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Sommer, Sonne, Liebe!
Eigentlich hat Hotelmanagerin Levke dem Leben auf Langeoog abgeschworen. Doch dann ruft ihre Schwester Silka, die gerade üblen Liebeskummer hat, sie auf die Insel zurück. Auch die Ehe von Levkes Eltern ist in der Krise, so dass der Ferienhof der Familie im Chaos versinkt. Levke, als Einzige glücklich Single, macht sich an die Arbeit, Ordnung zu schaffen. Aber da sind auch noch das alte Zerwürfnis mit ihrer Schwester und der attraktive Luca, der ihr merkwürdigerweise ständig über den Weg läuft …
Dünen, Strandhafer, Nordsee – die perfekte Lektüre zum Wegträumen.
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Seitenzahl: 287
Veröffentlichungsjahr: 2025
Levke hat Langeoog den Rücken gekehrt, nachdem sie vor Ewigkeiten ihre Schwester Silka dabei erwischt hat, wie sie Levkes damaligen Freund küsste. Seither besucht Levke ihre Familie nur noch sporadisch. Aber dann erhält sie einen verzweifelten Anruf von Silka, die Liebeskummer hat, und reist aus Zürich an. Auf der Insel angekommen, muss Levke jedoch feststellen, dass noch mehr im Argen liegt: Ihre Eltern sind zerstritten, und Großonkel Tjard verschwindet an sonnigen Abenden spurlos. Außerdem hat der Ferienhof der Familie kaum noch Gäste. Levke beschließt, Ordnung zu schaffen, müsste sich dafür allerdings erst einmal mit ihrer Schwester aussöhnen. Und dann ist da noch Luca, der ihr ständig über den Weg läuft und ihr Herz verräterisch zum Klopfen bringt – und irgendwie hat Langeoog ihr auch gefehlt …
Fenna Janssen wurde in Lübeck geboren und wuchs in Hamburg auf. Viele Jahre war sie als Journalistin für diverse Zeitungen tätig. Inzwischen arbeitet sie erfolgreich als Autorin und bleibt auch in ihren Büchern ihrer norddeutschen Heimat treu – widmet sich aber ebenso gern ihrer Wahlheimat Italien.
Im Aufbau Taschenbuch sind außerdem ihre Romane »Der kleine Inselladen«, »Das kleine Eiscafé«, »Die kleine Strandbar«, »Die kleine Inseltöpferei«, »Die kleine Inselschule« und »Ein Sommer in Rimini« lieferbar.
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Fenna Janssen
Der kleine Inselferienhof
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21. Kapitel
Anmerkung der Autorin
Impressum
Auf den ersten Blick sah alles genauso aus wie früher. Die schräg stehende Abendsonne beleuchtete das rote Backsteinhaus mit dem hölzernen Schmuckgiebel und dem schindelgedeckten Spitzdach. Durch ein offen stehendes Fenster wehten die himmelblauen Gardinen im Wind, die weiß gestrichene Haustür war nur angelehnt, damit die Gäste unbehelligt ein und aus gehen konnten. Auf der großen Terrasse standen mit bunten Kissen bestückte Korbsessel, und eine Hollywoodschaukel schwang sanft vor und zurück – ganz so, als sei eben erst jemand von ihr aufgestanden. Im Vorgarten rahmten Sanddornbüsche den kurzen sattgrünen Rasen ein, und der mit Ziegelsteinen gepflasterte Weg zum Haus lud Besucher und Passanten ein, näher zu treten.
Levke machte zwei Schritte durch die niedrige Gartenpforte und sog zum wiederholten Mal die frische, salzige Nordseeluft ein. Seit sie vor zehn Minuten am Bahnhof losgelaufen war, hatte sie jedoch schon so viele ausgiebige Atemzüge genommen, dass ihr nun schwindelig wurde. So viel puren Sauerstoff war sie nicht mehr gewöhnt. Normalerweise atmete sie Stadtluft mit einem großen Anteil an Abgasen ein.
Sie beugte sich nach vorn und stemmte die Hände in die Hüften. Das fehlte gerade noch, dass sie ohnmächtig wurde, wenn sie nach Jahren zum ersten Mal wieder nach Hause kam.
Nach Hause.
Wie das klang! Ungewohnt. Ja, sogar falsch. Sie war schon lange nicht mehr auf Langeoog zu Hause. Sie hatte sich ein neues Leben aufgebaut, fern der Insel, fern ihrer Familie und all dem Herzschmerz, der sie damals fortgetrieben hatte.
Als der Schwindelanfall vorüber war, richtete sie sich wieder auf. Jetzt bemerkte sie, dass der erste Eindruck sie getäuscht hatte. Haus und Vorgarten sahen keineswegs mehr aus wie früher. Vom Schmuckgiebel und den Fensterrahmen blätterte die weiße Farbe ab, und der Backstein wies an manchen Stellen golfballgroße Löcher auf, als hätte jemand auf die Wände geschossen. Die Korbmöbel und sogar die Hollywoodschaukel wirkten, als würden sie bei der kleinsten Belastung zusammenbrechen, und das Holzschild mit der geschwungenen Aufschrift »Ferienhof Dirks« hing schief in den Angeln. Die Sanddornbüsche mussten dringend zurückgeschnitten werden, und auf dem einst so gepflegten Rasen machte sich Strandhafer breit, dessen Samen von den nahen Dünen herangeweht worden waren.
