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Sabine Thiesler

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Beschreibung

Hannah und Heiko sind glücklich verheiratet und freuen sich auf ihr erstes Kind. Da erreicht Hannah der Hilferuf ihres Vaters: Ihre Mutter sei depressiv und selbstmordgefährdet, Hannah möge doch bitte kommen. Trotz ihrer Schwangerschaft fliegt sie in die Toskana, wo ihre Eltern ein Ferienhaus besitzen. Im Flugzeug lernt sie einen charmanten Herrn kennen, und da der Flieger erst am späten Abend in Florenz landet, nimmt sie die Einladung des sympathischen Fremden zu einem Abendessen in seinem Palazzo gerne an. Seitdem gibt es von Hannah kein Lebenszeichen mehr. Ihre Familie ist vollkommen verzweifelt, und auch die Polizei ist ratlos. Denn Hannah ist nicht die letzte junge Frau, die in der Toskana spurlos verschwindet.

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Seitenzahl: 502

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Das Buch

Die junge Lehrerin Hannah ist schockiert, als sie einen Hilferuf ihres Vaters bekommt: Ihre Mutter sei selbstmordgefährdet, Hannah möge bitte dringend zu ihnen in die Toskana kommen. Obwohl sie schreckliche Flugangst hat und schwanger ist, nimmt Hannah den nächstmöglichen Flieger. Dort lernt sie einen charmanten Deutschen kennen, der in Italien wohnt. Die Landung in Florenz verschiebt sich in den späten Abend. Deswegen nimmt Hannah dankbar die Einladung des sympathischen Fremden zu einem Abendessen in seinem Palazzo an. Was sie nicht weiß: Ihr Sitznachbar saß nicht zufällig neben ihr. Er hat von Anfang an einen perfiden Plan verfolgt. Hannah geht mit ihm, und seitdem fehlt von ihr jede Spur.

Ihr Vater Eberhard wendet sich in seiner wachsenden Sorge an den örtlichen Commissario Neri. Doch der Fall erweist sich als sehr kompliziert.

Und dann verschwinden weitere Frauen.

Die Autorin

Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u.a. »Das Haus am Watt«, »Der Mörder und sein Kind«, »Stich ins Herz« und mehrere Folgen für die Reihen Tatort und Polizeiruf 110). Ihr Debütroman »Der Kindersammler« war ein sensationeller Erfolg, und auch all ihre weiteren Thriller standen auf den Bestsellerlisten. Zuletzt bei Heyne erschienen: »Zeckenbiss«.

www.sabine-thiesler.de

SABINETHIESLER

DERKELLER

THRILLER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2019 by Sabine Thiesler

© 2019 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik • Design, München,

unter Verwendung der Fotos von robertsrob/Bigstock

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-21558-3V001

www.heyne-verlag.de

www.sabine-thiesler.de

Für meine Freundin

und Seelenverwandte

Claudia

»Es gibt Menschen, die in Erfahrungswelten leben,

die wir nicht betreten können.«

JOHNSTEINBECK

Hannah und Heiko

1

Toskana, Oktober 2017

Ein leichter, durchsichtiger Nebel lag wie ein Schleier über dem Tal, hellorange ging die Sonne auf, und der Wetterbericht sagte achtzehn Grad voraus.

Mitte Oktober. Weinlese in der Toskana.

Ein wunderschöner Herbsttag kündigte sich an.

Eberhard stand im Bademantel vor dem Haus und genoss die klare, frische Luft. Atmete tief durch. War für einen kurzen Moment entspannt und mit sich im Reinen.

Die Seitenwände des Pools schimmerten bereits grünlich, Algen bildeten sich, und auf der Wasseroberfläche schwammen braungelbe Blätter. Er würde sie später herausfischen.

Überhaupt erschien ihm das Wasser dunkler als sonst. Egal. Er würde dieses Jahr keine Chemie mehr hineinkippen und keine Zeit mehr darauf verwenden, den Boden zu saugen und die Wände zu scheuern.

Er hatte beobachtet, dass sie nicht mehr richtig schwimmen konnte. Sie hatte es offenbar verlernt und wusste nicht, wohin mit ihren Armen und Beinen. Zweimal hatte er gesehen, dass sie unterging wie ein Stein, und er hatte sie gerade noch rechtzeitig aus dem Wasser ziehen können.

Es war kein schöner Sommer gewesen.

Ute lag noch im Bett. Sie schlief viel in letzter Zeit, zehn oder zwölf Stunden waren keine Seltenheit. Früher war sie nach sechs Stunden Schlaf immer wach und voller Tatendrang gewesen.

Aber auch diese Zeiten waren vorbei.

Er ging ins Haus, zog den Bademantel aus und stellte sich unter die warme Dusche. Das war der schönste Moment des Tages, und er sang leise vor sich hin. »Imagine all the people, living life in peace …«

Er stellte die Dusche aus, trocknete sich ab, schlüpfte in Unterwäsche, Jeans und Pullover und lief nach oben ins Schlafzimmer.

Sie lag auf dem Bett und schäumte. Ihr Speichel bildete Bläschen, die sich wie winzige Seifenblasen auf ihrem Gesicht türmten. Sie wimmerte leise.

»Ute!«, rief er und packte ihre Hand.

Sie reagierte nicht.

»Wach auf! Red mit mir!«

Keine Reaktion.

Sie war nicht bei Bewusstsein.

Erst jetzt sah er die ausgedrückten Tablettenverpackungen: Herztabletten, Abführmittel, Schlaftabletten, Entwässerungspillen, Antibiotika, Cortison.

Ein Mördercocktail. Sie hatte alles geschluckt.

Eberhard rief den Notarzt.

2

Berlin-Schönefeld

Er schätzte sie auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Vielleicht auch älter. Sie hatte ein mädchenhaft glattes Gesicht mit klarem Teint und kleinen Augen. Wahrscheinlich würde sie in zehn Jahren kaum anders aussehen.

Sie war mittelgroß und eigentlich schlank, aber nur bis zur Taille. Ihre Hüften waren ausladend und ihre Beine ziemlich dick. Das passte so gar nicht zu der im Grunde zierlichen Person.

Er musste grinsen.

Sie hatte das Handgepäck auf ihren Koffer gestellt und rollte beides Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Obwohl es in der Abfertigungshalle kühl war, wischte sie sich ständig den Schweiß von der Stirn, und nur dann ließ sie für einen Moment ihre Tasche los.

Offensichtlich war sie alleinreisend.

Sehr gut.

Zwischen ihm und der jungen Frau stand nur ein älteres Ehepaar in der Schlange. Betont lässige, aber sehr teure Kleidung. An den Koffern weder ein Staubkorn noch ein Kratzer, die Haare ordentlich frisiert, die Fingernägel kurz und perfekt manikürt.

Er ging davon aus, dass sie nach Florenz flogen, um von Palazzo zu Palazzo, von Kirche zu Kirche und von Museum zu Museum zu wandern. Ein oder zwei Wochen pralles Kultur- und Kunstprogramm.

Bei der jungen Frau konnte er sich das nicht so recht vorstellen.

Er hatte sie unentwegt und sehr gut im Blick.

Jetzt war sie an der Reihe, checkte ihr Gepäck ein und wählte einen Sitzplatz am Gang.

Das sind die ganz Ängstlichen, die die Gangplätze bevorzugen, dachte er. Die, die verdrängen wollen, wie hoch sie sich über der Erde befinden. Die ständig Fluchtgedanken entwickeln und hoffen, im Notfall schneller rauszukommen.

Er hörte, wie die Stewardess »Reihe 17, Platz D« sagte und der jungen Frau die Bordkarte reichte. »Boarding ist in einer Dreiviertelstunde, Gate 8B. Guten Flug.«

Nach dem älteren Ehepaar war er an der Reihe.

»Wo möchten Sie sitzen?«, fragte die Stewardess. »Fenster oder Gang?«

»Mir egal, aber bitte in der Mitte des Fliegers. Ich bin ehrlich gestanden ein wenig ängstlich. Hätten Sie eventuell etwas in der Reihe 17? Das ist meine Glückszahl.«

Die Stewardess lächelte. »Aber sicher. Ich habe in Reihe 17 noch einen Platz in der Mitte der Dreierreihe. Oder in Reihe 19 und 25 einen Fensterplatz und in Reihe 9 was am Gang.«

»Dann nehme ich den Platz in Reihe 17«, sagte er schnell.

Die Stewardess nickte, und nur Sekunden später gab sie ihm die Bordkarte. »Gate 8B. Guten Flug.«

Er bedankte sich lächelnd.

Als sie am Gate ihr Handgepäck durchleuchten ließ, stand er direkt hinter ihr. Sie war hektisch, legte Handtasche, Ticket, Halstuch, Smartphone, Tablet und schließlich auch noch ihren Gürtel in die Plastikwanne.

Dann fuhr sie sich gestresst durch die langen, dunkelbraunen Haare.

Er roch ihr Parfum. Eine faszinierende Mischung aus blumig und bitter mit einem Hauch von Mandel und Orchidee.

Ihr Handgepäck fuhr auf dem Band durch den Röntgenapparat, und sie trat durch den Kontrollbogen.

Es piepte, was sie kaum merklich zusammenzucken ließ.

Sie musste die Schuhe ausziehen. Er sah, dass sie flammend rot geworden war. Ihr empfindlicher Teint glühte, und sie ging ein zweites Mal durch den Bogen.

Es piepte wieder.

Verzweifelt rang sie die Hände.

