Der kleine Tod - Madeleine Giese - E-Book

Der kleine Tod E-Book

Madeleine Giese

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Beschreibung

Eine neblige Novembernacht in Saarbrücken. Vier junge Leute brechen in das Museum ein und stehlen vier wertvolle Bilder. Zufällig lassen sie noch ein älteres, unsigniertes Bild mitgehen. Es zeigt einen kleinen Jungen und trägt den Titel »Der kleine Tod«. Was die Einbrecher nicht wissen: Angeblich liegt ein Fluch auf dem Bild – jedem, der es zu lange betrachtet, soll es den Tod bringen. Wenig später ist einer der Einbrecher tot, und die Restauratorin des Museums, die um den Fluch weiß, hat eine Spur, die sie der Polizei nicht verrät. Als die Ermittler Büchner und Boger eingreifen, hat schon ein dramatischer Wettlauf um das mysteriöse Bild begonnen ...

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Über Madeleine Giese

Madeleine Giese hat darstellende Kunst studiert und wirkte u. a. an den Bühnen von Saarbrücken, Bamberg und Regensburg. Sie hat bereits mehrere Kriminalromane veröffentlicht und lebt in Kaiserslautern. Als Aufbau Taschenbuch ist von ihr der Kriminalroman »Der kleine Tod« erschienen.

Informationen zum Buch

Eine neblige Novembernacht in Saarbrücken. Vier junge Leute brechen in das Museum ein und stehlen vier wertvolle Bilder. Zufällig lassen sie noch ein älteres, unsigniertes Bild mitgehen. Es zeigt einen kleinen Jungen und trägt den Titel »Der kleine Tod«. Was die Einbrecher nicht wissen: Angeblich liegt ein Fluch auf dem Bild – jedem, der es zu lange betrachtet, soll es den Tod bringen. Wenig später ist einer der Einbrecher tot, und die Restauratorin des Museums, die um den Fluch weiß, hat eine Spur, die sie der Polizei nicht verrät. Als die Ermittler Büchner und Boger eingreifen, hat schon ein dramatischer Wettlauf um das mysteriöse Bild begonnen.

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Madeleine Giese

Der kleine Tod

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Madeleine Giese

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Nachwort

Danksagung

Impressum

01.

Ganz normal gehen, nicht rennen, nicht schlendern. Wer schlendert schon nachts um drei bei dem Mistwetter? Unauffällig. Vor allem nicht rennen.

Seine Füße hörten die Stimme im Kopf, versuchten zu gehorchen. Unbeholfen stolperten sie vorwärts, über den nassen Asphalt, die glitschigen Blätter.

Im Nachtwind lauerte Frost. Wütend rüttelte er an den Bäumen rechts und links der Straße, fegte über die freie Rasenfläche vor dem Museum, jagte Blätter und kleine Zweige gegen die hochmütigen, stuckverzierten Häuserfassaden und fuhr ihnen in die Kragen.

Sebastian fröstelte, versuchte tiefer in seine Fleecejacke zu kriechen.

Wilhelmina, neben ihm, starrte einfach nur geradeaus. Sie würde ihm den Kopf abreißen, wenn sie wüsste, dass er sie heimlich Wilhelmina nannte. Willi, so wollte sie genannt werden. Aber er fand, sie sah manchmal einfach wie Wilhelmina aus. Jetzt zum Beispiel. Die Hände tief in den Taschen ihrer grünen Jacke, das blonde Haar unter der Pudelmütze. Er versuchte, im Gleichschritt mit ihr zu gehen.

Bewegt euch unauffällig! Das hatte Wolf tausend Mal gesagt. Sebastian schnaubte. Unauffällig! Er fühlte sich so unauffällig wie die Maus, die sich neulich in die Gaststube verirrt hatte. Mitten in eine Damengesellschaft. Vom Gekreische alarmiert, waren Willi und er hochgerannt. Für die Damen war es ein Witz. Immer wenn die Maus einen Weg zwischen ihren Beinen suchte, trampelten sie und johlten. Irgendwann raste die Maus nur noch im Kreis – bis sie tot umfiel. Herzinfarkt, hatte Armin gemeint. Er hatte nie gewusst, dass Mäuse einen Herzinfarkt kriegen können. Menschen schon, aber Mäuse?

