Der Junge aus dem Trümmerland - Sarah Bergmann - E-Book

Der Junge aus dem Trümmerland E-Book

Sarah Bergmann

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Beschreibung

Berlin 1947: Wenn Paul nicht gerade mit seinen Freunden in den Trümmern Abenteuer erlebt, versucht er, auf dem Schwarzmarkt Lebensmittel zu organisieren. Sein Vater ist im Krieg verschollen, also fühlt Paul sich für seine Mutter verantwortlich. Doch dann erfährt er, dass sie den afroamerikanischen Soldaten Bill heiraten will. Für Paul bricht eine Welt zusammen. Denn er ist fest davon überzeugt, dass sein von ihm als Held verehrter Vater zurückkehren wird. Paul sieht nur eine Lösung: Er muss dafür sorgen, dass Bill aus seiner Familie verschwindet. Koste es, was es wolle.

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Seitenzahl: 265

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Für meine Eltern

Sarah Bergmann

Der Junge aus dem Trümmerland

Inhalt

Vorwort

Karussell

Helden, Schwächlinge und Verräter

Die Rose

Der Plan

Das Messer

Im Grünen

Superman

Der Soldat

Tanz und Tränen

Verletzungen

Sauberer Schnitt

In der Kaserne

Ausflug

Alle haben Angst

Der Kampf

Glossar

Porzellanpalast

Vorwort

Die Geschichte des Romans spielt im Jahr 1947, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals haben die Menschen noch anders gesprochen, als wir das heute tun. Paul beispielsweise verwendet ab und zu Begriffe wie »Neger« und »Zigeuner«. In der damaligen Zeit waren dies weit verbreitete Bezeichnungen. Manchmal waren sie neutral gemeint, oft aber abwertend. Die Begriffe tauchen im Roman auf, um die Sprache der Menschen damals treffend wiederzugeben und um deutlich zu machen, dass sie einer rassistisch geprägten Welt entstammen. Denn Paul und seine Freunde sind unter dem Einfluss des Nazi-Regimes aufgewachsen. Ihnen wurde schon seit früher Kindheit beigebracht, dass Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe oder »Rasse«, wie man damals sagte, mehr oder weniger wert sind. Wir wissen heute, dass das vollkommen falsch ist.

Die oben genannten Begriffe sind deshalb, wie ihr bestimmt wisst, sehr beleidigend und sollten heutzutage unter keinen Umständen mehr verwendet werden.

Einige Begriffe werden im Glossar am Ende des Buches erklärt.

Karussell

Die Frühlingssonne schien Paul auf den Rücken. Es war das erste Mal seit Tagen, dass die Sonne rausguckte, und Paul freute sich darüber, wie kräftig ihre Strahlen jetzt in der Mittagszeit schon waren. Vielleicht, dachte Paul, hilft mir die Sonne dabei, groß und stark zu werden. Eigentlich wusste er, dass das Blödsinn war, Paul war schließlich keine Pflanze. Von Sonnenlicht konnte er sich nicht ernähren. Aber die Helligkeit verursachte bei ihm gute Laune und es ließ sich irgendwie alles besser aushalten.

Paul spürte nicht mal Hunger, was wohl daran lag, dass sein Magen in der Wärme entspannt war und weniger krampfte. Außerdem hatte es heute bei der Schulspeisung Grießbrei mit Rosinen gegeben. Das war zwar nicht gerade Pauls Leibgericht, aber es machte ganz gut satt.

Paul, der am Rande eines mit Wasser gefüllten Bombenkraters saß, ließ seinen Blick schweifen. Üblicherweise nahm er die Ruinen, die Mauerreste und Trümmerberge und die Eisenträger, die hier und da aus dem Schutt in den Himmel ragten, gar nicht besonders wahr. So sah es in seiner Heimat Berlin-Neukölln eben aus. Er konnte sich kaum noch erinnern, dass es je anders gewesen war. Aber jetzt in der Sonne sah alles ein bisschen verwandelt aus, beinahe schön. Die Gerippe der zerstörten Mietskasernen warfen interessante Schattenmuster auf die freie Fläche, die Paul umgab. Auf dieser Fläche hatten früher auch Häuser gestanden, aber das war schwer vorstellbar. Von ihnen waren wenig mehr als Staub und kleine Trümmerteile übrig geblieben.

Paul suchte den Schutt nach flachen Steinen ab. Er fand ein geeignetes Exemplar und kniete sich auf den Boden, um den Stein knapp über die Wasseroberfläche des Kraters schleudern zu können. Scharfkantige Trümmerteile schnitten ihm dabei in die Knie, aber Paul war ja keine Memme, er konnte das aushalten. Paul holte Schwung und flitschte den Stein über das Wasser. Drei Hüpfer. Nicht schlecht, aber er konnte es besser. Sein Rekord lag bei acht Hüpfern.