Die Sicherheitsangestellte sagte etwas zu ihr, das er nicht verstand, dann suchte sie die junge Frau mit dem Handkontrollgerät ab, lächelte ihr kurz zu und winkte sie weiter.

Am Gate 8B stand »Florenz 19:25« an der Anzeigetafel.

Die meisten Passagiere saßen wartend auf den grauen Plastiksitzen, lasen Zeitung oder tippten auf ihren Smartphones herum.

Er setzte sich der jungen Frau gegenüber.

Sie wusste anscheinend nicht, was sie machen sollte. Nahm ein Buch in die Hand, las eine halbe Seite, legte es wieder weg. Ständig checkte sie ihr Handy, ob eine Nachricht gekommen war, und klappte es wieder zu.

Sie seufzte, durchwühlte ihre Handtasche, zog ihre Bordkarte heraus und las aufmerksam jedes Wort. Als wäre es rasend interessant.

Dann nahm sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche, zog ihren Personalausweis heraus, stand auf, um ihn sich in die Hosentasche ihrer Jeans schieben zu können, und wischte dabei mit ihrer Jacke die Bordkarte vom Stuhl.

Er war schnell, hob sie vom Boden auf und gab sie ihr, noch bevor sie überhaupt etwas bemerkt hatte.

»Hier, bitte. Die sollten Sie vielleicht besser nicht verlieren.«

»Oh! Vielen Dank!« Sie wurde schon wieder rot.

Es gefiel ihm.

In diesem Moment änderte sich die Anzeige am Gate. »Florenz – verspätet«, stand da. »Voraussichtliche Abflugzeit 20:20«.

Die junge Frau starrte fassungslos auf den Bildschirm. »Das darf nicht wahr sein«, murmelte sie leise.

Er sah auf die Uhr. »Noch eineinviertel Stunden. Oh mein Gott! Hoffentlich fliegen wir heute Abend überhaupt noch.«

Die Frau nickte.

Er ließ ihr einen Moment. Dann sagte er: »Wir sollten was trinken gehen, um uns die Zeit zu vertreiben. Darf ich Sie zu einem Glas Champagner einladen?«

Sie schien völlig überrascht. »Wie kommen Sie denn auf die Idee?«

»Nur so.« Er zuckte die Achseln. »Wir haben eine elende Warterei vor uns … Gemeinsam vergeht die Zeit schneller, und ein Glas Schampus vertreibt die schlechte Laune.«

Sie sah ihn ungläubig an. Dann huschte der Hauch eines Lächelns über ihr Gesicht. »Überredet. Das ist aber nett.«

Sie saßen sich gegenüber und drehten ihre Champagnergläser in den Händen.

»Wissen Sie, dass ich heute schon hundertmal daran gedacht hab, einfach abzuhauen und nicht mitzufliegen?«, begann sie das Gespräch.

Er lächelte. Natürlich wusste er das. Schließlich hatte er sie beobachtet. Aber das würde er ihr nicht auf die Nase binden.

»Haben Sie Flugangst?«, fragte er mitfühlend.

Sie nickte. »Ja. Ganz furchtbar. Und jetzt habe ich noch einmal die Gelegenheit zur Flucht. Einen Aufschub von einer knappen Stunde. Vielleicht ist es ein Wink des Schicksals?«

»Dann müssen Sie jetzt aber ganz schnell austrinken, aufstehen und gehen. Und es wird ein Heidentheater geben, Ihr Gepäck wiederzubekommen. Und dann sitzen Sie heute Abend um elf zu Hause vor dem Fernseher, und die Welt ist in Ordnung. Es gab keinen Flugzeugabsturz, es ist nichts passiert. Und Sie ärgern sich schwarz, dass Sie gekniffen haben und nicht in Florenz sind.«

»Glauben Sie? Es geht alles glatt?«

»Aber natürlich.«

Eine Weile schwiegen beide, sahen sich ab und zu an und lächelten. Dann fragte er, um den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen: »Aber wenn Ihnen das Fliegen so einen Stress bereitet, was gibt es dann so Dringendes, dass Sie unbedingt nach Florenz wollen? Urlaub doch sicher nicht?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist sehr krank, und mein Vater hat mich gebeten zu kommen.«

»Ihre Eltern leben in Italien?«

»Wir haben dort seit Menschengedenken ein Ferienhaus, und so zwei, drei Monate im Jahr sind meine Eltern dort.«

»Das ist ja wunderbar.«

»Sie wissen nicht, dass ich heute komme, damit meine Mutter nicht enttäuscht ist, wenn etwas schiefgeht. Oder ich es nicht schaffe und doch nicht fliege …« Sie lächelte gequält.

»Heute fliegen Sie. Ich passe auf Sie auf. Es wird nichts geschehen. Das Wetter ist gut, wir haben kaum Wind, kein Gewitter, nicht mal Regen, was will man mehr. Alles bestens. Wenn Sie heute nicht einsteigen, wann dann?«

»Stimmt.«

»Darf ich fragen, wie Sie heißen?«

»Hannah. Und Sie?«

»Daniel.«

Es war nicht zu übersehen, dass Hannah ruhiger geworden war. Sie wirkte entspannt, ihre Hände zitterten nicht mehr, und ihre Haut hatte einen zarten pastellfarbenen Ton.

3

Hannah wunderte sich nicht schlecht, als Daniel seine Tasche direkt neben ihr auf den Sitz stellte.

»Sie sitzen hier?«

»Offensichtlich, ja!« Er sah noch einmal auf seine Bordkarte und zeigte sie ihr.

»Das kann ich gar nicht glauben.«

»Ich auch nicht«, meinte er, »aber wenn das kein Wink des Schicksals ist, dann weiß ich es auch nicht!« Er verstaute seine Sachen und setzte sich.

»Was für ein Zufall!«, sagte sie. »So was glaubt einem ja keiner!«

»Nee. Das Leben schreibt Geschichten, die man sich gar nicht ausdenken kann.«

Vor Hannah und Daniel saßen drei Italienerinnen, um die vierzig Jahre alt, die sich lautstark unterhielten. Hannah konnte jedoch nicht verstehen, worüber. Ab und zu kreischte eine laut, dann gab es wieder schallendes Gelächter. Die Frau, die neben Hannah auf der anderen Seite des Ganges saß, gehörte offensichtlich auch zu der Gruppe und beugte sich quer über den Gang, um mit ihren Freundinnen reden zu können.

Hannah und Daniel sahen sich an. Als sie begriffen, dass sie in diesem Moment dasselbe dachten und gleichermaßen von den vieren genervt waren, mussten sie grinsen.

»Da sehen Sie mal«, sagte Daniel leise in Hannahs Ohr, »es gibt Leute, die machen sich überhaupt keine Gedanken, ob das Flugzeug abstürzt oder nicht. Diese Menschen fliegen genauso sorglos, als wenn sie morgens zum Bäcker gehen und sich ein paar Brötchen kaufen. Das sollte Sie beruhigen.«

Hannah nickte dankbar.

Die Stewardess kam, bat die vier Frauen, jetzt sitzen zu bleiben und sich anzuschnallen, und führte ihr Sicherheitsballett vor.

Daniel schaltete sein Smartphone in den Flugmodus.

»Hoffentlich haben die auch alle ihre Handys ausgeschaltet«, flüsterte Hannah.

»Keine Sorge. Heutzutage stürzt kein Flugzeug mehr wegen so was ab. Sonst würden die Flieger ja pausenlos vom Himmel fallen. Was glauben Sie, wie viele Leute ihre Geräte anlassen. Jede Menge, aber so genau wollen wir das gar nicht wissen.« Er lächelte.

Kurz darauf rollte die Maschine auf die Startbahn, hielt noch einmal inne und beschleunigte dann.

Daniel nahm Hannahs Hand. »Es ist alles gut«, sagte er leise. »Alles läuft nach Plan. Jetzt ganz ruhig einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen …« Und bei jedem »Einatmen« drückte er ihre Hand, bei jedem »Ausatmen« lockerte er den Griff wieder.

Erst als hoch über den Wolken die Anschnallzeichen erloschen, hörte er damit auf.

»War es schlimm?«, fragte er leise.

»Nein, gar nicht. Sie haben mir sehr geholfen!«

Erst jetzt ließ er ihre Hand los.

Kurz darauf zog Daniel ein Buch aus seinem Handgepäck. Florenz: Die Maler der Renaissance. Er blätterte darin herum, las aber nicht.

Daher wagte Hannah, ihn zu stören. »Entschuldigen Sie, aber was machen Sie denn in Italien? Sind Sie an einer deutschen Schule? Unterrichten Sie?«

Daniel schloss das Buch, legte den Kopf in den Nacken und lachte leise. »Nein. Ich bin nur kunstgeschichtlich sehr interessiert, und da hat man ja in Florenz und Umgebung wirklich die besten Voraussetzungen. Kunst und Kultur in Hülle und Fülle. Nein, es ist ganz banal. Ich besitze in der Toskana einen kleinen Palazzo und vermiete Ferienappartements an wahrscheinlich ebenso kunstinteressierte Urlauber.«

»Fantastisch! Sie haben wirklich einen Palazzo?«

»Nun ja.« Er wand sich, was bescheiden wirken sollte. »Das ist ja in der Toskana nahe Florenz nicht so ganz außergewöhnlich.« Er wechselte das Thema. »Und was machen Sie beruflich, wenn ich fragen darf?«

»Ich bin Lehrerin. Habe gerade Herbstferien.«

»Oh! Was für ein schöner Beruf! Kommen Sie, wir trinken noch ein Gläschen. Sie werden sehen, es hilft dabei zu vergessen, dass wir in einem Flugzeug sitzen.« Er klingelte nach der Stewardess.

