Zeckenbiss - Sabine Thiesler - E-Book
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Zeckenbiss E-Book

Sabine Thiesler

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Beschreibung

Die Großstadt, ein Moloch, Brutstätte des Verbrechens. Faruk lernt von Kindesbeinen an, dass man als Krimineller am besten fährt. Er ist Mehrfach- und Intensivtäter, kommt aber immer wieder mit geringen Strafen davon. Bis irgendwann etwas Schreckliches geschieht.

Wenig später mordet ein Mann scheinbar wahllos, sucht sich komplett unterschiedliche Opfer. Und erst allmählich wird klar, dass er mit all seinen Taten einen grausamen Plan verfolgt …

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Seitenzahl: 582

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Das Buch

Lara Sennen ist eine schöne Frau, erfolgreich im Beruf, glücklich verheiratet. An einem warmen Sommertag fährt sie in der Toskana mit einem Makler durch die Gegend, um sich ein Anwesen anzusehen. Was sie nicht weiß: Das Haus steht gar nicht zum Verkauf. Aber es ist verlassen und bietet damit den idealen Ort für ein Verbrechen …

Bernd Gernersheim findet kurz nach seiner Pensionierung noch einmal eine späte Liebe mit einer jungen Frau. Am Tag seiner Hochzeit trifft er, während seine Gäste feiern, im Park auf einen Unbekannten, der ihm unangenehme Fragen stellt. Gernersheim bekommt Angst – aber es ist bereits zu spät.

Der unheimliche Mörder schlägt danach immer wieder und scheinbar wahllos an den unterschiedlichsten Orten zu …

Faruk, ein jugendlicher Intensivtäter, stand schon zigfach vor Gericht und kam jedes Mal mit geringen Strafen davon. Während die Morde geschehen, sitzt er im Knast. Hat er dennoch etwas mit diesen Verbrechen zu tun?

Die Autorin

Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u. a. »Das Haus am Watt«, »Der Mörder und sein Kind«, »Stich ins Herz« und mehrere Folgen für die Reihen »Tatort« und »Polizeiruf 110«). Bereits mit ihrem ersten Roman »Der Kindersammler« stand sie monatelang auf den Bestsellerlisten. Ebenso mit den folgenden Büchern »Hexenkind«, »Die Totengräberin«, »Der Menschenräuber«, »Nachtprinzessin«, »Bewusstlos«, »Versunken«, »Und draußen stirbt ein Vogel« und zuletzt: »Nachts in meinem Haus«.

SABINE THIESLER

ZECKENBISS

THRILLER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2018 by Sabine Thiesler

© 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik·Design, München,unter Verwendung von © Phongphan / Bigstock; Steve Halama / Unsplash

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-21557-6V002

www.heyne-verlag.de

www.sabine-thiesler.de

LARA SENNEN

1

Toskana, 2017

Die Hitze schlug ihm geradezu ins Gesicht, als er aus dem Flugzeug trat. Einen Moment nahm ihm die heiße Luft den Atem.

Florenz, zwölf Uhr 25, 33 Grad. Keine Wolke am Himmel.

Er war groß und schlank, Anfang fünfzig, volles Haar. Trug einen fantastisch sitzenden, schmal geschnittenen, teuren grauen Anzug, eine geschmackvolle seidene Krawatte, italienische Designerschuhe. Setzte seine Sonnenbrille auf und ging mit leichten, lockeren Schritten die Gangway hinunter.

Im engen Shuttlebus, der die Passagiere zum Flughafengebäude brachte und in dem ihm eine eiskalte Klimaanlage um die Ohren pfiff, versuchte er nichts anzufassen, möglichst wenig zu atmen, niemanden zu berühren und die schwitzenden Touristen mit ihren Rucksäcken, den kurzen Hosen, Sandalen und ausgewaschenen T-Shirts zu ignorieren.

Sein Mietwagen, ein Porsche Cayenne, stand nicht am Flughafen, da es am Aeroporto Amerigo Vespucci nicht genügend Parkplätze gab, sondern auf einem Parkplatz mitten in Florenz.

Er hasste es, wenn ihm der Schweiß ausbrach, weil er wütend war. Jetzt stand er kurz vor der Explosion, wollte endlich seine Ruhe haben, nicht mehr behelligt werden von diesen ganzen Menschen, diesen grässlichen Touristen, diesen Unwägbarkeiten, die die Italiener als gegeben hinnahmen.

Zwanzig Minuten später saß er endlich im Auto, hatte das Navi auf Englisch programmiert und rollte aus der Stadt.

Die Klimaanlage summte leise. Kaum wahrnehmbar, aber sein Gehör war schärfer als das der meisten Menschen.

Er glitt dahin, als würde er lautlos fliegen. Spürte weder die Straße noch den Lärm um ihn herum. Wegen ständiger Tempolimits musste er langsam fahren, aber es war ihm egal, in diesem Wagen hatte er sowieso kein Gefühl für Geschwindigkeit. Wenn er beschleunigte, merkte er es kaum.

Die toskanischen Hügel vor den Toren von Florenz flogen an ihm vorbei. An ihren Hängen und auf ihren höchsten Punkten überall beeindruckende Paläste reicher Florentiner.

Er lächelte.

Lara Sennen. Ihretwegen war er nach Italien geflogen.

Er hatte sie gegoogelt, war auf Interessantes gestoßen. Seit Langem verfolgte er sie im Netz. Ihr Mann, Bastian Sennen, war ein reicher Unternehmer, Chef einer Parfümeriekette und leidenschaftlicher Polospieler.

Er wusste, dass an diesem Wochenende Sennen mit seiner Gattin in Ambra erwartet wurde, wo regelmäßig einige der renommiertesten Poloturniere Europas ausgetragen wurden.

Er drückte aufs Gas. War auf dem Weg.

Auch sein Pulsschlag beschleunigte sich.

Die Gelegenheit.

Ambra.

2

Unter Tausenden konnte sie seine Schritte heraushören, und ihr Herz begann zu rasen.

Während er im Restaurant des Poloclubs auf seinen Sieg anstieß, hatte sie im Stall in Melodies Box gestanden und sich um die Stute gekümmert, die schwächelte. Sie hatte das Pferd gestreichelt, gestriegelt und beruhigt, hatte ihm zärtliche Worte ins Ohr geflüstert, ihm die Stirn gekrault und gewartet.

Jetzt endlich klackten die Absätze derber Stiefel durch den Reitstall.

Sein Gang war kraftvoll wie ein Aufgalopp.

Sie sah ihn aus dem Augenwinkel mit seinen weißen Jeans und seinen braunen Stiefeln, die sie so sehr an ihm liebte. Sein streichholzkurzes, ergrautes Haar stand in reizvollem Kontrast zu seiner gebräunten Haut, und er wirkte ernst. Wie immer. Überhaupt lächelte er selten.

Das gefiel ihr an ihm. Grinsende Männer waren ihr zutiefst zuwider, sie wirkten, als bäten sie pausenlos um Entschuldigung, um Lob oder um gutes Wetter.

Noch waren die anderen Pferde, die am Turnier teilgenommen hatten, draußen, noch feierten alle, niemand war im Stall.

Sie waren allein, wahrscheinlich nur für wenige Minuten.

Er begrüßte sie nicht, er sah sie nicht an, sondern öffnete die Box, kam herein und schloss sie wieder. Auch die Stute begrüßte er nicht, benahm sich wie ein Fremder.

Langsam näherte er sich Lara und schob sie gegen das schwitzende und zitternde Pferd, das leise schnaufte. Er packte sie und drehte sie derb um. Laras Gesicht war jetzt ins Pferdefell gedrückt, sie bekam kaum Luft, aber roch den dampfenden, scharfen Schweiß des Tieres und atmete ihn tief ein. Nach diesem erdig süßlichen Geruch, stark und warm, wie Moschus mit Heu und einer Prise Zimt, war sie süchtig wie nach einer Droge.

Die Situation erregte sie maßlos, sie hatte sich kaum noch unter Kontrolle.

Er stand dicht hinter ihr, umschlang sie mit beiden Armen, öffnete ihre Hose mit geübtem Griff und zog sie herunter.

»Bleib!«, sagte er scharf, als würde er einem Hund einen Befehl erteilen.

Lara rührte sich nicht. Sie war verrückt nach ihm und hatte gar nicht bemerkt, dass er zurückgetreten war und ihr mit der Reitgerte in diesem Moment eins überzog.

Es gab ein zischendes Geräusch, bevor der Lederriemen ihr nacktes Fleisch traf.

Lara stöhnte laut auf. Vor Schmerz. Und vor Lust.

»Ja«, sagte sie, und es klang wie ein letzter Atemzug, »ja … tu es.«

Und dann vögelte ihr Mann sie von hinten, gewalttätig und rigoros, und drückte sie rhythmisch und brutal gegen den massigen, pulsierenden Leib des Tieres.

Lara krallte sich in die Mähne des Pferdes, spürte das nervöse Zucken seiner Muskeln, und es verschmolz mit dem, was mit ihrem Unterleib geschah, zu einem überwältigenden Gefühl.

Er spreizte ihre Arme, drückte sie mit Kraft gegen das Pferd, denn sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

Melodie schnaubte erneut, sie achteten gar nicht darauf.