Sein Puls raste im Hals, hart und unregelmäßig. Wir sind auf dem Weg nach Hause. Kein Drama, wenn uns jemand begegnet.

Sie waren allein auf der Straße. Die kalte Oktobernacht hatte alle zufälligen Passanten längst nach Hause getrieben. Oder?

Vorsichtig lugte Sebastian die Hausfassaden hoch. Was, wenn jemand am Fenster stand? Schlaflos auf die dunkle Straße glotzte? Sie beobachtete? Wenn sich plötzlich ein Fenster öffnete? Eine Stimme nach unten schrie? Hinter anderen Fenstern Licht anging? Nicht rennen!

»Alles okay«, murmelte Willi neben ihm. Sofort wurde er ruhiger. Wenn Willi okay sagte, war es okay. Wie in der Küche. Willi wusste, was sie tat. Die Fenster blieben dunkel.

Sie waren am Museum vorbei.

Vor ihnen überquerten Wolf und Armin die Straße.

Im Gleichschritt mit Willi folgte er den beiden. Er zwang sich, nicht über die Schulter zu spähen, nicht zurückzuschauen.

»Auf dem Weg nach Hause. Ganz normal«, hallte es in seinem Kopf.

Er bog mit den anderen um die Ecke, hielt die Luft an. Rechts neben ihnen war nur noch die graue Wand des Museums, links die Wiesen, die zur Saar führten. Tief atmete er durch. Sie waren in Sicherheit. Nachts um drei trieb sich hier niemand rum. Bei dem Wetter war sogar der Schwulenstrich hinter dem Theater ausgestorben.

Ein Schrei zerriss die Nacht, fuhr ihm in die Glieder. Nicht rennen!

»Ein Käuzchen«, stieß Willi zwischen geschlossenen Zähnen vor. Wenn ein Käuzchen schreit, stirbt ein Mensch, hatte seine Oma immer gesagt. Verdammt, warum musste ihm nur immer so ein Mist einfallen? Bärbels Vater hatte recht. Er war eine Memme, ein Idiot.

Der Gedanke an seinen Schwiegervater in spe half. Er würde es dem Scheißkerl zeigen. Bärbel und er würden eine eigene Wohnung haben. Einen neuen Kinderwagen für seinen Sohn. Sogar eine Einbauküche, wenn Bärbel wollte. Ohne die großzügigen Spenden von dem Blödmann. Ohne danke sagen zu müssen. Ohne in die hellen Augen zu sehen, die ihm entgegenschleuderten: »Du kleines, mieses Stück Scheiße. Besteigst meine Tochter, bist nichts, kannst nichts.«

Er würde durchhalten. Das hier durchziehen.

Wolf und Armin hielten inne, drückten sich eng an die Wand. Wolf stellte den Rucksack mit den Werkzeugen ab und kramte das Stemmeisen vor.

Stimmen in der Nacht.

»Verdammt!«, zischte Wolf.

Mit schreckgeweiteten Augen starrten sie ins Dunkel. Sebastian spürte, wie Übelkeit ihm in die Kehle schoss.

Ein entschlossener Griff an seiner Hand. Fast hätte er aufgeschrien, bis er merkte, dass es Willi war. Sie zog ihn von der Hauswand weg auf den schwach beleuchteten Pfad, schlang beide Arme um seinen Hals und flüsterte: »Los, knutschen.«

Sein Körper war starr, als sie sich an ihn presste, mit fahrigen Lippen sein Gesicht suchte. Ihr Atem roch minzig und kalt.

Die Stimmen kamen näher. Über Willis Schulter blinzelte er ihnen entgegen. Zwei Männer. Hand in Hand. Genauso ertappt wie sie. Ein streifender Blick, ein hastiges Lösen der Hände. Die beiden eilten vorbei.