»Diesmal für mich aber etwas Alkoholfreies, bitte!«, sagte sie.

Als sie die Gläser in der Hand hielten, fragte Daniel: »Worauf trinken wir? Auf eine schöne Zeit in der Toskana?«

Hannah nickte.

Sie stießen an, nahmen einen Schluck, und Hannah vergaß ihre Flugangst.

Stattdessen dachte sie an ihre Mutter, ihren Vater und an die SMS, die sie vor einigen Tagen bekommen hatte.

Sie hatte sie so oft gelesen, dass sie sie auswendig kannte:

Hannah, hatte ihr Vater geschrieben, deiner Mutter geht es sehr schlecht. Ich habe Angst um ihr Leben. Sie hat versucht, sich umzubringen. Du bist wahrscheinlich die Einzige, die ihr noch helfen kann. Bitte, komm! So schnell wie möglich. Dein Vater

Am Abend hatte sie Heiko die SMS vorgelesen. Er hatte mit unbeweglicher Miene zugehört und sie auch nicht angesehen, als er fragte: »Ich nehme an, du willst hinfliegen?«

»Ich weiß es nicht, ich überlege noch, aber ich denke schon«, antwortete Hannah vorsichtig.

Heiko schwieg. Dann wandte er sich ihr zu und strich ihr übers Haar. »Schatz, du bist schwanger. Du solltest nicht fliegen!«

»Mach dir keine Sorgen. Ich hab beim Arzt angerufen. Er hat gesagt, in diesem Stadium ist es kein Problem. Im neunten Monat sollte man es lieber bleiben lassen, aber jetzt Ende dritter, Anfang vierter Monat muss man sich keine Gedanken machen.«

»Wir freuen uns so sehr auf das Kind, bitte, du solltest wirklich alles vermeiden, was auch nur im Entferntesten nicht gut für das Würmchen sein könnte.«

»Ich hab es dir doch gerade gesagt: Es ist echt kein Problem!«

Heiko raufte sich die Haare. »Hannah, deine Mutter ist seit Monaten krank, ach was, seit Jahren. Sie ist depressiv, schizophren, was weiß ich. Kein Mensch weiß, warum und wieso und wann genau es angefangen hat. Wir leben damit. Du und ich und dein Vater. Wir ertragen es, dass sie ständig weint, tagelang im Bett liegt, nichts isst, mit niemandem spricht oder stundenlang durch den Wald irrt. Das ist alles nichts Neues. Und jetzt ist sie in Italien. Die Toskana hat ihr eigentlich immer ganz gutgetan. Aber diesmal eben nicht. Und da willst du gleich hinfliegen? Bitte!«

»Sie hat versucht, sich umzubringen, Heiko!«

»Ja. Aber das war sicher nur ein Hilfeschrei. Sonst hätte es ja geklappt. Und dein Vater ist bei ihr. Was willst du machen? Tagelang an ihrem Bett sitzen, Händchen halten und auf den nächsten Versuch warten? Der vielleicht nie kommt? Das ist Blödsinn, Hannah. Die Krankheit, die deine Mutter hat, kannst du nicht heilen, indem du zwei Tage an ihrem Bett sitzt oder ihr draußen Blümchen pflückst und sie ihr ins Zimmer stellst. Vergiss es!«

»Ich hab das Gefühl, sie braucht mich. Und Papa meint das auch. Normalerweise schreibt er so etwas nicht. Da muss es schon ernst sein.«

Er rang die Hände. »Ich brauche dich auch, Hannah. In drei Wochen beginnt das Staatsexamen. Ich muss noch lernen ohne Ende. Habe einen Berg von Arbeit vor mir und die Hosen gestrichen voll. Hab in meinem Leben noch nie so viel Schiss gehabt, Hannah. Bitte, hau jetzt nicht ab! Lass mich nicht allein! Ich kann mich nicht auch noch um den Haushalt kümmern. Verstehst du das nicht? Es tut mir einfach gut, wenn du abends da bist, mir ein Spiegelei in die Pfanne haust und mich in den Arm nimmst. Ich pack das sonst nicht allein!«

»Aber was ist, wenn meiner Mutter was passiert? Das ist endgültig. Ein Staatsexamen kann man wiederholen.«

»Wiederholen?«, schrie Heiko fassungslos. »Weil meine schwangere Frau zu ihrer depressiven Mutter fliegt, muss ich nicht nur vor Angst um sie umkommen, sondern auch noch mein Staatsexamen wiederholen?«

Hannah wusste, dass der Streit jetzt bald eskalieren würde, aber sie sagte dennoch: »Ach so. Und weil mein gesunder, intelligenter Mann sich allein kein Spiegelei in die Pfanne hauen kann, darf ich nicht zu meiner schwerkranken Mutter und muss mein Leben lang darunter leiden, wenn sie stirbt und ich nicht da gewesen bin? Ich hab meinem Mann das Frühstück gemacht, bevor er in die Uni gegangen ist! Währenddessen ist meine Mutter einsam gestorben. Und ich hab mich nicht von ihr verabschieden können? Meinst du das im Ernst?«

Heiko überlegte einen Moment. Dann sagte er: »Meinetwegen, flieg zu deiner Mutter. Damit setzt du die Priorität. Und damit ziehen wir nicht mehr an einem Strang. Ich bin allein auf mich gestellt. Ich habe keine Frau, die in Krisenzeiten – und ein Examen ist eine Krisenzeit – zu mir hält. Falls du es schon vergessen haben solltest: Als du im Prüfungsstress warst, hab ich alles für dich getan, hab dir rund um die Uhr den Rücken freigehalten, hab dich auf Händen getragen. Und du lässt mich jetzt hängen!«

»Aber das kannst du doch nicht vergleichen, Heiko!« Hannah war den Tränen nahe.

»Doch, das kann ich!«

Hannah zuckte hilflos die Achseln.

»Ich dachte außerdem, du hast schreckliche Flugangst?«, setzte Heiko nach. »Seit Jahren findest du tausend Gründe, warum wir nicht fliegen sollten, und nun steigt die Lady plötzlich ohne Probleme in ein Flugzeug? Und dann auch noch mit Babybauch? Das versteh ich nicht!«

»Es fällt mir verdammt noch mal auch nicht leicht!«

»Na also. Dann würde ich an deiner Stelle eben nicht fliegen.«

»Ich habe dir schon gesagt, dass ich mich noch nicht entschieden habe! Ich wollte mit dir in aller Ruhe darüber reden, aber das geht anscheinend nicht. Jedenfalls will ich mir keine Vorwürfe anhören, wenn ich deinen Rat brauche!«

»Ich glaube, es gibt nichts mehr dazu zu sagen.«

»Du verstehst mich nicht.«

»Kann sein. Keine Ahnung.«

Es war unerträglich still im Zimmer.

Dann brach er als Erster das Schweigen. »Flieg nicht«, murmelte er, »bitte. Schreib zurück, dass du keine Zeit hast.«

»Mein Vater weiß, dass ich Ferien habe.«

»Dann schreib, dass du krank bist. Dich nicht wohlfühlst. Oder sag ihnen, dass du schwanger bist und deswegen nicht fliegen kannst.«

»Nein. Das soll eine Überraschung sein.«

»Na gut. Ganz egal. Schreib irgendwas. Denn ich würde es nicht einsehen, wenn du fährst. Und wenn du es tust, kriegen wir beide ein riesiges Problem.«

»Warum setzt du mich so unter Druck, Heiko?«, rief Hannah und wollte ihn in den Arm nehmen, aber er stieß sie zurück. »Was soll ich denn bloß machen? Ich sitze zwischen allen Stühlen, und du machst es mir jetzt noch schwerer.«

Heiko tippte sich an die Stirn. »Deine Mutter ist nur hysterisch. Sie droht doch ständig, sich umzubringen, und schikaniert damit ihre gesamte Familie. Alle opfern sich auf, und dann wird sie wahrscheinlich neunzig.«

»Und das ist eben genau das, was du nicht begreifst!« Jetzt wurde auch Hannah lauter. »Vielleicht muss ich sie nur einmal in den Arm nehmen. Vielleicht reicht das schon. Und dabei bricht mir kein Zacken aus der Krone.«

Heiko ließ sich in einen Sessel fallen. »Sag mal, wie naiv bist du denn?« Er sah sie an, und Hannah hielt seinem Blick stand. »Gut! Bitte! Dann flieg! Fall deiner Mutter um den Hals, und dann heult ihr zwei Tage, und alles ist wieder gut. Und dann backt sie uns zu Weihnachten einen Stollen und strickt dir Wollsocken. Ach wie schön! Gut, dann fahr! Aber ich weiß nicht, ob ich noch hier bin, wenn du wiederkommst.«

Hannah brach in Tränen aus.

Heiko ging hinaus, und Hannah hörte, wie er die Tür seines Arbeitszimmers zuknallte.

Hannah hatte einen Flug gebucht. Sie redeten kaum noch miteinander, nur über das Allernötigste. So ein Schweigen hatte es während ihrer langjährigen Beziehung noch nie gegeben.

Hannah war todunglücklich. Fürchtete sich vor dem Abschied und gleichzeitig davor, dass es gar keinen Abschied geben würde.

Aber ihre Sorge war unbegründet. Heiko brachte sie zum Flughafen, blieb aber im Auto und kam nicht mit in den Terminal.

»Also dann, tschüss«, sagte sie, und in ihren Augen schwammen Tränen. »Bitte, sei mir nicht böse, bitte! Es geht nicht gegen dich, aber ich muss da hin. Kannst du das nicht verstehen?«

»Ich möchte nicht mehr darüber reden.«

»Gibst du mir noch einen Kuss zum Abschied?«

Heiko küsste sie.

