. Das war Langeoog, wie man es in Prospekten fand, das waren die Momente, die einem den Stress des Alltags gutmachten und einem zeigten, für was man jeden Morgen zur Arbeit ging. Das Festland war eine andere Welt, jetzt war man auf der Insel.
Am Ende der Herrenhusstraße, einer Straße mit kleinen friesischen Häusern, ging es plötzlich nicht mehr weiter. Vor Hanna lagen bloß noch Feldwege und links schwangen sich die majestätischen Dünen empor.
Sie musste sich irgendwie verfranzt haben.
Hanna sah über die Felder nach rechts und entdeckte eine Gruppe Fahrradfahrer, die offenbar genau dort radelte, wo sie selbst eigentlich hingewollt hatte.
Ein gepflasterter Weg führte an einigen Häusern vorbei.
Wenn ich da langgehe, komme ich sicher auf der richtigen Straße wieder raus.
Sie wollte gerade losgehen, da hörte sie eine tiefe männliche Stimme hinter sich.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Hanna drehte sich um. Ein Junge stand dort, höchstens fünfzehn Jahre alt.
»Sehe ich so hilflos aus?«, fragte sie mit einem Lächeln.
»Sie sehen aus, als wüssten Sie den Weg nicht.«
»So ist das auch.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Ich suche das Wohnheim Dünenblick, das muss hier irgendwo im nirgendwo sein, außerhalb des Dorfes.«
Der Junge sah sie abschätzend an. Er war größer als sie, hatte blonde Haare und riesige Füße. Sein Gesicht war jedoch eher kindlich.
»Das kann ich Ihnen zeigen. Sind Sie die neue Erzieherin?«
»Ja, und wer bist du, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin der Paul, wohne da, wo Sie hinwollen.«
»Ach so, na dann …«
Sie ging auf den schlaksigen Jungen zu und reichte ihm die Hand. »Ich bin Hanna.«
»Hallo«, sagte der Junge. Sein Händedruck war unangenehm schwach.
»Kommst du gerade vom Strand?«
»Nicht direkt, ich war auf der Düne da oben«, sagte er. »Ist die höchste von allen, von da aus kann man fast die ganze Insel sehen.«
»Cool, das musst du mir mal zeigen.«
»Jetzt?«
»Nein, jetzt will ich erst mal mein Gepäck loswerden.«
»Okay«, sagte der Junge.
Er ging wortlos an Hanna vorbei über den Pflastersteinweg und sie folgte ihm.
Nach weniger als einer Minute mündete der Weg auf einen größeren. Der Junge blieb stehen.
»Sie müssen einfach immer weiter geradeaus gehen, dann kommt irgendwann das Wohnheim auf der linken Seite.«
Hanna beschirmte ihre Augen mit der Hand und sah den Weg entlang, wo sie aber kein einziges Gebäude ausmachen konnte.
»Ist noch ziemlich weit«, sagte Paul.
»Okay, hätte mir wohl doch einen Koffertransport bestellen sollen. Die fahren doch die Koffer mit diesen Elektrofahrzeugen vom Bahnhof direkt zu den Häusern, wenn man bisschen was draufzahlt.«
Der Junge zuckte mit den Schultern.
»Na dann … vielen Dank! Wir sehen uns, Paul«, sagte Hanna.
Rechts von ihr lagen Felder und Salzwiesen, links die Dünen.
»Ja, bis später dann«, sagte Paul.
Nach einer halben Stunde Fußmarsch erreichte sie endlich das Wohnheim. Es war ein alter Bauernhof aus rotem Backstein, mit weißen Fensterkreuzen und einem weitläufigen Grundstück, zu dem auch eine riesige Scheune gehörte. Auf einem Schotterplatz parkten zwei Autos und ein alter Traktor.
Hanna atmete tief durch, zog den holpernden Koffer die letzten Meter über einen gepflasterten Weg zur Haustür, rechts daneben befand sich eine vollgehängte Wäschespinne im Garten.
Wohnheim Dünenblick stand in geschwungenen blau bemalten Metallbuchstaben an der Wand. Sie klingelte.
Die Tür ging auf und da stand er, roch nach Leder, Sandelholz, Mandarine und …
»Oh«, sagte Hanna.