Unter seiner Lokführermütze aus schwarzem Leder wurde es Paul allmählich zu warm. Er lupfte die Mütze und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Doch nichts und niemand konnte ihn davon abhalten, die Mütze zu tragen, wann immer er draußen unterwegs war. Die Lokführermütze war ein wenig zu groß für seinen Kopf, daher saß sie schief auf seinem dunkelblonden Haar. Paul fand, dass ihm das ein keckes Aussehen verlieh. Außerdem hatte er zarte Gesichtszüge und war für seine dreizehn Jahre eher schmächtig geraten. Die Mütze ließ ihn männlicher und markanter wirken. Doch das wirklich Entscheidende war, dass die Mütze seinem Vater gehört hatte. Als er in den Krieg gezogen war, hatte er sie Paul übergeben. Und einen Auftrag. »Pass gut auf Mutti auf, während ich weg bin«, hatte er zu ihm gesagt. Paul hatte es geschworen. Mit einem feierlichen Ernst, obwohl er damals gerade erst zehn Jahre alt gewesen war. Zum Glück war er zu diesem Zeitpunkt schon als Pimpf beim »Deutschen Jungvolk« aufgenommen worden. Dort hatte er nämlich gelernt, wie man richtig schwört, und überhaupt, wie man wichtigen Anlässen mit einer würdevollen Haltung begegnet.

Mit Stolz konnte Paul von sich behaupten, dass er seinen Schwur nie vergessen hatte. Er hatte angepackt, wo er nur konnte, um sich und seine Mutter durch die harten Zeiten zu bringen. Den letzten Winter zum Beispiel, der außergewöhnlich kalt gewesen war, hätten sie kaum überlebt, wenn Paul nicht immer Kohlen klauen gegangen wäre. Gemeinsam mit seinem besten Freund Henkelmann war er auf die kistenförmigen, nach oben hin offenen Eisenbahnwaggons geklettert, die Berge von Kohlen geladen hatten. Meist kamen sie mit reicher Beute zurück. Das ein oder andere Mal führte die Polizei eine Razzia durch, während sie gerade auf den Waggons beschäftigt waren. Dann hieß es, wieselflink abzuhauen. Einmal wurden sie erwischt. Zwar hatten sie ihre Kohlen an Ort und Stelle liegen lassen, doch ihre pechschwarzen Hände verrieten sie. Sie hatten jedoch Glück im Unglück. Der Polizist war gutmütig und ließ sie laufen, weil sie noch so jung waren und er Mitleid mit ihnen hatte. Ein andermal war es Paul und Henkelmann, während sie eifrig Briketts in ihre Zinkwannen schaufelten, entgangen, dass sich der Zug bereits in Bewegung gesetzt hatte. Als sie schließlich darauf aufmerksam wurden, hatte er schon ordentlich Fahrt aufgenommen. Paul bekam es mit der Angst zu tun, doch es half nichts, sie mussten runterspringen. Und zwar so schnell wie möglich, bevor der Zug noch schneller wurde. Zitternd fassten Henkelmann und er sich an den Händen und sprangen auf »eins, zwei, drei« ab. Bei diesem Sprung verstauchte sich Paul den rechten Knöchel. Henkelmann, der mit seinem Hemd an einem überstehenden Teil hängen geblieben war, wäre um ein Haar unter die Räder gekommen.

So gefährlich solche Aktionen aber auch waren, sie waren notwendig. Dank des Kohlenklaus war Paul und seiner Mutter das Schicksal der alten Frau Maschke aus dem Seitenflügel erspart geblieben. Die Kriegswitwe war eines Morgens in ihrem Stuhl sitzend gefunden worden. Erfroren. Ihre Beine sollen so blau gewesen sein wie die Pantoffeln, die sie trug.

Jetzt da Paul unter seiner Mütze schwitzte und die Sonne auf dem Wasser funkelte, schien das alles weit weg zu sein. Paul flitschte erneut einen flachen Stein. Sechs Hüpfer! Oder waren es sogar sieben? Auf jeden Fall war der Stein einmal quer über den ganzen Trichter bis ans andere Ende gesprungen.

Während Paul versonnen auf die Stelle starrte, an der sein Stein versunken war, bemerkte er auf einmal ein Blinken. Es unterschied sich vom Sonnenglitzern auf der Wasseroberfläche, es schien von weiter unten aus dem Trichter zu kommen. Paul sprang auf und lief ans andere Ende des Kraters. Tatsächlich. Am Grund des Kraters, fast vollständig verdeckt von moosbewachsenen Bruchstücken aus Beton, da glänzte etwas. Etwas Metallenes.

Paul zog einen Magneten, der an einer Schnur befestigt war, aus der Tasche seiner kurzen Hose. Pauls Mutter wunderte sich immer, weshalb er so viel mit sich rumschleppte, dass die Taschen seiner Hosen vollkommen ausgebeult waren. Paul wunderte sich darüber, dass seine Mutter sich wunderte. Alles, was er in den Hosentaschen mit sich trug, konnte er schließlich gut gebrauchen.

Paul ließ den Magneten ins Wasser hinab. Tatsächlich dockte der Magnet sofort an das Metallteil an. Es musste also Eisen oder Nickel enthalten. Während Paul den Gegenstand langsam hochzog, wuchs seine Spannung. Er ahnte, was er an der Angel hatte. Pauls Augen strahlten, als er das Eiserne Kreuz I. Klasse aus dem Wasser fischte. Ehrfürchtig betrachtete er den Orden, der einem Soldaten für seine besondere Tapferkeit im Feld verliehen worden war. Paul wog das Kreuz aus geschwärztem Eisen in seiner Hand und ließ seine Finger über den versilberten Rand gleiten. In der Mitte des Kreuzes befand sich ein Hakenkreuz. Außerdem stand die Jahreszahl 1939, der Beginn des Zweiten Weltkriegs, mit darauf.