Sie umarmte ihn, klammerte sich an ihn und weinte.

»Pass auf dich auf!«, sagte er, als sie ausstieg.

Dann fuhr er davon.

Sie winkte ihm hinterher, wusste aber nicht, ob er es im Rückspiegel überhaupt gesehen hatte.

Als der Flieger zur Landung ansetzte, nahm Daniel wieder ihre Hand.

»Beim Start ist alles gut gegangen«, sagte er leise, »dann wird auch jetzt alles gut gehen. Das Wetter ist immer noch super, wir werden in Florenz die sanfteste Landung seit Menschengedenken haben.«

Dieser Mann tat ihr ungeheuer gut. Hannah schätzte ihn auf etwa fünfzig, er war also ungefähr zwanzig Jahre älter als sie. Aber er strahlte eine solche Ruhe und Gelassenheit aus, dass sie sich augenblicklich geborgen fühlte. Obwohl es ja Blödsinn war. Wenn das Flugzeug abstürzte, stürzte es ab. Ob er nun neben ihr saß oder nicht.

Es war längst dunkel, und Hannah sah tief unter sich die funkelnden Lichter der Stadt, als die Maschine noch eine Schleife über Florenz drehte.

Eigentlich kann Fliegen auch schön sein, dachte sie, genieß den Moment, es wird eine perfekte Landung geben.

Plötzlich sackte das Flugzeug ab. Hannah schrie. Schon im nächsten Moment setzte die Maschine hart auf, schwankte, rüttelte, quietschte und machte eine Vollbremsung.

»Oh mein Gott!«, seufzte Hannah voller Entsetzen, und Daniel drückte ihre Hand.

»Das war ganz normal, besser geht es hier in Florenz nicht. Die Landebahn ist ein bisschen kurz, daher sind die Landungen immer molto sportivo, aber die Piloten wissen das. Es ist eine Herausforderung für sie, und das ist gut so, denn dann passen sie auf.«

Einen kurzen Augenblick ließ sich Hannah an Daniels Schulter sinken und schloss die Augen.

Als das Flugzeug zum Stehen gekommen war, löste sich Hannah von ihm und atmete tief durch. Geschafft.

Sie lebte noch.

Es dauerte ewig. Bestimmt eine Viertelstunde, bis die Türen geöffnet wurden. Hannah fühlte sich eingesperrt und beengt.

Die Italienerinnen vor ihnen machten pausenlos Fotos, Filme und Selfies, Daniel drehte sich weg. Einmal, als Hannah spürte, dass sie unweigerlich mit auf dem Film war, lächelte sie.

»Sprechen Sie Italienisch?«, fragte Daniel, der versuchte, diese unerträgliche Frauengruppe zu ignorieren.

»Nein. Kaum. Also nur das Allernötigste.«

Daniel nickte. »Wo wohnen denn Ihre Eltern, wenn ich fragen darf?«

»In Civitella. Das ist in der Nähe von Ambra. Kennen Sie das?«

Daniel nickte. »Ja, ich glaube, ich war vor einer Weile mal dort in der Nähe. Und wie wollen Sie da hinkommen? Für ein Taxi ist es zu weit.«

»Ich dachte, ich nehme mir hier einen Mietwagen.«

Daniel riss überrascht die Augen auf. »Oh! Aber es ist schon bald elf!«

Hannah nickte.

»Ich bezweifle, dass Sie hier um diese Zeit überhaupt noch einen Mietwagen bekommen. Und selbst wenn: Abholen können Sie ihn nur auf einem großen Parkplatz im Zentrum, wohin ein Shuttlebus Sie karrt. Von dort müssten Sie dann selbst sehen, wie Sie aus Florenz herausfinden. Um diese Zeit ist im Zentrum immer noch ein Wahnsinnsverkehr. Und dann im Dunkeln mit einem nur Italienisch sprechenden Navi ist das alles kein Vergnügen.«

»Oh mein Gott, im Ernst?«

Daniel nickte. »Es ist desolat. Eine absolute Zumutung.«

Hannah seufzte.

Daniel sah aus, als würde er überlegen. Dann sagte er sehr leise: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Es ist wirklich nur ein Vorschlag. Sie können ihn ohne Probleme ablehnen. Aber warum kommen Sie nicht mit zu uns? Mein Auto parkt hier auf dem Flughafenparkplatz. Ich lade Sie zu einem wunderschönen Abendessen ein. Oder besser: zu einem kleinen Nachtmahl! Meine Frau liebt Gäste und wird sich sicher freuen. Und dann übernachten Sie bei uns, wir haben sicher noch irgendwas frei. Für eine Nacht auf alle Fälle. Und morgen früh fahren Sie ganz in Ruhe zu Ihren Eltern.«

Hannah überlegte. Das klang alles mehr als verlockend.

»Civitella ist nicht weit von uns«, fuhr Daniel fort. »Eine gute halbe Stunde vielleicht. Da bringe ich Sie morgen Vormittag mit meinem Wagen direkt hin.«

»Das kann ich alles nicht annehmen«, sagte sie leise.

»Machen Sie mich nicht böse«, erwiderte Daniel freundlich lächelnd, »sonst stelle ich Ihnen das Abendessen und die Übernachtung in Rechnung. – Nein, das war nur ein Scherz, ich lade Sie wirklich herzlich ein!«

»Okay!«, sagte Hannah nach einer kurzen Pause. »Das ist wahnsinnig nett von Ihnen. Ich nehme Ihr Angebot gern an, denn es ist schließlich auch egal, ob ich heute spät nachts oder morgen Vormittag bei meinen Eltern bin. Sie erwarten mich ja nicht.«

»Das meine ich doch auch.«

Noch immer konnten die Passagiere das Flugzeug nicht verlassen, und Daniel schaltete sein Handy an und wählte.

»Ja, Octavia, ich bin’s. Du, ich bringe einen Gast mit. Eine nette junge Frau, die Probleme hat, hier von Florenz aus um diese Zeit weiterzukommen. Sie bleibt heute zum Abendessen und für eine Nacht. Va bene? – Prima! – Das ist lieb. – Ich schätze, wir sind in anderthalb Stunden da.« Er sah auf die Uhr. »Wir sind leider sehr spät. Aber egal. Bis dann! Danke!«

Er drehte sich zu Hannah um.

»Meine Frau freut sich«, sagte er.

4

Eberhard Klausner war mit seinem Latein am Ende. Er hatte gedacht, dass der Aufenthalt in der Toskana seine Frau aufmuntern würde. Dass sie in ihrem Ferienhaus, das sie seit dreißig Jahren besaßen und wo sie abschalten und zur Ruhe kommen konnte, zumindest ein klein wenig lebendiger werden würde.

Aber das Gegenteil war der Fall.

Der Notarzt hatte sie in das Krankenhaus von Siena gebracht, man hatte ihr den Magen ausgepumpt und sie unter Beobachtung gestellt. Aber als sie morgens immer brav »buongiorno« und abends »buonasera« sagte, stets lächelte, wenn jemand hereinkam, niemals schrie, nicht jammerte oder weinte, nicht in den Fluren herumirrte, sogar einen Bruchteil des unerträglichen Krankenhausfraßes herunterschluckte, ohne sich zu beschweren, und auch generell nicht den Eindruck machte, sich noch einmal etwas antun zu wollen, wurde sie mit einer herzlichen Umarmung und guten Worten nach drei Tagen entlassen.

Sie war eine stille, freundliche Patientin gewesen, die vielleicht nur aus Versehen oder in geistiger Umnachtung die Tabletten geschluckt hatte.

Der Arzt legte Eberhard ans Herz, gut auf seine Frau aufzupassen, und dann fuhren Eberhard und Ute wieder nach Hause.

Vor einer Woche hatte Eberhard eine SMS von Hannah erhalten, die er sich jeden Tag fünfmal durchlas, als wollte er es nicht glauben.

Ich komme, hatte Hannah geschrieben. In den Herbstferien. Aber ich weiß noch nicht genau, wann. Sag Mama nichts, ich will sie überraschen. Bis bald. Hannah

Seit vier Tagen waren in Berlin Herbstferien.

Hoffentlich hatte sie so kurzfristig überhaupt einen Flug bekommen.

Oder kam sie etwa mit dem Auto?

Oder zu zweit? Mit Heiko?

Das konnte er sich nur schwer vorstellen, aber möglich war alles.

Warum meldete sie sich nicht noch einmal?

Er hing völlig in der Luft und wusste überhaupt nicht, was los war.

Hannah, bitte, komm!

Wenn er seine Frau sah, wie sie den ganzen Tag apathisch auf einer Liege lag, es überhaupt nicht spürte, wenn ein kalter Wind aufkam, sie nur ein T-Shirt anhatte und ein Wolkenbruch sie vollkommen durchnässte, dann wartete er auf Hannah wie auf den Notarzt, wenn es nach einem Herzinfarkt um jede Minute ging.

Vor zwei Tagen war Ute schon sehr früh morgens aufgestanden. Er hatte es im halbwachen Zustand mitbekommen, war dann aber sofort wieder eingeschlafen.

Als er um halb acht auf die Terrasse kam, hatte Ute einen Wiesenblumenstrauß gepflückt, stellte ihn gerade in eine Vase und summte leise vor sich hin.

