Der Junge aus Ness - Alasdair Campbell - E-Book

Der Junge aus Ness E-Book

Alasdair Campbell

0,0

Beschreibung

Idyllische Küsten, raue Natur, entbehrungsreiche Jahre: Ein Inseljunge auf der Suche nach seiner Identität. Colin wächst in den 1950er-Jahren auf den Äußeren Hebriden auf, einem der entlegensten Winkel Schottlands. Torfmoore und grenzenlose Einöde bilden den Rahmen eines ereignislosen Insellebens, in dem er seinen eigenen und den durch die Geistergeschichten der Erwachsenen ausgelösten Ängsten ausgeliefert ist. Ein Pfarreronkel ermöglicht ihm das Studium auf dem Festland in Aberdeen. Doch dort erwarten ihn eine andere Enge und der Verlust seiner Identität; vergebens versucht er diese in Hafenkneipen, bei Whisky und alten Liedern wiederzufnden. Mit feiner Ironie und voller Empathie und doch schonungslos porträtiert der gälische Autor Alasdair Campbell ein Leben am Rande, das zugleich das Leben von vielen ist – den Leser erwartet eine einzigartige Geschichte, die ihm lange im Gedächtnis bleiben wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 475

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DER AUTOR

Alasdair Campbell alias Alasdair Caimbeul, geboren 1941, aufgewachsen in Ness am nördlichen Ende der Insel Lewis auf den Äußeren Hebriden, ist diesen Inseln bis heute treu geblieben.

Autor zahlreicher Theaterstücke, Kurzgeschichten und Romane in gälischer Sprache.

Auf Englisch erschienen: The Nessman (2000), Visiting the Bard (2003).

ALASDAIR CAMPBELL

DER JUNGE AUS NESS

ROMAN

Aus dem Englischen übersetztvon Lorenz Oehlerund mit einem Nachwort von Iain Galbraith

Inhaltsverzeichnis

Na luin

Der Hammel von Borve

Heiligabend

Wenn

Onkel Myles

Wachstumsschmerzen

Helden

Der Studentenkalender

Ein ernster Fall

Der Brief

Nachwort

Glossar

Na luin

Die zwei alten Männer saßen vor Florys Haus in der Sonne, Schnapp war bei ihnen. Colin machte sich von der Straße. Als sie sahen, wer kam, brachen die beiden Alten in Gelächter aus und versuchten, Schnapp auf ihn zu hetzen. „Los, Schnapp!“, riefen sie dem Hund zu. „Sieh mal, wer da kommt! Los! Fass!“ Colin nahm die Milchflasche in die linke Hand, um sich für einen Spurt bereit zu machen, aber Schnapp rührte sich nicht von der Stelle. Zur Seite gewälzt, blieb er liegen, wo er war, und hechelte mit heraushängender Zunge. Seine Flanke bewegte sich auf und ab. Es war zu heiß. Colin schlich vorsichtig in einem weiten Bogen am Straßenrand vorbei und ließ Schnapp keine Sekunde aus den Augen. „Los, Schnapp!“, riefen die alten Männer lachend und stupsten den Hund mit ihren Stöcken. „Los, beiß ihm den Kopf ab!“ Aber Schnapp rührte sich nicht von der Stelle.

Beim Schuppen von Kämpfer-John konnte er das Lachen der beiden Alten noch immer hören und bog ab. Die Straße, die zu ihrem Haus führte, war aus derselben rotbraunen Lehmerde wie die Dorfstraße, aber schmaler. An einer Stelle führte ein Kanal unter ihr durch. Es hatte wochenlang nicht geregnet, und sie war staubig und trocken, voller Steine und kleiner, ausgetrockneter Schlaglöcher. Die von der Sonne festgebackenen Spurrillen der Wagenräder kreuzten sich. Er ging weiter, seine Zehen schauten aus den Sandalen, und er kickte auf seinem Weg einen Stein vor sich her. Bei jedem Tritt stieg eine kleine Staubwolke auf. Ihr Haus war, wenn man von der Hauptstraße kam, das erste rechts im Dorf. Lang und niedrig, mit einem flachen Teerdach und grob verputzten Mauern stand es frei oben auf der Böschung. Auf der anderen Straßenseite stand das Haus von Kämpfer-John und neben dem von Kämpfer-John, mit einem eigenen Garten und von hohen Trockensteinmauern eingefasst, das größte Haus im Dorf, das von Angus John Tully. Dort lebten die Macleods (Roddy Macleod war in der gleichen Klasse wie er, John Norman in derselben Klasse wie sein Bruder). Er schloss das Gatter hinter sich, drückte die Drahtschlaufe mit beiden Händen über die glattpolierte Pfostenspitze und wartete kurz, um sicherzugehen, dass die Schlaufe nicht wieder am Pfosten hochrutschte. Auf der sonnenabgewandten Hausseite Richtung Dorf war es kühl – bläulicher Schatten. Nach seinem Aufstieg schnaufte er.

Seine Mutter war nicht im Wirtschaftsraum, sie war auch nicht in der Küche. Die Tür in der Trennwand zwischen Küche und vorderem Schlafzimmer war angelehnt. „Ist jemand da?“, flüsterte er kaum hörbar neben dem Ticken der Küchenuhr. Die Stille summte in seinen Ohren.

Zurück im Wirtschaftsraum stellte er die Schraubdeckelflasche mit der Milch ins feuchte Innere der Wassertonne, damit sie kühl blieb. Dann tauchte er den neuen Blechbecher in einen der Wassereimer auf den Holzböcken und trank in einem langen Zug. Das Wasser aus dem Brunnen unten am Loch war von einem durchsichtigen Weiß und so kalt, dass die Zähne schmerzten und die Stirn taub wurde. Er hielt inne und schnaubte ohne abzusetzen durch die Nase in den Becher, während er wartete, bis der Schmerz abklang. Die braunen Rostflecken, die sich bereits am Boden des Bechers zeigten, schienen sich zu bewegen, und als er sie anschaute, zitterten sie im hellen Wasser. Als er den Becher kippte und weitertrank, rannen ihm aus beiden Mundwinkeln kleine Bäche auf den Pullover. Er setzte den Becher ab und schnappte nach Luft. Dann wischte er die Wasserperlen vom Pullover, ging nach draußen und vorn um den Wirtschaftsraum herum, machte einen Bogen um die kaputte Torfkarre, duckte sich unter der Leine mit der schlaff herunterhängenden, sauber riechenden Wäsche durch und ging zur Vorderseite des Hauses. An der Ecke blieb er wie angewurzelt stehen – er traute seinen Augen nicht. Sein Vater war vor dem Haus. Auf einem Feldbett. Colin traute seinen Augen nicht.

Mit offenem Mund blieb er an der Ecke stehen und starrte.

Als sein Vater den Kopf hob, erblickte er an der Ecke ein kleines, von Sommersprossen übersätes Gesicht. Mit großen Augen und von kurzgeschnittenem Haar umrahmt, schaute es ihn an. Das Gesicht verschwand wie der Blitz.

„Komm ruhig“, hörte Colin seinen Vater sagen.

Mit einem Auge spähte Colin um die Ecke, die andere Gesichtshälfte an den Putz gedrückt. Sein Vater winkte ihn zu sich.

„Komm.“

Mit gesenktem Kopf ging er zu ihm. Neben dem Feldbett blieb er stehen und scharrte mit den Sandalen im Gras.

„Wo kommst du denn her?“, fragte sein Vater.

„War unten bei Oma.“

„Wo ist John?“

„Keine Ahnung“, antwortete er erstaunt und sah schuldbewusst auf. John war sein kleiner Bruder. Aber es war alles in Ordnung, sein Vater lächelte ihn an.

„Alles in Ordnung“, sagte sein Vater lächelnd, „sieh mich nicht so erschrocken an …“ Die Stimme seines Vaters war jetzt ganz sanft und leise – man musste sich anstrengen, um ihn zu verstehen. Seine Augen waren so blau! Colin hatte noch nie bemerkt, wie blau die Augen seines Vaters waren. Er war scheu und glücklich, als diese Augen ihn so anlächelten, und senkte den Kopf. Dann breitete sich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln aus, es wollte gar nicht mehr aufhören, und er lachte laut und mit einem kleinen, glücklichen Achselzucken in seinen feuchten Pullover hinein. Er konnte es gar nicht glauben!

Er hatte seinen Vater noch nie vor dem Haus gesehen. Höchstens vor langer Zeit mal.

Er saß im Schneidersitz neben dem Feldbett im Gras und sah seinem Vater beim Lesen zu.