»Hey«, sagte der Mann mit den grünen Augen und lächelte, »da hätten wir auch zusammen gehen können, was?«
»Dann hätte ich mich wenigstens nicht verlaufen.«
»Kommen Sie rein, oder darf ich gleich du sagen? Wir duzen uns hier alle. Du bist doch Hanna, oder?«
»Ja«, sagte Hanna, »und du?«
»Milan.«
»Und auch als Erzieher hier?«
»Nein, nein, ich bin einer von den Jugendlichen«, sagte er.
»Hahaha.«
»Quatsch, ich bin fürs Essen zuständig. Ich hab fünfzehn Stunden die Woche als Küchenhilfe.«
»Aha, das ist doch ziemlich wenig, oder?«
Für Hanna fühlte sich hier irgendwas sehr sonderbar an. Vielleicht lag es bloß an seinem Aussehen, aber wenn man sie eben bei der ersten Begegnung am Bahnhof nach dem wahrscheinlichsten Job dieses Mannes gefragt hätte, wäre sie wohl schneller auf Pilot, Astronaut oder Schauspieler gekommen als auf Küchenhilfe.
»Genau, ziemlich entspannt.«
»Ist Frau Reck auch hier?«
»Nee, die ist mit ihrem Mann übers Wochenende weggefahren, kommen erst Sonntag zurück. Momentan sind nur Magdalena, Benni und ich da.«
Hanna schnappte sich ihren Koffer und manövrierte ihn durch die Haustür. Sie sah sich um. Die Decken waren hoch, Altbau, mindestens 3,50 m.
Die Einrichtung war rustikal. Bauernschränke, Kommoden aus massivem Holz.
Vom Flur im Eingangsbereich ging es links durch eine Tür in einen weiteren breiten Flur. Dort lagen drei Zimmertüren hintereinander.
»Hier wohnen die Jungs«, sagte Milan.
Er ging weiter. Hanna folgte ihm. Vor ihr fiel eine steinerne Treppe nach unten ab. Vier Stufen, blanker grauer Stein.
»Da geht’s zur Waschküche und daneben ist die Toilette«, sagte Milan und zeigte zur Treppe. »Hier ist mein Reich.«
Er öffnete die Tür zur Küche. Sie war groß, Hanna folgte ihm.
Der Essbereich lag im selben Raum wie die Küche und der riesige Tisch bot Platz für mehr als zehn Leute.
Der Tisch sieht aus wie der, den mein Vater damals gebaut hat.
Hanna sah aus dem Fenster, sah eine Weide, auf der Kühe grasten, direkt gefolgt von den mächtigen grünbewachsenen Dünen, darüber strahlte der Julihimmel.
»Das ist aber schön hier«, sagte Hanna.
»Find ich auch. Schade, dass ich beim Kochen gegen die Wand starren muss.«
»Und du bist wirklich nur fürs Kochen eingestellt? Ich dachte, das wird hier von den Erziehern selbst erledigt. Ich hatte in der Stellenbeschreibung irgendwas wie »Wir kochen frisch und gemeinsam!« gelesen.«
»Zwei Mal pro Woche kochen die Erzieher mit den Jugendlichen. Ich an den anderen Tagen. Ich erledige außerdem die Einkäufe, sehe nach, was gebraucht wird und so weiter.«
»Aber dann hast du noch einen anderen Job, oder?«
»Na ja … nee … keinen richtigen Job«, sagte Milan grinsend und die beiden Grübchen in seinen Wangen ließen sogar diese Aussage charmant wirken.
Hanna vermutete, dass Milan sagen konnte, was er wollte. Neben seinem strahlenden Aussehen wirkte der Inhalt seiner Worte einfach nicht so wichtig. Ihm verzieh man sicher gerne ein paar kleine charakterliche Mängel. Das war wie bei einem Kuchen, da vergaß man auch sehr leicht, dass es sich dabei hauptsächlich um Weißmehl, Zucker und Fett handelte.
Aberwas wäre ein Leben ohne Kuchen, dachte Hanna und ihr Blick huschte über Milans muskulösen Oberkörper, der sich unter dem engen schwarzen T-Shirt abzeichnete.