Sie strahlte ihn an und umarmte ihn. »Es ist so herrlich hier!«, sagte sie glücklich. »So wunderbar! Guck die Wolken, die im Tal hängen, und wir haben hier oben die Sonne und den allerbesten Blick. Es scheint, als hätten wir ein Haus am Meer!«

Er drückte sie an sich. »Soll ich uns Kaffee machen?«

»Au ja! Bring alles nach draußen! Wir frühstücken heute auf der Terrasse!«

»Ist es nicht zu kalt?«

»Überhaupt nicht!«

Er sah sie skeptisch an, weil sie nur einen dünnen, seidenen Morgenmantel trug, aber er sagte nichts und ging ins Haus.

Als er zehn Minuten später mit einem großen Tablett zurückkam, saß Ute auf einem Stuhl und klapperte mit den Zähnen. Der Wiesenblumenstrauß schwamm im Pool.

»Willst du immer noch draußen frühstücken?«, fragte er vorsichtig.

»Nein«, antwortete sie schlapp, »dazu ist es doch viel zu kalt.«

Sie ging ins Haus, legte sich ins Bett und stand erst am Abend wieder auf. Sprach kein Wort, aß nichts und trank nichts. Saß in einem Sessel und starrte gegen die Wand.

Nur Hannah konnte ihrer Mutter noch helfen.

Heute lag sie wieder draußen am Pool. Ohne Buch, ohne Decke, ohne Brille, einfach nur so. Mit geschlossenen Augen. Bewegungslos.

Er trat zu ihr. »Ute? Hörst du mich?«

»Ja, ja«, sagte sie leise.

»Wir müssten nach Montevarchi fahren, was einkaufen. Wir haben kein Brot, keine Eier und keinen Salat mehr.«

»Ist gut. Fahr mal. Ich bleib hier.«

»Meinst du nicht, dass du mal auf andere Gedanken kommst, wenn wir zusammen einkaufen gehen?«

»Nein, mein ich nicht.«

»Okay. Soll ich dir was mitbringen? Worauf hast du Appetit? Eine Avocado? Oder soll ich dir mal melanzane mit parmigiano in der Pfanne braten?«

»Nein. Ich habe auf nichts Appetit, ist schon o.k. Kauf mal Eier, das ist gut.«

»Und sonst? Brauchst du was aus der Apotheke?«

»Nein. Alles gut.«

»Soll ich dir noch was zu trinken holen?«

»Nein. Alles gut.«

»Kann ich dich wirklich allein lassen?«

»Aber natürlich. Es ist alles in Ordnung. Was soll schon sein?«

»Ute, soll ich nicht doch lieber hierbleiben? Oder Stefania anrufen, dass sie herkommt und bei dir ist, wenn ich weg bin?«

Ute seufzte. Dann schlug sie die Augen auf und fuhr Eberhard liebevoll mit der Hand über die Wange. »Nein, das ist nicht nötig. Wirklich nicht. Es geht mir gut, ich bin nur ein bisschen müde und will hier liegen bleiben, weißt du. Fahr! Bitte, fahr! Wir brauchen das alles, was du einkaufen willst. Der Kühlschrank ist ja leer!«

Er erhob sich und sah sie an. War total überfordert.

»Ich bin bald zurück«, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Pass auf dich auf, und wenn was ist, ruf mich an, ja?«

»Natürlich.«

»Wo hast du denn dein Handy?«

»Keine Ahnung.«

»Ich such es dir.«

Er lief ins Haus und kam nach wenigen Minuten mit dem Handy wieder. »Hier, Ute! Bitte, steck’s dir in die Hosentasche und hab es jederzeit griffbereit, ja?«

»Ja, klar.« Sie nahm es, legte es sich auf den Bauch und schloss die Augen.

Er entfernte sich vom Liegestuhl und war sich nicht sicher, ob sie sich in fünf Minuten überhaupt noch daran erinnern würde, dass er einkaufen gefahren war.

Als er im Auto saß und nach Montevarchi fuhr, war es wie immer: Er wusste nicht, ob er sie noch einmal lebend wiedersehen würde.

5

Florenz

Daniel hatte kein Gepäck aufgegeben, daher sagte er zu Hannah, als sie bei der Gepäckausgabe ankamen: »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich gehe nur mal kurz auf die Toilette.«

Hannah nickte und lächelte ihm zu.

Er ging quer durch die kleine Halle.

Hannah wartete und wurde von Minute zu Minute nervöser. Sie hatte wegen Daniel ein schlechtes Gewissen, obwohl es nicht ihre Schuld war, wenn die Koffer nicht kamen.

Es war seine freie Entscheidung gewesen, sie mitzunehmen. Er hätte auch freundlich »Tschüss« sagen und davonfahren können.

Nach zehn Minuten sah sie entnervt auf die Uhr. Das Kofferband lief immer noch nicht, und auch Daniel war noch nicht von der Toilette zurück, was ihr komisch vorkam.

Egal, was ich tue, ich mache mir ständig Sorgen, habe Ängste und überall ein schlechtes Gewissen, dachte sie. Das ist ja kein Leben. Ein bisschen Gelassenheit wäre nicht schlecht, sonst war sie spätestens, wenn sie auch noch für ein Kind die Verantwortung übernehmen sollte, ein nervliches Wrack.

Endlich, nach fünfzehn Minuten, sprang das Laufband an, und die ersten Koffer rollten in die Ankunftshalle. Hannahs Koffer war einer der ersten.

Gott sei Dank, dachte sie erleichtert und hob ihn vom Band.

In diesem Moment war Daniel plötzlich wieder an ihrer Seite und nahm ihr den Koffer aus der Hand.

»Gehen wir«, sagte er.

Als sie kurz darauf aus dem Flughafengebäude trat, war sie auf alles gefasst gewesen, aber nicht auf eine dermaßen warme Nacht.

Der Vorplatz war hell erleuchtet, Passagiere verschwanden in Taxis, andere rollten ihre Koffer zum Parkplatz. Die Luft war so warm, dass sie sich sogar vorstellen konnte, im T-Shirt auf der Terrasse zu sitzen.

Ein Wahnsinn, dachte sie, wo bin ich? In Asien? Hier ist ja immer noch Sommer!

In Berlin hatte vor einer Woche ein Sturm mit Starkregen getobt, hatte Markisen zerfetzt, Fahrräder, Schirme und Kinderwagen durch die Straßen gefegt, Straßen, Unterführungen und Parkhäuser überflutet, Gullydeckel hochgeschwemmt und Autos davonschwimmen lassen. Bereits der zweite Herbststurm in diesem Jahr. Und die Temperaturen waren empfindlich kühl. Seit drei Wochen hatten Heiko und sie die Heizung in ihrer Wohnung angestellt.

Diese warme Oktobernacht war ein Geschenk des Himmels.

Daniels SUV der teuren Oberklasse war so penibel sauber, dass Hannah sich fast nicht traute einzusteigen.

Er hatte ihr den Koffer aus der Hand genommen, zusammen mit seinem Handgepäck im leeren Kofferraum verstaut und dann sein Jackett auf den Rücksitz gelegt.

Auch sie zog ihre Jacke aus.

Im Inneren des Wagens gab es kein Haar, kein Staubkorn, keine Krümel, keinen fettigen Fingerabdruck auf der Scheibe oder auf dem Armaturenbrett, es war alles so steril, als käme der Wagen direkt aus dem Autohaus. Sie erinnerte sich daran, als sie vor drei Jahren einen neuen Kleinwagen gekauft hatten und der Verkäufer meinte: »So sauber wie heute wird er wohl nie wieder sein.« Das war die reine Wahrheit gewesen.

Auch dieser SUV wirkte wie frisch vom Band. Absolut clean. Und er roch auch so.

Am Rückspiegel hing ein Rosenkranz.

Daniel zog aus der Ablage der Seitentür ein kleines Fläschchen Desinfektionsmittel, spritzte sich etwas davon auf die Hände und säuberte sie akribisch.

»Wollen Sie auch?«, fragte er und hielt Hannah das Fläschchen hin. »Flugzeuge und Flughäfen sind voller Keime. Jeder Quadratzentimeter ist verseucht. Man darf gar nicht daran denken, wie viele Millionen und Milliarden von Keimen jetzt an unserer Haut und an unserer Kleidung haften. Eine absolut gruselige Vorstellung. Und was wir alles eingeatmet haben, ist wahrscheinlich auch verheerend, aber nicht mehr zu ändern. Da sollte man sich wenigstens die Hände desinfizieren, wenn man dieser Hölle entronnen ist.«

Hannah nickte und ließ sich brav etwas Desinfektionsmittel in die Handflächen spritzen.

»Danke«, sagte sie.

»Was für ein fantastisches Auto«, sagte sie, als Daniel vom Parkplatz rollte. »Ein Traum. Ist der Wagen ganz neu?«

»Nein, er ist jetzt drei Jahre alt.«

»Aber er macht den Eindruck, als wäre noch niemals jemand damit gefahren.«

Daniel nahm es anscheinend als Kompliment. »Ich habe eine Angestellte, eine wahre Perle, die pflegt ihn, und sie nimmt es wahrscheinlich sehr genau. Ich bin ihr dankbar dafür, denn ich kann schmutzige Autos nicht ausstehen.«

Er fuhr auf die Autobahn. Der Wagen glitt dahin, als würde er fliegen.

Hannah sank tief in die weichen Sitze des teuren Wagens und dachte, dass das Leben hervorragend sein konnte, wenn man es nur machen ließ. Wer weiß, was an diesem Abend noch alles geschehen würde.

Sie zog ihr Handy aus der Handtasche und schrieb Heiko eine kurze WhatsApp, als hätte es wegen ihrer Reise nie ein Problem gegeben.