Sein Vater saß, auf Kissen gebettet, auf dem Feldbett und las. Auf dem Kopf trug er eine Mütze, der Schirm warf einen Schatten auf seine Stirn. Über dem Schlafanzug trug er eine gelbe Strickjacke mit runden Lederknöpfen und an den Füßen Schuhe und die Socken, die Oma Alan ihm gestrickt und letzten Monat geschenkt hatte. Sein Vater hatte als Dankeschön für die Socken ein Lied für Oma Alan geschrieben, und als sie es gehört hatte, hatte sie ihr Gesicht im Schal vergraben und geweint. Er hatte Hosen an und einen Schal um den Hals. Er sah aus wie alle anderen. Neben ihm lagen auf dem Feldbett seine Zigaretten und eine Schachtel mit Streichhölzern, ein Feldstecher, eine karierte Decke und ein Stapel ‚Bulletins‘. Er saß in der Sonne und las ein ‚Bulletin‘. Er sah genauso aus wie alle anderen.

„Papa, ist Mr Shinwell ein Fußballer?“

„Nein.“

Sein Vater legte das ‚Bulletin‘ beiseite und nahm eine Capstan aus dem griffbereiten Päckchen. Er hielt die Zigarette in der linken Hand – Zeige- und Mittelfinger waren vom Zigarettenrauch gelb verfärbt – und hob sie dann zum Mund. Dabei wanderte der Schatten des Mützenschirms von seinem Gesicht weg und Colin sah, dass das Gesicht seines Vaters sogar in der Sonne von seltsam grauweißer Farbe war, der Farbe von Schweineschmalz oder Kerzenwachs, voller Linien und Grübchen. Und seine Augen, die so blau waren, wenn man direkt in sie hineinsah, waren von schwarzen Ringen umgeben und lagen tief in den Höhlen. Das lag daran, dass sein Vater, solange Colin denken konnte, immer im Hinterzimmer im Bett lag, bei geschlossener Tür, auch die Uhr hatte man entfernt. Colin und John durften im Haus keinen Lärm machen, nicht unter den Fenstern des Hinterzimmers spielen und auch nicht hochgehen, um bei ihrem Vater vorbeizuschauen. Manchmal waren sie doch oben – zum Beispiel als Mrs Stanton, die Lehrerin, Colin mit einem Brief an seinen Vater heimschickte, nachdem sie ihm ein paar mit dem Riemen verpasst hatte. Colin hatte vier Stunden unbeweglich oben im Zimmer in einer Ecke gestanden, mit dem Gesicht zur Wand, bis seine Mutter mit dem Sieben-Uhr-Bus von Stornoway zurückgekommen war. Großonkel Norman meinte, die Krankheit brächte seinen Vater dazu, sowas zu tun. Auf dem Tischchen neben dem Bett war eine kleine Glocke mit einem Perlmuttknopf oben drauf, der aussah wie ein umgedrehter Kragenknopf. Auf den drückte sein Vater, um zu läuten, wenn er zu schwach zum Sprechen war. Unter dem Bett seines Vaters stand ein verzinkter Eimer. Eines Nachts wachte Colin verängstigt auf und hörte durch die Wände, wie sein Vater laut stöhnte und sich erbrach. Und dann kam seine Mutter aus dem Zimmer herunter. Sie trug mit beiden Händen den Eimer vor sich her und es schwappte im Dunkeln, als sie auf dem Weg zum Wirtschaftsraum durch die Trenntür ging. Er hörte, wie die Haustür aufging, stand auf, hielt die Luft an, trippelte ungelenk auf Zehenspitzen ans Küchenfenster und beobachtete, barfuß auf dem kalten Linoleum stehend, wie sie den Inhalt des Eimers in einer alten Aschengrube neben dem Torfstapel vergrub. Als sie damit fertig war, stand sie lange Zeit in ihren Gummistiefeln und mit einem alten Regenschutz über dem Nachthemd vor dem Torfstapel, den Spaten noch in der Hand. Sie schaute zum Dorf, wo zu dieser Stunde alles still schlief. Wonach hielt sie Ausschau? Um die Zeit war doch alles dunkel, nichts bewegte sich und nirgends war Licht. Außer im Zimmer seines Vaters, der jetzt mucksmäuschenstill dalag und nicht das kleinste Geräusch von sich gab. Nach einer Weile kam sie wieder herein. Er hörte das Schaben eines Streichholzes und den leisen Knall des Methylalkohols, als sie die Flamme des kleinen Primus-Kochers in der Küche anmachte, um Tee zu kochen. Er gab vor zu schlafen, als sie mit zwei Tassen in den Händen auf dem Weg nach oben am Fußende seines Betts vorbeiging. Durch zitternde Wimpern sah er die schwarzen Flecken vorne auf ihrem Nachthemd. Das war kurz vor dem Morgengrauen. Und als sie ihnen an diesem Morgen genau wie an jedem anderen energisch mit einer groben Bürste die Haare kämmte, sagte sie: „Falls jemand fragt, wie es eurem Vater heute geht, sagt ihr einfach, es geht ihm wie immer. Sagt einfach, es geht ihm wie immer …“ Und hier saß sein Vater, er war aufgestanden und draußen und angezogen. Als wäre ein Wunder geschehen.

Mr Shinwell war kein Fußballer, sondern er saß im Parlament. Er war in der Labour-Partei. Als Colin seinem Vater die Frage zu diesem Mr Shinwell gestellt hatte, hatte der auf das Gesicht von Mr Shinwell hinuntergeschaut und gelächelt. Auf dem Bild trug er Kragen und Krawatte. Also war klar, dass er kein Fußballer war. Fußballer tragen Trikots mit offenem Kragen. Billy Steel war ein Fußballer. Aber vielleicht war dieser Mr Shinwell früher mal ein Fußballer gewesen.

„Warst du mal ein Fußballer, Papa?“

„Nein.“ Sein Vater lächelte. „Aber ich war mal Boxer.“

Er war aber mal Boxer gewesen. Das stimmte schon. Das war der Beiname seines Vaters: der Boxer. Er hatte ihn in der Unterstufe verpasst bekommen, als er noch klein gewesen war, weil er so gut kämpfte und weil er beim Kämpfen jeden an der Schule besiegte.

Das Gras, auf dem Colin saß, war warm. Die Gänseblümchen und Butterblumen leuchteten. Der grüne Stoff des Feldbetts roch modrig und war heiß unter seiner Hand. Er war so glücklich! So stolz, dass er kaum Luft bekam! Er wünschte sich, dass all die anderen Jungen aus dem Dorf seinen Vater so sehen könnten. Alle sollten sie seinen Vater jetzt sehen – die Jungen von Ivor Macleod von gegenüber, Donald und Roddy und John Norman, die in einem großen, weißen Haus wohnten, Angus John Tullys Haus, mit Treppen und Sturmfenstern und einem Schieferdach und einem Badezimmer, ihr Vater fuhr zur See und war mal mit ernstem, gebräuntem Gesicht und einem Koffer voller Geschenke aus Australien zurückgekehrt – sie alle sollten jetzt hier sein. Auch Donald Ishbel aus Aird mit seinem neuen Fahrrad. Und er wünschte sich, dass die Barneys hier wären, vor allem der Große Barney, weil der Große Barney nämlich, als er den Arzt mit Handschuhen in Colins Haus gehen sah, gesagt hatte: „Da kommt der Arzt, der schickt den Boxer in die letzte Runde!“ Der Vater der Barneys fuhr auch zur See, war aber nicht so ernst bei seiner Rückkehr, sondern lachte und sang hinten im Bootsbus. Und John Angie sollte jetzt hier sein und der Rebell und John Angies Bruder Donald und Snooks und die drei Pongos, Shamus und Calum und Tomtom, deren Vater immer mal wieder im Straßenbau arbeitete, eine verwaschene blaue Latzhose voller Flicken trug und dich mit nur einer Hand über den Kopf heben konnte, einfach so. Und der lachte, wenn er dich so hochhielt, ha ha ha, sein Gesicht violett und rot und voller borstiger grauer Stoppeln lachte er zu dir hoch, dann hüpfte sein Adamsapfel und seine schwarzen und gelben Zähne waren zu sehen, seine Mütze war mit Zeitungspapier ausgeschlagen und von seinem Atem wurde einem ganz schwindlig. Er wünschte sich, dass sie jetzt alle hier wären und seinen Vater sehen könnten, und dann, dann würde er auf seinen Vater zeigen und sagen: „Schaut! Schaut! Mein Vater ist aufgestanden und draußen und angezogen, genau wie alle anderen! Schaut! Schaut ihn euch an!“ Und sie würden ihn anschauen und nichts mehr sagen … Oder er würde gar nichts sagen und sitzen bleiben, wo er war, und nichts sagen … Und die älteren Jungs aus dem Dorf wären auch da, um seinen Vater zu sehen, alle wären da, um seinen Vater zu sehen. Und sein Vater würde zu ihnen allen sanft und leise sprechen, und alle würden ihm zuhören und ihn ansehen, der Große Barney würde beim Zuhören von einem Bein aufs andere treten, und das Grinsen würde ihm langsam aber sicher vergehen …