»Dann wird man wohl für den Küchenjob besser bezahlt. Drei Stunden Arbeit am Tag würden für mich nicht zum Leben reichen.«
»Ja, wir Sterneköche werden fürstlich entlohnt. Schließlich geben wir auch einiges.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Sinnesfreuden, die man nie wieder aus dem Kopf bekommt.«
»Oh, da bin ich aber jetzt sehr gespannt«, sagte Hanna.
»Heute gibt Lachs in Weißweinsoße und hausgemachte Rösti an einem Rote-Beete-Salat.«
»Wirklich?«, fragte Hanna stirnrunzelnd. Zuerst hatte sie geglaubt, er mache bloß Scherze und werde gleich die Dosenravioli aus der Speisekammer holen, doch als ihr Blick nun über die Zutaten auf der Arbeitsplatte fuhr, erkannte sie, dass er wohl wirklich vorhatte, genau dieses Gericht zu kochen.
»Essen die Kinder denn sowas? Rote Beete? Weißweinsoße?«
»Die Kinder bekommen Nudeln mit Schinken-Sahnesoße. Wer möchte, darf auch Lachs und Rösti essen, aber in der Regel wollen die nur das, was sie kennen.«
»Ach so ist das.«
»Ich mache meistens zwei Gerichte, eins für die Kinder, eins für die Großen.«
»Offenbar habe ich die richtige Stelle angenommen«, sagte Hanna.
»Das Team ist wirklich super, das Essen ebenfalls, sagen zumindest die anderen. Ob du mit den Kids klarkommst, musst du eben rausfinden. Der letzte Neuzugang war schnell wieder weg.«
»Wirklich?«
»Drei Wochen, glaube ich. Dann hat sie sich krankgemeldet.«
»Ach du je. Was ist denn passiert?«
»Einer der Jungs hat einen Wutanfall gehabt und als er dann mit dem großen Küchenmesser vor ihr stand, hat sie sich wohl gedacht, dass der Job nicht das richtige für sie ist.«
»Oh Gott, und was ist aus dem Jungen geworden?«
»Der ist noch hier. Wir haben die scharfen Messer jetzt in einem Safe in der Speisekammer.«
»Aha, sehr beruhigend.«
»Aber willst du nicht erst mal deine Bude sehen und dein Gepäck einräumen?«, fragte Milan.
»Doch, doch, auf jeden Fall. Mein Zimmer ist aber in einem anderen Gebäude, oder?«
»Genau, du wohnst mit Magdalena im Gesindehaus, da wo früher die Knechte lebten.«
»Ja, ich habe die Bilder gesehen. Sah richtig gemütlich aus.«
»Ist praktisch mitten in den Dünen.«
»Cool.«
»Auf jeden Fall, da würde ich sofort einziehen.«
»Magdalena und … was ist mit dem anderen … wie hieß er?«
»Benni, aber der kommt von hier, wohnt in seinem Elternhaus im Dorf. Ihr zwei Frauen seid in der Hütte unter euch. Magdalena ist auch gerade da, wirst sie gleich kennenlernen.«
»Und wo wohnst du?«
»Ich hab ein Haus. Zwei Wohnungen vermiete ich und in einer bin ich zuhause.«
»Und die Chefin?«
»Nein, die wohnt nicht bei mir.«
»Hahaha.«
»Die wohnt hier im ersten Stock, hat eine separate Wohnung gemeinsam mit ihrem Mann.«
Hanna nickte. »Dann such ich jetzt mal das Gesindehaus.«
»Einfach hinter der Scheune, zwischen den ersten beiden höheren Dünen suchen, da steht nur ein Häuschen, dürfte leicht zu finden sein.«
»Danke sehr«, sagte Hanna, verließ das Wohnheim, ging über den Pflastersteinweg zurück, an der Scheune entlang, bog hinter der Scheune links ab und schaute direkt auf das kleine Haus, welches sich in die Dünen schmiegte.
Das Gesindehaus wirkte wie eine geschrumpfte Version des Wohnheims. Es war ebenfalls aus rotem Backstein gefertigt, besaß weiße Fensterkreuze und die gleiche Tür wie das Haupthaus.