Für welche Tat der Träger seine Auszeichnung wohl erhalten hatte? Vielleicht hatte er einem Kameraden das Leben gerettet. Ob Pauls Vater auch im Besitz eines Eisernen Kreuzes war? Paul spürte, wie sich etwas in seiner Brust schmerzhaft zusammenzog. Sein Vater galt als vermisst. Paul hatte ihn seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen. Er wusste nichts von ihm. Nur dass er noch lebte. Daran glaubte er zumindest ganz, ganz fest.

Paul heftete sich das Eiserne Kreuz ans karierte Hemd. Mit soldatischem Stechschritt marschierte er auf und ab. Wenn der Feind jetzt auf mich schießen würde, dachte er, dann könnte er mich nicht töten, denn das Eiserne Kreuz schützt mein Herz.

Paul verschanzte sich hinter einem Mauerrest. Er nahm ein Stück Holz, das wohl von einem geborstenen Türrahmen stammte, in die Hand und tat, als sei das sein Maschinengewehr. Dabei stellte er sich vor, dass er auf einen Haufen dreckiger russischer und amerikanischer Soldaten schießen würde. »Nehmt das, ihr elenden Bastarde, ihr feigen Schweine!«, schrie Paul und ahmte Maschinengewehrsalven nach.

Am liebsten hätte er noch stundenlang mit dem Eisernen Kreuz auf der Brust Soldat gespielt. Und er hätte das Kreuz unheimlich gern seinem Vater überreicht, wenn dieser endlich nach Hause kam. Sein Vater hätte einen Orden verdient, denn er war ein Held. Aber Paul wusste, dass er seinen Schatz nicht behalten konnte. Er ließ sich gegen etwas Essbares eintauschen. Das nagende Hungergefühl war schon vor einer Weile wieder zurückgekehrt. Und Pauls Schwur, gut für die Mutter zu sorgen, galt ja auch immer noch.

Paul trottete zu der Straßenecke, an der sich die Schwarzmarkthändler tummelten.

Er kannte sich mit dem Schwarzmarkt gut aus und hatte ein sicheres Gespür dafür entwickelt, wen er ansprechen konnte. Bloß nicht die ausgekochten, die mit steinerner Miene und ruhiger Hand ihre Geschäfte machten. Die hauten einen ja doch nur übers Ohr. Viel besser waren die unerfahrenen, die ihre nervösen Gliedmaßen kaum unter Kontrolle halten konnten und sich ständig panisch umguckten, ob irgendwo die Polente in Sichtweite war. Paul steuerte einen jungen Schwarzhändler an, der sich am Eingang einer Ruine herumdrückte und einen ziemlich angespannten Eindruck machte. Paul hielt ihm das Eiserne Kreuz unter die Nase. »Wie viel geben Sie mir dafür?«, fragte er.

Der Schwarzhändler sah sich erschrocken nach allen Seiten um. »Das ist ja ein Nazi-Abzeichen! Weeßte denn nich, dass das total verboten ist? Komm, ick nehm dir das gefährliche Zeug ab, damit du keen Ärger nich bekommst!«

Der Schwarzhändler griff nach dem Eisernen Kreuz, doch Paul zog blitzschnell seine Hand zurück. Nicht mit mir, Freundchen, dachte er.

»Die Amis«, sagte Paul kühl, »sind total verrückt nach so was. Jeder weiß das, Sie auch. Also, wie viel?«

Ihm gefiel der Gedanke ganz und gar nicht, dass das heilige deutsche Abzeichen einen Amerikaner glücklich machen würde. Das stellte eine weitere Schmach für die Besiegten dar. Aber was sollte er denn tun? Dass er etwas zu beißen nach Hause brachte, ging vor.

Dem Schwarzhändler wiederum stand die Enttäuschung darüber ins Gesicht geschrieben, dass er den Jungen nicht hatte über den Tisch ziehen können. »Na jut, na jut«, meinte er und wiegte seinen Kopf hin und her. »Ein Hühnerei kann ick dir schon dafür geben.«

Paul sah dem Schwarzhändler fest in die Augen. »Drei Hühnereier!«, antwortete er.

Paul bog in seine Straße ein. Diese hatte den Krieg verhältnismäßig gut überstanden, alle Häuser waren noch bewohnbar. Aber Einschusslöcher und Granatenschäden vom Endkampf, der vor zwei Jahren stattgefunden hatte, sah man auch hier überall. Paul lief an der Fleischerei Kunze und der Eisenwarenhandlung Lüders vorbei und erreichte den Torbogen des Vorderhauses. Das Vorderhaus hatte eine herrschaftliche Fassade, über den Fenstern prangten ausladende Giebel aus Stuck. Aber die Fenster selbst waren zum Teil immer noch mit Brettern oder Pappe vernagelt. Durch die enormen Druckwellen der Bomben waren in weitem Umkreis zahlreiche Scheiben zu Bruch gegangen. Nicht jeder konnte es sich leisten, das Glas zu ersetzen. Paul und seine Mutter hatten Glück gehabt. Im Hinterhaus waren die Scheiben heil geblieben.