Der Tag war so schwer und so ruhig wie ein Sonntag. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer. Die Sonne schien ihm geradewegs ins Gesicht. Die Hausmauer hinter ihm strahlte die Wärme ab wie ein Ofen. Alles wurde schwarz, wenn er es anschauen wollte. An der Wand lehnte gelb und knorrig der Stock seines Vaters, ihre Hausnummer – 6SD – war fast ganz oben eingebrannt. Er erinnerte sich, wie Onkel John bei Großonkel Norman mit den Brandeisen eine Hausnummer eingebrannt hatte, an das Zischen und den Geruch des Stocks unter dem rot glühenden Eisen, den dünnen blauen Rauch, der aufstieg und sich auf dem Weg nach oben gelb verfärbte. Hinter dem Stock stand an der Ecke ein alter Teerkübel. Der Teer war geschmolzen. Er konnte ihn riechen. Aus den Rissen in der Hauptstraße stieg er in Blasen auf, die man mit dem Daumen zerdrücken konnte. Die Teerbürste stand noch im Kübel. Um sie herum summten die Schmeißfliegen, sie flogen heran und wieder weg. Eine war durchs offene Küchenfenster geflogen und rumste jetzt beim Versuch hinauszugelangen von innen an die Scheibe. Eines heißen Tages schlief Farmer Jack nach dem Mittagessen wegen des einschläfernden Geräuschs einer Schmeißfliege an der Scheibe ein, und die kleine Maus kam aus ihrem Loch und rannte quer über den Fußboden und über das Bein von Farmer Jack auf den Tisch und aß den ganzen Käse. Das war eine Geschichte aus dem Lesebuch seines Bruders Alan. Sein Bruder Alan war älter als er. Er war in der fünften Klasse und wohnte jetzt unten bei Oma. Das war es, das Geräusch, das die Schmeißfliegen beim Kübel machten. Es war einschläfernd. Er lehnte sich mit dem Rücken an den rauen Putz, spürte die Wärme durch den Pullover, hörte das einschläfernde Geräusch der Schmeißfliegen, roch die Nachmittagsgerüche, die heißen, grünen und gelben, windstillen Nachmittagsgerüche – das Gras, den schmelzenden Teer, den Stoff und die sonnenwarmen Steine. Er sah zu seinem Vater hoch. Sein Herz schlug schneller.

Die Zeitung lag immer noch zwischen den Händen seines Vaters, aber er las nicht mehr darin. Stattdessen starrte er aufs Moor hinaus. Der Ben leuchtete blau vor dem Horizont, weit, weit weg hinter den Telegrafenmasten entlang der Hauptstraße, mit ihren aufblitzenden Hütchen und Drähten. Sein Vater saß völlig regungslos da. Die Zeitung lag unbeachtet zwischen seinen Händen.

„Ist ziemlich heiß, was?“, fragte Colin. Seine Stimme klang komisch in der Stille. Es war ihm peinlich, dass er etwas gesagt hatte.

Von weit weg kehrte sein Vater zurück.

„Was?“

„Ist ziemlich … heiß in der Sonne, was?“, fragte Colin noch einmal. Unsicher blickte er kurz hoch und blies die Backen auf – pfff.

Sein Vater lächelte ihn an.

„Mach doch die Pulloverknöpfe auf.“

Colin fummelte an den drei Glasknöpfen am Pulloverkragen herum.

„Papa, wieso bewegt sich die Spitze vom Ben? Dort, wo sie den Himmel berührt?“

„Das ist das Hitzeflimmern“, sagte sein Vater.

Zusammen schauten sie auf den Ben.

„Es ist wie … wie bei einem Lagerfeuer. Wenn man auf ein Lagerfeuer schaut.“

„Dafür gibt’s ein gälisches Wort“, sagte sein Vater. „Na luin.“ Er sagte es ganz leise. „Jetzt sag du’s.“

„Na luin.“

„Kannst du dir das merken?“

„Ja.“

„Schau, dort drüben“, sagte sein Vater. Über der Straße stieg eine kleine Staubsäule auf, wirbelte in die Höhe, zog ein wenig weiter und legte sich wieder. „Die gibt’s nur, wenn’s lange schön war.“ Er verstummte und schloss die Augen, und Colin hörte den Atem in seiner Brust, hörte, wie sein Vater mit einem pfeifenden, dünnen Geräusch wie einem Kätzchenmaunzen ein- und ausatmete. Es schien ihm, als wanderte die Luft in der Brust nur ein kleines Stück hinunter, bevor sie stoppte und wieder hochkam. Dann hustete sein Vater ein paar Mal leise in ein Taschentuch. Er hielt sich das Tuch vor den Mund und fuhr fort: „Die Alten hatten auch dafür ein Wort … für diesen kleinen Wirbelwind. Sie nannten ihn Maighdean Fhionnlaigh.“

„Maighdean Fhionnlaigh“, wiederholte Colin und lachte.

„Ist ein hübsches Wort“, sagte sein Vater fast im Flüsterton.

„Ist wirklich hübsch“, sagte Colin. „Der Himmel ist fast weiß, schau mal.“

Er wartete, aber sein Vater gab keine Antwort. Er atmete wieder so komisch.

„Ich kann jetzt Wörter im Wörterbuch nachschlagen, in der Schule“, erzählte Colin weiter.

Mit dem Taschentuch in der Hand nickte sein Vater. Colin wartete, bis das Husten aufgehört hatte. Sein Vater machte beim Husten kein Geräusch, nur seine Schultern bewegten sich und Tränen traten ihm in die Augen. Er betupfte sich die Lippen mit dem Taschentuch.

„Ich kann Wörter nachschlagen. Ich hab Säbel nachgeschlagen.“

„Ach ja?“, flüsterte sein Vater mit glasigem Blick.

„Ich habe alle Wörter für ‚Wär ich der Herr der Tatarei‘ nachgeschlagen. Säbel ist eine Art Schwert. Ich trüg’ Kleid und krummen Säbel.“

Mit einem Seufzer sank sein Vater zurück in die Kissen. Die Welt schimmerte weiter still vor sich hin. Dann drehte er den Kopf und lächelte. „Du bist ein schlauer Junge, Colin“, sagte er.

Das Tor quietschte laut, es folgte ein dumpfer hölzerner Schlag, als es wieder zuschwang und abprallte, und dann kam seine Mutter um die Hausecke. In einem bunten Kittel und mit entblößten Armen und Beinen, rot leuchtendem Gesicht und windzerzausten schwarzen Haaren kam sie aufs Feldbett zugestürzt wie eine brechende Welle und versetzte alles – das Gras, die Luft und sogar die Steine – in zitternde Aufregung. Aus vollem Hals rief sie: „Ich wollte nicht so lange wegbleiben.“ Und dann: „Die Frau hat mich festgenagelt. Anderthalb Stunden. Konnte ich mich loseisen? Denkste!“ Vor seinem Vater blieb sie stehen. „Alles in Ordnung?“, fragte sie. Die Hände auf die Knie gestützt, bückte sie sich und schaute seinem Vater unter dem Mützenschirm ins Gesicht. „Kam heim, so schnell ich konnte. Bin völlig außer Atem – aber wirklich! Die hat mich einfach nicht gehen lassen!“

Sein Vater sagte etwas, das Colin nicht hören konnte.

„Ist’s meine Schuld?“, rief sie aus und richtete sich auf. „Ich hab ja kaum den Mund aufgebracht. Hatte keine Chance. Was machst du denn hier?“, fragte sie Colin. Noch bevor er antworten konnte, fragte sie weiter: „Hast du die Milchflasche mitgebracht, von Oma?“ Und bevor er darauf antworten konnte, sagte sie zu seinem Vater: „Norman meint, das Wetter schlägt heute um. ‚Die Schaumkronen auf den Wellen bei den Inseln‘, hat er gesagt. ‚Das gibt schlechtes Wetter, noch bevor’s dunkel ist.‘“

Sie richtete seinen Vater auf und berichtete, was Norman sonst noch so erzählt hatte. Dann begann sie, ums Feldbett herum aufzuräumen. Die Kissen legte sie alle auf eine Seite und klopfte sie mit der flachen Hand zurecht. Die ‚Bulletins‘ legte sie ordentlich auf einen Stapel und das Fernglas oben drauf, dann faltete sie die karierte Decke zusammen.

„Gib mir den Stock“, sagte sie zu Colin.

Er reichte ihr den Stock. Sie drückte ihn seinem Vater in die Hand und legte dessen Finger um den Griff. Mit gebeugtem Rücken schob sie ihm ihre linke Hand unter die Schulter und stellte ihn auf die Beine. Sie nahm seinen freien Arm, legte ihn um sich und hielt seinen Vater am Handgelenk fest. Er sah ganz wacklig und zerbrechlich aus neben ihr – wie ein Grashalm im Wind.

„Dann wollen wir mal“, meinte sie.