Levke erinnerte sich daran, wie sie als Kind zusammen mit Silka diesem Übel zu Leibe gerückt war. Murrend, aber gehorsam, weil ihr Vater den Mädchen gesagt hatte, Haus und Garten würden von einer Düne verschluckt werden, wenn sie nicht den Anfängen trotzten. Irgendwann waren sie zu groß gewesen, um noch daran zu glauben, aber da hatte er sie schon mit Belohnungen gelockt. Einem Eis, einem Segelausflug am Wochenende oder einem Ausritt im Inselwäldchen.
Unwillkürlich stieß sie einen Seufzer aus. Es gab viele schöne Kindheitserinnerungen an Langeoog. Aber auch schlechte aus den Zeiten, in denen sie alt genug für Kummer und Verrat gewesen war, und seit Levke eine Stunde zuvor die Fähre verlassen hatte, stürzten sie auf sie ein wie ein Schwarm Möwen auf unvorsichtige Touristen, die ihre Fischbrötchen unter freiem Himmel verzehrten.
Vierzehn Jahre lang, seit Levke mit zwanzig erst nach Hamburg und dann nach Zürich gezogen war, hatte sie es geschafft, die Vergangenheit beiseitezudrängen. Nun wurde ihr mühsam aufgebauter Schutzwall mit einer Leichtigkeit niedergerissen, die ihr Angst machte.
Genau deshalb bin ich so weit weggegangen, schoss es ihr durch den Kopf. Damit ich nicht ständig an damals denken muss.
Es hatte ein paar wenige Stippvisiten gegeben, zu besonderen Anlässen wie der Silberhochzeit ihrer Eltern. Aber Levke war jeweils nur kurz geblieben, höchstens ein paar Stunden, und schnell wieder abgereist. Schnell genug, um den Erinnerungen keine Chance zu geben.
Diesmal war es anders. Diesmal würde sie länger bleiben. Zwei Wochen oder drei. Sie hatte es versprochen. Ihre Schwester zählte auf sie.
Ausgerechnet. Levke rieb sich die Schläfen.
Warum habe ich mich bloß breitschlagen lassen, überlegte sie. Ich hätte es besser wissen müssen. Das hier ist keine gute Idee. Ganz und gar nicht.
Sie blickte sich um. Noch war es nicht zu spät. Niemand hatte sie gesehen. Sie konnte kehrtmachen und genauso unauffällig verschwinden, wie sie angekommen war. Ganz bewusst hatte sie ihrer Familie verschwiegen, wann genau sie da sein würde. Sie hatte sich vor einer lautstarken Begrüßung am Hafen gefürchtet, vor Tränen, Vorwürfen und Umarmungen.
Levke stand unschlüssig auf dem schmalen Weg. Dann drehte sie sich um und rannte los. Es war, als hätten ihre Beine das Kommando übernommen, während der Kopf noch nicht ganz mitkam. Sie schaute nicht auf, als sie durch die Gartenpforte und dann in Richtung Ortszentrum stürmte.
Sie könnte sich irgendwo ein Zimmer mieten und dann entscheiden, was sie tun sollte – bleiben oder unbemerkt wieder abreisen.
Im nächsten Moment stolperte sie und landete an einer harten, wohlriechenden Männerbrust. Instinktiv registrierte sie, dass ihr Kopf dem Mann nur knapp bis zur Schulter reichte. Große Frauen achteten auf so etwas. Sie konnten sich ewig einreden, es sei überhaupt nichts dabei, wenn sie einen Kerl überragten, aber in Wahrheit riskierten sie einen Rundrücken, weil sie sich ständig klein machten.
»Hoppla!«, sagte der Mann mit einem warmen Timbre, das ihr durch und durch ging.
Schöne Stimme, muskulöser Brustkorb, hohe Gestalt, verlockender Duft.
Levke beschloss spontan, noch eine Weile so zu verharren. Fühlte sich gut an.
Es dauerte einen Augenblick, bis sie erkannt hatte, wonach er roch: Tannenwald und Meer. Was an sich ein Widerspruch war, aber zu ihm passte es irgendwie.
Dann fragte sie sich, ob der Rest von ihm ebenfalls attraktiv war. Rein theoretisch war es ja möglich, dass er schlechte Zähne, eine krumme Nase und kleine, kurzsichtige Augen hatte. Alles Merkmale, die Levke ebenfalls abschreckten. Glatzköpfe mochte sie auch nicht, was sie aber tunlichst für sich behielt, seit ihr eine Freundin mal vorgeworfen hatte, sie sei viel zu anspruchsvoll und werde deshalb nie den passenden Partner finden. Levke hatte darauf verzichtet, die Freundin daran zu erinnern, dass sie sehr wohl schon Beziehungen zu Männern gehabt hatte, die nicht ganz ihrem Ideal entsprachen. Dass diese nicht gehalten hatten, lag eher an ihrem grundsätzlichen Misstrauen in Liebesdingen.
Na gut, überlegte sie. Ein klitzekleines bisschen hatte es vielleicht auch an der Optik gelegen. Das mochte oberflächlich sein, aber man konnte schließlich niemanden zwingen, einen kleinen, kurzsichtigen Glatzkopf mit krummer Nase und schiefen Zähnen zu lieben, oder?
Es kam ihr vor, als läge sie schon seit einer kleinen Ewigkeit an dieser einladenden Männerbrust, aber in Wahrheit waren wohl nur ein paar Augenblicke vergangen, als der Mann sie sanft von sich schob und sagte: »Tut mir leid, aber Sie sind mir direkt in den Weg gesprungen.«
Gesprungen? Wirklich? Offenbar hatten es ihre Beine wirklich eilig gehabt.