Durch den Torbogen lief Paul in den ersten Hinterhof, dann durch das erste Hinterhaus hindurch in den zweiten Hinterhof, wo zwischen unverputzten Backsteinmauern ein paar kleinere Kinder mit viel Gekreische an der Teppichklopfstange herumturnten. Paul durchquerte den Hof und betrat das zweite Hinterhaus. Er sprang die Treppe mit den ausladenden, durchgetretenen Stufen hoch in den ersten Stock und schloss die Tür zu seiner Wohnung auf.

Er hängte seine Lokführermütze an die Garderobe und ging in das Schlafzimmer, um seine Mutter zu begrüßen. Die Mutter saß, wie so oft, über ihre Nähmaschine gebeugt. Sie nähte, änderte und reparierte Kleider für die Leute in ihrem Mietshaus und verdiente damit ein wenig Geld.

Seine Mutter sah auf. »Hallo, Paul. Haste Hunger?« Ihre Augen sahen müde aus, doch sie versuchte ein kleines Lächeln. »Dumme Frage, ich weiß. Ich mach nur noch schnell die Jacke für Herrn Meißel fertig. Dann koch ich uns was.«

Über die Schulter sah er seiner Mutter zu, wie sie aus alten Uniformteilen eine Jacke zusammennähte. Er bewunderte, wie findig und geschickt sie war. Schließlich war die Jacke fertig und wurde auf dem Stapel für Herrn Meißel abgelegt. Die Mutter stand auf.

»Ich habe vorhin über zwei Stunden um Mehl angestanden«, sagte sie, während sie sich die Augen rieb, die von der Näharbeit zu schmerzen schienen. »Als ich endlich dran war, war alles schon ausverkauft. Wir werden mal wieder Puffer aus Kartoffelschalen essen müssen.«

Das war keine gute Nachricht. Aber seine Mutter wusste ja nicht, was sich dieses Mal in Pauls ausgebeulten Hosentaschen befand.

»Aus Kartoffelschalen – und Ei!«, verbesserte Paul und zog drei Eier aus seinen Taschen hervor.

»Du bist doch ein Teufelskerl!«, freute sich die Mutter. »Wo hast du die denn her? Vom Schwarzmarkt?«

»Klar«, antwortete Paul.

Die Mutter strich ihm übers Haar. »Was würde ich nur ohne dich machen?«, fragte sie.

»Verhungern, was sonst«, sagte Paul und fühlte, wie der Stolz in ihm hochstieg.

Doch während Paul in der Küche am Esstisch saß und darauf wartete, dass die Kartoffelschalenpuffer in der Pfanne fertig brutzelten, war er es, der das Gefühl hatte zu verhungern. Der Speichel lief ihm im Mund zusammen. Paul schluckte ihn herunter, um damit den Hunger, der sich in seinem Magen wie ein wildes Tier gebärdete, ein wenig zu besänftigen.

Als die Puffer fertig waren, kostete es Paul viel Mühe, sie nicht in Nullkommanichts hinunterzuschlingen. Man musste langsam und sorgfältig kauen, dann hatte man mehr davon. Paul zählte die blau-weiß gemusterten Fliesen, die über Herd und Spüle angebracht waren.

Vierzehn Stück in einer Reihe. Dann nahm er einen Bissen vom Puffer und zwang sich, erneut die Fliesen zu zählen, bevor er wieder zulangte.

»Dank dir ist es noch ein echtes Festmahl geworden«, sagte die Mutter, die ebenfalls sehr bedächtig kaute.

»Na ja. Aber besser als Brennnesselsuppe auf jeden Fall«, meinte Paul.

»Auch besser als Steckrübeneintopf, stimmt’s?« Die Mutter blinzelte ihm neckisch zu.

»Oder Steckrübenkoteletts oder Steckrübenbrot …« Paul verzog das Gesicht. Im ganzen letzten Winter hatten sie sich zu großen Teilen von Steckrüben ernährt, die seine Mutter auf einer kleinen Parzelle hinter dem Haus angebaut hatte. Wenn Paul an den süßlich-kohlartigen Geschmack auch nur dachte, wurde ihm schon fast schlecht.

Die Puffer dagegen waren zu schnell aufgegessen.

»Ist noch was da?«

»In der Pfanne.«

Paul ging zum Herd. In der Pfanne lag nur noch ein Puffer. Paul sah seine Mutter an. Ihre dünnen Arme, die raue Haut, das magere Gesicht. Er kämpfte mit sich. Sein Hunger fühlte sich nicht mehr wie ein wilde Bestie an, nur noch wie ein lästiges kleines Nagetier. Daran war er gewohnt, damit konnte er leben. Paul biss einmal vom Puffer ab und brachte den Rest entschlossen zu seiner Mutter.

»Für dich, Mutti, ich bin satt.«

»Nein, nein«, wehrte sie ab. »Du musst doch essen.«

Paul ging schnell zur Küchentür, bevor er in Versuchung kam, es sich anders zu überlegen.