Vorsichtig machten sie sich auf den Weg. Colin beobachtete seinen Vater – er ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Die beiden machten zwei Schritte vorwärts, stockten und blieben stehen. Sein Vater ließ den Kopf hängen und stupfte schwächlich mit seinem Stock auf den Boden. Wenn er versuchte, sich darauf abzustützen, zitterte der Stock heftig und der ganze Arm mit ihm. Sie machten wieder zwei Schritte vorwärts. Blieben stehen. Noch zwei. Blieben stehen. Seine Mutter redete in einem fort, ermunterte seinen Vater, trieb ihn an. Mit wachsender Wut beobachtete Colin, wie sie weggingen – dieser dünne, gebeugte Rücken, so anstrengungslos gestützt vom Arm seiner Mutter, deren Muskeln sich bewegten, sich unter der glatten weißen Haut bei jedem Schritt anspannten. Unter ihrem Arm war die gelbe Strickjacke seines Vaters hochgerutscht, und er konnte das kopfstehende V der Hosenträger sehen und den blau-weiß gestreiften Schlafanzug.

„Fass bloß nichts an auf dem Bett“, sagte seine Mutter über die Schulter, bevor die beiden um die Hausecke verschwanden – sie meinte das Fernglas. Colin starrte sie mit schamrotem Gesicht wütend an. Er gab keine Antwort. Sein Vater machte ebenfalls Anstalten, sich umzudrehen. Colin drehte das Gesicht zur Wand.

Zu nichts nutze …

Er hörte, wie sie außen am Wirtschaftsraum vorbeigingen. Hörte das Klatschen einer Decke, die zur Seite geschoben wurde, als sie unter der Wäscheleine durchgingen. Er konnte nicht mal selber gehen. Nicht mal das konnte er. Colins Gesicht brannte vor Scham …

Und er war froh, dass die anderen Jungen aus dem Dorf das nicht mitgekriegt hatten. Er war froh – froh – dass sie nicht hier gewesen waren …

Zu nichts nutze …

Er drückte sein Gesicht an die roh verputzte Mauer, sah abwechselnd schwarz und rot, in seinen Ohren klang es wie weit entferntes Singen.

In der Küche rumste wieder und wieder die Schmeißfliege gegen die Scheibe…

Die Küchenuhr gab ein langes, einleitendes Rasseln von sich, wie jemand, der schlimmes Asthma hatte, dann schlug sie viermal. Mit missmutigem Gesicht hörte er zu. Vier Schläge hießen, dass es fünf vor drei war. Es war die dümmste Uhr auf der ganzen Welt. Manchmal fiel der große Zeiger ab. Um fünf vor zwölf schlug sie einmal … Im Augenwinkel bemerkte er, wie Roddy Macleod an Angus John Tullys Gartenmauer entlang schlich. Er zog eine Teekiste hinter sich her und war unterwegs zum Loch. „He!“, rief er, sprang auf und lief los. „He, Roddy!“ So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er unter dem Fenster des Hinterzimmers durch und ums Haus herum zum Tor – es stand sperrangelweit offen: „Wart auf mich! … He, Roddy, wart! … Wart auf mich! …“

Der Hammel von Borve

Colin und Großonkel Norman standen beim Scheunentor. Sie warteten auf Onkel John. Drinnen war der Hammel angebunden, an einem Metallring in der Mauer.

Auf Gälisch hieß die Scheune das alte Haus. Sie lag gegenüber von Normans Haus auf der anderen Straßenseite. Maggie lebte auch in Normans Haus. Sie war seine Schwester.

Das Haus von Norman hatte die Nummer 14. Nebenan, in Nummer 13, lebten Chrissie Alan und ihre Mutter und ihre Schwester Catherine. Flory und der alte Mann lebten in Nummer 12. Sie würden alle ein Stück vom Hammel kriegen, Flory und der alte Mann außerdem die Hachsen. Sie aßen die Waddell-Wursträdchen ungekocht.

Im alten Haus hatten Norman und William und sein Großvater und Maggie gelebt, als sie jung gewesen waren.

William lebte in einem großen, weißen Haus, der Nummer 23. Er saß die ganze Zeit über am Feuer. Auch er war sein Großonkel.

Sein Großvater war im Ersten Weltkrieg ertrunken, am dritten März 1915, auf der HMS Clan MacNaughton. Seine Großmutter kriegte deswegen eine Rente von der Regierung, die bekam sie noch immer. Und der König, George V, hatte ihr eine runde, schwere, rotbraune Scheibe geschickt, die wie eine große Medaille aussah. Regelmäßig poliert glänzte sie auf der Anrichte, der Name seines Großvaters stand drauf – Murdo Maclean – und dann noch Er starb für Freiheit und Ehre. Außerdem war eine Frau mit einem Helm und einem Schild und einem dreizackigen Speer und einem Löwen zu ihren Füßen drauf, sie schaute auf die See hinaus. Vielleicht hatte auch die Königin die Scheibe geschickt. Queen Mary. Die andere Seite des Ordens war so flach und glatt wie der Boden eines Kochtopfs.

Im Schlafzimmer seiner Mutter hing an der einen Wand eine Fotografie seines Großvaters, als er mit den Seaforth Highlanders in Ägypten gekämpft hatte. Sie war in Kairo aufgenommen worden. Auf der Fotografie starrte sein Großvater mit unbewegter Miene geradeaus. Er hatte einen Schnauzer. Er war Sergeant.

Nur wenige Tage vor seinem Tod war er in Sichtweite daheim vorbeigesegelt, als die Clan McNaughton auf ihrem Weg nordwärts Richtung Scapa Flow durch die blau und grün und grau aufgewühlten Wasser vor der nördlichsten Spitze von Lewis gedampft war. In seinem letzten Brief nach Hause hatte er geschrieben: Heute konnte ich durchs Fernrohr den Ben sehen, auf seiner Spitze lag Schnee. Ich musste die ganze Zeit an die armen Schafe denken …

Maggie erzählte ihm manchmal Geschichten über Norman und William und den Großvater und über das alte Haus, in dem sie alle gelebt hatten, als sie jung gewesen waren. Ihr Vater – Colins Urgroßvater – hatte später auf einem Stück Land auf der anderen Straßenseite ein neues Haus gebaut. Nummer 14, Dell, Ness. Er hatte Balken und Steine über die Straße gekarrt und geschleppt und im neuen Haus verbaut, und vom alten Haus blieb gerade mal die Scheune stehen. Genauer gesagt die Hälfte der Scheune. Die Mauer auf der Südostseite wurde nie wieder aufgebaut und auch nicht geschlossen. Es blieb also ein Durchbruch, der war einen Meter breit und etwas mehr als einen Meter hoch und von innen mit einem alten Wagenrad ohne Radkranz verrammelt. Da pfiff zwar der Wind durch, aber seinen Zweck erfüllte es bestens. Jahre später bauten sie auf der Längsseite der Scheune einen kleinen Pferch. Zum Desinfizieren der Schafe betonierten sie eine im Boden versenkte Rinne, die auf beiden Seiten Platz für zwei Männer in Ölzeug bot. Am Ende der Mulde gab es eine zementierte Rampe, die hatte ungefähr alle dreißig Zentimeter eine Stufe und führte in einen ummauerten Pferch. Der Pferchboden war ebenfalls zementiert und fiel leicht ab. Wenn die tropfnassen Schafe mit durchweichtem Fell und grüne Kötel fallen lassend verzweifelt die Rampe hochgekraxelt und zur Einfassung gelangt waren, lief so der dunkelgelbe Wasserschwall zurück in die Rinne. Von dort (das Wagenrad zur Seite gerollt, Colin und Roddy Macleod passten an der Lücke auf) wurden sie in die düstere, feuchte, nach Teeröl riechende Scheune getrieben, um sich trocken zu schütteln.

Onkel John hätte um elf Uhr mit dem Messer und dem Schlachttisch da sein sollen. Die Wannen, zwei emaillierte Kübel und das Seil zum Zusammenbinden der Hammelbeine lagen auf der windabgewandten Seite des Torfstapels bereit. Maggie hatte sie selbst hingebracht, war in ungeschnürten Männerstiefeln und ihrer Juteschürze, von einer gackernden Schar brauner und weißer Hühner begleitet, über die Straße gestapft.

„Schöner Morgen!“, verkündete Chrissie Alan vor der Tür von Nummer 13.

„Lass den Hund nicht aus dem Haus“, sagte Norman zu Maggie, „bevor wir hier draußen fertig sind.“

Die Scheune hatte keine Fenster. Nur durch die Speichen des Wagenrads vor der Lücke fiel ein Streifen Licht auf den Boden. Durch einen Spalt in der morschen grünen Tür warf Colin einen Blick auf den Hammel. Er war schon seit gestern Abend dort drin angebunden. Er stand da und rieb sich die Nase an einer Korngarbe, die an einem faserigen Strick von einem zweiten Eisenring an der Mauer hing. Im Halbdunkel sahen seine Augen aus wie Murmeln.

Onkel Johns Messer war scharf wie eine Rasierklinge. Ein Mann von der Westseite der Insel hatte es ihm gegeben. Der hatte es aus Südgeorgien mitgebracht, vom Walfang. Es sah aus wie jedes andere Messer. War es aber nicht.