Bin gut gelandet, Liebster.Alles bestens. Wie findest du es, dass ich den Flug ohne Nervenzusammenbruch überlebt habe? Ich melde mich morgen wieder. Schlaf schön!

Dass sie der Einladung eines Wildfremden zum Abendessen und zur Übernachtung zugestimmt hatte, musste er jetzt nicht erfahren. Er würde sich nur Sorgen machen und Wunder was denken. Sie würde es ihm später ausführlich erzählen, wenn sie wieder zu Hause war.

Hannah klappte das Smartphone zu und steckte es wieder in ihre Handtasche.

»Haben Sie Ihre Eltern benachrichtigt, dass Sie erst morgen kommen?«, fragte Daniel.

»Nein. Dann wäre ja die Überraschung kaputt. Ich habe meinem Mann geschrieben, dass ich gut gelandet bin. Dass ich erst morgen zu meinen Eltern fahre, muss er ja nicht wissen. Manchmal ist weniger mehr.« Sie lachte leise. »Und manchmal ist es besser, wenn man Männern nicht alles erzählt.«

Daniel lächelte.

Es gab ein kurzes, leises »Pling«. Heikos Antwort.

Hannah klappte ihr Handy wieder auf. Bin froh, schrieb er. Hab heute den ganzen Tag gelernt. Mach mir jetzt noch ein Bier auf und geh in die Falle. Bis morgen!

Hannah grinste, lehnte sich zurück und schloss einen Moment die Augen. Wahrscheinlich war er nicht mehr sauer. Es war alles in Ordnung, sonst hätte er nicht »bin froh« geschrieben.

Sie konnte sich entspannen.

Daniel stellte leise Musik an. Irgendetwas Klassisches, das sie nicht kannte.

In diesem Wagen könnte ich noch stunden- und tagelang fahren, dachte sie. Durch ganz Europa.

Sie schloss die Augen. Es war einfach zu schön, und so unsagbar bequem.

In diesem Augenblick setzte Daniel den Blinker, nahm die Ausfahrt und fuhr von der Autobahn ab.

»Sind wir schon da?«

»Nein, noch nicht ganz. Jetzt fahren wir in die Berge. Ich habe Ihnen doch einen fantastischen Blick über die Hügel der Toskana bis nach Florenz versprochen. Und dazu müssen wir jetzt das Tal verlassen und hinauffahren.«

Hannah nickte.

Daniel fuhr auf einer schnurgeraden Straße durch drei ziemlich unansehnliche Straßendörfer, die einen heruntergekommenen Eindruck machten. Von den Häusern fiel der Putz, Feuchtigkeit zog in den Mauern hoch, die tristen Fassaden waren schwarz vor Schimmel. Vereinzelt waren noch kleine Bars geöffnet, ein paar alte Männer saßen auf der Straße und rauchten. In den Fenstern flackerten die Lichter der Fernseher.

Schließlich bog Daniel rechts in eine schmale Straße ab, die in Serpentinen den Berg hinaufführte.

Auf einmal fühlte sie sich überhaupt nicht mehr wohl.

Es war nur ein ganz diffuses Gefühl, und sie wusste auch nicht genau, warum.

Die Nacht war pechschwarz. Straßenbeleuchtung gab es nicht mehr, und auch beruhigende Lichter eines Dorfes oder einer Stadt waren nirgends mehr zu sehen.

Rechts und links des Weges lag undurchdringlicher, tiefdunkler Wald.

6

Hannah wunderte sich, dass Daniel nichts mehr sagte.

Auch sie schwieg.

Während der gesamten Reise hatten sie sich so locker unterhalten, jetzt machte seine Schweigsamkeit sie nervös.

Der Wald nahm kein Ende. Nirgends ein Haus oder ein Licht. Nur die Scheinwerfer bohrten sich einen Weg ins absolute Dunkel.

Hannah bekam Angst.

Und geriet innerlich in Panik.

Sie überlegte, die Beifahrertür aufzureißen und sich aus dem Auto zu werfen. Aber vielleicht verletzte sie sich dabei, und er wäre schneller, würde sie einholen …

Mit zitternden Fingern holte sie schließlich ihr Handy aus der Handtasche.

Er sah sie an. Lächelte nicht mehr.

»Sie brauchen es gar nicht erst zu probieren«, sagte er leise, »hier hat man keinen Empfang. Das ist auch unser Problem im Haus. Wir wohnen mitten in einem Funkloch.«

Hannah nickte, sah, dass er recht hatte, und packte das Handy mit zitternden Händen wieder ein.

»Sie haben Angst«, sagte der Fremde. »Ich sehe es Ihnen an. Sie fürchten sich vor mir, nur weil wir durch den Wald fahren. Stimmt’s?« Er lachte kurz auf.

Hannah antwortete nicht.

»Gut, es enttäuscht mich, aber gut.« Er presste die Lippen zusammen.

Die Straße war jetzt so schlecht, dass er nur noch im Schritttempo fahren konnte.

Ihr war klar, dass sie hier in diesem Wald vollkommen hilflos, orientierungslos und verloren sein würde, falls sie es wagen sollte zu fliehen, daher saß sie wie festgeschraubt in ihrem Sitz. Verschränkte ihre flatternden Hände ineinander und biss ihre Zähne fest aufeinander, damit sie nicht klapperten.

Heiko, dachte sie, Heiko, Liebster, warum bist du nicht mitgeflogen, dann hätte es niemals ein Problem gegeben.

Und jetzt war sie in der ausweglosesten Situation ihres Lebens.

Der Wald lichtete sich ein klein wenig, und sie sah, dass es direkt neben der Straße steil bergab ging. Dort war eine Schlucht.

Daniel hatte die Angewohnheit, immer sehr weit rechts zu fahren, und ihr blieb fast jedes Mal das Herz stehen, wenn sie sah, wie nah sie dem Abgrund waren.

»Haben Sie immer noch Angst?«, fragte er.

Sie sagte nichts.

»Okay. Öffnen Sie das Handschuhfach.«

Sie sah ihn verunsichert und fragend an.

»Na los! Machen Sie es auf!«

Hannah tat es.

Und zuckte zurück.

Darin lag ein Revolver.

Er sah sie herausfordernd an. »Bitte, nehmen Sie ihn, wenn Sie sich unsicher fühlen. Er ist geladen. Und wenn ich Ihnen zu nahe komme und Ihnen irgendetwas tun will, drücken Sie ab, o.k.? So einfach ist das. Wenn ich jetzt anhalte, Sie ins Gebüsch zerre und versuche, Sie zu vergewaltigen, erschießen Sie mich, und Ihnen wird nichts geschehen.«

Hannahs Augen waren weit vor Entsetzen.

»Na los! Warum nehmen Sie ihn nicht in die Hand? Warum schützen Sie sich nicht? Ich denke, Sie haben Angst vor mir?«

Ohne die Waffe zu berühren, schloss Hannah das Handschuhfach wieder.

Daniel lachte. »Haben Sie mehr Angst vor dem Revolver als vor mir? Ich wollte Ihnen nur zeigen, dass bei mir niemand etwas zu befürchten hat. Auch Sie nicht.«

Der Weg wurde immer steiniger, holpriger, glich mittlerweile mehr einem ausgewaschenen Flussbett als einer Straße. Hin und wieder hatte Hannah das Gefühl, der SUV würde kippen.

»Es gibt noch eine andere Straße, eine kürzere, aber sie ist noch steiler und steiniger. Wenn es sich vermeiden lässt, fahre ich sie nicht. Dort wohnen Stachelschweine. Ich hasse sie.«

»Wieso?«

»Ich hatte zwei Rottweiler. Starke, stolze Hunde. Die Stachelschweine haben sie getötet.«

»Wie denn das?«

»Bei Gefahr klappern Stachelschweine mit ihren Stacheln und regen Hunde furchtbar auf. Dann stürzen sich die Hunde auf die Schweine, die in diesem Moment ihre Stacheln aufstellen. Dicke, spitze, stabile Stacheln. Mordwaffen. Mit so einem Stachel kannst du einem Menschen ins Herz stechen. Ich habe Hunderte gesammelt. Kann sie Ihnen im Haus zeigen.«

Hannah sank immer tiefer in ihren Sitz.

»Na, jedenfalls spießten die Stachelschweine meine beiden Hunde auf. Stacheln steckten in ihren Beinen, in den Pfoten, im Bauch, in den Lefzen und sogar im Gaumen und im Auge eines meiner Hunde. Zwölf Zentimeter tief bis ins Gehirn. Beide Hunde wurden stundenlang operiert, aber sie haben es nicht überlebt. Und darum hasse ich Stachelschweine.«

»Das kann ich verstehen.«

»Wenn ich kein Gewehr dabeihabe, möchte ich ihnen nicht begegnen.«

»Sie haben ein Gewehr? Sind Sie Jäger?«

»Sicher.« Er lächelte. »Hätte ich sonst einen Revolver im Handschuhfach?«

Plötzlich huschten schwarze Schatten über die Straße.

Daniel bremste, der Wagen kam zum Stehen.

»Was war das?«, fragte sie leise.

»Wildschweine«, sagte er. »Hunderte gibt es hier. Tausende. Viel zu viele. Ich würde Ihnen nicht raten, im Wald zu übernachten.«

An einer kleinen Kreuzung mitten im Wald bog Daniel rechts auf eine nicht wesentlich breitere, aber asphaltierte Straße ab. Hannah bemerkte auch einen schief stehenden Wegweiser, den sie aber in der Dunkelheit nicht entziffern konnte.