»Mein Fehler«, murmelte sie.
Dann sah sie auf und zuckte erschrocken zusammen. Aber bevor sie verstehen konnte, was sie sah, hatte er sich schon abgewandt und war mit langen Schritten weitergegangen. Ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen schlug er einen Holzbohlenweg in die Dünen ein und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Levke starrte ihm noch hinterher, als er schon längst nicht mehr zu sehen war.
Nein, dachte sie. Hässlich ist er nicht. Ganz im Gegenteil. Aber er sieht aus wie …
Weiter kam sie nicht. Ein Teil von ihr weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu verfolgen.
Stattdessen trat sie nun doch wieder durch die Gartenpforte und ging auf ihr Elternhaus zu. Nach dem, was sie eben erlebt hatte, konnte sie so leicht nichts mehr erschrecken. Sie schaute auf den Weg vor sich, um nicht wieder zu stolpern, was aber auch ein Fehler war.
In der nächsten Sekunde wurde Levke umgeworfen und sah statt der roten Pflastersteine direkt in den blauen Himmel. Zum Glück war sie auf dem weichen Rasen gelandet. Einen verrückten Augenblick lang glaubte sie, der Mann sei zurückgekommen und habe sich auf sie geworfen. Aber die raue Zunge, die ihr übers Gesicht fuhr, war für einen Menschen definitiv zu lang. Außerdem nahm sie keinen Duft nach Tannenwald und Meer, sondern einen eher strengen Geruch nach feuchtem Hundefell wahr.
»Pfui!«, rief sie, und weil das nichts half, gleich noch einmal: »PFUI!«
Die Wirkung war erneut gleich null. Über ihr erhob sich ein riesiges Fellungeheuer, dessen Schnauze heiße Atemwolken ausstieß.
»Sorry!«, rief die Stimme einer jungen Frau, die Levke sofort erkannte. »Unser Theodor begrüßt die Gäste gern auf seine besondere Weise.«
Dann wurde das braun-weiß gefleckte Ungeheuer an seinem breiten Halsband von ihr hinuntergezerrt, und Levke setzte sich vorsichtig auf.
»Er ist noch jung und muss erzogen werden«, fuhr die Frau fort. »Als Wachhund taugt er schon mal gar nichts. Der würde auch jeden Einbrecher ablecken.«
Erst dann drehte sie sich zu Levke um und erstarrte. Ihre Hände krallten sich fester um das Halsband, und es schien, als müsste sie sich nun an dem überdimensionalen Hund festhalten.
»Levke. Du bist gekommen.«
»Habe ich doch versprochen, Silka«, erwiderte sie und rappelte sich auf. »Seit wann haben wir einer Bernhardiner?«
»Papa hat ihn angeschafft. Vorletztes Weihnachten. Da war er ein süßer Welpe, und der Züchter hat uns versichert, dass er eher klein bleiben würde.«
»Der ist aber größer als ein Kalb.«
»Tja, wir können uns nicht mehr von ihm trennen. Wir lieben unseren Theodor heiß und innig.«
»Theodor?«
»Nach Großonkel Tjards bestem Freund, der bei der Sturmflut zweiundsechzig umgekommen ist. Tjard behauptet, der Hund erinnere ihn an Theodor.«
Levke unterdrückte ein Grinsen. Es war einfacher, über den Bernhardiner zu reden als über die wirklich wichtigen Dinge, die sie hergebracht hatten.
»Hat jener Theodor auch Leute umgeworfen?«
»Nee, aber Tjard sagt, er habe ganz genauso große und treue Augen gehabt.«
»Aha.«
Theodor hechelte und winselte, aber Silka ließ ihn nicht los.
Unauffällig musterte Levke ihre Schwester. Sie hatten beide die weißblonden Haare, die strahlend hellblauen Augen und die hohe Statur ihres Vaters Ubbo geerbt. Silka war jedoch seit jeher die Kurvigere der beiden Schwestern gewesen, und Levke hatte sie insgeheim immer darum beneidet. Als sie selbst vierzehn und Silka zwölf gewesen war, hatte sie miterleben müssen, wie ihre kleine Schwester einen Busen bekam, während sie selbst sich eher wie eine Schiffsplanke fühlte. Zwanzig Jahre später hatte sich daran eigentlich nichts geändert.
Feine Fältchen in Silkas Gesicht erzählten von zu viel Sonne und Wind, oder auch von zu viel Kummer.
Levke hingegen war stolz auf ihre glatte Haut, die sie äußerst sorgfältig pflegte.
Sie kam wieder auf die Beine und klopfte sich gründlich ab. Allerdings prangten auf ihrer hellen Leinenhose zwei große Grasflecken, die so leicht wohl nicht rausgehen würden. Levke nahm sich vor, ab sofort nur noch Jeans zu tragen, um ihre teure Garderobe nicht zu ruinieren.
»Du siehst so elegant aus«, sagte Silke prompt. »Neben dir komme ich mir vor wie Fischers Fru.«
Levke zuckte nur mit den Schultern. Sie hatte ganz bestimmt nicht vor, ihre Schwester mit Freundlichkeiten zu überschütten.