„John? Der hat keine Eile“, antwortete Großonkel Norman auf eine Frage Chrissie Alans. „Er hat sich Zeit gelassen, als er zur Welt gekommen ist, und er lässt sich Zeit beim Gehn.“

Willie der Fuhrmann hatte über John mal gesagt: „Hat dem eigentlich mal einer verklickert, dass das Fest irgendwann zu Ende ist?“

Norman und William waren die Onkel von Onkel John. Maggie war Onkel Johns Tante. Colins Großvater war Onkel Johns Vater.

Der Rest der Familie – mütterlicherseits – waren: Tantchen Annie, seine Mutter, Tantchen Isobel und Tantchen Margaret.

Normans Haus – das Haus, das Urgroßvater Murdo gebaut hatte – war ein Haus mit dicken Trockensteinmauern (unter dem steinernen Türsturz über dem Eingang fanden drei Schafe Unterschlupf), einem Reetdach und einer in den Boden eingelassenen Feuerstelle. Ein kleines viereckiges Fenster saß tief in der Mauer, dort nisteten die Hühner. Quer über die Scheibe verlief von innen gesehen unten links bogenförmig ein Riss. Von beiden Seiten war Kitt draufgedrückt worden, um den Wind auszusperren. Aneinandergereiht überlappten sich kreisrunde Fingerabdrücke im ausgehärteten Kitt und das Glas selbst war inzwischen rauchgelb wie die Windschutzscheibe von Charlies Lastwagen. Weiter gab es eine Holzbank, eine Haferflockenkiste, Maggies Alkoven und eine mit Geschirr gefüllte Anrichte. Und es gab einen Amboss. Vor Maggies Alkoven hingen schwere violette Vorhänge mit gelber Borte. Das war das Wohnzimmer. Oberhalb vom Wohnzimmer folgte ein abgetrennter Bereich, ein Kämmerchen, und oberhalb vom Kämmerchen war Normans Schlafzimmer. Dort bewahrte er seine englischen und gälischen Bücher auf (die alle in braunes Papier eingeschlagen waren und nach Torfrauch und Moder rochen, die „Geschichte der Clans“ war am Rücken mit Zwirn zusammengenäht), seine Seemannskiste, seinen Werkzeugkasten und in einem Rahmen über seinem Kopf die Urkunde von König Neptun, dem König der Polargebiete, der Meerjungfrauen und der Eisbären und Eisberge.

Statt mit einer richtigen Tapete waren die Wände des Wohnzimmers stellenweise mit verschmierten und rauchgeschwärzten Zeitungsseiten aus dem schottischen ‚Daily Express‘ zugekleistert. Auf der einen war ein Bild vom Torwart Bobby Brown von den Glasgow Rangers zu sehen, wie er im Sprung den Ball abwehrte. Colin saß auf dem Amboss und wollte dieses Bild mehr als alles andere auf dieser Welt. Maggie gab es ihm einfach nicht. Sie wollte kein Loch ins Papier machen. Ein roter Kater lag zusammengerollt auf ihrem Schoß. Sie summte vor sich hin:

Schlaf schön, schlaf schön,

schlaf schön, mein Polo …

Auf dem Boden waren überall dreizehige Fußabdrücke der Hennen – Jojos und Light Sussexes –, die in die Asche und wieder hinaus führten. Maggie bückte sich und versuchte mit einem Besen aus gebundenen Heideruten rudernd die Hennen zu verscheuchen.

Sie mochte den König und die Königin – King George VI und Queen Elizabeth – und den Rest der königlichen Familie. Aber am besten gefiel ihr die alte Queen Mary. Ihre Lieblingsprinzessin war Princess Louise. Innen an der verglasten Tür der Pendeluhr in der Wandnische klebte ein Bild aus der ‚Illustrated London News‘, das Queen Mary und Edward, den Prince of Wales, zeigte. Unten in der Mitte hatte jemand ein kleines Quadrat ausgeschnitten, so konnte man trotzdem innendrin die goldene Scheibe des Pendels hin und her schwingen sehen.

„Hör endlich auf, diesen Fußballer anzustarren, und erzähl mir, wer im Laden war …“

… Die Spätnachmittagssonne schien flach durch das kleine viereckige Fenster. Im blauen Dunst des Wohnzimmers ließen Streifen rauchigen Golds Bobby Brown beim Abwehren des Balls aufleuchten und wurden von der verglasten Tür der Uhr so gleißend zurückgeworfen, dass Queen Mary in ihrer violetten Robe und Edward, Prince of Wales, in seinem roten Rock und seiner silbernen Bundhose in der Reflexion verschwanden.

Die Rinder und Schafe waren im vorderen Teil des Hauses untergebracht. Man trat also aus dem Feuer- und Lampenschein und dem Torfdunst, schloss die Tür hinter sich, schlurfte mit ausgestreckter Hand über die Steinplatten, bis man den Türriegel auf der anderen Seite ertastet hatte, ging durch und stand zwischen den Tieren. Ihr Atem war warm und es roch nach Dung und Stroh. Es war dunkel. Man musste in der warmen, dampfenden Dunkelheit eine Weile warten, bevor man etwas sah. Die Tiere bewegten sich, stampften unruhig und stießen mit den Köpfen an die Gatter. Sie spürten, dass jemand da war.

Die Kuh, Steuerbord, hatte nur ein Horn, das andere hatte sie bei einem Kampf eingebüßt. Das abgebrochene Horn lag draußen auf der Mauer. Sie hatte das linke Horn verloren, deswegen hieß sie auch Steuerbord.

Der Hund hieß Delse. Die Katzen hießen Polo, Meister Frost, Kruger und Lady Liza.

Auch die Schafe hatten alle einen Namen. Und die Hühner. Das eine Schaf hieß Schiefe Marianne. Sie hielt das Gras in den Gräben rund um die Häuser kurz und rannte auch nicht weg, wenn man ganz nah zu ihr hinging. Auf ihrem Rücken thronten manchmal Amseln.

Jetzt stand Donald Dod bei ihnen.

„Welchen schlachtet ihr?“, fragte er Norman. „Den dreijährigen?“

„Nein, den Hammel von Borve.“

„Wo war er denn jetzt schon wieder?“

„In Shader. Einer von Telfers Lastwagen hat ihn vorgestern Abend vor dem Haus abgeladen. Brachte ihn den ganzen Weg von Shader hoch. So, mein Guter, sag ich, als ich ihn seh, genug herumgetrieben, deine Tage sind gezählt …“

Der Hammel von Borve hieß so, weil er weit draußen auf dem Borve-Moor bei den Blackwater Lochs graste. Er war dort zur Welt gekommen (hatte dort seine Milch gekriegt, wie die Alten sagten) und kehrte deswegen immer wieder dorthin zurück. Das Dorf Borve lag fünf oder sechs Meilen weiter südlich. Jedes Mal, wenn sie in Borve eine Pferchung abhielten und die Schafe zusammentrieben, kriegte Norman unweigerlich Bescheid, dass sein Hammel mal wieder aufgetaucht sei. Er solle jemanden vorbeischicken, um ihn abzuholen. Manchmal zeigte sich der Hammel auch noch weiter südlich bei Pferchungen in Shader. Und einmal tauchte er sogar in North Tolsta auf der anderen Seite der Insel auf. Colin mochte diese Eigenart des Hammels von Borve und besuchte ihn immer im Garten hinterm Haus, wenn er wieder einmal da war – ein großes Tier mit braunem Gesicht und ruhigen Augen, das nur darauf wartete, sich wieder aus dem Staub zu machen.

Donald Dod sagte etwas. Dann nahm er die Pfeife aus dem Mund, hob den Kopf, schaute verärgert zu Norman, spitzte die Lippen und spuckte auf den Boden.

„Die Welt?“, meinte er. „Die Welt geht vor die Hunde.“

Donald Dod war ein kleiner, rundlicher Mann, rotgesichtig und streitlustig. Seine Kappe trug er das ganze Jahr über, eine Sturmkappe war das. Sie hatte einen glänzenden schwarzen Schild, wie eine Kapitänsmütze. Sein Bauch quoll über den Hosenbund.

„Schau sie dir doch an, heutzutage“, wetterte er, „und dann sag mir, dass ich falsch lieg. Gestern zum Beispiel. Was krieg ich zum Abendessen? … Ein Stück Kabeljau, das man keiner Katze zuwerfen würde. Und wo kommt der Fisch her? Von der Pritsche eines Fischverkäufers. Und wo kommt der Fischverkäufer her? Aus Stornoway. Einen Shilling und sechs Pence hat sie bezahlt. Wo es doch noch nicht mal drei Meilen vor der Küste hier – was? – so viel Leng und Kabeljau und Schellfisch gibt, wie man sich nur wünschen kann. Perfekt zum Fischen. Aber holen sie sie raus? Nein. Und wieso nicht? Ich sag dir wieso …“

Beim Sprechen wurde seine Stimme lauter und lauter – er klang sehr wütend. Chrissie Alan kam aus der Haustür, ging zum Gartentor und blieb dort, den Kopf ein wenig vorgestreckt und zur Seite geneigt, stehen und hörte zu.