Offensichtlich hatte er eine Abkürzung und dafür die schlechte Straße in Kauf genommen.

Der asphaltierte Weg beruhigte sie ein wenig.

Und endlich tauchte irgendwann im diffusen Nachtnebel unmittelbar vor ihnen ein Tor auf.

Daniel hielt an, drückte eine Fernbedienung, und das Tor öffnete sich beinah lautlos.

Augenblicklich gingen rechts und links des Weges Dutzende von Lichtern an, und der Wagen glitt durch eine breite Zypressenallee bis an die geschwungene Freitreppe eines beeindruckenden Palazzos.

»Allora!«, sagte Daniel. »Da wären wir.«

Hannah war vollkommen erschlagen und überwältigt.

Daniel kam um den Wagen herum und öffnete ihre Beifahrertür. »Bitte, steigen Sie aus! Willkommen!«

In diesem Moment kam eine Frau in einem Rollstuhl aus dem Haus. Sie trug einen fließenden, beigefarbenen Hosenanzug aus Seide, der ihre perfekte, schlanke Figur sanft umspielte.

Sie lächelte strahlend. Hannah ging die Treppe hinauf, Daniel folgte ihr mit ihrem Gepäck.

Die beiden Frauen reichten sich die Hand. »Herzlich willkommen!«, sagte die Frau im Rollstuhl. »Ich hoffe, die schreckliche Anfahrt hat Sie nicht verschreckt und Ihnen nicht den Appetit verdorben. Bitte, kommen Sie! Ich freue mich!«

Und dann öffnete sich die Tür, und Hannah sah in das Entree, den Empfangssaal des Palazzo. Große, hohe Fenster mit Brokatvorhängen, ausladende Sitzgarnituren, in der rechten Ecke eine kleine Bar, deren Flaschen und Gläser im Licht der Lüster aus Muranoglas glitzerten und funkelten.

Es war wunderschön. Überwältigend.

Und Hannah schämte sich zutiefst, dass sie diesem Mann jemals misstraut hatte.

7

»Ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt«, sagte die elegante Frau des Hauses. »Mein Name ist Octavia Scarpaccini. Meinen Mann Daniel haben Sie ja bereits kennengelernt.« Sie lächelte ihm zu. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte sie Hannah. »Oder soll ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen, damit Sie sich ein wenig frisch machen können?«

»Das wäre wundervoll. Ich bin übrigens Hannah Gassen und freue mich, Sie kennenzulernen.«

Octavia lächelte. »Kommen Sie.«

»Ich werde mich unterdessen um das Essen kümmern«, meinte Daniel leise.

»Tu das, mein Lieber. Das ist ganz wundervoll.«

Daniel nickte Hannah noch einmal kurz zu und entfernte sich.

Leise surrend fuhr Octavia mit ihrem Rollstuhl auf einer Rampe ins Untergeschoss. Hannah folgte ihr zu Fuß auf einer Treppe mit ausgetretenen Sandsteinstufen hinunter ins Kellergewölbe, an den Wänden alte, eiserne Gestelle.

»Was ist das?«, fragte Hannah.

»Das sind Halterungen für Fackeln. So wurden die Gänge in den Katakomben und Kellergewölben früher beleuchtet. Hier ging man ja damals auch mit Eseln hinein, wenn man aus den Magazinräumen Vorräte holen wollte.«

Oberhalb der Halterungen waren Rußspuren. Die sind sicher keine hundert Jahre alt, dachte Hannah, hier haben noch vor Kurzem Fackeln gebrannt.

Hannah fragte sich allmählich, was das Ganze sollte. Warum zeigte ihr Octavia die Kellergewölbe? Sie hatte keine Lust mehr auf irgendeine Besichtigung, sie war müde und wollte nur noch schlafen. Und sie hatten ja wohl nicht vor, sie im Keller unterzubringen. Das würde sie nicht aushalten. Schon als Kind hatte sie vor Kellern Angst gehabt.

Im unteren Gewölbe angekommen, standen sie vor einer schweren Holztür.

»Sie benötigen ja nur eine Unterkunft für eine Nacht, wenn ich meinen Mann richtig verstanden habe …?«

»Ja, genau.«

»Da kann ich Ihnen etwas Kleines, aber Feines anbieten. Leider nicht in einem unserer Appartements, das tut mir sehr leid. Aber ich denke, für eine Nacht geht es.«

»Ich habe absolut keine Ansprüche, bin Ihnen sehr dankbar, dass ich überhaupt hierbleiben kann.« Hannah wurde übel. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.

»Fein.«

Der Raum, den Octavia nun öffnete, war kein normales Gästezimmer, das Hannah erwartet hatte, sondern ein Gewölbekeller. Wunderschön indirekt beleuchtet und luxuriös ausgestattet.

Hannah war wie erschlagen. Ihre Ängste waren wie weggeblasen. So etwas Traumhaftes gab es sonst eigentlich nur im Film.

In der Mitte des Raumes stand ein schmiedeeisernes, antikes Bett mit einer samtenen, purpurroten Tagesdecke. Goldbestickte Kissen lagen darauf, den Nachttisch zierte ein kleiner, messingfarbener Kerzenständer. Teure, seidene Wandteppiche mit Jagdmotiven hingen an der beeindruckenden Natursteinwand, sechs antike Stühle passten zu der schwülen, etwas überladenen Atmosphäre eines riesigen, schweren Eichentisches. Darauf ein fünfarmiger, silberner Kerzenleuchter mit zum Teil heruntergebrannten Kerzen.

Und in der Mitte des Raumes hing ein prunkvoller Kronleuchter, perlenbesetzt und sich nach oben in sechs Stufen verjüngend.

»Wow!«, sagte Hannah leise und ging umher. »Das ist ja unglaublich. Und wirklich wunder-wunderschön.« Dabei strich sie mit ihrer Hand über die weichen Kissen und die edlen Wandteppiche. »Was war denn dieser Raum früher einmal?«

»Ein Magazin. Für Wein und Öl. Ich schätze, er ist siebenhundert bis achthundert Jahre alt. Ein Schmuckstück. Ein Geschenk. Für uns ist dieser Ort fast das Wertvollste am ganzen Palazzo, weil er so ursprünglich ist. Hier hat niemand renoviert oder umgebaut, alles ist wie früher. Wir haben nur versucht, ihn ein bisschen wohnlicher zu gestalten. Der hintere Teil war leider bereits eingestürzt, und was glauben Sie, wie viele Schubkarren Steine, Schutt und Geröll wir hier rausgekarrt haben? Hunderte wahrscheinlich. Zu dieser Zeit konnte ich noch laufen.« Sie schluckte. »Und bei dieser Gelegenheit haben wir dort auch gleich ein Bad eingebaut. Ohne Bad würden sich Gäste hier sicher nicht wohlfühlen.«

Hannah nickte.

Sie sah in ein kleines, aber helles, luxuriöses Bad, mit einer Dusche, einem Waschbecken und einem Spiegelschrank darüber.

Fantastisch, dachte Hannah. Ein Wahnsinn! Dann schloss sie die Badezimmertür wieder.

Octavia rollte langsam durch den Raum und zog einen Samtvorhang zur Seite, aber dahinter war nur die nackte Mauer.

»Hier gibt es keine Fenster?«, fragte Hannah.

»Nein.« Octavia lächelte. »Wie denn? Wir sind unter der Erde. Aber eine Klimaanlage sorgt Tag und Nacht für frische Luft. Die Vorhänge habe ich nur anbringen lassen, damit man sich ein wenig behaglicher fühlt.«

»Verstehe.«

»Ich hoffe, es gefällt Ihnen«, sagte Octavia.

»Es ist wunderschön. Ich fühle mich wie in einem Schloss, wie im Märchen und kann es kaum glauben, dass ich hier eine Nacht verbringen darf. Vielen, vielen Dank.«

»Sehr gern. Keine Ursache.«

»Aber sagen Sie, wo bin ich hier eigentlich? Ich möchte meinem Mann Bescheid sagen, aber ich weiß ja gar nicht, wie das hier heißt, dieser Ort, der Palazzo …«

Octavia lächelte und reichte Hannah eine Visitenkarte. »Hier: Palazzo Desiderio.«

»Super, danke.«

»Ist es Ihnen recht, wenn wir in einer Viertelstunde essen?«

»Aber ja. Danke.«

»Gut. Dann sehen wir uns gleich im großen Saal.«

Octavia lächelte noch einmal, dann verließ sie das Zimmer und rollte die Rampe hinauf.

Hannah schloss die Tür. Sie sah auf die Uhr. Schon nach Mitternacht. Und da sollte sie jetzt noch essen? Sie war todmüde und hätte nichts dagegen gehabt, sich einfach nur hinzulegen und zu schlafen.

Aber sie wollte nicht unhöflich sein.

Sie setzte sich aufs Bett und ließ den Raum auf sich wirken.

Noch nie hatte sie so etwas Wahnsinniges und so etwas irrsinnig Schönes gesehen. So etwas konnte man sich gar nicht ausdenken, es war einfach genial. Niemandem würde sie je klarmachen können, was sie hier gerade und heute Nacht erlebte.

Sie machte schnell ein paar Fotos. Später, wenn sie Heiko erzählt hatte, wo sie in dieser Nacht gewesen war, würde sie sie ihm schicken.

Plötzlich spürte sie einen leisen Windhauch, und erst jetzt bemerkte sie die Lüftungsschlitze der Klimaanlage, die sich unterhalb der Decke um den gesamten Raum zogen.

Es war gut, dass sie geflogen war, sonst hätte sie dies alles nicht erlebt und so faszinierende Menschen wie Daniel und Octavia nie kennengelernt.