Sebastians Knie wurden weich. Er hatte das Gefühl, gleich kotzen zu müssen. Aber Willi hielt ihn fest umklammert und bearbeitete seinen Rücken, als wäre er ein Stück Fleisch, das in die Pfanne musste.

Die Männer verschwanden um die Ecke.

Sebastians Knie gaben endgültig nach, als Willi sich von ihm löste. Er strauchelte, fing sich wieder, taumelte ihr nach.

Wolf und Armin klebten bewegungslos an der Hauswand, als wollten sie mit dem Beton verschmelzen. Atemlose Sekunden.

»Die haben nichts gemerkt«, flüsterte Wolf. Seine Stimme klang heiser. Armin griff das Stemmeisen und setzte an. Der Rahmen des Kellerfensters knirschte. Neues Ansetzen und Knirschen. Endlich gab das Fenster nach, sprang aus den Angeln, ließ sich nach innen drücken.

»Los«, kommandierte Wolf.

Wie verabredet schwang sich Armin als Erster in die Öffnung. Ein Plumpsen, ein geflüstertes »Okay«.

Dann verschwand Willi. Sebastian kroch hinterher. Mit stockendem Atem ließ er sich in die Tiefe fallen. Rollte sofort beiseite, damit Wolf, der als Letzter kam, nicht auf ihm landete.

Schwer atmend saßen sie auf dem Betonboden.

Sebastian schluckte. Sein Puls jagte davon, so laut und schnell, dass er das erleichterte Glucksen von Wolf, dessen knappe Kommandos nur gedämpft hörte. Das Licht der Taschenlampe kroch in Zeitlupe über die kahlen Wände. Sogar die Luft war wattig und leistete Widerstand.

Betäubt folgte er den anderen durch dunkle Gänge, bis sie an einer schweren Eisentür Halt machten. Das Klirren des Dietrichs, das Klacken des Schlosses tönten unwirklich laut.

Ein kahler Raum, große Tische in der Mitte, ein Neonlicht an der Decke, von Wolf angeschaltet, das sirrend sein Licht ergoss.

Sebastian schluckte, kniff die Augen zusammen. Weiß – weiße Wände, weiße Stellagen mit weißen, viereckigen Gegenständen darauf. In weiße Leintücher gehüllte Bilder.

Verhüllte Gespenster. Lauernd. Verbargen ihr Innenleben. Geheimnisvoll wie ein lange nicht genutzter Raum, der, unter Schutzhüllen verpackt, sein eigenes Leben führt. Ihn fröstelte.

Mit fliegenden Händen durchwühlte Wolf die Bilder, hob die Leintücher an. Farben blitzten. Ein Baum, ein Stück nackte Haut, ein Tier. Zu schnell, um etwas genau zu erkennen.

Bei aller Hast schien Wolf zu wissen, wonach er suchte. Grunzte dann und wann befriedigt und reichte ein Bild an Armin und Willi weiter.

Überrascht merkte Sebastian, dass auch er ein Bild hielt. Er fühlte den harten Rahmen, das Kratzen des Leintuches.

»Los, du Idiot«, schnarrte Wolf ihn an.

Als Einziger stand er noch in der Mitte des Raums, unbeweglich. Wieder mal bekam er nichts auf die Reihe. Die kalten Augen von Bärbels Vater.

Ohne nachzudenken, griff er sich ein schmales Bild, dessen Goldrahmen aus der Hülle blitzte. Es stand direkt neben der Tür, als wollte es mitgenommen werden. Schob es sich zu dem anderen unter den Arm, den Blick fest auf Willis Rücken gerichtet, die vor ihm durch den dunklen Gang huschte. Der Kellerraum.

Wolf, der mit beiden Händen einen Tritt bildete. Wie in Trance setzte Sebastian seinen Fuß in die bereitgestellten Hände, zog sich nach oben, zwängte sich durch die enge Öffnung des Kellerfensters.