Großonkel Norman lachte, seine Hände baumelten seitlich vom Körper weg. Er lachte über das, was Donald Dod sagte. Beim Lachen machte er kein Geräusch. Sein Mund öffnete sich, sein einziger, gelber Zahn kam zum Vorschein und es machte aaaach-aach. Hörte man dieses uralte rasselnde Ausatmen, dann wusste man, dass Großonkel Norman lachte. Auch Großonkel William ließ beim Lachen nie ein Geräusch vernehmen, nur ganz am Ende ein tiefes Pfeifen, das ausklang wie das eines Teekessels, den man vom Feuer nimmt. Und seine Augen tränten.

Wenn ihr Großonkel William früher morgens in seinem Ledersessel am Kamin gesessen hatte und nichts weiter zu sagen war, hatte er von Colin zu John und dann von John zu Colin geschaut. Colin und John hatten im Alter von vier und drei nebeneinander auf der lackierten Bank gesessen (darunter eine Reihe Kästchen mit winzigen Doppeltüren und Messingknöpfen) und ihn mit ihren Spitzmützen auf dem Kopf erwartungsvoll angeschaut. Die Minuten waren vergangen. Niemand hatte etwas gesagt. Die große Uhr hatte geächzt. Dann hatten sich auf Großonkel Williams Gesicht jeweils kleine Fältchen gezeigt, und er hatte Schlagseite bekommen, immer zum Kamin hin. Seine rechte Hinterbacke hatte sich gehoben und er hatte mühselig einen fahren lassen.

Donald Dod nahm seine Kappe ab und inspizierte die Innenseite. Um seinen Kopf lief eine Linie, an der Falten und wettergegerbte Haut aufhörten und der glatte weiße Schädel zum Vorschein kam. Dann setzte er die Kappe wieder auf. Vorne war sie hoch geschnitten und hatte einen festen, glänzenden Schild wie eine Kapitänsmütze.

„Faulenzer!“, wetterte er. „Faulenzer und Taugenichtse, das Pack kann mir gestohlen bleiben!“ Im Ersten Weltkrieg hatte er in den Schützengräben einen Offizier umgebracht, einen von den eigenen Leuten. Hatte ihn erst umgebracht und dann begraben.

„Wer faulenzt denn?“, fragte Chrissie Alan.

Der Offizier hatte die eigenen Männer schlecht behandelt. Er wollte einen Jungen melden, der beim Wachdienst eingeschlafen war. Deshalb hatte Donald Dod ihn umgebracht.

„Die Welt geht vor die Hunde“, sagte Donald Dod.

Von seinem Feld Rüben zu stehlen, war eine höchst heikle Angelegenheit, und an Halloween machten die Kinder einen großen Bogen um sein Grundstück und um seine Tür. Und Roddy Macleod hatte Colin erzählt, als Donald Dod den Großen Barney beim Rübenklauen erwischt habe, habe er ihn am Schlafittchen gepackt und zum Entwässerungsgraben am Ende des Felds gezerrt, kopfüber drüber gehalten und über die Tatsache in Kenntnis gesetzt, dass es ihm, Donald Dod, nur leid tue, dass nicht genug Wasser drin sei, um ihn, den Großen Barney, zu ersäufen.

Einer der großen emaillierten Eimer diente dazu, das Blut des Hammels aufzufangen, der andere war für Magen und Gedärme. Maggie würde später nach dem Reinigen von Magen und Därmen beim Regenfass auf der anderen Hausseite (wobei sie die Dick- und Dünndärme jeweils so vorsichtig umstülpte, wie er es sonst nur dieses eine Mal bei ihr gesehen hatte, als sie einen Seidenschal – „Fühlen Sie, werte Dame, fühlen Sie!“ – aus dem schwarzen Koffer eines Vertreters in die Hände genommen hatte) die große gelbe Rührschüssel unten aus der Anrichte nehmen, den Tisch unters Fenster schieben, um das Nachmittagslicht zu nutzen, und dann mit der Herstellung der Blutwürste beginnen. Zuerst zerkleinerte sie immer das Nierenfett und gab es in die Schüssel zum Hafermehl, dann kam das Salz dazu, die gehackten Zwiebeln – das Fett fiel in kleinen Stücken von der Messerklinge. Schließlich goss sie aus dem bauchigen Milchkrug nach und nach das Blut dazu und rührte das Ganze mit einem Holzlöffel um. Zuletzt tauchte sie beide Hände in die Schüssel (die Ärmel ihres Wollpullovers über die Ellbogen hochgekrempelt) und knetete die Mischung auf dieselbe Art, wie sie sonst auf einem flachen Backbrett den Teig knetete und haute, um Hafer- oder Gerstenfladen zu machen. Die größeren Fettklümpchen oder die mit Blut verklebten Haferklumpen zerdrückte sie mit flinken, geröteten Fingern. Während sie die rote, verquirlte Masse mithilfe ihrer Finger und unter Stochern und Stopfen mit dem Stiel des Holzlöffels in die glänzenden, ballonartigen Häute drückte, um dann das offene Ende mit einem starken weißen Faden zuzubinden (bei der runden Blutwurst durchbohrte sie die Darmhaut mit einer stählernen Stricknadel, um sie zu verschließen), kochte im verrußten, dreibeinigen Topf schon das Wasser. Der runde Holzdeckel – ein alter Deckel von einem Heringfass, an den Norman einen Holzgriff genagelt hatte – hob und senkte sich. Er schepperte laut oben auf dem Topf, trotz der zwei flachen, runden Kiesel vom Strand, die in etwa ähnlich geformt und gleich groß waren und den Deckel auf beiden Seiten des Griffs beschwerten.

Blutwürste mussten stundenlang kochen, und die ganze Zeit über musste man aufpassen, sonst platzten sie. („Zu alt, a ghraidh“, hatte sie geseufzt und dem Vertreter den Seidenschal zurückgegeben. „Zu alt, zu hübsch für mich …“) Man musste ab und zu mit einer Stopfnadel hineinstechen, sonst platzten sie. Colin mochte keine Blutwürste. Er mochte die Zwiebeln nicht. Früher hatte er die Zwiebel- und Fettstückchen mit der Messerspitze aus den gebratenen Blutwurstscheiben gepickt.

„Nicht schon wieder!“, schimpften ihn die Erwachsenenstimmen. „Wie willst du denn groß und kräftig werden, wenn du keine Blutwurst isst?“

„Kein Wunder, bist du so dünn!“

Ein in die Milch geschlagenes rohes Ei mit einem Teelöffel Zucker gibt dir neue Kraft. Weißes Fleisch ist besser als rotes Fleisch. („Aber werte Dame!“, hatte der Vertreter unter Augenrollen gebettelt. „Reizende Dame! …“) Am allerbesten für kleine Jungen ist warme Milch direkt vom Kuheuter. Hilft auch bei Ischias. Seine Großmutter hielt ihm die Schüssel mit beiden Händen hin. Darin schäumte es bleichgelb. Sie kniff den Mund zusammen und stellte sie wieder hin.

„Wieso denn nicht?“

„Ich kann nicht.“

„Gibt dir Kraft.“

„… kann nicht …“

Onkel John schabte an seinem Platz am Tischende an einem alten Schafsknochen herum, den er aus einer Schublade in der Anrichte geholt hatte, obwohl noch lange nicht Zeit für den Tee war, und erhob jetzt seine Stimme.

„Lass ihn“, schnaubte er. In der einen Hand hielt er den Knochen, in der anderen das geöffnete Messer vom Westküstenmann, das aus Südgeorgien, das so scharf wie eine Rasierklinge war.

„Lass ihn. Er will halt ein – ein Zwerg will er bleiben –, so sieht’s aus. Ich mag dies nicht, ich mag das nicht. Mag keine Milch, weder warm, noch kalt. Wo gibt’s denn sowas? Ein kleiner Junge, der Milch nicht mag.“

„Was würdest du denn trinken, mein armer Junge?“, fragte seine Großmutter.

„Tee“, sagte Colin.

„Mich laust der Affe!“, meinte Onkel John.

Die Pflanze beim Fenster unter dem Vorbau hieß Geranie. Tantchen Isobel kümmerte sich darum. Die im Schlafzimmer hieß Begonie. Seine Großmutter hielt das Ohr nah an das kleine elektrische Radio. Kcchz.

Hier leg ich mich zur Ruh. Das Wort Gottes und das Gebet zum Abschluss des Tages.