Beide waren in einem ekstatischen Rausch und bemerkten daher nicht, dass die Stalltür leise geöffnet wurde.

Ein großer, schlanker Mann in einem grauen, gut sitzenden Anzug kam herein und blieb stehen. Er beobachtete die Szene, verharrte einen Moment, lächelte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, wahrscheinlich ohne es selbst zu merken.

Dann drehte er sich um und verließ den Stall ebenso lautlos, wie er gekommen war.

Es blieb still, als alles vorbei war. Weder Bastian noch Lara hatten geschrien.

Aber als Lara erschöpft und von ihm abgewandt gegen die Bretterwand der Box gelehnt mit geschlossenen Augen dastand, zog Bastian ihr erneut eins mit der Reitgerte über.

Sie schluchzte auf, drehte sich um und fiel ihm um den Hals.

»Ich hab dich so vermisst«, flüsterte sie.

»Zieh dich an«, erwiderte er knapp. »Sehen wir uns nachher bei der kleinen Feier im Club oder heute Abend auf Olivello?«

»Heute Abend auf Olivello«, sagte sie lächelnd und wischte sich mit dem Unterarm die Tränen aus dem schmalen, schönen Gesicht, zog sich die Hose hoch und sah ihm voller Stolz hinterher, als er den Stall verließ.

Er kam erst kurz vor Mitternacht, wie immer öffnete er so leise die Tür, dass sie ihn nicht kommen hörte, und wie immer zuckte sie zusammen, als er so plötzlich vor ihr stand.

»Es hat ein bisschen länger gedauert«, sagte er. »Tut mir leid.«

Sie nickte nur und fragte sich, ob er es während der Siegesfeier draußen zwischen den Olivenbäumen, in der Toilette oder wo auch immer noch mit einer anderen Frau getrieben hatte. Das hatte sie sich schon oft gefragt. Aber im Stall mit einer anderen – das würde wehtun.

Seit fünfzehn Jahren war Lara mit Bastian verheiratet. Er war nicht treu, natürlich nicht, davon war sie schon vor der Hochzeit ausgegangen, aber es waren aufregende fünfzehn Jahre gewesen, von denen sie keinen Tag missen wollte. Wenn Bastian fremdging, tat er es so elegant und unauffällig, dass sie nie etwas davon mitbekommen hatte. Und dafür war sie dankbar.

Sie entdeckte keine Restaurantquittungen über ein Dinner zu zweit, keine Utensilien fremder Frauen zwischen seiner Wäsche, keine Lippenstiftreste an seinem Kragen. All die Dinge, die betrogene Ehefrauen in Filmen fanden.

Es gab nichts, das auf Affären hindeutete, und daher war sie glücklich und vollauf zufrieden.

Ihr Leben war perfekt. Sie liebten sich und hatten tollen Sex. Besser konnte es nicht sein.

Bastian leitete eine Parfümeriekette, die gerade nach Frankreich, Italien und Spanien expandierte; sie war eine erfolgreiche und gefragte Anwältin, spezialisiert auf Strafrecht. Die Arbeit machte ihr Spaß, erfüllte sie, und sie hatte das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und gleichzeitig etwas bewegen und verändern zu können.

Sie mussten nicht auf jeden Cent gucken und konnten sich leisten, was sie sich leisten wollten. Ihr Palais in Potsdam war ein Traum aus Stuck, Parkett und lichtdurchfluteten Räumen, in denen man fast Proviant brauchte, um alle Zimmer zu durchwandern.

Polo war das extravagante Hobby Bastians, und wenn es zeitlich irgendwie möglich war, reiste er um die Welt, um an den wichtigsten Turnieren teilzunehmen. England, Frankreich, Italien, Argentinien, USA. Er war mit seinen einundfünfzig Jahren nicht mehr der Jüngste, aber einer der anerkanntesten Spieler weltweit.

Hier in Italien, nahe Ambra, gab es einen der renommiertesten Poloclubs Europas, und hier spielte Bastian ganz besonders gern, sodass sie oft in den toskanischen Bergen eine Ferienwohnung mieteten, wenn Bastian auf seinen Pferden den Stick schwang.

»Wie war es?«, fragte sie ihn lächelnd.

»Was?«

»Die Feier.«

»Wunderbar, aber nicht außergewöhnlich. Ich habe mit den Stalljungen und dem Team zusammengesessen, wir haben ein paar Bierchen getrunken – das war’s. Du hast nichts verpasst.«

3

»Mir geht das Ferienhaus auf die Nerven«, sagte Lara am nächsten Morgen beim Frühstück. »Alles ist abgezählt: vier Löffel, vier Messer, vier Gabeln, vier Gläser, vier Teller, vier Tassen und so weiter. Aber nur drei Eierbecher. Kein Toaster, keine Brotschneidemaschine, aber dafür zwei Käseraspeln und drei Pfannen ohne Deckel. Im Bad ein lumpiger Föhn und noch nicht mal ein Schminkspiegel … Ich mag nicht mehr, Bastian. Wir sind so oft hier, du spielst andauernd in Ambra. Lass uns in einem Hotel wohnen oder ein Haus kaufen.«

»Liebling, in einem Hotel sind wir nie ungestört, weder am Pool noch im Zimmer. Die Wände haben Ohren, das ist entsetzlich. Aber das hast du doch auch nicht ernst gemeint, oder?«

Lara grinste. »Nein, das hab ich nicht. Außerdem sind italienische Hotels ja auch gewöhnungsbedürftig. Weißt du noch, das Hotel in Rom? Fünf Sterne und dann diese Bruchbude? Seinem ärgsten Feind würde man nicht wünschen, dort eine Nacht verbringen zu müssen.«

Jetzt grinste auch Bastian. »Dann sag doch gleich, dass du ein Haus kaufen möchtest.«

»Ja. Stimmt. Das würde ich gern.«

»Wie kommst du denn auf die Idee?«

»Ich finde es wunderschön hier. Diese einsamen Landhäuser, der tolle Blick über die toskanischen Hügel, Weinberge und Olivenhaine – das ist einfach traumhaft. Und wie oft waren wir in den letzten Jahren hier?«

Bastian überlegte. »Wie viele Turniere hab ich hier gespielt? Keine Ahnung. Sechs pro Jahr, also vierundzwanzig bestimmt schon. Oder dreißig?«

»Egal. Auf jeden Fall oft genug. Und du merkst es ja gar nicht. Du bist den ganzen Tag im Stall und auf dem Poloplatz, aber ich hänge hier im Urlaub in so einem blöden, unpersönlichen Ferienhaus rum. Das nervt, Schatz. Echt. Und außerdem ist so ein Haus auch eine wunderbare Geldanlage. Und wenn wir nicht mehr hierherkommen wollen, verkaufen wir es eben wieder.«

Sie tunkte ihren Zeigefinger in den Honig und fuhr ihm damit über die Lippen. »Und wir hätten immer unsere Ruhe. Immer.«

Unwillkürlich begann er an ihrem Finger zu saugen. Dabei sah er ihr fest in die Augen. »Du brauchst mich nicht zu überzeugen, ich bin schon überredet. Die Idee ist nicht schlecht. Ja, warum eigentlich nicht? Wenn du dir so etwas wünschst? Ich dachte nur immer, Ferienhäuser sind dir ein Graus?«

»Fremde ja, eigene nicht. Das ist ein gewaltiger Unterschied.«

Bastian ging mit seinem Kaffee in der Hand hinaus auf die Terrasse. Lara folgte ihm.

»Warum lässt du nicht sowieso endlich deinen Job sausen, setzt dich auf eine toskanische Terrasse, guckst über die Welt und schreibst dein Buch über kriminelle Kinder?«, fragte er.

»Ob mir das mit dem Buch gelingt, weiß ich nicht, aber ich werde es mir überlegen. Reizvoll ist die Idee auf alle Fälle. Meinen Job gebe ich deswegen aber nicht auf.«

Bastian nickte zustimmend. »Na gut, dann sieh dich um, engagiere einen Makler und sondiere vor. Aber ich habe echt keine Lust, hier bei der Hitze in der Gegend rumzugurken und mir Immobilien anzugucken, die letztendlich dann doch nicht infrage kommen.«

Lara war begeistert. »Super. Ich bin sicher, dass ich für uns was Schönes finde.«

»Wenn du ein Haus gefunden hast, das dir gefällt, dann sehe ich es mir auch an. Einverstanden?«

»Va bene. Ich werd mal im Poloclub fragen, ob jemand was weiß.«

Lara war überrascht, wie einfach es gewesen war, Bastian von der Idee zu begeistern. Sie hatte gedacht, ihn viel länger überreden zu müssen.

Sie drückte ihm einen Kuss auf den Hals, ließ ihre Zunge kurz in seinem Ohr kreisen und ging zurück ins Haus.

4

Zwei Tage später, als sich Bastian nach dem Mittagsimbiss mit einer Zeitung in den Schatten einer Eiche am Pool zurückgezogen hatte und eingenickt war, fuhr Lara wie fast jeden Tag hinunter zum Clubhaus. Dort war eigentlich immer jemand, mit dem man reden und einen Kaffee trinken konnte.

»Ciao, Lara, wie geht’s dir?«, fragte Cinzia, die hinter dem Tresen in der Bar Gläser abtrocknete.