Silka verstand offenbar und seufzte verhalten. »Ich bringe Theodor nach hinten in den umgebauten Schuppen. Dort leisten ihm Anna und Elsa Gesellschaft.«
Levke sah ihre Schwester fragend an. »Noch mehr Tiere, die ich nicht kenne?«
Silka grinste. »Das sind unsere schneeweißen Zwergponys. Die Kinder unserer Gäste lieben sie.«
»Aha.«
»Ich hole uns einen Eistee. Oder möchtest du vorher auspacken?«
»Nein, mein Gepäck wird noch geliefert.«
»Okay.«
Mit einem unsicheren Schulterzucken wandte sich Silka ab und zog den Riesenhund hinter sich her.
Levke ging zur Terrasse. Sie wollte sich schon auf die Hollywoodschaukel setzen, schreckte aber im letzten Moment davor zurück. Dort hatten sie früher zu dritt viele Stunden verbracht. Sie selbst, Silka und Jasper – der Junge, den sie so innig geliebt hatte. Dort war auch ihre Welt zusammengebrochen.
Lieber wählte sie einen der alten Korbsessel, klopfte sich die Kissen zurecht und ließ sich vorsichtig hineingleiten, unsicher, ob der sie auch wirklich tragen würde. Aber er schien stabiler zu sein, als er aussah, außerdem wog sie für ihre Körpergröße zu wenig.
Müde lehnte sie den Kopf an die Wand hinter ihr und ließ ihren Blick schweifen. Von hier aus sah sie ein paar andere Häuser, sehr viel Himmel und Wölkchen und natürlich den Wasserturm. Das achtzehn Meter hohe Wahrzeichen Langeoogs stand am Ende der Hauptstraße auf einer der Kaapdünen und dominierte hier im Westen der Insel das Panorama. Das achteckige weiß gestrichene Bauwerk mit dem roten Dach und einer wie aufgesetzt wirkenden Spitze mit Aussichtsfenstern war Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet worden und diente heute als Attraktion und Fotomotiv. Unzählige Besucher hatten schon die Treppe zur Plattform erklommen und den weiten Blick über die Dünen auf die Nordsee genossen. So grell schien der Turm in der Abendsonne, dass Levke unwillkürlich die Augen schloss.
Sie lächelte, als sie daran dachte, wie sie einmal mit Silka und Jasper nach oben gelaufen war und eine Flasche Wein geleert hatte. Damals waren sie noch Teenager gewesen, die ausprobieren wollten, was an Alkohol so Besonderes sein sollte. Ihr war davon schlecht geworden, Silka hatte albern gekichert und Jasper …
Schnell riss Levke die Augen wieder auf. Nicht an Jasper denken!
Lieber konzentrierte sie sich auf den heruntergekommenen Eindruck, den der Inselferienhof auf sie machte.
Seit wann ging es mit dem Familienbetrieb bergab?
Warum kümmerte sich niemand mehr um die Gartenpflege und die nötige Renovierung?
Solche Arbeiten wurden traditionell im Winter erledigt, wenn wenig oder gar kein Gästebetrieb herrschte. Jedes Jahr im Frühjahr erstrahlten Giebel und Fensterrahmen dann in neuem Anstrich, und die Löcher im Backstein, die von den starken Nordwestwinden geformt wurden, wenn diese Flugsand und Kieselsteine vor sich her trugen, waren ausgebessert. Der Rasen war frei von zugeflogenen Samen, und die Korbmöbel waren nach Monaten im Schuppen frisch aufpoliert worden.
Nichts davon war jetzt zu sehen, und dabei war bereits Anfang Juni.
Levke fragte sich, ob sie zufällig das erste Jahr erwischt hatte, in dem die Vernachlässigung sichtbar wurde.
Als Silka zurückkehrte und ein Tablett mit einer Karaffe Eistee und zwei Gläsern auf dem niedrigen Glastisch abstellte, fragte Levke sie danach.
Ihre Schwester ließ sich in den Korbsessel neben ihr sinken, bevor sie antwortete. »Letztes Jahr war es nicht ganz so übel. Da hat Papa das meiste noch geschafft, und ich habe geholfen, wo ich konnte. Aber ich habe ja auch noch einen Beruf, und seit Mama keine Lust mehr auf den Ferienhof hat, wird es immer schwieriger.«
Silka arbeitete als Krankengymnastin in einer Kurklinik und konnte ihren Eltern nur in der Freizeit zur Hand gehen.
Levke bekam ein schlechtes Gewissen, aber sie drängte es beiseite. Sie selbst fühlte sich nicht mehr verantwortlich für den Erfolg des Familienbetriebs. Sie hatte ihr eigene Karriere verfolgt, war mittlerweile Managerin eines Luxushotels in Zürich und arbeitete bis zu vierzehn Stunden am Tag.
Weil sie nichts sagte, fuhr Silka fort: »Ich habe dir ja schon erzählt, dass es schlecht aussieht. Und ist dir sonst gar nichts aufgefallen?«
Levke schenkte sich Eistee ein und trank einen Schluck, bevor sie zurückfragte: »Was soll mir den aufgefallen sein?«
»Die Stille und die Leere. Heute ist Freitag vor Pfingsten, und normalerweise ist unser Haus voll. Jetzt sind von zehn Zimmern gerade mal zwei belegt.« Die Räume für die Gäste waren im Erdgeschoss und in dem Anbau untergebracht, der nach hinten rausging. Im ersten Stock wohnte die Familie.