»Ich geh mit der Bande spielen!«

Seine Mutter sah ihn besorgt an. »Aber nicht in den Trümmern, hörst du, Pauleken, ja?«

Mit großen Schritten lief Paul über die Trümmer. Natürlich war es in den Trümmern gefährlich. Mauern konnten einstürzen und einen unter sich begraben. Aber wo sollte er denn sonst spielen? Und Mütter machten sich nun mal immer Sorgen. Früher hatte sich die Mutter gesorgt, dass Paul in den engen Häuserschluchten, die oft vom Rauch der Fabrikschlote zusätzlich verdunkelt waren, zu wenig Sonne abbekam und rachitisch wurde. Nun, hier auf den Trümmerfeldern gab es jedenfalls keinen Mangel an Sonnenlicht.

Mist. Paul hatte mit seinem Stiefel ein scharfkantiges Stück Schutt gestreift und es hatte ratsch gemacht. Paul begutachtete den Schaden. Zum Glück nur ein kleiner Riss. Er hing an seinen schwarzen Stiefeln. Sie waren zwar löchrig und abgetreten, dafür bestanden sie aber aus echtem Leder. Einige von Pauls Mitschülern liefen immer noch barfuß, andere trugen hässliche Schuhe aus einem Kunststoff, der Igelit genannt wurde. Echte Lederstiefel, das machte schon was her.

Paul näherte sich der Ruine, in deren Keller die Bande ihren Treffpunkt hatte. Sie versammelten sich dort jeden Tag um vier Uhr. Über dem Kellereingang war ein dünnes Brett angebracht, auf welches Grille mithilfe von flüssigem Teer in sauberer Mädchenschrift »Hauptquartier« gepinselt hatte. Dieses Schild machte deutlich, dass die Trümmerbande, der Paul angehörte, etwas auf sich hielt. Nicht jede Bande hatte schließlich ihr eigenes Hauptquartier.

Das Vorhängeschloss an der morschen Kellertür war noch verschlossen. Paul hatte keinen Schlüssel dafür, den besaßen nur Falke und Hotte. Paul wunderte sich. Er glaubte eigentlich nicht, dass er zu früh dran war, eher etwas zu spät. Aber genau wusste er es nicht. Paul besaß keine Uhr mehr, seit die plündernden Russen bei Kriegsende auch die Wohnung von ihm und seiner Mutter heimgesucht hatten. Schmuck, Uhren und den Fotoapparat hatten sie den Russen aushändigen müssen. Dabei waren Paul und die Mutter noch glimpflich davongekommen. Die Russen waren nüchtern und höflich gewesen. Über eine junge Frau aus dem Vorderhaus war eine Horde betrunkener Russen hergefallen und hatte sie vergewaltigt. Die Frau hatte sich danach die Pulsadern aufgeschnitten. Paul lief ein kurzer Schauder über den Nacken, als er daran dachte. Das war eine schlimme Geschichte. Aber wirklich schlimm war es eigentlich nur, wenn man länger darüber nachgrübelte. Paul hatte viele schlimme Geschichten gehört, und er hatte, einmal nach einer Bombennacht, auch verbrannte Leichen gesehen. Am besten dachte man nicht zu viel an so was, das brachte ja auch nichts.

Paul sah sich um. Wo blieben denn die anderen? Da entdeckte er Henkelmann, der hastig auf ihn zugelaufen kam. Der Blechbehälter, den Henkelmann immer an seiner Hose festgebunden hatte, klapperte, während er selbst mit seinen kurzen Beinen über die Schuttberge stolperte. Dank dieses Blechbehälters, der »Henkelmann« genannt wurde, hatte Pauls Freund seinen Spitznamen weg. Henkelmann, der eigentlich Heiner hieß, trug ihn ständig bei sich, um damit Passanten anzubetteln. Henkelmann war klein und rundlich und in noch stärkerem Maße als Paul immer hungrig.

Schon von Weitem winkte Henkelmann Paul zu sich: »Komm mit, Paule! Falke hat was entdeckt!« Seine Stimme klang aufgeregt.

»Wir müssen ein bisschen laufen«, erklärte Henkelmann, als Paul bei ihm angekommen war. »Es ist noch hinter dem Britzer Damm.«

»Was hat Falke denn entdeckt?«

»Das wirst du schon sehen.«

Der Weg schien Paul sehr lange zu dauern, insbesondere weil er gerne wissen wollte, was Falke denn nun entdeckt hatte. Doch Henkelmann grinste nur vor sich hin und schwieg.

Schließlich sah Paul Ida von Falkenstein, genannt Falke, auf einem Schutthügel stehen. Ihr weizenblondes Haar war zu einem Kranz geflochten, was ihr ein majestätisches Aussehen verlieh. Mit ihren groben Gesichtszügen und ihrem stämmigen Körperbau war die sechzehnjährige Falke nicht gerade ein hübsches Mädchen, doch wie sie dastand, selbstbewusst, den Blick starr in die Ferne gerichtet, sah sie Ehrfurcht gebietend aus. Wie eine nordische Göttin, fand Paul.