»Alles prima, danke. Und dir?«

»Auch gut. Aber du kennst mich ja, mir geht’s immer gut.« Cinzia grinste. Seit fünf Jahren arbeitete sie für den Poloclub, war zuständig für Getränke und kleine Snacks, kümmerte sich außerdem um die Mensch-und-Tier-Apotheke und versorgte kleinere Verletzungen während der Turniere oder des Trainings. Sie war eigentlich ausgebildete Krankenschwester aus Neapel, hatte vor fünf Jahren einen Urlaub in der Toskana gemacht, war im Club hängen geblieben und nie mehr in den Süden zurückgekehrt.

Lara war ein Grammatikfreak und hatte sich so intensiv mit der italienischen Sprache auseinandergesetzt, dass sie sich mittlerweile fließend und problemlos mit Cinzia unterhalten konnte.

»Ich hab gehört, ihr sucht in der Gegend ein Haus?«, fragte Cinzia.

»Ja, stimmt.« Lara hatte es gleich nach dem Gespräch mit Bastian Marzia erzählt, die auch Polo spielte, und was Marzia wusste, wusste offenbar nach einer halben Stunde der gesamte Club. Aber das war ja auch nicht das Schlechteste. »Weißt du, wir sind so oft hier, ich möchte nicht immer in anonymen Ferienhäusern rumhängen.«

»Ich hör mich mal um«, sagte Cinzia. »Es gibt ja so einiges, was zum Verkauf steht. Hast du schon einen Makler engagiert?«

»Ja, gestern. So ein Jüngelchen aus Florenz. Alberne Frisur, Lackschühchen, zu kurze Hose und fällt vor lauter Höflichkeit beim Gutentagsagen fast über seine eigenen Füße. Ob dieser Softie was zustande bringt, weiß ich nicht, aber mal sehen. Es ist ja auch nicht eilig.«

Cinzia nickte. »Ich erkundige mich mal. Gequatscht wird ja viel. Hier besonders. Was sucht ihr denn genau?«

»Was Kleines. Nicht so ’nen Palazzo für drei Großfamilien. Maximal fünf Zimmer, Küche, zwei Bäder. Terrasse und Pool. Mehr nicht. Das Grundstück muss nicht groß sein, aber eine einsame Lage mit tollem Blick sollte es haben. Die Aussicht ist mir das Wichtigste. Und ich will keine Nachbarn, die am frühen Morgen schon anfangen, ihre Motorsäge oder ihren Trecker anzuwerfen.«

»Verstehe. Aber das wird nicht einfach, meine Liebe, so was Kleines, Verschwiegenes, so was zum Verstecken gibt’s kaum. Hier findest du ja überall nur diese riesigen Anwesen – vierzig Zimmer für sechs Millionen sind wahrscheinlich kein Problem.«

Lara lachte. »Warten wir mal ab, ich bin da ganz optimistisch.«

»Wie viel wollt ihr denn ausgeben?«

»Fünfhunderttausend. Mehr auf gar keinen Fall. Mach mir mal eine Apfelschorle bitte.«

Cinzia riss die Augen auf, als hätte sie die Bestellung gar nicht gehört. »Du kennst doch das Weinberghaus unterhalb von Colombaio, oder?«

»Ja, von außen, aber ich war nie drin.«

»Das Ding ist im Grunde eine Ruine, da muss alles, aber auch alles gemacht werden. Keine Heizung, kein Wasser, kein Strom, kein Fundament, kein isoliertes Dach, sondern eins, aus dem bereits die Bäume wachsen, der Wind pfeift durch die Fenster, und die Türen sind bereits geklaut. Ganz übel. Wenig Land drumherum und ein Blick auf die Tabakfabrik. Der gesamte Schrotthaufen für fünfhunderttausend. Ist vor drei Monaten verkauft worden.«

»Ach …«, meinte Lara nun doch ein wenig desillusioniert, »das wusste ich ja gar nicht.«

»Tja, da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich, zumal das Weinberghaus auch nicht wirklich groß war. Mehr als deine gewünschten fünf Zimmer sicher nicht. Und dann kaufst du die Ruine für ’ne halbe Million und musst noch mal eine Million reinstecken, um das Ganze auszubauen und hübsch zu kriegen. Das fängt beim Brunnenbohren an und hört beim Straßenbauen auf. So sieht’s aus im Moment.«

Lara war fassungslos. »Das ist ja grausam. Bitte, lass die Apfelschorle und gib mir ein Glas Wein. Auf den Schreck.«

Cinzia grinste, goss den Wein ein und schob das Glas über den Tresen. »Lass mal, ich bin sicher, du findest was. Ein bisschen Glück braucht der Mensch. Aber so ist das gerade in der Toskana. Schlechte Zeiten für Käufer.«

»Woher weißt du das?«

»Meine Schwester sucht schon seit drei Jahren hier in meiner Nähe etwas Erschwingliches. Ohne Erfolg.«

Lara atmete tief aus und schwieg.

An einem kleinen Tisch am Fenster saß ein Mann im grauen Anzug, vor sich ein Viertel Chianti, und beobachtete Cinzia und Lara aufmerksam. Es war nicht schwer für ihn zu verstehen, was sie sagten.

Lara bemerkte ihn nicht.

Als sie zwanzig Minuten später die Bar verließ, sah der Fremde gedankenverloren aus dem Fenster, offenbar vollkommen versunken in die Schönheit der Landschaft.

5

Stundenlang fuhr er durch die Gegend. Das graue Jackett lag auf der Rückbank, die Hemdsärmel hatte er hochgekrempelt, die Klimaanlage summte leise.

Er suchte einsame Häuser. Es war leicht zu erkennen, welche bewohnt waren und welche nicht. Stand kein Auto vor der Tür, merkte er es sich und kam am späten Abend noch einmal wieder. Wenn der Parkplatz wieder verwaist war, fühlte er sich schon fast sicher.

Er kontrollierte Mülltonnen, sah durch Fenster, ob Blumen oder verderbliche Lebensmittel herumstanden, hielt Ausschau nach Katzen und Hunden, nach Gartenmöbeln und Sonnenschirmen. Und wenn er überzeugt war, dass das Haus zurzeit unbewohnt war, notierte er sich die Adresse.

Nur ein einziges Mal hatte sich eine Tür geöffnet, als er gerade in ein Fenster sah und die flache Hand gegen die Stirn hielt, um die Spiegelung zu unterdrücken.

»Buongiorno!«, hatte eine weibliche Stimme scharf gesagt. »Cerca qualcuno? Suchen Sie jemanden?«

»Ja!«, sagte er, richtete sich auf und lächelte die Frau an. »Oh, wie schön, dass Sie zu Hause sind, und Sie sprechen auch noch Deutsch! Ich habe es schon bei mehreren Häusern in der Umgebung probiert, aber da war überall niemand. Ich habe mich verfahren. Können Sie mir sagen, wie ich nach Monte San Savino komme?«

»Haben Sie denn kein Navi?«, fragte sie misstrauisch und blickte demonstrativ zu dem Wagen in der Auffahrt.

»Doch«, sagte er und lächelte immer noch, »aber das ist ein Mietwagen, und ich komme mit dem Gerät nicht klar. Es spricht nur Italienisch mit mir und weigert sich, mich dahin zu bringen, wohin ich möchte.«

Jetzt lächelte die Frau auch und erklärte ihm den Weg nach Monte San Savino.

Er bedankte sich, setzte sich ins Auto und fuhr davon.

Offensichtlich musste er noch vorsichtiger sein.

6

Noch zwei Tage bis zum Turnier, Bastian trainierte jeden Tag. Hin und wieder begleitete Lara ihn, sah dem Training zu, kümmerte sich um Melodie, die allmählich wieder zu Kräften kam, und trank bei Cinzia in der Bar einen Kaffee oder ein Glas Wein, bis Bastian fertig war.

»Und? Hast du schon ein Haus in Aussicht? Was hatte denn das Jüngelchen aus Florenz zu bieten?«

»Nichts. Gar nichts. Das, was er mir angeboten hat, war vollkommen indiskutabel. Er hat mir überhaupt nicht zugehört, als ich ihm erklärt hab, was ich suche. Den Typ können wir vergessen.«

Cinzia grinste. »Tja. Kann sein. Kann aber auch sein, dass er wirklich nichts hat. Jedenfalls nicht das, was du dir vorstellst. Fass mal ’nem nackten Mann in die Tasche.«

In diesem Moment trat ein Mann im grauen Anzug zu ihnen an den Tresen, schob sich auf einen Barhocker und sah Cinzia freundlich an. »Einen caffè corretto bitte«, sagte er auf Englisch.

Cinzia nickte und begann, den Kaffee zuzubereiten.

»Das hier ist ein ganz wundervoller Poloclub«, begann der Fremde und redete weiter in Englisch. »Das wusste ich ja gar nicht, obwohl ich die Toskana sehr gut kenne.«

Cinzia lächelte.

Lara hielt sich aus dem Gespräch raus und nippte an ihrem Wein.

»Ich wollte eigentlich in Monte San Savino einem Kunden eine hochwertige Immobilie zeigen, aber er hat mich versetzt. Es ist unglaublich, die Leute haben keinen Anstand mehr.«

Cinzia zuckte die Achseln und goss einen Schuss Grappa in den Espresso.