»Ich dachte, die Leute wären am Strand.«
Silka lächelte schmal. »Du warst wirklich lange nicht mehr hier. Es ist fast sieben. Um die Zeit herrscht nach einem langen Tag am Wasser normalerweise Hochbetrieb. Die Urlauber duschen, ziehen sich um, und machen sich auf den Weg zum Abendessen. Na ja, woher sollst du das auch noch wissen.«
»Ich war zuletzt zu Onkel Tjards Siebzigstem da«, entgegnete Levke und fragte sich gleichzeitig, warum sie sich vor ihrer Schwester rechtfertigte.
»Das war vor vier Jahren. Seitdem ist viel passiert.«
Vier Jahre?, überlegte sie erschrocken. So lange ist das schon her? Wo ist die Zeit geblieben?
Silka trank selbst von dem Eistee, bevor sie versöhnlich hinzufügte: »Du bist eben schwer beschäftigt in Zürich.«
Levke versuchte herauszuhören, ob da ein bissiger Ton mitschwang, doch ihre Schwester schien es nur ehrlich zu meinen.
»Na, jetzt bin ich ja da«, sagte sie, ebenfalls friedlich gestimmt. »Aber ich dachte, es geht um dich und deinen Liebeskummer und nicht um die Existenz unserer Familie.«
Silkas Blick verdüsterte sich. »Um beides.«
Dann blickte sie stumm in ihr Teeglas.
Levke wartete darauf, dass ihre Schwester weitersprach. Erst als sich das Schweigen in die Länge zog, schlug sie vor: »Vielleicht erzählst du mal von Anfang an.«
»Ist nicht so einfach. Noch im Winter habe ich gedacht, alles läuft so weit gut. Aber auf einmal ist Mama immer komischer geworden, und ich habe die Wahrheit über Emil herausgefunden.«
Emil, das wusste Levke bereits, war seit zwei Jahren Silkas Freund. Ein erfolgreicher Chefkoch aus Esens, wie es noch bis vor einigen Monaten geheißen hatte. Was sich jedoch als Lüge herausgestellt hatte.
Tja, dachte sie bitter. Da lernst du mal, wie es ist, wenn man von den liebsten Menschen hintergangen wird.
Sie erschrak über sich selbst. Normalerweise war sie nicht boshaft. Aber was Silka ihr damals angetan hatte, saß tief.
Levke atmete tief durch. Ihr war nicht klar, ob sie ihrer Schwester in der Sache helfen konnte oder ob sie das überhaupt wollte. Sie erinnerte sich daran, wie überrascht sie gewesen war, als Silka sie einen Monat zuvor in Zürich angerufen hatte. Seit Jahren schon beschränkte sich der Kontakt zwischen den Schwestern auf kurze Textnachrichten. Zu mehr war Levke nie bereit gewesen, aber Silkas Stimme hatte an jenem Tag so verzweifelt geklungen, dass sie nicht einfach wieder auflegen konnte.
Vor lauter Weinen hatte ihre Schwester kaum ein Wort herausbekommen, aber schließlich war es Levke gelungen, sich einen Reim auf das Gestammel zu machen. Demnach hatte Silka wirklich an die große Liebe geglaubt und bereits ihre Zukunft mit Emil geplant. Bis zu dem Tag, als sie ihn im Sternerestaurant in Esens besuchen wollte und ihn in einer Pommesbude fand. Der Mann hatte sie zwei Jahre lang belogen! Nun legte er ein volles Geständnis ab und erzählte ihr, dass er geschieden sei und drei Kinder habe. Die Alimente hätten ihn an den Rand des Ruins getrieben, und er hielt sich nur knapp über Wasser.
Silka sagte am Telefon, sie hätte ihn trotzdem geliebt, wenn er von Anfang ehrlich zu ihr gewesen wäre, und Levke glaubte ihr. Sie beide hatten sich nie viel aus dem Status eines Mannes gemacht. Ein gutes Herz und Ehrlichkeit waren ihnen wichtiger gewesen. Nun gut, und ein anziehendes Äußeres. Aber den Betrug, war Silka fortgefahren, könnte sie ihm niemals verzeihen.
Dazu hatte Levke lieber geschwiegen, war es ihr doch selbst nie gelungen, einen lang zurückliegenden Verrat zu vergeben.
Dann hatte Silka von ihren Eltern erzählt. Anscheinend wollte ihre Mutter Gunda den Ferienhof verkaufen und im Alter von sechzig Jahren ein neues Leben beginnen. Ohne Verpflichtungen, ohne ihren Mann Ubbo. Vielleicht würde sie auf Reisen gehen, möglicherweise hatte sie sich einen jungen Liebhaber zugelegt. So genau wusste das niemand. Ubbo war jedenfalls kurz vorm Durchdrehen. Der sonst so gemütsstarke Ostfriese, den nicht mal der schlimmste Sturm erschüttern konnte, wurde nervös und vernachlässigte seine Aufgaben. Mal vergaß er, dass er neu angekommene Gäste am Bahnhof abholen sollte, mal brach er allein zu einer Dünenwanderung auf und kehrte erst am nächsten Tag zurück.
Es war Silkas Bericht über ihren Vater gewesen, der Levke nicht lange hatte zögern lassen. Ubbo Dirks war stets ihr Leuchtturm in der Nacht gewesen. Das durfte sich nicht ändern. Und so hatte sie versprochen, sich Urlaub zu nehmen und in den Norden zu reisen. Dennoch hatte sie geglaubt, ihre Schwester hätte maßlos übertrieben, um sie nach Langeoog zu locken. Nun begriff sie, dass es allen Grund zur Sorge gab. Sie brauchte sich ja nur umzusehen.