„Wo ist denn mein ‚Super Duper‘-Sammelheft?“

„Sei still!“

„Pssst!“

Auf allen Vieren hinten ums Sofa rum, ins Ohr von Tantchen Annie geflüstert: „Wo ist mein Comic?“

Den Finger auf dem Mund, auch Tantchen Annie: „Pssst!“ Kopf halb weggedreht, Haar in einem Dutt. „Wart.“

Ffffiiuuwiiehh. Kchzz. Bibibip …

… Eines Nachmittags hatten sie durchs Fenster einen Wirbelwind gesehen, Colin und seine Großmutter. Sie waren allein zu Hause gewesen, alle anderen waren beim Heuen. Plötzlich segelte eine Plane am Fenster vorbei, gefolgt von einem Huhn, gefolgt von einem geflickten Kochtopf ohne Griff.

Chrissie Alan schaute wieder zur Tür heraus.

„Noch nicht da?“, fragte sie.

„Schlägt der Mutter nach“, meinte Norman.

„Und dem Vater“, meinte Donald Dod.

Die Tür von Nummer 12 flog auf und in gestrecktem Galopp kam Flory herausgerannt, vor sich auf Armeslänge hielt sie ein Backblech mit schwarzen, rauchenden Scones. Das dünne, hohe Gelächter des alten Manns folgte ihr aus dem Haus. Sie ließ die verbrannten Scones in den Straßengraben vor dem Haus plumpsen.

„Was für ein Morgen!“, sagte Chrissie Alan.

„Tag!“, sagte Flory und richtete sich wieder auf. „Jetzt hab ich’s schon wieder vermasselt. Mary! Hallo! Mary!“

Auf der anderen Seite des Bachs erschien Colins Mutter im Hauseingang, sie trug einen leuchtenden Kittel.

„Schau!“ – sie hielt das leere Backblech in die Höhe. „Ich hab’s schon wieder hingekriegt!“

Die Schiefe Marianne schnüffelte misstrauisch an den verkohlten Resten.

„Schnapp!“, rief Flory. „Hierher, Schnapp! Komm her, hierher!“

„Ist dir jemals eine schlechtere Köchin untergekommen?“, murmelte Norman wohlwollend.

„He, ihr da!“, rief Flory und zeigte auf die Schiefe Marianne. „Die hier gehört unters Messer, die schlappohrige Herumtreiberin.“

„Lass gut sein, Flory …“, begann Norman beschwichtigend, aber sie hörte nicht auf ihn. Das Backblech schwingend, wuselte die kleine, ganz in schwarz gekleidete Frau aufgeregt den Weg hoch und verschwand unter dem niedrigen Türsturz. Beim Eintreten wurde sie von dünnem, hohem Gelächter begrüßt. Das Haus war noch niedriger und dunkler als das von Norman und Maggie. Auf den Mauern oben machte sich Gras breit und aus dem Reetdach wuchs Sauerampfer. Aber immerhin war das Feuer nicht mehr mitten auf dem Boden, wie Colins Mutter dazu immer bemerkte. Immerhin, fuhr sie dann jeweils fort und warf John einen stechenden Blick zu, immerhin hätten diese seefahrenden Nichtsnutze von Neffen auf der einen Seite vom Wohnzimmer einen anständigen Kamin für die beiden gebaut. An dem saß tagein, tagaus der alte Mann. Mit Mütze und Seemannspullover und seinem zweireihigen Überzieher mit den Silberknöpfen über dem Seemannspullover rauchte er seinen dunklen Strangtabak und lachte hinter seinem langen, weißen Greisenbart über Flory. Außer an sonnigen Tagen, dann spedierte Flory ihn auf einen Holzstuhl mit Armlehnen vor das Haus, und ein zweiter alter Mann kam herüber, um ihm Gesellschaft zu leisten, Dolly aus Nummer 7. Die beiden Alten saßen dann den ganzen Nachmittag über vor dem Haus in der Sonne, rauchten Pfeife und lachten so laut, dass die Leute auf den Weiden hinter ihren Häusern bei der Arbeit innehielten, um ihnen zuzuhören. Sie lächelten vor sich hin, schüttelten den Kopf und machten sich dann wieder an die Arbeit. Die beiden Alten waren noch bei Dishers Laden in der Mitte des Dorfs zu hören – Dollys tiefes, rollendes Grollen glich dem Husten eines Ochsen, und das dünne, hohe Gegacker des alten Manns konnte, so sagte zumindest seine Schwester Flory, einen Gaul aus einem Kornfeld vertreiben. Wenn ihre Mutter guter Laune war, ahmte sie die beiden manchmal nach. Chrissie Alan und ihre Mutter und Schwester wohnten hingegen ganz allein in einem großen, weißen Haus mit einer weiß gekalkten Mauer um den vorderen Garten, in dem ein Rhododendron wuchs. Und wo waren die drei feinen Söhne abgeblieben, die so mutig von der Gartenmauer gegrinst hatten? In Kanada, in Neuseeland und im Grab. Oma Alan saß auch am Feuer. Im weißen Haus zwischen den beiden mit den Trockensteinmauern.

„Colin soll mal schauen, ob er ihn findet“, rief seine Mutter.

„Colin!“, meinte Großonkel Norman. „Ist das der junge Mann, der bei der Mühle ein Dutzend Eier holen wollte und bei seinem Onkel in Swainbost gelandet ist?“

„Ist das der junge Mann, der im Bach eine Forelle sah und stracks hineinhüpfte?“, meinte Donald Dod.

„Wieso ist er nicht in der Schule?“, fragte Chrissie Alan. „Wieso bist du nicht in der Schule, Colin?“

„Hab Impetigo.“

„Impetigo?“

„Eiterflechte“, rief seine Mutter. „Zeig Chrissie deinen Arm!“, rief sie.

Colin schob den Ärmel hoch und zeigte Chrissie Alan den mit Kristallviolett behandelten Ausschlag.

„Er darf nicht zur Schule gehen, bis alles abgeheilt ist“, rief seine Mutter. „Damit sich niemand ansteckt. Stell dir vor …“

„Da kommt er ja“, sagte Donald Dod.

„Und er hört nicht auf, am Schorf zu kratzen. Kratz, kratz, kratz, Tag und Nacht. Sogar im Schlaf …“

Onkel John war auf der Höhe von Tams Haus und schlurfte mit dem Schlachttisch auf der Schulter heran.

„… die Hände an die Bettpfosten binden …“

„Taugt aber nichts“, sagte Donald Dod. „Sieht nicht grad vielversprechend aus Richtung Südwesten“, fügte er hinzu.

„Wo?“, fragte Großonkel Norman. „Was hast du gesagt?“

Sie schauten beide Richtung Südwesten. John kam auf sie zugestiefelt.

„Makrelenhimmel“, sagte Norman und beschattete die Augen mit einer Hand. „Gutes Wetter.“

„Würd ich nicht sagen“, meinte Donald Dod.

„Die nächsten drei Tage bleibt’s schön.“

„Würd ich nicht drauf wetten“, meinte Donald Dod.

Auf der einen Schulter hatte Onkel John den Schlachttisch. Es war eigentlich ein gewöhnliches Brett auf Böcken, aber seitlich waren zusätzlich leicht abstehende Bretter angebracht.

„Hast du’s auch noch geschafft, John“, grüßte ihn Donald Dod.

„Da bin ich.“

„Na endlich.“

„Um welche Zeit tauchst du denn bittschön auf?“, rief ihre Mutter John über den Bach hinweg zu. Beim Klang ihrer Stimme zuckte Onkel John wie von einer Wespe gestochen zusammen. Vor Ärger lief er rot an. „Dieses Weibsbild“, schnaubte er.

„Anständige Leute den ganzen Morgen auf sich warten zu lassen …!“

„Dieses Weibsbild … Alles bereit?“

„Er ist hier drin“, sagte Großonkel Norman.

„Dann lass ich euch mal machen“, meinte Donald Dod und ging, blaue Wölkchen ausstoßend, die Straße hinunter davon.

„Was wollte er denn diesmal?“, fragte Onkel John, sobald Donald Dod außer Hörweite war. „Noch einen Hammer?“ Er zog die morsche Scheunentür auf und schob dabei mit der Tür einen kleinen Haufen getrockneten Schlamm und Steinchen zur Seite. Dann lehnte er unten einen größeren Stein gegen die Tür, um sie offenzuhalten. Der Hammel von Borve beäugte sie von seinem Platz an der Wand aus. Großonkel Norman und Colin holten die Eimer und die Schüsseln vorne beim Torfstapel. Er stand mit einem Kübel in der Hand da. „Nimm den Strick“, sagte Norman. „Den Strick brauchen wir.“

„Er ist ein gewaltiges Vieh“, meinte John. Den Schlachttisch hatte er schon mitten in der Scheune aufgestellt. „Wir werden uns auf ihn drauf setzen müssen.“ Das Scheunendach war undicht, die ganze Zeit lief Wasser durchs Schilf und der Erdboden war schwarz und schlammig. Onkel John holte aus einer Ecke ein Bündel alter Säcke und verteilte sie um den Schlachttisch herum auf dem Boden. Beim Arbeiten schnaubte er durch die Nase. Trotz seiner Größe und seiner gelassenen Art konnte er schnell sein, wenn er wollte. Er nahm Colin den emaillierten Eimer ab und stellte ihn bedächtig auf die Säcke zwischen den beiden schrägstehenden Vorderbeinen des Schlachttischs. Dann trat er zwei Schritte zurück, neigte den Kopf und überlegte, ob das wohl der beste Platz sei. „Wo ist der Strick?“, fragte er. Benommen gab Colin ihm den Strick. Er hatte sich bisher gar nicht überlegt, was jetzt gleich geschehen würde, hatte nicht mal daran gedacht. Er hatte an Blutwürste gedacht – daran, wie Maggie die Blutwürste machte. Er hatte keinen Moment daran gedacht, was jetzt gleich geschehen würde. Und jetzt, da es gleich so weit sein würde, verspürte er plötzlich Panik. Er wollte weglaufen. Aber wo sollte er hin?