»Und da kam ich vor ein paar Tagen auf die Idee, mir hier mal diesen wunderschönen Poloclub anzusehen. Ich liebe Pferde, wissen Sie, und ich freue mich schon auf das Turnier!«

Cinzia war plötzlich aufmerksam geworden. Normalerweise schaltete sie auf Durchzug, wenn irgendein Gast an der Bar ihr langweilige Geschichten erzählte oder sich selbst vorstellte und in den höchsten Tönen lobte, aber »hochwertige Immobilie« war das Stichwort gewesen, das sie nicht überhört hatte.

»Sind Sie Makler?«, fragte sie jetzt auch auf Englisch und schob ihm die Espressotasse über den Tresen.

»Ja. Ich bin Chef einer großen Immobilienagentur, die sich hauptsächlich um toskanische Anwesen kümmert.«

»Dann schickt Sie vielleicht der Himmel, denn meine deutsche Freundin hier sucht in der Gegend was Schönes.« Cinzia wandte sich grinsend Lara zu, die den Fremden zurückhaltend, aber dennoch interessiert ansah.

»Lara! Das hier ist ein Immobilienmakler! Vielleicht kann er dir weiterhelfen?«

Lara lächelte unverbindlich. »Ja?«

Der Fremde rückte mit dem Barhocker näher an sie heran, reichte ihr die Hand und fragte: »Sie sind Deutsche?«

Lara nickte.

»Wunderbar. Dann darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Benjamin Faber. Ich habe mich auf toskanische Anwesen spezialisiert und unterhalte ein Büro in Siena und eins in München.«

»Oh, das hört sich gut an. Angenehm. Ich bin Lara Sennen.«

Lara musterte den Makler genauer. Er war schlank, hatte angegrautes, längeres blondes Haar und einen kaum merklichen, gestutzten Zweieinhalbtagebart. Seine Stimme war tief, er sprach langsam und ohne jeden Dialekt.

»Stimmt es, dass Sie hier in dieser Gegend ein Haus suchen? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Er zog aus seiner Jacketttasche eine Visitenkarte und schob sie ihr zu.

Lara las: »Benjamin Faber, Director, Real Estate, Luxury Tuscany villas«, eine Adresse in Siena, dann mehrere Telefonnummern und zwei unterschiedliche E-Mail-Adressen.

»Was suchen Sie denn genau?«, fragte er, beugte sich ein wenig vor und lächelte sie an.

Lara witterte ihre Chance und schilderte die Immobilie, die sie suchte, so detailliert wie möglich.

Faber hörte aufmerksam zu und nickte hin und wieder. Dann sagte er: »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen in den nächsten Tagen zwei Objekte zeigen, die vielleicht passen könnten.«

»Oh, das wäre toll. Ja, natürlich, sehr gern.«

Lara konnte es kaum glauben und hatte sofort Vertrauen zu diesem interessanten Mann.

Faber lächelte. »Dann würde ich vorschlagen, dass wir uns morgen um zehn in Ambra auf dem kleinen Parkplatz vor dem Albergo treffen, wenn es Ihnen recht ist. Sie können Ihr Auto stehen lassen, und wir fahren mit meinem Wagen zu den Objekten. Ich muss mein Portfolio mal durchsehen, vielleicht finde ich noch ein drittes Haus, das Ihnen gefallen könnte.«

»Super!« Lara war begeistert von der Aussicht auf zwei oder drei Besichtigungen. »Morgen um zehn passt mir ausgezeichnet.«

»Gut«. Er wandte sich an Cinzia. »Dann machen Sie mir bitte die Rechnung, die Getränke von Frau Sennen übernehme ich selbstverständlich auch.«

Faber bezahlte, stand auf und verbeugte sich leicht. »Dann darf ich mich verabschieden, wir sehen uns morgen.«

Lara nickte. »Vielen Dank. Bis morgen.«

Benjamin Faber drehte sich um und ging mit lockerem Schritt aus der Bar.

Lara sah ihm hinterher. »Du, ich sag dir, wenn ich Bastian nicht hätte … den Typ würde ich nicht von der Bettkante stoßen.«

Die beiden Frauen grinsten sich an.

Lara hatte die Visitenkarte eingesteckt und zeigte sie Bastian nach der gemeinsamen Rückfahrt ins Ferienhaus.

»Guck mal. Ich hab vorhin im Club durch Zufall einen deutschen Makler kennengelernt, der mir hier in der Gegend zwei, drei Häuser zeigen will, die eventuell für uns passen könnten. Morgen Vormittag. Willst du nicht doch mitkommen?«, fragte sie, während sie sich auf die Terrasse setzten. Der Pool glitzerte türkis im warmen Abendsonnenlicht.

»Nein. Wirklich nicht. Ich habe keine Lust, und ich kann auch gar nicht. Morgen Vormittag ist wieder Training. Aber ich drück dir und uns die Daumen, dass was Schönes dabei ist.«

»Schade«, sagte Lara. »Dann nehme ich das Auto?«

»Ja, tu das. Paolo kann mich abholen und auch wieder zurückbringen. Es wird bei dir ja nicht ewig dauern.«

»Nein. Vielleicht bis zwölf, eins … Ich treffe mich mit dem Makler vor dem Albergo in Ambra.«

Sie ging zum Pool, bückte sich und spielte mit den Fingern im Wasser. »Schön warm. Warst du heute schon drin?«

»Nein. Aber wenn du reingehst, komm ich mit.«

Lara lächelte und ging ins Haus.

Nur wenig später kam sie nackt zurück und ließ sich ins Wasser gleiten.

Anschließend schwamm Lara ihre Bahnen, sie konnte unheimlich ausdauernd sein, und Bastian langweilte sich schon beim Zusehen.

Er trocknete sich ab, ging ins Haus und setzte sich an den Computer. Dann googelte er »Benjamin Faber – Real Estate – Luxury Tuscany villas«, und tatsächlich: Unter dem Namen fand sich eine Immobilienfirma, die ihren Sitz in Siena und München hatte.

Bastian scrollte durch zig Angebote und Anwesen, die zum Verkauf standen. Er wurde ganz verrückt dabei, konnte nach einer Weile keins mehr vom anderen unterscheiden.

Es gab auch ein Bild von Benjamin Faber.

Er ging zurück auf die Terrasse.

»Du, ich hab diesen Makler im Internet gefunden!«, wollte er Lara gerade zurufen, als er sah, dass sie im Bademantel im Liegestuhl eingeschlafen war.

Sie sah so friedlich aus, und er weckte sie nicht.

7

Benjamin Faber wartete schon, als Lara auf dem Parkplatz vor dem Albergo hielt.

Sie stieg aus, schloss ihren Wagen ab, und Faber kam lächelnd auf sie zu. »Guten Morgen, Frau Sennen. Wie geht es Ihnen?«

»Gut. Danke.«

»Darf ich Sie noch auf einen Kaffee einladen?«

»Nein, ich würde sagen, wir fahren gleich los und trinken den Kaffee hinterher. Dann können wir uns über die Objekte unterhalten.«

Sie gingen zu seinem Wagen, einem Porsche Cayenne mit italienischem Kennzeichen.

Faber hielt ihr die Tür auf.

»Tolles Auto«, sagte Lara, als sie sich auf den Beifahrersitz setzte.

»Ja, aber leider nicht meins. Ich miete mir immer einen Wagen, wenn ich in der Toskana zu tun habe, denn auf die Dauer ist mir die Fahrerei von München nach Siena zu stressig. Und auch zu langweilig. Da fliege ich lieber.«

Er ließ den Motor an, und sie rollten vom Platz.

»Wo fahren wir hin?«, fragte sie ihn.

»Nach Palazzuolo.«

»Oh ja, das ist ja ganz in der Nähe, da war ich auch mal, aber es ist eine Weile her.«

»Nur zehn Minuten von hier. Wir fahren auch nicht direkt in den Ort. Das Haus liegt etwas außerhalb am Hang mit herrlichem Blick ins Tal. Es hat sechs Zimmer, zwei Magazinräume, Küche, zwei Bäder, eine sehr romantische Terrasse und einen Pool. Sehr schön, ein kleines Juwel, aber eben doch ein bisschen einsam. Der nächste Nachbar ist ungefähr zwei Kilometer entfernt, Palazzuolo vier.«

»Das macht nichts. Wir mögen es einsam. Trubel haben wir in Berlin genug.«

Faber nickte. »Das ist gut. Ich mag diese Alleinlagen in der Toskana auch am liebsten. Die Eigentümer sind zurzeit übrigens nicht da, aber ich habe einen Schlüssel.«

»Warum wollen die eigentlich verkaufen?«, fragte Lara.

»Aus Altersgründen. Das Reisen ist ihnen auf die Dauer zu anstrengend, und die Arbeit in Haus und Garten wächst ihnen allmählich auch über den Kopf. Außerdem hatte der Mann vor anderthalb Jahren einen Schlaganfall und hat sich nie wieder so ganz davon erholt. Denn wenn man krank ist und einsam wohnt, kann es schwierig werden.«

Lara nickte. »Das versteh ich.«

Eine Weile fuhren sie schweigend weiter. Lara genoss es, wie der schwere Wagen ruhig und sicher in den engen Kurven lag, Serpentine folgte auf Serpentine.

»Wird Ihnen schlecht?«, fragte Faber und sah sie von der Seite an.