Zu Falkes Füßen war der Rest der Bande versammelt. Da stand der große blonde Hotte, die durchtrainierten Arme in die Hüften gestemmt. Daneben Hottes Schwarm, die schöne Greta, genannt Grille. Grilles kleine Schwester, die achtjährige Wally, wühlte im Schutt, wobei sie mit Absicht jede Menge Staub aufwirbelte. Wally sah wie eine Zigeunerin aus. Nicht dass Paul schon mal eine Zigeunerin gesehen hatte, aber so stellte man sie sich ja allgemein vor: mit schmutzig brauner Haut, wildem Blick und Kleidung, die aus bunten Fetzen zusammengestoppelt war.

Auch das, was Falke entdeckt hatte, war nicht zu übersehen. Es handelte sich dabei um eine Flugabwehrkanone, kurz Flak, mit einem fünf Meter langen Kanonenrohr. Das Rohr befand sich auf einem drehbaren Untergestell, dieses wiederum war auf die Mitte eines großen Kreuzes montiert, sodass das Geschütz stabil auf der Erde stand.

Paul pfiff anerkennend durch die Zähne. »Eine Acht-Achter«, sagte er fachmännisch, um gleich mal zu zeigen, dass er sich auskannte. »Ist die noch heil?«

»Ja«, antwortete Falke, »sie lässt sich drehen. Wir können damit Karussell spielen.«

»Mensch, knorke!« Henkelmann guckte drein, als sei ihm soeben der Weihnachtsmann erschienen.

»Denn mal ran an die Bouletten!« Hotte lief auf das Geschütz zu.

»Stopp!«, rief Falke und sprang vom Schutthügel herunter.

Hotte drehte sich unwillig zu ihr herum. »Was denn?«, fragte er.

»Hier an dieser Flak«, sprach Falke, »haben Kameraden die deutsche Heimat verteidigt und dabei ihr Leben gelassen. Wir denken an sie in einer Schweigeminute.«

Die Bande stellte sich im Halbkreis um die Flak auf. Paul nahm eine stramm soldatische Haltung an. Hacken zusammen, Kreuz durchgedrückt, Blick feierlich geradeaus. Auch Hotte stand soldatisch da, aber in seinem Blick war Trotz zu erkennen. Grilles große braune Augen blickten traurig. Henkelmann fixierte einen Wildgetreidehalm, der vor ihm aus dem Schutt ragte.

Tu’s nicht, dachte Paul. Aber natürlich tat Henkelmann es doch. Er bückte sich blitzschnell nach vorne, riss die Ähre ab und stopfte sich die Körner in den Mund, bevor er eilig wieder eine aufrechte Haltung einnahm.

»Henkelmann!«, herrschte Falke ihn an.

Henkelmann senkte beschämt den Kopf. »’tschuldigung«, nuschelte er.

Paul seufzte. Henkelmann war ohne Zweifel ein dufter Kumpel, aber ein Soldat war er nicht.

Es war schwierig für Paul, sich auf das Gedenken der toten Soldaten zu konzentrieren, während sich Wally ihm schräg gegenüber hingebungsvoll in der Nase bohrte. Zu ihr hatte Falke erst gar nichts gesagt. Wie jeder wusste, war bei Wally sowieso Hopfen und Malz verloren.

Falke beendete die Schweigeminute mit einem Räuspern. »Also. Einer hängt sich an das Rohr ran und wir anderen drehen.«

Hotte, der dem Kanonenrohr am nächsten stand, tätschelte es kurz, dann hängte er sich wie ein Klammeraffe unten ran und begann, sich am schräg in den Himmel ragenden Rohr nach oben zu hangeln. Falke pfiff ihn zurück: »Die Kleene darf zuerst.«

»Wieso?«, fragte Hotte.

»Die Kleene darf zuerst«, wiederholte Falke nur.

Wally sprang herbei, reckte ihre Faust in die Höhe und knuffte Hotte damit in die Seite. »Haste gehört, du Affe, ick darf zuerst!«

Es befriedigte Paul zu sehen, dass Hotte seinen Widerstand schnell aufgab. In letzter Zeit ließ Hotte öfter mal seine Muskeln spielen und versuchte gar, das Kommando an sich zu reißen.

Aber wenn er glaubte, Falke ihren Posten als Anführerin streitig machen zu können, hatte er sich gewaltig geschnitten.

Hotte sprang vom Rohr herunter und gab sich großzügig. »Weil du’s bist«, sagt er zu Wally.

Umständlich kletterte Wally auf das Gestell. Sie setzte sich auf das Rohr und robbte vorwärts.

Paul sah, dass Grille ins Leere blickte. Dieser abwesende Blick bedeutete, dass sie mal wieder an ihre Eltern dachte. Ihr Vater war in der Normandie gefallen, ihre Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Paul schnippte vor Grilles Gesicht mit den Fingern, um sie wieder ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Grille lächelte ihn dankbar an.

Die Amis, dachte Paul bitter. Aus großer Höhe hatten sie oberfeige ihre Bomben auf Berlin geschmissen. Sie hatten Grilles Mutter getötet und Pauls Lieblingstante Hilde ebenfalls. Und jetzt marschierten diese »Sieger«, die nicht mal anständig Mann gegen Mann gekämpft hatten, mit einem arroganten Lächeln durch Berlin wie Graf Koks von der Gasanstalt.