»Wo sind unsere Eltern überhaupt?«, fragte sie nun.
»Mama ist bei Freunden, und Papa nimmt an einer Wattwanderung teil. Er behauptet, er muss mal den Kopf freikriegen.«
Levke ließ sich nichts anmerken, aber innerlich war sie enttäuscht. Andererseits – was hatte sie erwartet? Ein Empfangskomitee und eine Spruchband mit »Willkommen zu Hause«?
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie inzwischen eine Fremde in ihrem Elternhaus war.
Bevor sie Silka weiter nach ihren Eltern fragen konnte, erschien wie aus dem Nichts eine Gestalt in der offenen Haustür, blickte weder nach rechts noch links, marschierte schnurstracks über den Ziegelweg zum Fußgängerweg und verschwand.
»Da geht er wieder hin«, sagte Silka und seufzte. »Onkel Tjard ist übrigens Problem Nummer drei. Ich bin nicht dazu gekommen, dir auch von ihm zu erzählen.«
Levke, die es gewohnt war, viele Probleme gleichzeitig zu lösen, massierte sich nachdenklich die Schläfen. »Was ist denn mit ihm los? Er hat mich noch nicht mal begrüßt.«
»Mach dir nichts draus. Wenn der am Abend seinen Rappel kriegt, kennt er keinen mehr.«
»Seinen Rappel? Was meinst du damit?«
»Das geht jetzt schon seit zwei Monaten so. Den Tag über ist er normal, hilft Papa, trifft sich mit seinen Freunden oder holt am Hafen Pensionsgäste ab.« Silka seufzte gleich noch einmal. »Aber zu einer bestimmten Uhrzeit ist er zu Hause, und dann rennt er plötzlich los in die Dünen und taucht erst wieder auf, wenn es dunkel ist.«
»In die Dünen?«, hakte Levke nach. Unwillkürlich musste sie an den wohlriechenden Fremden denken. Der war auch in Richtung Dünen verschwunden. Vielleicht gab es da ja neuerdings einen Treffpunkt für Leute mit seltsamem Gebaren?
Silka nickte. »So sieht es jedenfalls aus. Ob er dann noch die Richtung ändert und ins Dorf läuft, weiß keiner so genau. Wir sind noch nicht dazu gekommen, ihm mal nachzugehen. Aber eines ist komisch daran.«
»Was denn?«
»Er macht das nur an sonnigen Tagen. Bei Schietwedder bleibt er hier.«
»Das ist wirklich ziemlich rätselhaft«, stimmte Levke ihr zu. »Aber nicht das dringendste Problem, richtig?«
»Stimmt«, erwiderte Silka. »Ich bin froh, dass du da bist. Hoffentlich kannst du mir helfen, Ordnung in das Chaos zu bringen.«
Levke ahnte, dass da eine Mammutaufgabe auf sie zukam, aber sie hob die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln.
»Fangen wir mal mit den Gästen an. Wieso hat es so wenige Buchungen gegeben?«
Silka zuckte ratlos mit den Schultern. »So genau weiß ich das nicht. Das gehört ja zu Mamas Aufgaben. Aber ich habe da einen Verdacht.«
»Und der wäre?«
Innerlich mahnte sie sich zur Geduld. Sie war daran gewöhnt, dass ihre Mitarbeiter ihr gewünschte Informationen im Sekundentakt lieferten. Die ruhigere Art der Insulaner war ihr fremd geworden.
»Ich habe mir vor Kurzem mal unsere Homepage angeschaut«, fuhr Silka fort. »Du wirst nicht glauben, was ich herausgefunden habe.«
Vor allem nicht, wenn du es mir nicht endlich sagst.
Levke fischte schon nach ihrem Smartphone in ihrer Handtasche, um selbst nachzusehen.
»Guck nicht so verbissen. Ich verrate es dir ja schon.«
Verbissen? Frechheit!
»Es hat eine ganze Reihe Anfragen gegeben, wie üblich so ab Februar. Aber Mama hat einfach nicht darauf geantwortet.«
Levke stellte sich vor, das »Bellevue« in Zürich würde Buchungen einfach ignorieren. Sie hätte sich längst nach einem neuen Job umsehen können. Vor mehr als zehn Jahren hatte sie dort klein angefangen. Nach ihrem Abschluss an der Hotelfachschule in Hamburg hatte sie die Wahl gehabt zwischen Frankfurt und Zürich. Die Schweiz war fast zweimal so weit weg von Langeoog wie Hessen, so hatte sie sich schnell entschieden und war wenige Tage darauf nach Süden gereist.
Sie hatte als einfaches Zimmermädchen in dem Fünfsternehotel direkt am Zürichsee angefangen, kaum etwas verdient und in einer Art Abstellkammer unter dem Dach gewohnt, wo jene Angestellte untergebracht wurden, die von außerhalb kamen. Die ersten Monate waren die Hölle gewesen. Zwölfstundenschichten, ein Arbeitstempo, bei dem kein normaler Mensch mitkommen konnte, und eine Erste Hausdame, die Levke offenbar auf dem Kieker hatte und sie beinahe täglich rügte. Mal hatte sie ein paar Flusen unter dem Bett übersehen, mal das Toilettenpapier nicht richtig gefaltet, mal vergessen, das Obst im Willkommenskorb auszutauschen.
Levke hatte die Zähne zusammengebissen, ihre ostfriesische Lässigkeit abgelegt und war zu einer Perfektionistin geworden, der nichts mehr vorgeworfen werden konnte.