Neben der Eingangstür war eine Sitzecke eingerichtet. Eine Holzbank und Blumen in alten Gießkannen aus Blech, auf der Fensterbank, etwas weiter links, standen ein kleiner rot-weißer Leuchtturm und eine geschnitzte Seemöwe, neben der Bank ein paar Gummistiefel mit Blumenmuster.
Hanna klingelte und war gespannt auf Magdalena. Mit ihr würde sie das nächste halbe Jahr auf engem Raum verbringen. Viel hing davon ab, ob sie sich sympathisch waren, auch, ob es eventuell mehr werden konnte als dieses halbe Jahr.
In der Stellenausschreibung hatte befristet auf sechs Monate gestanden, aber man wusste nie. Vielleicht ergab sich in dieser Zeit etwas Neues.
Bevor Hanna sich jedoch länger an einem anderen Ort niederlassen konnte, musste zuerst einmal Lisas Zukunftsperspektive geklärt werden.
Jedenfalls konnte sie sich nicht vorstellen, ohne Michel und Lisa zurück in die alte Wohnung zu gehen, in der sie so viele Jahre gemeinsam gewohnt hatten. Das machte sie nur traurig.
Hanna hörte schnelle Schritte näherkommen. Die Tür ging auf.
»Hi! Du musst Hanna sein, ich bin Magdalena, ein passender Name fürs Gesindehaus, nicht? Magdalena, Magd … na ja … herzlich Willkommen, komm rein«, sagte Hannas neue Kollegin.
»Hi!«, sagte Hanna, zog ihren Koffer ins Haus und sah sich um.
»Von draußen wirkt alles viel kleiner, als es wirklich ist. Jeder hat sein eigenes Zimmer, wir haben einen gemeinsamen Wohnraum, tadaaa!«, machte Magdalena und drehte sich mit ausgestrecktem Arm im Kreis. »Klo müssen wir uns teilen, wir müssen uns ja nicht gleichzeitig draufsetzen. Ein Kühlschränkchen haben wir auch, nur zum Kochen müssen wir nach drüben.«
»Gibt’s eine Dusche?« »Ja, direkt neben dem Klo. Ist hier drüben.« Magdalena zeigte auf eine Tür, die gegenüber dem Eingang lag.
Der gemeinsame Wohnraum, in dem sie sich gerade befanden, war eingerichtet wie eine typische Ferienwohnung. Sofa mit Bettkasten, kleiner Flachbildfernseher auf einer Holzkommode. An den Wänden hingen gerahmte Fotografien von Schiffen, Wellen, Dünen und Möwen. Alles etwas unpersönlich und altbacken, aber Hanna fühlte sich wohl. Auch der Geruch erinnerte sie an eine Ferienwohnung. Es roch nach Kaffee, Sand, frischer Wäsche und Holzpolitur.
»Dann bin ich jetzt mal gespannt auf mein Zimmer«, sagte Hanna.
»Da drüben ist es«, sagte Magdalena und zeigte auf die Tür neben dem Fernsehschrank.
Ihr Zimmer war recht klein. Es gab ein Bett, einen Kleiderschrank, ein Nachtschränkchen, einen kleinen Tisch mit Stuhl und ein Waschbecken, über dem ein Spiegel hing.
Der Blick aus dem Fenster war traumhaft schön. Sie schaute in die kilometerweite Landschaft aus Dünen und Salzwiesen.
Etwa fünfzehn Meter entfernt stand eine Gruppe von Jugendlichen, zwei Jungs und ein Mädchen. Sie rauchten eine Zigarette, wobei Hanna zuerst dachte, sie würden Haschisch rauchen, weil sie die Zigarette rundgehen ließen. Doch so was machten Jugendliche eben auch oft mit normalen Zigaretten. Die Dinger kosteten viel Geld und in diesem Alter waren die meisten chronisch abgebrannt.
Die zwei Jungs waren etwa gleich groß, ihr Alter schätzte Hanna auf vierzehn, höchstens sechzehn. Der eine führte gerade die Zigarette an seine Lippen. Seine nicht ganz kurzen Haare standen wild vom Kopf ab.
Er hatte eine Pumucklfrisur, bloß dass seine Haare braun waren und sein Gesicht kantig.
Der andere trug eine Baseballmütze, enge Hosen und hatte ein Milchgesicht.