Eigentlich hatte Paul gar nicht daran denken wollen, doch er konnte nicht verhindern, dass ihm seine Mutter in den Sinn kam. Und der Negersoldat, der in letzter Zeit immer häufiger bei ihnen ein und aus ging. Der hatte auch so ein widerlich breites Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte. Paul konnte ja schon verstehen, der Ami hatte Geld. Wenn es nach ihm ginge, dann konnte man ihn ruhig ausnutzen bis aufs Blut. Das geschah ihm und seinesgleichen nur recht! Aber Paul hatte mittlerweile Zweifel, ob seine Mutter den Ami tatsächlich bloß ausnutzte. Der Blick, mit dem sie diesen Bill manchmal ansah … Was Falke wohl dazu sagen würde? Zum Glück wusste sie nichts davon.

»Jetzt alle drehen!«, drang Falkes hohe, scharfe Stimme an Pauls Ohr. Wally war inzwischen an der Spitze des Kanonenrohrs angelangt und blickte erwartungsvoll auf sie herunter.

Beim Gedanken an den Ami hatte Paul jegliche Lust auf Karussell-Spielen verloren. Trotzdem reihte er sich bei den anderen ein, die sich um das Untergestell gruppiert hatten.

»Hau ruck!«

Mit vereinten Kräften stemmten sie sich gegen das Gestell und das Rohr setzte sich in Bewegung. Wally kreiste um sie herum, als würde sie auf einem Karussellpferd reiten. »Schneller!«, verlangte Wally.

Die Bande bemühte sich, noch schneller zu drehen. Wally juchzte. »Ick fliege!«, schrie sie und hob die Arme in die Höhe. Dabei verlor sie ihren Halt. In hohem Bogen segelte sie vom Kanonenrohr auf einen Trümmerberg und blieb dort liegen.

»Wally!« Grille lief sofort zu ihrer Schwester.

Wally setzte sich auf, als ob nichts geschehen wäre. An ihrem linken Arm war eine Schramme, die sie sich beim Sturz zugezogen hatte. Mit ihrer langen Zunge leckte sich Wally fröhlich das Blut vom Arm.

»Ick will noch mal«, rief sie aus.

»Später«, antwortete Falke. Sie stand breitbeinig neben der Flak und ließ den Blick über die Mitglieder ihrer Bande schweifen. »Paul darf als Nächster«, entschied sie.

Während Paul auf das Rohr kletterte, überlegte er, warum Falke ihn aufgerufen hatte. Weil er nach Wally der zweitjüngste war? Aber Henkelmann war nur wenige Wochen älter als er und im Gegensatz zu Paul noch ein richtiger Kindskopf. Vielleicht, hoffte Paul, war es eine Auszeichnung. Vielleicht hatte Falke endlich erkannt, was in ihm steckte. Er war loyal, mutig und stark. Er wartete nur auf eine Gelegenheit, mal richtig zeigen zu können, was er draufhatte.

Paul hockte sich vorne auf das Rohr, und die Bande begann, ihn zu drehen. Während er, rittlings auf dem Rohr sitzend, Fahrt aufnahm, flog ihm die Lokführermütze vom Kopf. Kurz blickte er ihr nach, doch dann genoss er, wie sein Haar im Wind flatterte. Wenige Augenblicke später hatte Paul das Gefühl, gar nichts mehr denken zu können. So als wären durch die Drehbewegung alle Gedanken aus seinem Hirn herausgeschüttelt worden. Der Vater, die Mutter, der Ami, Falke – nichts und niemand spielte mehr eine Rolle.

Paul fühlte sich leicht und frei, und er begann, an der Karussellfahrt Spaß zu haben. In immer schnellerem Reigen wirbelten die Ruinen, Bäume und Häuser um ihn herum. Was für ein Tanz aus Hell und Dunkel, aus Farben und Formen!

Während er das Rohr mit allen vieren fest umklammert hielt, ließ sich Paul vorsichtig zur Seite kippen. Er hing nun unter dem Rohr und verlor völlig die Orientierung. Wo war unten, wo war oben? Angst schoss ihm in den Körper, doch das Gefühl, das sich anschließend in ihm ausbreitete, war einfach herrlich. Paul schrie vor Begeisterung. Die Welt flog nur so an ihm vorbei und alles war in ein gleißendes Licht getaucht.

Helden, Schwächlinge und Verräter

In der Schlacht vom Teutoburger Wald glückte Hermann dem Cherusker und seinen Mannen das militärische Meisterstück, auf einen Streich drei römische Legionen zu vernichten«, las Paul. »Drei römische Legionen!«, hauchte er andächtig, dann fuhr er mit der Lektüre fort: »20.000 römische Soldaten fanden in dem deutschen Wald ihr kühles, schattiges Grab. Wie aber gelang den Germanen dieser glorreiche Sieg über die Römer, die ihnen zahlenmäßig bei Weitem überlegen und zudem viel besser ausgerüstet waren? Wie gelang es Germania Magna, ein freies Reich zu bleiben, obwohl die Knute der Knechtschaft bereits unmittelbar über ihren Köpfen dräute? Es gelang ihnen durch körperliche und geistige Stärke! Durch die Freiheit des Willens! Die Einheit des Volkes! Und den unerschütterlichen Glauben an den Sieg!«

Paul entfuhr ein begeisterter Seufzer. Schnell blickte er auf. Hatte Herr Kienhorn zu ihm hingesehen? Paul war sich nicht sicher, aber er hielt es für besser, sein Buch »Germanische Helden« schnell im Ranzen verschwinden zu lassen und für den Rest der Stunde nicht mehr hervorzuholen. Das Buch, das seinem Vater gehört hatte, trug Reichsadler und Hakenkreuz auf dem Titelblatt und war ganz sicher eine verbotene Lektüre. Dass der Lehrer das Buch konfiszierte, wollte Paul auf keinen Fall riskieren.