Nach sechs Monaten war die Hausdame mit ihrer Arbeit zufrieden gewesen und hatte sich ein anderes Opfer gesucht. Als Levke zwei Jahre später selbst in diese Position aufgestiegen war, hatte sie sich dabei ertappt, dass sie genauso streng war wie ihre ehemalige Vorgesetzte. Es machte ihr nichts aus, dass sie von den Zimmermädchen nicht besonders gemocht wurde, und als sie innerhalb des Hotels Karriere machte, erwartete sie auch vom übrigen Personal Respekt und keine Zuneigung.
Schon seit Jahren schuftete sie nicht mehr körperlich, aber ihre Arbeitstage waren sogar noch länger geworden. Sie musste die Abteilungen im Hotel koordinieren, die Buchhaltung im Blick haben, die Zimmerpreise bestimmen, die Qualität von Service, Einrichtung und Mahlzeiten hoch halten, verschiedene Angebote des Hauses vermarkten und tausend kleine wie große Dinge mehr erledigen.
Manchmal, in einem seltenen ruhigen Augenblick, schaute sie aus dem Fenster ihres Büros auf den glitzernden See und fragte sich, ob dies nun für immer ihr Leben sein würde. Tage voller Stress und so gut wie kein Privatleben. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie eine der jüngsten Hotelmanagerinnen der Schweiz war, ja, womöglich ganz Europas; dass sie vielfach beneidet und von ihren Mitarbeitern mit Hochachtung behandelt wurde.
Meistens half das, aber es gab auch Momente der Ehrlichkeit, in denen sie sich eingestand, dass die beste Karriere nichts gegen die Einsamkeit ausrichten konnte. Nach Feierabend, wenn sie sich in ihre Suite im zweiten Stock zurückzog, dachte sie vielleicht noch stolz daran, dass die Zeiten der Dachkammer lang vorbei waren. Aber dann schloss sie die Tür, die Stille traf sie wie ein Schlag in den Magen, und sie sehnte sich plötzlich nach Langeoog, wo jeder jeden kannte, wo man keine fünf Schritte gehen konnte, ohne Freunde zu treffen, wo die Freizeit ausgefüllt war mit Strandpartys, Dünensingen oder nächtlichen Wanderungen.
An solchen Abenden nahm sie dann eine Schlaftablette und ging zu Bett, damit sie bloß nicht länger grübeln musste.
»Ist was mit dem Tisch?«, fragte Silka in ihre Gedanken hinein. »Du starrst schon volle fünf Minuten darauf.«
Levke nahm ein Papiertuch aus ihrer Handtasche und rieb über die Glasplatte. »Diese Wasserränder gehen nur schwer raus, wenn man sie nicht gleich entfernt. Du solltest Untersetzer benutzen.«
Silka hob die Augenbrauen und brach dann in schallendes Gelächter aus.
»Was ist daran so lustig?«
»Du …« Silka gluckste und holte Luft, bevor sie weitersprechen konnte. »Du warst früher definitiv lockerer drauf.«
»Ich bin immer noch locker, aber in meinem Haus achten wir auf den perfekten Eindruck.«
»Dann solltest du lieber nicht unser Haus betreten«, sagte Silka und kämpfte immer noch mit ihrem Lachanfall. »Da gibt es mehr als bloß ein paar Wasserränder.«
Levke wunderte sich. Der Ferienhof Dirks war stets für seine Sauberkeit gelobt worden. Ihre Mutter war stolz darauf gewesen, jeden Tag aufs Neue den Kampf gegen den Sand zu gewinnen, der von Gästen und Windstößen unaufhaltsam ins Innere getragen wurde.
»Aber …«, setzte sie an. Dann verstand sie. »Mama putzt nicht mehr?«
»So gut wie gar nicht«, erklärte Silka und wurde schlagartig wieder ernst. »Im Frühstückszimmer bildet sich schon eine Wanderdüne.«
»Du übertreibst.«
Silka schüttelte den Kopf. »Nur ein bisschen. Außerdem herrscht in den Zimmern ein großes Durcheinander. Die Bettwäsche passt nicht mehr zusammen, Handtücher werden einfach auf dem Boden liegen gelassen, wenn die Gäste sie nicht wegräumen, und gewischt wurde auch schon lang nicht mehr.«
Levke nahm nun doch ihr Smartphone zur Hand und begann, eine Liste einzutippen. Sie ahnte schon, hier kam sie nur mit perfekter Organisation weiter.
»Was machst du da?«, wollte Silka wissen.
Levke sah kurz hoch. »Ich notiere, was am dringendsten erledigt werden muss.«
»Und das wäre?«
»Aufräumen, putzen, Buchungen reinholen. Die Einzelheiten füge ich hinzu, wenn ich einen Rundgang durchs Haus gemacht habe.«
Besonders eilig hatte sie es damit nicht. Wenn Levke ehrlich war, dann war sie absolut urlaubsreif. Sie brauchte viel Schlaf, lange Spaziergänge und Mamas deftige Hausmannskost. Auf der Herfahrt hatte sie von jungen Matjes in Sahnesoße mit Pellkartoffeln, von Krabbenbrötchen und einer großen Friesentorte geträumt. Nun ahnte sie, dass ihr Aufenthalt hier sich definitiv anders gestalten würde. Und wahrscheinlich stand ihre Mutter auch nicht mehr gern am Herd.
»Und was ist mit meinem gebrochenen Herzen?«, fragte Silka.