Die kalte Nachtluft brachte ihn wieder zu sich. Die Zeit nahm ihre gewohnte Geschwindigkeit auf.

Von unten wurden die Bilder nach oben gereicht. Er stapelte sie an der Hauswand. Griff nach Willis Hand und zog sie nach oben. Dann Armin. Zu zweit knieten sie an der Fensteröffnung. Wolf sprang, ein heftiger Ruck und sie zogen auch ihn ins Freie.

Plötzlich hatte Sebastian das Gefühl, alles würde klappen. Wie in der Küche, wenn es rund lief. Es konnte einfach nicht schiefgehen. Gierig sog er die Nachtluft ein, roch den Frost, die Feuchtigkeit. Hörte das Plätschern der Saar, das Rauschen der Stadtautobahn, ihre eiligen Schritte. Mit traumwandlerischer Sicherheit erreichten sie Wolfs Wagen, verstauten die Bilder im Kofferraum. Wolf startete sein Taxi, und sie verschwanden im spärlichen Nachtverkehr.

02.

»Wow! Ich fasse es nicht. Wir haben’s geschafft. Ich fasse es nicht.« Armin tanzte durch den Raum, ließ sich prustend auf das schiefe Sofa fallen, sprang sofort wieder hoch, lachte wild und stieß die Faust in die Luft. »Wir haben’s geschafft!«

»Ein Kinderspiel – habe ich euch das nicht gesagt?« Behutsam schob Wolf den Bilderstapel, der am Regal lehnte, ein Stückchen zur Seite.

Willi, die an Armin vorbei zum Sessel wollte, wurde gepackt und herumgewirbelt.

Sie strampelte. »Lass das!«

Armin dachte gar nicht daran. Auch wenn es nur Willi war – es tat einfach gut, ein Mädchen im Arm zu haben. Im Moment könnte er …

Willi winkelte das Bein an und stieß ihm ihr Knie in seine Weichteile. Sofort ließ er sie los.

»Selbst schuld.« Ungerührt schälte sie sich aus ihrem Anorak und ließ sich aufs Sofa fallen.

Armin krümmte sich theatralisch auf dem Fußboden zusammen.

»Du bist grässlich.«

Willi grinste breit. »Weiß ich.«

Als Armin in ihre lachenden Augen sah, musste er zurückgrinsen. Verdammte Schnepfe! Aber man konnte ihr einfach nicht böse sein. Er wusste ja, dass sie sich nicht gerne anfassen ließ.

»Einfach großartig«, murmelte Wolf selbstvergessen und strich über die eingepackten Bilder.

Sebastian lehnte an der Eingangstür und beobachtete seine Freunde. Es hatte geklappt. Wieso konnte er sich nicht freuen?

»Na, alte Küchenschabe, heiße Nummer, die ihr da abgezogen habt. Cool, Mann«, wandte sich Armin ihm zu.

Sebastian sah ihn verständnislos an.

»Die Typen waren so verblüfft, Heteros beim Knutschen zu sehen, die haben gar nicht gecheckt, was los ist.«

»Hoffentlich«, war alles, was Sebastian herausbrachte.

»Klar«, schoss Armin zurück. »Sonst hätten die doch Alarm geschlagen. Na, wie war’s mit Willi? Gute Gelegenheit, die Chefin zu befummeln. Hast es genossen, was?«

»O Mann.« Sebastian ließ sich an der Tür zu Boden gleiten. »Du bist so bescheuert, das gibt’s nicht.«

»Na komm, Willi. Wie war’s mit deiner Küchenschabe?«, wandte sich Armin an Willi, die sich auf dem schäbigen Sofa zusammengekauert hatte.

Sie sah ihn nur mit abschätzig nach unten gezogenen Mundwinkeln an.

Armin zwinkerte ihr zu, ging zu der kleinen Küchenzeile, die nur durch einen Vorhang vom Zimmer getrennt war, kramte im Kühlschrank und kam mit vier Flaschen Bier zurück.