Paul versuchte, sich auf den Text zu konzentrieren, den sein Mitschüler Bruno gerade mit schleppender Stimme vorlas. Das Lesebuch, das sie verwendeten, war ein einziger Flickenteppich. Einige Seiten waren zusammengeklebt und viele Stellen waren geschwärzt. Weil da Dinge drinstanden, die jetzt auf einmal nicht mehr gelten sollten. »So etwas macht nur, wer Angst hat vor der Wahrheit«, hatte Falke dazu gesagt.

Um Paul herum flüsterte, wisperte und kicherte es verhalten. Fast sechzig Schüler gingen in Pauls Klasse. Herrn Kienhorn, der eigentlich noch studierte und im Eilverfahren für den Schuldienst ausgebildet worden war, gelang es nur selten, die erforderliche Ruhe herzustellen. Neben Paul döste Henkelmann vor sich hin. Aus seinem Bauch war ein knurrendes Geräusch zu vernehmen. Paul stützte den Kopf in die Hände und wünschte sich, zu seiner Privatlektüre zurückkehren zu können. Die war so fesselnd, dass er alles um sich herum vergaß.

»Der Kur… Kurfürst nickte wür…de…voll«, tastete sich Bruno mühsam durch den Text. »›Euer Gna…den sind zu gütig‹, sprach Anton zum Kur…fürsten und machte einen tiefen Bück… ling.«

»Was ist ein Bückling?«, fragte der Lehrer.

Niemand meldete sich.

»Heiner?«

Henkelmann schreckte hoch.

»Wie, was?«

»Was ist ein Bückling?«, wiederholte der Lehrer geduldig.

Über Henkelmanns Gesicht ging ein Strahlen, weil er die Antwort kannte. »Ein Fisch!«

Die Klasse prustete los. Auch Herr Kienhorn musste schmunzeln. »Denkt immer nur ans Essen, der Herr Kabelka. Na, zum Glück gibt’s ja gleich Schulspeisung.«

In diesem Moment ertönte der Gong.

»Na also. Henkelmänner raus und dann tüchtig zugefasst«, sagte Herr Kienhorn noch, doch das ging im allgemeinen Lärm unter, da alle in Windeseile zusammenpackten und aus dem Klassenzimmer strömten.

Als sie in den Hof kamen, hatte sich vor den großen Töpfen bereits eine lange Schlange gebildet.

»Wie kann das sein?«, schimpfte Henkelmann. »Wir sind doch sofort losgelaufen.« Henkelmann war sogar derart gerannt, dass er sich auf der Schwelle vor dem Hofeingang beinahe auf die Nase gelegt hätte.

»Vielleicht durften sie früher raus, weil sie brav waren«, mutmaßte Paul. »Das sollte man Herrn Kienhorn mal vorschlagen. Dann wäre auch endlich Ruhe in der Kiste.«

Henkelmann hatte sich in die Schlange eingereiht, aber Paul zog ihn zurück.

»He!«

»Kiek doch«, sagte Paul. »Es gibt heute Erbsensuppe. Und das Dicke von der Suppe ist unten!«

»Und die sollen alle vor mir drankommen?« Henkelmann stemmte die Hände in die Hüften und glotzte mit aufgesperrtem Mund auf die Schlange, die mittlerweile schon ums Eck ging.

»Glaub mir, es lohnt sich.«

Schüler liefen an ihnen vorbei, ihren Henkelmann mit dampfender Suppe gefüllt und einen Kanten Brot in der Hand.

»Ich halt das nicht mehr aus!« Henkelmann trippelte von einem Bein aufs andere und versuchte, Suppenschwaden mit der Nase aufzusaugen. »Ich bin vor Hunger schon ganz schwach.«

»Reiß dich zusammen«, mahnte Paul.

»So, jetzt«, sagte er einige Minuten später, die ihm jedoch endlos vorkamen, weil Henkelmann sich neben ihm aufführte, als könnte er jeden Augenblick vor Hunger sterben. Es waren mittlerweile nur noch wenige Schüler übrig, die wohl ebenfalls auf den dicken Bodensatz der Suppe spekulierten.

Paul und Henkelmann waren fast die Letzten, die ihre Suppe und ihr Brot ausgeteilt bekamen. Henkelmann biss sofort in das Brot, während sie sich nach einem Platz umsahen. Die Plätze an den Bänken waren längst belegt. Zahlreiche Schüler saßen auf dem Boden, einige waren auf Bäume geklettert und löffelten Suppe in sich hinein, während sie die Beine baumeln ließen.

Paul zeigte auf die Mauer, die den Hof vom Park trennte. »Da ist noch was frei.«