„Du stellst dich an die Tür“, sagte Onkel John zu ihm – Onkel John, der, die Metallachse über den Schultern, zwei Wagenräder tragen konnte. Da hatte der Hammel von Borve keine Chance.

„Du stellst dich an die Tür – an die, nicht in die Tür – und wenn ein Huhn oder ein Hund oder sonst ein Vierbeiner hier rein will, schaust du zu, dass das Tier draußen bleibt, bis wir fertig sind. Klar? Kriegst du das hin, ohne es zu … zu vergeigen?“

Der Hammel stand ruhig an der Mauer. Er hatte nichts getan. Was hatte er denn getan? Lasst ihn gehen, wollte Colin rufen. Er hat doch nichts getan. Bitte tötet ihn nicht.

„Nun?“, sagte Onkel John. Colin nickte. „Und denk dran, steh uns nicht im Licht“, sagte Großonkel Norman. „Stell dich draußen beim Türpfosten hin.“

John streifte den Strick vom Nacken des Hammels und strich ihm mit der Hand über den Rücken. „Jedenfalls schön trocken“, sagte er. „Ist ein gutes Tier. Leg noch zwei, drei Säcke hin. Ich will nicht, dass er eingeschlammt wird.“ Norman holte noch ein paar Säcke aus der Ecke und breitete sie vor Onkel Johns Füßen aus. Colin stand an der Tür und konnte den Blick nicht abwenden. Und was kam jetzt? Das kam jetzt. Um einen besseren Stand zu haben, ging Onkel John ein wenig in die Knie, dann langte er unter den Hammel und packte ihn an den Vorderbeinen. Mit der anderen Hand packte er den Kiefer. Als Onkel John gut dastand, hob er den Hammel in einer fließenden Bewegung von den Füßen und legte ihn mit dem Bauch nach oben rücklings auf die Säcke. Er klemmte den Kopf zwischen seinen Knien ein, langte nach einem ausschlagenden Hinterbein, kriegte es zu fassen, packte mit der Hand schnell die Vorderbeine und das Hinterbein und band sie mit dem Strick fest zusammen. Als er sich aufrichtete, schrie er plötzlich vor Schmerz auf und schlug den Hammel zweimal mit der geballten Faust an den Kopf. Das Geräusch klang, wie wenn man mit einem Stock gegen einen Autoreifen schlägt. „Willst du wohl stillhalten“, brüllte er. Er stand da und rieb sich das Knie, der Hammel hatte ihn wohl mit dem Horn erwischt. Das Tier wand sich, um die Beine freizukriegen. Colin klopfte das Herz und er wandte sich ab. Im Fensterausschnitt war Maggies Kopf zu sehen. „Pack das andere Bein“, hörte er Onkel John sagen. „Verdammtes Drecksvieh. Auf den Tisch mit ihm …“

Maggie winkte ihm durchs Fenster zu. Sie klopfte an die Scheibe, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

„Was?“, rief er gereizt, obwohl Maggie ihn von dort, wo sie stand, unmöglich hören konnte.

Hinter der Scheibe formte ihr Mund die Worte: Haben sie angefangen?

Er zuckte mit den Schultern und drehte sich schnell weg. Sie hatten den Hammel von Borve auf dem Schlachttisch platziert. Sein Kopf hing vorn über die Kante, und er starrte geradewegs zur Tür hinaus. Onkel John saß rittlings vorne auf ihm drauf und Norman hinten. Mit ihrem ganzen Gewicht hielten sie ihn unten, und unter dem Gewicht der beiden Männer schien der Hammel ganz entspannt. Er wehrte sich nicht mehr und die Augen in seinem großen braunen Gesicht waren teilnahmslos und ruhig. Nachdem Colin sich umgedreht hatte, hielten die drei in der Scheune eine ganze Weile in ihrem Vorhaben inne, als wären sie bei einem versteckten Spiel gestört worden. Dann blickte ihn Onkel John mürrisch an und deutete mit wilden Kopfbewegungen seitwärts: Weg von der Tür, geh aus dem Licht. Colin ging weg.

Er drückte sich beim Torfstapel herum. Maggies Gesicht hinter der Scheibe war verschwunden. Vom Torfstapel aus konnte man nicht in die Scheune sehen.

Er schaute sich in alle Richtungen um. Aber nicht einmal die Schiefe Marianne war zu sehen. Also konnte er auch von hier aus aufpassen.

Geräusche drangen aus der Scheune durch die finstere Türöffnung, ein raues Kratzen. Und dann ein blechernes Tropfen.

Er sollte wohl nicht hier drüben beim Torfstapel stehen, Onkel John hatte beim Türpfosten gesagt. Aber es war weit und breit kein Tier in Sicht. Er konnte auch von hier aus aufpassen.

In einer schattigen Bucht hinter der Landzunge von Galson hatten Colin und Roddy Macleod einmal ein graues Robbenbaby gesehen. Winselnd hatte es da unten zwischen den rutschigen Steinen gelegen und versucht, zurück ins Meer zu gelangen. Es war aber hartnäckig in die falsche Richtung gerobbt, landeinwärts. Roddy Macleod hatte Steine in seine Richtung geworfen, einen nach dem andern, direkt vor das Tier, damit es umkehrte. Tat es aber nicht.

Nach langer Zeit kam Großonkel Norman heraus.

„Machst gute Arbeit hier, Colin“, sagte er und lachte.

„Ist er erledigt?“, fragte Colin.

„Wie hätten wir’s bloß ohne dich geschafft?“

„Wieso lungert er drüben beim Torfstapel rum?“

Onkel John war ebenfalls herausgekommen, in jeder Hand einen Eimer. Seine Hände waren über und über rot verschmiert, als ob er gemalt hätte.

„Hast du ihn getötet?“

„Was denkst du?“

Großonkel Norman lachte.

„Hat er?“

„Schau selber nach.“

„Er wird trotzdem davon essen“, meinte Onkel John. Er stellte die Eimer ab und ging zurück in die Scheune. Dann tauchte er wieder auf und putzte sich mit einem Stück Sackleinen die Hände. „Stell ihm eine Lammkeule vor die Nase und dann schau, wie seine Augen leuchten … Stimmt’s? Da mach ich mir keine Sorgen!“ Er hob die Eimer hoch, schnaubte und schüttelte den Kopf. „Stimmt’s, mein Junge?“, sagte er.

„Beachte ihn nicht, Colin“, sagte Großonkel Norman, als sie Onkel John dabei zusahen, wie er die Eimer über die Straße ins Haus trug. „Hör nicht auf ihn. Du hältst dich an Papier und Griffel und an nichts anderes. Bringt dir mehr. Schau zu, dass du eine Ausbildung kriegst, das ist wichtiger. Überlass das Schlachten den Schlachtern. – Und, was meinst du? Sollen wir ihm mit dem Rest noch helfen?“, fuhr er bedächtig mit derselben freundlichen Stimme fort.

„In Ordnung.“

Sie gingen in die Scheune. Ohne Kopf hing der rosafarbene, gehäutete Rumpf des Hammels von Borve an den Hinterbeinen von einem Dachsparren und drehte sich im Kreis. Er glänzte seidenmatt, die Blutfäden rannen vom blutigen Nackenstumpf zwischen den stämmigen Vorderbeinen stoßweise erdwärts, fast so, als ob sie den schwarzen Schlammboden der Scheune anflehten, sich zu öffnen und sie zu verschlucken. So hing er jetzt einen Tag und eine Nacht. Dann würde Onkel John noch einmal vorbeikommen und ihn mit der Bügelsäge und dem Hackbeil zerteilen.

„Hier.“ Großonkel Norman gab ihm eine Schüssel mit Fett. „Hältst du sie auch richtig in den Händen? Dann ab mit dir.“

Colin überquerte vorsichtig die Straße, die Schüssel mit beiden Armen an die Brust gedrückt. Jetzt war er stolz: Er half. Er hoffte, dass Chrissie Alan ihn vom kleinen Fenster unter dem Vordach aus beobachtete, traute sich aber nicht hinüberzuschauen. Er ging ins Haus. Delse winselte hinter der Tür zum Kuhstall. Maggie und Onkel John zankten sich lautstark im Vorderzimmer.