»Statt Schampus. Auf uns!«

Sie ließen den Henkelverschluss ploppen und tranken.

Armin hatte gar nicht gemerkt, wie durstig er war. Langsam entspannte er sich. Während der ganzen Autofahrt nach Kaiserslautern hatte er darauf gewartet, Blaulicht hinter sich zu sehen, das schrille Heulen der Polizeisirenen zu hören. Auch die anderen hatten still und verkrampft dagesessen. Erst jetzt, hier in seiner Bude fühlte er sich sicher. Der Alkohol stieg ihm sofort in den Kopf. Als er die Flasche absetzte, fühlte er sich schwindelig. Gar nicht schlecht, nach der Aufregung. Hunger hatte er auch. Ein Loch im Magen wie nach gutem Sex. Mit wohligem Seufzen ging er vor seinem Kühlschrank in die Hocke. Natürlich nichts da. Dann eben noch ein Bier.

»Wir haben Schwein gehabt«, meinte Wolf von drüben. »Wir hatten eine Riesenauswahl, wegen der Wechselausstellung. Morgen bringen sie den ganzen Krempel rüber ins alte Haus. Und da kommst du nicht mehr dran.«

Willi setzte sich aufrecht. »Du hast gut Bescheid gewusst, oder? In dem Museum, meine ich.«

»Na klar. Denkst du, ich bin ein Dilettant?«, feixte Wolf.

»Wir drei wissen verdammt wenig über die ganze Geschichte«, hörte er Willi sagen. »Nur du weißt Bescheid. Langsam könntest du mal ein bisschen was ausspucken. Wer sind denn die Abnehmer der Bilder?«

Armin spürte ein Kribbeln im Nacken. Scheiße, wenn Willi so weiter bohrte, würde Wolf sauer werden. Und wenn er sauer war, gab es Ärger. Hastig schloss er die Kühlschranktür und ging zurück. Wolfs Lächeln war festgefroren. Seine hellen Augen blickten starr auf Willi.

»Leute, ist doch ein bisschen spät, sich jetzt drüber Gedanken zu machen«, ließ sich Armin gut gelaunt vernehmen. »Hauptsache, es hat geklappt, oder?«

»Noch hat gar nichts geklappt«, sagte Willi, ohne den Blick von Wolf zu wenden. »Wir haben einen Bruch gemacht. Das hat geklappt.«

»Einen ›Bruch‹ – was soll denn das? Als wären wir kriminell. Wir haben dem Museum ein bisschen Ballast abgenommen«, fuhr Wolf sie an.

»Das war Einbruch, oder? Wir haben geklaut.«

Mit einer federnden Bewegung war Wolf auf den Beinen. Langsam ging er auf Willi zu.

Armin sah unruhig von einem zum anderen.

Vor Willis Sessel angekommen, beugte sich Wolf herunter, umfasste mit beiden Händen die Armlehnen und sagte leise:

»Hör zu, Mädchen. Für kalte Füße ist es zu spät. Klar?«

»Sie hat recht«, rief Sebastian dazwischen. Mit hochrotem Kopf hockte er an der Tür. »Ich meine, wir wissen gar nichts.«

Wolf trat einen Schritt zurück, so dass er die anderen drei im Blick hatte.

Würde er springen oder den Schwanz einziehen? Er sprang.

»Damit das klar ist: Ich bin hier der Chef.«

»Jetzt macht doch nicht so einen Stress«, ließ sich Armin vernehmen. Seine Stimme klang nicht sehr fest.

»Hör zu, Wolf«, sagte Willi. »Ich habe mich auf diesen Schwachsinn eingelassen, okay. Aber ich will wissen, was läuft. Das Chefgefasel kannst du dir sparen.«

Als die Stille langsam unerträglich wurde, verzog Wolf sein Gesicht zu einem Raubtiergrinsen. »Gut. Kein Stress. Mein Informant ist einer von den Security-Typen vom Museum. Den hab ich in der Kneipe aufgetan. Er hat keine Ahnung von der Geschichte, hat nur gequatscht. War froh, dass sich jemand für seinen Scheiß interessiert.«

»Und die Abnehmer?«, bohrte Willi weiter.