»Nein, nein, überhaupt nicht. Kein Problem. Ich finde es sehr schön, mal kutschiert zu werden. Wenn mein Mann und ich unterwegs sind, fahre meist ich.«

»Ihr Mann spielt Polo?«

»Ja.«

»Sie auch?«

»Nein. Ich bin als junges Mädchen zweimal beim Reiten vom Pferd gefallen, und dann hab ich es gelassen.«

»Was machen Sie denn beruflich, wenn ich fragen darf?«

»Ich bin Anwältin.«

»Strafrecht?«

»Ja.«

»Oh!« Faber zog die Augenbrauen hoch. »Das ist ja interessant.«

Nur wenige Minuten später bog er von der Straße ab und in einen Schotterweg ein.

»Jetzt sind wir fast da.«

Er fuhr im Schritttempo weiter. Links lag ein Sonnenblumenfeld, das in voller Blüte stand, alle Köpfe waren der Sonne zugewandt.

Nach einer Kurve tauchte hinter einem Hügel versteckt das Haus auf. Es war aus Natursteinen in typisch toskanischer Art gebaut und von blühendem Oleander, Hortensien und Geranien umgeben.

Lara stieg aus und ging auf die Terrasse. Jasmin und Lavendel dufteten, sie stand stumm und berauscht von dem weiten herrlichen Blick ins Tal.

Genauso hatte sie es sich vorgestellt.

Dies war der Ort, von dem sie immer geträumt hatte.

Es war heiß. Die Sonne brannte.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mein Jackett ausziehe?«, fragte Faber hinter ihr.

»Aber nein! Warum sollte ich?«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen, sie konnte sich nicht losreißen von der Aussicht über die sanft schimmernden Hügel, die ihr scheinbar zu Füßen lagen.

Faber hängte das Jackett über einen Gartenstuhl. Dann löste er seine Krawatte und zog sie aus dem Hemdkragen.

Er trat zu ihr und stellte sich hinter sie.

Lara sah, spürte und ahnte nichts.

Blitzschnell warf er ihr die Krawatte um den Hals und zog zu.

Lara quietschte, röchelte, begriff überhaupt nicht, was los war, versuchte, mit ihren Händen die Krawatte zu lockern, was völlig unmöglich war, er machte einen Schritt zurück, zog sie nach hinten, sie verlor den Halt unter den Füßen, konnte sich noch weniger wehren, sank schließlich zu Boden, als ihre Luft zu Ende ging, strampelte, versuchte ihn mit den Händen abzuwehren, starrte jetzt erst ihrem Mörder ins Gesicht, als er über sie hinwegstieg, ungläubig, warum ihr dies an einem so herrlichen Sommertag in der Toskana geschah, konnte es nicht verstehen, nicht glauben, kämpfte und wütete ins Leere, krampfte, krümmte und rollte sich, hatte kaum noch Luft, erschlaffte, musste begreifen, dass sie es nicht schaffen, dass sie verlieren würde, streckte sich noch einmal im Todeskampf, sackte schließlich in sich zusammen und starb.

8

Er wartete ein paar Minuten. Dann zog er ihre Lider hoch, um zu sehen, ob sie auch wirklich tot war.

Du hattest schöne Augen, dachte er.

Als er sich ganz sicher war, dass sie nicht mehr lebte, zog er seine Krawatte unter ihrem Hals hervor, legte sie sich wieder um, band den Knoten sorgfältig und zupfte sie gerade.

Dann durchsuchte er ihre Handtasche: zwei Lesebrillen, Papiertaschentücher und ein Buch, die Autobiografie von Benvenuto Cellini, einem italienischen Bildhauer der Renaissance. Wahrscheinlich hatte sie sich in der Toskana schon jede Kirche, jedes Kloster und jeden Palazzo angesehen. Dazu noch einen Organizer. Er schlug das heutige Datum auf. Über ihr Treffen mit ihm war nichts eingetragen. Sehr gut. Außerdem zwei Kugelschreiber, ein Notizblock, eine Brieftasche mit Kredit- und Visitenkarten, darunter auch seine, die er an sich nahm, ein paar Fotos von Personen, die er nicht kannte, drei Restaurantquittungen und zweihundertfünfzig Euro in bar. Die Kreditkarten pfefferte er ins Unterholz, das Geld steckte er ein.

Dann sah er ihr iPhone. Wenn ihn nicht alles täuschte das neueste, das zurzeit auf dem Markt war.

Es war gesperrt. Er ging davon aus, dass es sich mithilfe eines Fingerabdrucks öffnen ließ, und drückte den rechten Zeigefinger der Toten auf das Display. Nichts geschah. Daraufhin probierte er es mit dem linken, und tatsächlich öffnete sich das Hauptmenü. Er lächelte triumphierend und sah nach, ob sie vielleicht dort ihr Treffen notiert hatte, aber auch dies war nicht der Fall. Danach schob er es sich in die Hosentasche. Sehr schön. Sollten sie ruhig erst einmal orten, dass Lara zum Flughafen gefahren war. Es konnte zumindest nicht schaden.

Ansonsten machte er keine Anstalten, irgendetwas zu verändern, ließ sie liegen, so wie sie hingefallen war. Betrachtete einen Moment die Leiche ohne jedes Mitleid, dann drehte er sich um und ging zu seinem Auto.

Noch einmal warf er einen Blick auf das Haus. Was für ein wunderschönes Anwesen. Es könnte ihm gefallen. Nur leider stand es nicht zum Verkauf.

Auch dieses Haus hatte unbewohnt gewirkt, als er durch die Gegend gefahren war und eine Immobilie für die Tat gesucht hatte. Es hatte morgens und abends kein Wagen vor der Tür gestanden, und er hatte durch die Fenster im Erdgeschoss gesehen und keine verräterischen Spuren entdeckt. In diesem Haus war alles penibel aufgeräumt, nichts lag herum, es standen keine Blumen im Raum, nirgends eine Schale mit Obst oder Zwiebeln und Knoblauch in einem Hängesieb am Fenster. Er entdeckte nirgends etwas Verderbliches, die Besitzer waren also nicht nur kurz zum Einkaufen gefahren, sondern im Moment einfach nicht da.

Er hatte das Haus ausgewählt, obwohl es ein Restrisiko gab, dass er überrascht wurde. Aber das schätzte er so klein ein, dass er es wagen konnte. Kleiner, als wenn er sie am helllichten Tag im Wald umgebracht hätte. Der Wald war öffentliches Gebiet. Dort gab es Pilzesucher, Spaziergänger, Waldarbeiter, Fahrradfahrer und auch ganz normalen Durchgangsverkehr, der sich von A nach B bewegte. Ein Privatgrundstück war dagegen tabu. Das betrat niemand leichtfertig.

Er hatte es sich gut überlegt. Nicht nur sein Opfer hatte sich auf der Terrasse des schönen Anwesens in Sicherheit gewiegt, sondern er sich auch.

Und es hatte ja auch problemlos funktioniert und war einfacher gewesen, als er gedacht hatte.

Nachdem er noch einmal innegehalten, sich umgesehen und in Gedanken alles kontrolliert hatte, programmierte er in seinem Navi die Annahmestelle für Mietwagen in Florenz und fuhr los.

Dass man ihn im Poloclub gesehen hatte, war ihm egal, der Name Benjamin Faber war ab jetzt Geschichte. Er würde ihn nie wieder benutzen und die fünfzig Visitenkarten, die er erst vor zwei Tagen in einem kleinen Fotoshop in Siena hatte drucken lassen, vernichten.

Es war ein herrlicher Tag. Keine Wolke zeigte sich, der Himmel schien so blau wie nirgends sonst.

Er hatte die Fenster heruntergelassen und das Radio laut aufgedreht. Eros Ramazotti sang »Un attimo di pace«, und er fühlte sich total entspannt.

Als an einer Ampel links neben ihm ein Lastwagen hielt, warf er einer spontanen Eingebung folgend Laras iPhone durchs Fenster auf die offene Ladefläche zwischen Seile, Kanister, Eimer und zwei alte Autoreifen. Sollten sie sich doch den Kopf zerbrechen, was Laras Handy dort zu suchen hatte, und den armen Maurer mit tausend Fragen löchern.

Er grinste breit. Es lief hervorragend.

Anderthalb Stunden später erreichte er Florenz und gab den Mietwagen zurück.

»Waren Sie zufrieden?«, fragte die freundliche Signora am Schalter.

»Ja, sehr.«

»Gab es irgendwelche Vorkommnisse?«

»Nein, keine. Es hat alles ausgezeichnet funktioniert.«

»Va bene.«

Er bezahlte mit seiner Kreditkarte, die Signora erledigte die Formalitäten, nahm die Autoschlüssel in Empfang und wünschte ihm eine gute Weiterreise.

Danach fuhr er mit dem Shuttlebus zum Flughafen und trödelte durch die Eingangshalle.

Er hatte noch anderthalb Stunden Zeit. Besah sich ausgiebig ein Ledergeschäft mit Handtaschen, Koffern, Reisetaschen, Westen und Jacken. Seine Frau war nach Handtaschen verrückt gewesen. Sie waren ihre Glücklichmacher, ganz egal, ob sie zwanzig oder vierhundert Euro gekostet hatten. Er hatte das nie ganz verstanden und es nur ein einziges Mal gewagt, ihr eine zu schenken. Die Tasche hatte ihr überhaupt nicht gefallen, und sie trug sie nie. So waren sie beide frustriert, und er tat es nie wieder.