Und plötzlich hatte sie Sehnsucht nach Heiko. Wollte keine Heimlichkeiten, wollte ihm mitteilen, wo sie war.

Sie schnappte sich die Visitenkarte und versuchte, Heiko anzurufen, aber ihr Handy hatte wirklich keinen Empfang. Logisch, hier in diesem Gewölbekeller funktionierte gar nichts. Und hatte Daniel auf der Fahrt nicht erzählt, dass sie hier generell ein Problem mit Internet und Handy hatten?

Na toll. Dann würde sie ihm eben eine WhatsApp schreiben und später vielleicht noch draußen vor dem Haus versuchen, ob ihr Handy Empfang hatte. Vielleicht ging die Nachricht dann ab.

Heiko, Liebster, schrieb sie um 0 Uhr 12, großes Chaos mit den Mietwagen in Florenz. Erzähl ich dir später. Hab für die Nacht ein Zimmer in einem Palazzo in der Pampa gefunden. Palazzo Desiderio, Via d’Argento, 17, 24635 San Stefano, Tel. 00 39 0 54 46 77 23. Du, es ist irrsinnig schön hier. Man hat einen tollen Blick über die funkelnden Lichter von Florenz. Wenn du dein Staatsexamen hast, müssen wir hier zusammen ein Wochenende verbringen. Der Hammer! Ich geh jetzt noch was essen. Spät zwar, aber egal. Bis morgen. Ich liebe dich. Hannah

Die Tür vom Zimmer zum Bad mit dem vergitterten Fenster wirkte im Zimmer sehr schön. Als ginge es dort nach draußen. Wenn sie im Bad Licht machte, schien ein warmer, heimeliger Schein ins Zimmer. Natürlich konnte jeder ins Bad sehen, aber was soll’s, dachte sie, ich bin ja allein.

Sie packte ihren Kulturbeutel aus, versuchte den Spiegelschrank über dem Waschbecken zu öffnen, aber er war verschlossen.

Merkwürdig, dachte sie. Doch für eine Nacht würde es gehen. Für eine Nacht ging alles.

Im Zimmer zog sie noch mehr Samt zur Seite, weil sie die Natursteinwand viel schöner fand als die Vorhänge.

Sie erschrak. Hinter dem Vorhang befand sich eine Fahrstuhltür. Also fuhr ein Fahrstuhl von oben direkt in dieses Zimmer. Ein Wahnsinn. Sie musste nach der Karte oder einem Schlüssel fragen. Einen Zimmerschlüssel hatte sie ja auch noch nicht bekommen. Auf jeden Fall wollte sie sicher sein, dass nachts nicht irgendjemand mit dem Fahrstuhl in ihr Zimmer kam.

Wohl war ihr nicht, aber sie versuchte die negativen Gedanken zu verdrängen. Beim Abendessen würde sie alles klären.

Sie warf ihren Schlafanzug aufs Bett, zog sich statt ihres Reisepullovers eine frische, leichte Bluse an, tauschte die Turnschuhe in hohe Stiefeletten, erneuerte ihr Deo und ihr Make-up, fuhr sich mit der Bürste durch die Haare, nahm ihre Handtasche, steckte ihr Handy ein und verließ den Raum.

In fünf Minuten wurde sie im Salon erwartet.

Heiko hatte sich noch nicht gemeldet.

Sicher war die WhatsApp in diesem Funkloch auch noch nicht abgegangen.

Sie freute sich auf das Essen.

8

Hannah stand wie erstarrt.

Der Festsaal war riesig, mit pompösen stuckverzierten Decken, glänzendem Parkett, gewaltigen Wandgemälden und Fenstern, die vom Boden fast bis zur Decke gingen.

Hannah schätzte sie auf mindestens drei bis vier Meter hoch.

Zwei gewaltige Lüster funkelten und glitzerten und ließen den Saal festlich erstrahlen, golden verzierte, geschwungene Wandlampen gaben warmes Licht und dem Raum ein faszinierendes venezianisches Flair.

An langen Tafeln würden in diesem Saal bestimmt bis zu hundert Personen speisen können, dachte Hannah.

In dieser Nacht war der Raum jedoch bis auf einen einzigen Tisch, der für drei Personen gedeckt war, leer.

Hannah fühlte sich wie in einem Schloss und stand nun allein etwas verloren herum.

Im Hintergrund hörte sie leise klassische Musik, die wie Vivaldi klang, aber Hannah war sich nicht sicher. Nur Sekunden später ertönte ein leises »Pling«, und eine Fahrstuhltür öffnete sich, die Hannah noch gar nicht wahrgenommen hatte, so gut war sie dem herrschaftlichen Ambiente angepasst.

Daniel schob Octavia in den Saal, obwohl ihr Rollstuhl einen elektrischen Antrieb hatte.

Sie trug ein schwarzes, spitzenverziertes, langes Abendkleid, er einen seidig glänzenden dunkelblauen Anzug.

In ihrem Schoß lag eine rote Rose.

Oh mein Gott, dachte Hannah, das ist ja hier wie bei Königs. Sie kam sich plötzlich in Jeans und Bluse ungeheuer underdressed und vollkommen deplatziert vor.

Octavia rollte näher und reichte ihr die Hand. »Carissima! Haben Sie sich gut zurechtgefunden? Fehlt Ihnen irgendetwas?« Sie wartete eine Antwort von Hannah gar nicht ab, sondern fügte gleich hinzu: »Hoffentlich haben Sie großen Appetit mitgebracht, dann können wir gleich essen. Bitte, setzen Sie sich.«

Daniel hielt sich im Hintergrund und schenkte ihr nur ein Lächeln.

»Wie sieht es aus?«, fragte Octavia, als sie Platz genommen hatten. »Mögen Sie einen Aperitif? Vielleicht einen Champagner?«

»Danke, am liebsten einfach erst mal ein Wasser, wenn es geht?«, antwortete Hannah.

»Bist du so lieb?«, fragte Octavia, und Daniel lächelte.

»Aber selbstverständlich.«

»Um diese Zeit ist das Personal, wenn keine größere Festivität ansteht, natürlich längst zu Hause«, bemerkte Octavia. »Daher muss mein Mann einspringen. Aber er macht es gern.«

Gott, geht es hier förmlich zu, dachte Hannah, das ist ja grauenvoll. Und plötzlich wusste sie gar nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte.

Daniel ging hinaus, um die Getränke zu holen.

»Erzählen Sie ein bisschen von sich«, begann Octavia das Gespräch und beugte sich interessiert vor. »Warum sind Sie allein nach Italien gereist? Warum begleitet Sie Ihr Mann denn nicht?«

»Er hatte keine Zeit, weil er unmittelbar vor dem juristischen Staatsexamen steht. Daher war er auch fast ein bisschen verärgert, dass ich geflogen bin.«

»Oh, das versteh ich gut«, meinte Octavia. »In einer Ausnahmesituation wie einer Prüfung kann man nicht die kleinste Veränderung ertragen.«

Daniel kam mit zwei Flaschen zurück und schenkte ein.

Octavia hob ihr Glas. »Was für eine herrliche Nacht! Und wie schön, dass wir uns kennengelernt haben!«

Sie stießen an. »Salute!«

Hannah wurde innerlich lockerer, sie fand Octavia mittlerweile richtig sympathisch.

Daniel ging wieder hinaus.

»Und was machen Sie jetzt in Italien? Ferien?«, fragte Octavia weiter.

»Nein. Meine Eltern haben hier ein Ferienhaus, und meiner Mutter geht es nicht gut. Darum bin ich hergeflogen.«

»Um Gottes willen! Was hat sie denn, wenn ich fragen darf?«

»Sie ist schwer depressiv und suizidgefährdet.«

»Oh!« Octavia schlug eine Hand vor den Mund. »Das ist schlimm. Und man ist so hilflos, nicht? Man kann nicht ein Antibiotikum nehmen und alles ist gut! Als Angehöriger bleibt einem eigentlich nur zu hoffen und zu beten, dass es vorbeigeht.«

Hannah nickte. »Genau.«

»Aber wir wollen heute Abend nicht über so schreckliche Dinge reden, sondern lieber das Schöne genießen! Sie sollten die absolute Spezialität unseres Hauses kennenlernen: ›Oro della Toscana‹. Gold der Toskana! Das ist ganz mageres, zartes Fleisch, das wie Thunfisch schmeckt, aber mit Thunfisch nicht das Geringste zu tun hat. Es wird stundenlang gekocht und in sehr besonderer Art und Weise gewürzt. Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen.«

»Thunfisch mag ich sehr gerne.«

»Dann werden Sie das auch mögen.«

Daniel kam herein und kredenzte den Rotwein. Er öffnete die Flasche, goss einen winzigen Schluck in einen Dekanter, ließ den Wein kreisen, goss diesen Schluck dann in ein separates Glas, kostete, nickte und lächelte. Dann füllte er den gesamten Flascheninhalt in den Dekanter, ließ ihn erneut kreisen und schenkte ein.

Für jeden nur einen Fingerbreit im bauchigen Glas.

Hannah traute sich nach diesem Spektakel nicht abzulehnen.

Octavia hob ihr Glas. »Zum Wohl! Auf dass es Ihrer Frau Mutter bald besser geht!«

»Danke!«

Octavia und Daniel lächelten sich zu. Dann stellte Octavia ihr Glas ab, nahm die Rose, die jetzt neben ihrem Teller lag, atmete kurz ihren Duft ein und strich sie sich langsam über ihre geöffneten Lippen.

Daniel verschwand wieder in der Küche.