Das Mädchen war eine wahre Schönheit. Glatte hellbraune Haare, die ihr bis an den Hintern reichten und ein Puppennäschen unter großen dunklen Kulleraugen. Dazu eine zierliche Figur mit Kurven an den richtigen Stellen. Ihr Alter war schwieriger einzuschätzen als das der Jungs. Vielleicht siebzehn, dachte Hanna.
Gerade beugte sich der Wuschelkopf vor, um das Mädchen zu küssen, als das Milchgesicht mit der Baseballmütze sich in Hannas Richtung drehte. Zuerst machte er einen verkniffenen Ausdruck, dann als er sicher war, dass jemand im Gesindehaus sie beobachtete, gab er den anderen ein Zeichen mit dem Kopf und die drei verschwanden zügig hinter einer Düne.
Er hatte sie auf den Mund geküsst. Die beiden waren offensichtlich ein Paar. Oder eben gerade nicht offensichtlich … denn eigentlich war es Mitgliedern der Gruppe verboten, untereinander Liebesbeziehungen zu führen. Das hatte Hanna in den Job-Vereinbarungen gelesen und wurde in den meisten stationären Einrichtungen so gehandhabt.
Aber warum eigentlich?
So wirklich tiefergehend hatte sie über dieses Thema bisher nicht nachgedacht. Mit welchem Recht wollte man eine Liebesbeziehung verbieten?
Wenn sich zwei Menschen ineinander verliebten, die vielleicht sogar hervorragend zusammenpassten, sich gegenseitig gut taten und Halt gaben, wenn sich eine stabile Bindung anbahnte bei Jugendlichen, die genau das doch für ihr Leben nach der Jugendhilfe brauchten. Stabile Bindungen, Soziale Netzwerke. Aber das traute man den Kids offenbar nicht zu.
Jetzt fiel Hanna eine der Begründungen wieder ein, mit der die Einrichtungsleitung solche Beziehungen verboten oder zumindest als nicht erwünscht bezeichnete. Die Prognose, dass zwischen zwei bindungsgestörten Menschen eine stabile Bindung entstand, war offenbar nicht besonders gut, und so befürchtete man, dass sich die Probleme der Jugendlichen durch solche Beziehungen noch potenzieren könnten.
Na wunderbar. Jetzt hatte sie die Kids schon vor dem ersten Kennenlernen bei etwas Verbotenem gesehen und war dabei bemerkt worden.
Das fing ja prima an. Sie hatte nun die Wahl, ihre neuen Schützlinge mit ihrer ersten Amtshandlung zu verraten, oder die Sache für sich zu behalten und damit ihr Team zu hintergehen.
Es klopfte an der Zimmertür. »Und gefällt es dir?«, fragte Magdalena.
»Ja, wirklich schön, vor allem die Aussicht«, sagte Hanna.
»Kann ich reinkommen?«
»Klar.«
Magdalena kam ins Zimmer. Sie hatte hellblaue Augen, die vor Energie leuchteten, gepflegte blonde Haare zu einem strengen Zopf gebunden, und ein rundliches Gesicht, das wohl nicht besonders schön im Sinne der Norm war, jedoch außerordentlich sympathisch wirkte.
»Da werden sich die Kids einen neuen Platz zum Rauchen suchen müssen. Seitdem das Zimmer leer steht, gehen sie immer da vorne hin, um zu qualmen«, sagte Magdalena.
»Und wie geht ihr damit um?«
»Ach, meine Güte, es ist offiziell nicht erlaubt, aber was soll das bringen, wenn wir sie bestrafen. Dann gehen sie eben weiter weg und rauchen da …«
»Denke ich auch«, sagte Hanna.
Magdalena war also schon mal keine Paragraphenreiterin. Kurz dachte Hanna daran, ihrer neuen Kollegin von dem Kuss zu erzählen, den sie eben beobachtet hatte, doch dann fiel ihr ein, dass sie offiziell erst am Montag anfing zu arbeiten. Damit bin ich doch eigentlich raus aus der Nummer, dachte sie. Allerdings wissen die Kids ja, dass ich sie gesehen habe und wenn sie dann keine Konsequenzen bekommen, wissen sie, dass ich nichts gesagt habe. Wie stehe ich dann da? Hanna beschloss, die Sache noch mal in Ruhe zu durchdenken.