Mit einer ruppigen Handbewegung griff Wolf Willi in ihr Haar. »Mach dir keine Gedanken. Wir sollten lieber mal die Beute inspizieren.«

Er zog sich die Jacke von der Schulter und ließ sich im Schneidersitz auf den abgewetzten Teppich nieder. »Na los, ihr Banausen. Kunst ist angesagt.«

Erleichtert setzte sich Armin neben ihn. Willi zögerte, aber Armin zog sie mit einem schiefen Grinsen neben sich auf den Boden. Sebastian kauerte sich hinter sie.

Mit großer Geste schlug Wolf die Leinwand zurück, die das erste Bild bedeckte. »Alfred Sisley«, bemerkte er mit Kennermiene.

Ratlos musterte Armin das Ölbild. Vor allem sah er viel dunkles Grün und Braun – und einen kleinen, hellen Strohhut. »Was soll das sein?«

»Ein Maler, du Pfeife. Der mit dem Strohhut. Vor sich hat er eine Staffelei, siehst du? Er sitzt im Wald bei Paris und malt.«

»Und ein anderer Maler malt ihn, wie er malt?«, wollte Sebastian wissen.

»Clever, die Küchenschabe«, sagte Wolf und enthüllte das nächste Bild.

Armin pfiff durch die Zähne. »Geil.«

Interessiert beugte sich Sebastian vor. Auf dem Bild war eine nackte Frau zu sehen, die nur ein Tuch über ihren Unterleib gelegt hatte und sich nach vorne beugte. Sie trug so etwas wie einen Turban über dem Haar, ihr Gesicht war abgewandt.

»Die ist aber fett«, meinte er leise.

»Die ist nicht fett. Das ist ein Corinth. Lovis Corinth. So um 1900 gemalt.«

»Der Busen ist geil«, sagte Armin.

»Das ist Kunst, ihr Idioten«, meinte Wolf.

»Sag ich doch«, feixte Armin. »Ich mag dicke Busen.«

Verstohlen blinzelte Sebastian zu Willi, die unbeweglich die Bilder betrachtete. Er mochte lieber dünne Mädchen. So wie Wilhelmina. Der dicke Schwangerschaftsbauch, den Bärbel stolz vor sich hertrug, war ihm unheimlich. Nicht, dass er sich nicht auf das Kind freute. Manchmal, wenn er nachts wach lag, fühlte er sogar so etwas wie Stolz. Sein Sohn. Dann stellte er sich vor, ihm Radfahren beizubringen, mit ihm zu reden. Sein Sohn könnte ihn alles fragen. Und er würde sich bemühen, Antworten zu geben, richtige Antworten. Aber Bärbels Bauch war eine andere Sache.

Wolf hatte sich schon das nächste Bild gegriffen und die Leinwand freigelegt.

»Max Slevogt. ›Die weiße und die schwarze Dame‹.«

Auf dem Bild saßen zwei Frauen auf irgendwas Braunem. Eine war tatsächlich weiß angezogen, mit so einem hellen Schleier über dem Kopf, die andere schwarz. Die Schwarze sah die Weiße an, die den Kopf gesenkt hielt.

»Was machen die da?«, wollte Sebastian wissen.

»Das ist symbolisch«, erklärte Wolf. »Anfang und Ende, verstehst du?«

»Eine Braut und eine Witwe?«

»So ähnlich. Siehst du die Rose, die da unten gemalt ist?«

Sebastian nickte. Langsam begannen ihm die Bilder Spaß zu machen.

»Die Rose steht für Schönheit und Vergänglichkeit. Sie taucht in der Grabkunst auf. Im Totenkult.«

»Und der Maler will erzählen, wie nah das so beieinander ist.«

»Kluges Kerlchen. In ihren Bildern erzählen die Maler Geschichten. Man muss sie nur lesen können.«

»Und woher kannst du das?«, fragte Willi dazwischen. »Ich dachte, du hast Physik studiert?«

»Allgemeinbildung«, gab Wolf zurück.