Bei der Sicherheitskontrolle lächelte er dem Personal freundlich zu, legte ohne Aufforderung Jacke, Brieftasche, Ticket und Gürtel in die Plastikschale, hob im Ganzkörperscanner bereitwillig die Arme, zog seine Schuhe aus und wieder an und bewegte sich wie ein Geschäftsmann, der es gewohnt ist zu fliegen und alles Nötige beinah automatisch erledigt. Anschließend ging er zu seinem Gate, kaufte sich ein Panino mit Tomate und Mozzarella und eine kleine Flasche Wasser, setzte sich und aß und trank genüsslich und langsam.

Bis zum Boarding war noch eine Dreiviertelstunde Zeit. Er ging noch einmal zurück zu den Geschäften, kaufte sich einen Spiegel, setzte sich wieder und begann zu lesen.

Er war so vertieft in einen Artikel, dass er erst aufsah, als er arabische Wortfetzen hörte. Jedenfalls glaubte er, dass es Arabisch war. Ihm gegenüber nahmen ein bärtiger Mann und eine voll verschleierte Frau Platz.

Mehr als zwei ungeschminkte Augen waren von der Frau nicht zu sehen. War es überhaupt eine Frau? Er war sich nicht sicher. Ihre Füße waren unter dem langen Rock verschwunden, außerdem trug sie Handschuhe. Auch eine weibliche Figur konnte er unter dem dichten, faltenreichen Gewand nicht ausmachen.

Seine Hände wurden feucht. Hatte sich die Frau auch scannen lassen? Er konnte es sich nicht vorstellen. Vielleicht trug sie – oder er – einen Sprengstoffgürtel um den Bauch, und niemand ahnte etwas davon? Es war die perfekte Vermummung.

Je mehr er darüber nachdachte, umso übler wurde ihm und umso schneller schlug sein Herz. Sollte er überhaupt mitfliegen?

Er hatte Angst vor dieser Frau und diesem Mann. Oder vor den beiden Männern vor ihm. Bäche von Schweiß liefen ihm den Rücken hinunter. Es war ein Wahnsinn und vielleicht der blanke Selbstmord, unter diesen Umständen und zusammen mit diesen beiden Personen in ein Flugzeug zu steigen.

Er überlegte fieberhaft.

Seine Angstattacke wurde immer schlimmer.

Noch fünfzehn Minuten bis zum Boarding.

Aber wenn er jetzt seiner Angst nachgab und den Flughafen verließ, konnte er wahrscheinlich nie wieder fliegen. Und auch in keinen Zug steigen. Auf allen öffentlichen Plätzen, im Bus, in der Bahn, im Restaurant, im Kino, auf dem Markt – überall würde er vor Angst verrückt werden.

Dann wäre er nicht mehr lebensfähig.

Und seine Mission wäre zum Scheitern verurteilt.

In diesem Moment wurde am Nachbargate der Flug nach Lissabon aufgerufen, und das Paar stand auf, ging mit zig anderen durch die Ausweiskontrolle und zu dem Bus, der sie zum Flugzeug brachte.

Mit zitternden Händen schraubte er seine Wasserflasche auf und trank sie aus. Dann schloss er die Augen.

Es war alles gut, er konnte sich entspannen und fliegen.

Zurück nach Berlin.

9

Gegen fünfzehn Uhr begann Bastian Sennen sich zu wundern, dass seine Frau von der Besichtigungstour immer noch nicht zurück war. Es konnte doch nicht fünf Stunden dauern, sich zwei oder drei Häuser in der Umgebung anzugucken? Außerdem legten Makler Wert darauf, um Gottes willen nicht zu viel von ihrer kostbaren Zeit zu opfern, und hielten sich nicht zehn Minuten länger als erforderlich an einem Objekt auf.

Fünf Stunden?

Er rief sie auf ihrem Handy an, aber sie hob nicht ab.

Er schickte ihr eine SMS: »Bitte ruf mich an!«, aber es kam keine Antwort.

Normalerweise trank Bastian keinen Alkohol vor neunzehn Uhr, aber jetzt holte er sich ein Glas Wein. Daran merkte er, wie nervös er war.

Immer und immer wieder probierte er es auf ihrem Handy. Es klingelte endlos, aber sie ging nicht ran.

Vor Wut schlug er mit der Faust auf den Terrassentisch, weil er in dieser Situation noch nicht mal einen Wagen hatte, um zum Poloclub zu fahren. Er saß hier auf dem Berg und war vollkommen aufgeschmissen.

Eine halbe Stunde lief er ziellos durchs Haus. Von der Küche ins Wohnzimmer und zurück. Vom Wohnzimmer auf die Terrasse, von der Terrasse ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer auf die Terrasse, von der Terrasse ins Wohnzimmer und zurück in die Küche.

Und dann probierte er wieder, sie anzurufen.

»Pronto!«, schrie auf einmal eine tiefe, ohrenbetäubend laute und schon ältere Männerstimme.

Bastian war in diesem Moment so perplex, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.

»Pronto!«, schrie der offensichtlich Schwerhörige schon wieder.

»Chi parla?«, stotterte Bastian.

»Pronto!«, schrie die Stimme erneut.

Jetzt hatte sich Bastian gefangen. »Vorrei parlare con mia moglie, Lara, per favore!«, sagte Bastian jetzt auch sehr laut und deutlich ins Telefon.

»Chi?«

»Mia moglie, Lara Sennen!«

»Non c’è«, sagte die Stimme, und die Verbindung wurde unterbrochen.

Bastian brach der Schweiß aus. Wer war das denn? Nach einem distinguierten und auf freundliche Höflichkeit getrimmten Makler hatte sich das nicht angehört.

Er rief wieder an.

»Pronto!«, schrie der Mann.

»Come si chiama? Sono Bastian.«

»Pronto?«

»Cerco mia moglie Lara.«

Klack. Aufgelegt.

Nein. Der Makler war das sicher nicht gewesen. Er wäre mit großer Wahrscheinlichkeit auch niemals an Laras Handy gegangen. Was auch immer passiert war – dies war offensichtlich ein schwerhöriger Olivenbauer oder ein Arbeiter, der ihre Handtasche geklaut oder ihr Handy gefunden hatte und nichts damit anfangen konnte.

Und der Lara nicht kannte und nicht wusste, wo sie war.

Es war zum Verzweifeln.

Um siebzehn Uhr rief er im Poloclub an.

Cinzia hob ab.

»Cinzia, ich bin’s, Bastian. Sag mal, ist Lara im Club?«

»Nein, Bastian, gestern war sie hier, aber heute noch nicht.«

»Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte? Sie ist vor zehn mit dem Auto los, wollte um eins zu Hause sein, ist immer noch nicht da, und ich erreiche sie auch nicht über Handy.«

»Sie wollte sich doch heute mit einem Makler Immobilien angucken. Ein Typ, der gestern hier im Club war. Aber wo sie hinwollten, weiß ich nicht, und sie hat sich bisher hier auch noch nicht blicken lassen«, sagte Cinzia.

Bastians Knie wurden weich. »Sie war heute Morgen um zehn verabredet und ist noch nicht zurück«, wiederholte er. »Das finde ich sehr merkwürdig. Und ich kann sie auch nicht erreichen.«

»Ich würde noch ein bisschen warten«, sagte Cinzia leise.

»Bitte ruf mich sofort an, falls sie im Club auftaucht oder wenn ihr irgendetwas hört, ja?«

»Aber sicher doch. Mach dir keine Sorgen.«

»Doch«, sagte Bastian. »Die mach ich mir.«

Er schaltete Musik an, schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein und setzte sich an den Pool. Musik von Johann Sebastian Bach untermalte den orange-violetten Sonnenuntergang hinter den bewaldeten Hügeln, die allmählich nicht mehr grün, sondern schwarz erschienen und die Abenddämmerung einläuteten.

Normalerweise liebte er diese Musik – Bach war für ihn einer der größten Komponisten überhaupt –, jetzt konnte er sie nicht ertragen.

Er stürmte ins Haus, schaltete den iPod aus, zog ihn aus der Steckdose und schmiss ihn aufs Bett.

Eine maßlose Wut überkam ihn. Was dachte sie sich eigentlich dabei, sich nicht zu melden, wenn es später wurde, wenn sie aus irgendeinem Grunde nicht nach Hause kommen konnte, wenn weiß Gott was passiert war, es gab hunderttausend Gründe! Warum rief sie nicht zehn Sekunden an und sagte wenigstens einen Grund, damit seine Angst aufhörte, damit er sich beruhigen konnte? Das war einfach verantwortungslos, unverschämt und gemein. Es war respektlos, gedankenlos und dumm. Konnte sie sich nicht vorstellen, wie er sich fühlte?

Er saß auf der dunklen Terrasse, trank einen Liter Wein und schlief ein.

Als er wieder zu sich kam, wurde ihm klar, dass Lara weder eine gedankenlose Frau war, die sich nicht meldete, wenn ihr etwas dazwischengekommen war, noch eine verantwortungslose, gemeine oder respektlose Person, die sich nicht in seine Situation hineinversetzen konnte.

Und dumm war sie schon gar nicht, denn so eine Frau hätte er niemals geheiratet.