»Hast du Milan schon kennengelernt?«, fragte Magdalena.
»Ja, hab ihn schon am Bahnhof getroffen und eben, als ich drüben geklingelt habe.«
»Und?«
»Na ja, er hat aufgemacht.«
Magdalena lachte. »Du weißt, was ich meine …«
Hanna zog die Augenbrauen hoch und nickte. »Ziemlich gutaussehend.«
»Allerdings, so einen findet man nicht häufig. Kann richtig, richtig, richtig gut kochen und sieht zum Dahinschmelzen aus. Ich weiß auch nicht, ich stehe einfach auf die verdammt gutaussehenden Männer, wobei mir schon klar ist, dass ich auf Milan ungefähr so aufregend wirke wie eine Tütensuppe.«
»Ach was … wieso denkst du denn so?«
»Weil ich einen Spiegel habe.«
»Echt? Also ich finde, dass du gut aussiehst.«
»Danke, aber mir ist schon klar, dass es da Abstufungen gibt.«
»Bist du in ihn verliebt?«
»Nein, ich könnte mich aber sehr gut in ihn verlieben, ich steh total auf ihn, aber verlieben tu ich mich nur, wenn’s auch was bringt.«
»Das kann man doch nicht steuern.«
»Ich schon.«
»Aha.«
»Ich verschwende einfach keinen Gedanken daran. Ich denk ja auch nicht ständig an Essen, wenn ich total Hunger habe, aber irgendwo im Stau stehe, was soll das bringen, sich dann Burger und Pizza vorzustellen? Damit quält man sich doch bloß selbst.«
»Stimmt eigentlich«, sagte Hanna, bei der es genau andersherum war.
»Apropos … heute gibt’s Rösti und Lachs. Wollen wir mal rübergehen und schnuppern, wie weit das Essen ist?«
»Können wir machen.«
»Dann los.«
»Wo sind eigentlich die Kids? Ich hab von denen nicht viel gesehen bisher.«
»Beim Essen herrscht Anwesenheitspflicht, da wirst du sie alle kennenlernen«, sagte Magdalena.
Um 18:30 Uhr saßen alle um den großen Tisch in der Essküche versammelt. Magdalena, Milan und Hanna vertraten die Betreuergilde.
Der schlaksige Paul, der Hanna vorhin den Weg zum Wohnheim gezeigt hatte, saß am Kopfende, neben ihm das Milchgesicht mit der Baseballkappe, dem seine Eltern den Namen Wolfgang gegeben hatten.
Auf der anderen Seite ein arabischstämmiger Jugendlicher mit hessischem Akzent, er hieß Raffat.
Das mit vierzehn Jahren zweitjüngste Mitglied der Gruppe hatte marokkanische Wurzeln und einen gewaltigen Körper. Sie wog mindestens 120 kg, schätzte Hanna. Ihr Name war Elmina. Neben ihr sah die siebzehnjährige Sandra aus wie eine Erstklässlerin.
Sandra trug ein bauchfreies Top und eine ultrakurze Hose, sie war schlank, blass und hatte einen graugefärbten Pagenschnitt.
Und dann war da noch Lene. Das Mädchen saß auf einer Art Hochstuhl. Ihre braunen Locken waren kräftig und voll. Lene hatte einen Schmollmund, eine Stupsnase und riesige braune Augen. Sie konnte unmöglich älter als fünf sein.
Obwohl es Hanna bewusst war, dass ihre Gedanken gerade alles andere als professionell waren, konnte sie die Wut und Traurigkeit nicht unterdrücken, die sie beim Anblick des Mädchens überkamen. Wie kann man nur ein solches Kind weggeben? Natürlich verdiente kein Kind der Welt schlechte Eltern, doch Hanna wurde von denselben Gefühlen geleitet wie die meisten Menschen und als sie dieses Mädchen dort sitzen sah, getrennt von seiner Familie, allein gelassen, zuckersüß, meldete sich der Beschützerinstinkt in ihrem Herzen. Dagegen kam auch keine pädagogische Ausbildung an.
Drei Erwachsene, fünf Jugendliche und das kleine Mädchen saßen am Tisch und warteten darauf, endlich mit dem Essen loslegen zu können.