»Das hat erst mal keine Priorität.«
Silka sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Solange ich so traurig bin, kann ich dir aber keine große Hilfe sein.«
»Möglich, aber was soll ich tun? Deinen Emil an den Ohren durchs Wattenmeer herschleifen und ihn zwingen, dich zu lieben und immer ehrlich zu sein?«
»Keine schlechte Idee«, erwiderte Silka trotzig.
»Komm schon.«
Levke dachte nach, und fügte dann hinzu: »Außerdem sind seine Gefühle für dich kein Problem, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Das stimmt schon«, gab Silka zu. »Er liebt mich wirklich von ganzem Herzen. Aber davon abgesehen …« Sie ließ den Rest des Satzes ungesagt.
Levke stellte sich vor, wie es wäre, von einem Mann innig geliebt zu werden. Erschrocken bemerkte sie, dass ihr diese Erfahrung im Leben fehlte. Es hatte Zuneigung gegeben, Leidenschaft und Harmonie – aber nicht dieses einzigartige Gefühl, für einen anderen Menschen der Mittelpunkt des Universums zu sein.
Eine plötzliche Traurigkeit breitete sich in ihr aus, und sie musste sich zusammenreißen, bevor sie weitersprechen konnte. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf Silka.
»Ich weiß nicht, wie ich dir da helfen soll.«
»Vielleicht willst du es ja gar nicht. Wegen damals.«
Levke musste schlucken. Ganz unrecht hatte ihre Schwester nicht. Sie sah wirklich nicht ein, warum sie sich deren Liebeskummer zu Herzen nehmen sollte. Damals hatte Silka sich ja auch nicht um Levkes Gefühle gekümmert.
Das lässt sich nicht vergleichen, dachte sie beinahe gegen ihren Willen. Damals waren wir beide noch so jung.
Sie räusperte sich. »Ich schlage vor, dass wir uns erst einmal um den Ferienhof kümmern. Privates muss warten. Manchmal reicht es auch schon, ein wenig Zeit verstreichen zu lassen. In ein paar Wochen wirst du die Dinge anders sehen.«
»Und wie?«, fragte Silka hoffnungsvoll.
»Na ja, du könntest deinem Emil verzeihen …«
»Niemals!«
»Oder du könnest feststellen, dass es sich als Single auch prima leben lässt. Schau mich an.«
Silka tat es. »Du siehst alles andere als glücklich aus.«
Das saß.
»Rede keinen Unsinn. Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben.«
Silkas Blick war erschreckend ungläubig, aber sie sagte nichts mehr.
Levke redete schnell von etwas anderem. »Wie sieht es mit unserem Auftritt bei Social Media aus? Facebook, Instagram, TikTok? Wer kümmert sich darum?«
»Niemand«, sagte Silka. »Wir haben unsere Homepage und damit basta.«
»O Gott! Das ist vorsintflutlich. Wie sollen die Leute denn da auf uns aufmerksam werden?«
»So wie immer. Wir haben ja in erster Linie Stammgäste, die jedes Jahr wiederkommen. Papa sagt, da brauchen wir dieses ganze moderne Zeug nicht. Die Homepage ist ihm schon zu viel.«
»Typisch Papa. Der hatte schon immer vor Neuerungen Angst wie ein Spökenkieker vor mondhellen Nächten.«
Überrascht rieb sie sich die Stirn. Von Spuksehern hatte sie seit ungefähr fünfzehn Jahren nicht mehr gesprochen. Wollte man alten Geschichten glauben, so waren das Leute gewesen, die nicht nur schlimme Ereignisse voraussagen, sondern auch Verstorbene drei Nächte nach ihrem Ableben sehen konnten. Erschienen diese schneeweiß, so waren sie Engel, waren sie aber schwarz, dann waren sie nicht selig geworden. Ihr Großonkel hatte ihr und ihrer Schwester früher solche Legenden erzählt, und sie hatten halb kichernd, halb vor Angst bibbernd in ihren Betten gelegen, bis ihre Mutter eingeschritten war.
»Stimmt«, sagte Silka, die an ihrer Bemerkung offensichtlich nichts Außergewöhnliches fand. »Und das ist bei Papa mit den Jahren noch schlimmer geworden. Vielleicht ist Mama deshalb so von ihm genervt. Sie will Veränderung, während er möchte, dass alles so bleibt, wie es ist.«
Levke stand von ihrem Sessel auf. »Lass uns reingehen, ich will mir mal ein Bild von der Lage machen. Und dann bringen wir das Haus auf Vordermann und planen unseren Social-Media-Auftritt. Du wirst schon sehen, zur Hochsaison sind wir wieder voll ausgebucht.«
»Bleibst du denn so lange?«, fragte Silka.
»Das eher nicht. Ich kann höchstens drei Wochen Urlaub nehmen. Aber ich kann euch helfen, das Ruder herumzureißen.«
Sie musste grinsen. Anscheinend schlich sich die Seemannssprache schon in ihren Wortschatz ein, nachdem sie kaum eine Stunde auf Langeoog war.
Silka erhob sich ebenfalls, und sie wollten schon hineingehen, als eine kleine weißhaarige Frau durch den Vorgarten auf sie zustürmte.
»Wo ist der verrückte Tjard?«
»Nicht da«, antwortete Silka.
»Verdammt! Dann richte ihm aus, er soll damit aufhören!«, rief sie und baute sich drohend vor den Schwestern auf. »Sonst werde ich ihn in kleine Stücke hacken und an die Fische verfüttern!«