Ganz allmählich begriff er, dass etwas passiert sein musste.

Gegen Mitternacht war er vollkommen betrunken, suchte eine Telefonnummer der Carabinieri und fand keine. Auch im Internet nicht. Es gab vieles, das er im Internet nicht mehr fand, wenn er betrunken war.

Da erinnerte er sich ganz dunkel, dass am Kühlschrank eine Liste mit Notfallnummern klebte, die sicher die Besitzer des Ferienhauses dort angehängt hatten.

Er konnte kaum laufen, musste sich an den Möbeln festhalten, um zur Tür zu kommen, ohne lang hinzuschlagen, und schleppte sich in die Küche. Suchte seine Brille und las:

– Carabinieri

112

– Feuerwehr

115

– Schwerer medizinischer Notfall

118

– Carabinieri-Station Ambra

0576 239875611

Na also. Die allgemeine Carabinieri-Nummer würde er nicht anrufen. Da landete er sicher in Rom oder Mailand, und die interessierten sich höchstwahrscheinlich nicht für eine verschwundene Touristin in der Toskana, und dann auch noch mitten in der Nacht.

Aber die andere Nummer aus dem Ort würde er anrufen. Irgendjemand musste schließlich Nachtdienst haben.

Er wählte die Nummer und hoffte, dass die italienischen Vokabeln, die er brauchte, um sein Problem zu schildern, nicht bereits durch den Chianti hinweggespült worden waren.

10

Das Telefon klingelte auf Neris Nachttisch.

Gabriella stöhnte auf und zog sich die Decke über die Ohren.

Neri blinzelte in Richtung Radiowecker. 0 Uhr 17.

Das durfte ja wohl nicht wahr sein. Wer zum Teufel rief ihn jetzt an? Letzte Woche hatte Diego Bereitschaftsdienst gehabt, und niemand hatte seinen Nachtschlaf gestört. Kaum war er, Neri, dran, klingelte das verdammte Telefon. Er erinnerte sich dunkel, dass Gabriella und er um elf ins Bett gegangen waren. Demnach bin ich jetzt gerade in der Tiefschlafphase, überlegte Neri und bekam noch schlechtere Laune.

Das Telefon klingelte immer noch.

»Willst du nicht rangehen, verdammt!«, schimpfte Gabriella unter ihrer Decke, und Neri hob endlich ab.

»Commissario Donato Neri«, brachte er nur mit Mühe heraus, weil er plötzlich nicht mehr wusste, ob er Neri Donato oder Donato Neri hieß. Das alles lag nur an der Tiefschlafphase.

Hoffentlich hast du einen guten Grund, mich zu wecken, dachte er noch, als er schon eine völlig aufgelöste Männerstimme hörte: »Bitte, kommen Sie, es ist etwas ganz Fürchterliches passiert, meine Frau ist weg, sie wollte mittags zu Hause sein und ist immer noch nicht da.«

»Nun mal langsam«, sagte Neri und bekam augenblicklich Kopfschmerzen. »Das will noch gar nichts heißen.« Er stand auf und ging ins Wohnzimmer, um Gabriella nicht weiter zu stören. Der Anrufer war kein Italiener, so viel stand fest, er hatte einen starken ausländischen Akzent. Welchen, konnte Neri nicht sagen. »Wie alt ist Ihre Frau?«

Der Anrufer zögerte. »Fünfundvierzig?«, sagte er mit einem Fragezeichen in der Stimme und korrigierte sich sofort. »Nein. Sechsundvierzig.«

»Dann ist sie also kein Kind mehr.«

Bastian Sennen fühlte sich nicht ernst genommen und wurde wütend. »Wieso, Commissario?«

»Ich wollte Ihnen nur klarmachen, dass Ihre Frau erwachsen ist und tun und lassen kann, was sie will. Vielleicht hatte sie einfach keine Lust, nach Hause zu kommen. Vielleicht hatte sie auch einen guten Grund, nicht nach Hause zu kommen – der natürlich nichts mit Ihnen zu tun haben muss, verstehen Sie mich nicht falsch. Vielleicht ist sie bei einer Freundin versackt und hat vergessen, Sie anzurufen. Vielleicht hat sie ihr Handy verloren oder Ihre Nummer vergessen … Es gibt tausend harmlose Gründe, daher würde ich mir noch keine Sorgen machen. Warten wir noch ein, zwei Tage ab, und dann nehmen wir eine Vermisstenanzeige auf. Va bene?«

Bastian hatte nur die Hälfte von dem verstanden, was Neri gesagt hatte, aber genug, um zu begreifen, dass der Commissario erst in ein paar Tagen aktiv werden wollte, da es sich bei der Vermissten nicht um ein Kind handelte.

Was für ein Wahnsinn!

Was für ein Schwachsinn!

Er wusste, dass Lara etwas passiert sein musste, sonst hätte sie sich gemeldet. Er kannte seine Frau. Sie konnte nachvollziehen, wie es war, wenn man sich Sorgen machte, darum rief sie an und sagte Bescheid. Immer! Aber das verstand dieser dusslige Dorfpolizist anscheinend nicht. Oder er wollte es nicht verstehen, weil es mitten in der Nacht war.

»Bitte melden Sie sich morgen noch mal, falls Ihre Frau immer noch nicht aufgetaucht ist, ja?«, sagte Neri so freundlich, wie es ihm um diese Zeit möglich war. »Gute Nacht, Signor …? Ich habe Ihren Namen nicht verstanden?«

»Sennen. Esse, e, enne, enne, e, enne«, lallte Bastian.

»Wie?«

»Sennen. Esse, e, enne, enne, e, enne«, wiederholte Bastian mühsam.

»Schon klar.« Neri verdrehte die Augen. Der Mann war ja voll wie ein Chiantifass. »Versuchen Sie ein bisschen zu schlafen. Buonanotte.«

Er legte auf. In der Haut dieses Mannes wollte er jetzt nicht stecken, aber vielleicht gab es ja wirklich eine ganz harmlose Erklärung.

Himmel, kann ich reizend sein, wenn ich in der Tiefschlafphase bin, dachte er noch, grinste in sich hinein, kroch zu Gabriella ins Bett, schmiegte sich in ihren Nacken, strich ihr noch einmal übers Haar und schlief augenblicklich ein.

11

Deutschland

Wie jeden Morgen riss ihn das Geklapper und das Schlagen der Schlüssel gegen die metallene Zellentür aus dem Tiefschlaf.

Die Tür ging auf, wenn auch nur einen Spalt.

»Morgen!«, dröhnte die Stimme des JVA-Beamten.

»Fick disch«, brummelte Faruk mit verschlafener Stimme. Er schmiss sich noch einmal auf die andere Seite, und die Tür fiel wieder krachend ins Schloss. Das war zwar nicht die korrekte morgendliche Begrüßung, die einen JVA-Beamten erfreute, aber Faruk hatte zumindest Laut gegeben, und somit war klar, dass er noch lebte. Das reichte.

Es gab JVA-Beamte, die hatten hin und wieder ihre soziale Ader und weckten auf die sanfte Art. Wenn sie wussten, dass der Knacki nicht arbeiten gehen musste und theoretisch bis acht schlafen konnte, öffneten sie leise die Tür, stellten sich neben das Bett, guckten, ob er sich bewegte und atmete, und gingen wieder. Dann schlossen sie die Tür leise wieder zu und achteten sogar darauf, dass nicht zu viel Licht in die Zelle fiel.

Das war wie Weihnachten und die absolute Ausnahme.

Andere schalteten immer rigoros das Licht an, traten gegen das Bett, brüllten »Morgen!« und warteten darauf, dass der Gefangene auch »Guten Morgen« sagte. Kein Seufzen, kein Stöhnen, kein Grunzen, kein »Öhhm«. Es könnten ja die letzten Atemgeräusche sein, bevor er verendete.

Auch ein Winken mit der Hand reichte nicht. Es konnte ja ein Um-Hilfe-Winken sein.

Aber »fick disch« war okay.

Manchmal hatte Faruk Lust, Schluss zu machen und sich am Fenstergitter aufzuknüpfen oder sich mit seinem Einmalrasierer die Pulsadern aufzuschneiden, aber möglichst so, dass es eine große blutige Sauerei gab … Aber dann dachte er daran, dass er irgendwann wieder frei sein würde. Wenn er sich zusammenriss, vielleicht schon sehr bald. Und dann war es wesentlich witziger, einer schwangeren Schlampe den Bauch aufzuschlitzen oder eine Oma zu vögeln und ihr dabei die Luft abzudrücken, bis ihr die Augen aus den Höhlen quollen.

Faruk musste kichern, stand auf und stellte sich breitbeinig vor sein Zellenklo, um zu pinkeln. Dann ließ er den Wasserhahn in seinem kleinen Waschbecken, das vor Dreck starrte, laufen. Niemand kümmerte sich um die Zellen, verdammt. Es nervte ihn. Der Hausarbeiter war nur für die Flure, die Duschen und die Mülleimer zuständig. Hier in den Zellen mussten sie in ihrem eigenen Dreck ersticken.

Aber Putzen war in Faruks Augen Weiberkram.

Faruk merkte, dass ihm die Galle hochkam. Das erste Mal an diesem verfickten Tag.

Er gab drei Löffel Nesquik in seinen Kaffeebecher, füllte ihn mit Wasser auf und nahm einen tiefen Schluck. Gut. Es gab Knackis, die morgens nur lauwarmes Wasser tranken, weil ihre Knete noch nicht mal für Kaffee, geschweige denn Tabak reichte. Oder weil sie Schutzgeld zu zahlen hatten und ihnen irgendjemand jeden Dienstag Kaffee und Tabak abzockte.

In der Fensterbank bewahrte er sein Essen auf. Zehn Scheiben Brot gab es jeden Mittag, das musste für Abendbrot und Frühstück reichen, sechs Scheiben hatte er noch übrig. Das Brot war hart, klebrig und grau. Es schmeckte wie getoasteter Beton. Er hatte noch eine Scheibe Käse und einen Rest Margarine. Das reichte für drei Scheiben. Ein wahres Festmahl.

So schnell es ging, aß er die Brote und spülte sie mit Nesquik herunter. Zwanzig vor sieben. Verdammt. Zähne putzte er nur abends, wenn überhaupt, aber seine verfluchte Verdauung kam nie schnell genug in Gang. Er setzte sich aufs Klo, doch nichts passierte. Wahrscheinlich würde er während der Arbeit Bauchschmerzen bekommen und dann zwischen die Petersilienbeete scheißen. Und das würde wieder Ärger geben. Vor ein paar Wochen hatte ihn ein Russe krankenhausreif geschlagen, als er es gesehen hatte, weil Petersilie sein Lieblingskraut war.

Verflucht waren die Russen, die Araber, die Afrikaner.

Wo bin ich hier, dachte Faruk, im deutschen Knast oder im Asylantenheim?

Beinah hätte er gelacht, aber selbst das nutzte nichts, er konnte einfach nicht um diese Zeit und stand vom Klo wieder auf.

Draußen hörte er die ersten Türen schlagen. Die, die einen Job hatten, schlossen ihre Zellen ab, gingen runter und warteten an der Tür zum Hof.

Faruk machte noch schnell zehn Liegestütze und verließ dann auch seinen Haftraum.

Vor der Hoftür gab er um sieben seinen Schlüssel ab. Die Gefangenen schlossen während der Arbeit alle ihre Zellen zu, damit sie von den Mitgefangenen, die nicht zur Arbeit gehen konnten oder durften, nicht beklaut wurden. Nach der Arbeit holten sie sich ihren Schlüssel beim Pförtner wieder.

Die JVA-Beamten hatten ihrerseits natürlich auch einen Schlüssel, um Zellenkontrollen machen zu können, wenn die Gefangenen nicht da waren.

Faruk arbeitete in der Gärtnerei. Das war für ihn das Allerletzte. Den ganzen Tag in der dreckigen Erde wühlen und kleine Pflanzen hineinstecken. Da musste man schon schwul und bescheuert sein, um so eine Drecksarbeit zu mögen. Er konnte sie nicht ausstehen. Hätte lieber in der Küche Zwiebeln und Karotten geschnitten, Teller abgewaschen, Suppen gerührt, ganz egal. Da konnte er mit Messern hantieren – er fand Messer megageil – und den Fraß zusammenpanschen, den die anderen fressen mussten. Dort würde er sich wie der King fühlen, denn im Knast kam immer erst das Fressen, dann die Moral. Und er konnte auch in die Suppe rotzen, wenn ihm danach war.

In der Küche zu arbeiten war einfach das Größte, und darum hätte er das richtig gerne gemacht. Aber nicht jeden Tag in der nassen Erde wühlen mit Regenwürmern zwischen den Fingern, pfui Teufel. Sie wussten das und hatten ihn extra zu den Gärtnern gesteckt, die Schweine. Sie schikanierten die Knackis, wo sie nur konnten.

Vor der Tür zum Hof stand das ganze Pack, das zur Arbeit ging. Ungefähr zwanzig Leute. Insgesamt waren sie in dem Block fünfzig. Sechs Türken gab es darunter und sieben Deutsche. Die hatten’s nicht leicht. Hatten niemanden, der sie raushaute, hatten keine Gang. Wenn irgendein Mustafa beschloss, sie zu Brei zu verarbeiten und seine Kumpels zusammentrommelte, dann hatten sie schlechte Karten.

Und weiter hinten isoliert standen ein paar Russen. Sie redeten mit keinem, arbeiteten in der Tischlerei, die Maschinen konnte man sowieso nicht überbrüllen, und auch sonst waren die immer unter sich. Sie waren organisiert, hatten untereinander eine strenge Hierarchie, waren schweigsam und ordentlich.

Faruk hatte mal einen Blick in die Zelle von Dimitrij geworfen, der hier der Boss der Russen war, und er war fast blind geworden dabei. So blitzeblank war dort alles.

Wenn ich mal am offenen Herzen operiert werden müsste, dann bitte in Dimitrijs Zelle, dachte er sich. Die war klinisch sauber. Unter dem Spiegel stand nur eine russische Ikone mit einem gold glänzenden Christus, der mit dünnen, spinnenartigen Fingern auf ein offenes Buch deutete.

Todsterbenslangweilig, dachte Faruk, aber bitte schön.

Die Russen waren okay und nervten nicht. Wenn man sie in Ruhe ließ, hatte man keinen Stress.

Die anderen waren Araber oder Schwarzafrikaner.

Zum Teufel mit denen allen.

Er hatte keinen Bock, wollte nur noch schlafen. Auf die zwölf Euro, die er pro Tag dafür verdiente, dass er in der Erde herumwühlte, sich an Dornen stach, nasse Blätter und glitschige Schnecken wegräumte, stundenlang auf Knien hockte und sich wie ein Underdog fühlte, hätte er geschissen, aber wenn er sich zwei Tage verweigerte, wanderte der Fernseher für drei Wochen weg, und das war das Schlimmste überhaupt, das ihm passieren konnte. Ohne Fernseher war er kein Mensch, ohne Fernseher fiel ihm der Knast auf den Kopf, ohne Fernseher hatte er keinen Bezug zur Außenwelt mehr und fühlte sich in seiner Kack-Zelle wie lebendig begraben.

Also trottete er jeden Tag in seine ekelhaften Beete.

All das war unter seiner Würde.

Er hatte alles gestohlen, was nicht niet- und nagelfest war, Drogen verkauft und tja, verdammt, auch jemand umgebracht – das war seine Welt, und jetzt musste er im Dreck wühlen wie eine miese Sau. Aber bald würde er weitermachen, wo er aufgehört hatte. Bald.

Nur wusste das keiner. Und er war nicht so blöd, es irgendjemand auf die Nase zu binden. Und dieser dämlichen Psychoschlampe schon gar nicht.

Denn sie hatte schon einmal befürwortet, dass er vorzeitig entlassen wurde. Nur hatte er draußen leider Scheiße gebaut und war wieder hier gelandet.

Es war ein hartes Stück Arbeit, sie wieder weichzukochen, denn sie konnte tierisch wichtig für ihn sein, das war ihm schon klar.

Er hatte sich schon oft vorgestellt, diese Schlampe zu vögeln und sie dann von oben nach unten aufzuschlitzen, aber noch nie hatte er sich anmerken lassen, was er dachte.

Er war ja nicht doof.

12

Berlin, 2009

Da war Faruk elf.

Die Schule kotzte ihn an, er hatte schon lange den Anschluss verpasst. »Was willst du? Wovon redest du? Isch versteh kein Wort!«, hatte er an dem letzten Tag, an dem er in der Schule erschienen war, zu seiner Lehrerin gesagt.

Dann war er einfach nicht mehr hingegangen. Es machte für ihn keinen Sinn.

Er trieb sich in der Stadt herum. Mit Erkan, Mehmet und Osman. Denen ging es genauso. Scheiße alles. Schule war nicht die Lösung. Sie mussten andere Wege finden.

Es war einfach. Am Anfang waren sie vorsichtig, Mehmet redete, lenkte das Opfer ab, Osman klaute, Erkan nahm die Beute in Empfang, und Faruk bunkerte das Geraubte. Wer beim Klauen erwischt wurde, hatte nie etwas in der Hand und spielte die Unschuld vom Lande. Die Rollen wechselten, die vier waren ungeheuer erfolgreich und hatten jede Menge Geld. Sie fassten sich an den Kopf, wie sie so blöd gewesen sein konnten, jemals in die Schule gegangen zu sein.

Irgendwann wurde es ihnen zu kompliziert, und sie rissen ihren Opfern nur noch die Taschen aus der Hand. Verschwanden blitzschnell, drückten die Beute dem Komplizen an der nächsten Straßenecke in die Hand, und innerhalb von wenigen Minuten war die Tasche im Moloch der Stadt verschwunden.

Ein einziges Mal wurden sie erwischt, in Faruks Bude fand man drei Handtaschen von überfallenen Frauen. Er war ja erst elf, und den Stress mit der Polizei bekam sein Vater.

Tarik verprügelte Faruk mit einem abgebrochenen Stuhlbein, bis Faruk vor Schmerzen schrie und um Gnade winselte.

Dann schmiss Tarik den Stock durchs Zimmer und sagte zu seinem Sohn: »Hör auf zu heulen. Mädchen heulen, Männer nicht.«

Faruk stand mühsam auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und wollte in seinem Zimmer verschwinden.