Sebastian nickte. Klar, Wolf hatte Ahnung. Mehr als sie alle. Auch mehr als Willi. Trotzdem war Wolf kein aufgeblasener Kopfgesteuerter, mit dem man sich nicht unterhalten konnte, weil er immer in höheren Sphären schwebte.

»Passt auf! Jetzt kommt das Prunkstück. Tatatata!«

Langsam zog Wolf das Leinentuch von dem nächsten Bild:

»Das blaue Pferdchen. Von Franz Marc.« Seine Stimme klang triumphierend.

»Sieht ein bisschen wie ein Kinderbild aus«, meinte Armin. »So bunt. Oder?«

»Blaue Pferde. So ein Quatsch«, rief Sebastian. Eben hatte er noch gedacht, an der ganzen Kunst sei was dran.

»Ihr Idioten. Das ist das wertvollste Bild der ganzen Sammlung. Allein dafür kriegst du eine Million. Dollar oder Euro. Was du willst.« Wolf hob das tablettgroße Bild an und betrachtete es liebevoll.

»Für ein blaues Pferd?«, fragte Armin ungläubig.

»Und dein Security-Mann hat dir gesagt, dass das blaue Pferd da unten liegt?«, fragte Willi.

Sebastian sah sie an. Irrte er sich, oder war da Misstrauen in ihrer Stimme?

»Allein dafür hat es sich gelohnt, Leute«, meinte Wolf, ohne Willi zu beachten. »Der ganze Krempel ist ein paar Millionen wert. Auch auf dem Schwarzmarkt.«

Ein paar Sekunden lang herrschte ehrfurchtsvolles Schweigen. Nur Armins kleiner Wecker tickte vor sich hin.

»So viel?«, hauchte Sebastian in die Stille.

Wolf drehte sich zu ihm um und grinste. »Jetzt heißt es: Nerven bewahren. In den nächsten Tagen meldet sich der Abnehmer der Bilder bei mir. Dann sehen wir weiter.«

»Unser Restaurant. Armins. Allerbeste Lage. Bestes Essen.« Armin sprach mit halblauter Stimme. Seine blauen Augen glänzten, als würde er in weiter Ferne etwas Wunderbares sehen. »Was glaubst du, wann kriegen wir die Kohle?«, wandte er sich an Wolf.

»Dauert ein bisschen«, sagte der vage.

»Nächste Woche könnte ich einen Termin mit der Brauerei machen, die sind scharf drauf, wieder jemanden reinzukriegen. Immerhin steht das Restaurant seit einem Jahr leer. Der Brauereityp macht uns mit Sicherheit gute Konditionen. Ein paar hübsche Mädels für den Service …«

»Mal halblang«, unterbrach ihn Wolf.

»Nichts halblang«, sagte Armin und wandte sich an Sebastian. »Du musst das Lokal mal sehen. Okay, die Lage ist nicht der Bringer, aber ’ne schöne Gaststube und ein super Innenhof fürs Sommergeschäft. Fast so geil wie in der Goldenen Gans, bisschen kleiner vielleicht.«

»Und du meinst echt, ich kann Koch werden?«, fragte Sebastian.

»Klar.« Willi lächelte ihn an. »Mit einem eigenen Restaurant hole ich mir einen Ausbilder-Schein. Du wirst mein erster Apprenti cuisinier.«

»Das wär … Ihr wisst gar nicht … Apprenti cuisinier. Ich meine, Bärbels Vater hält mich echt für einen Idioten …«

»Hat er doch nicht unrecht«, sagte Wolf. »Das ist doch die Frage, ob du überhaupt die Schule packst.«

»Klar packt er die«, sagte Armin und sah Wolf erstaunt an. »Was quatschst du denn? Die Schabe ist doch nicht behindert.«

Wolf grinste nur. In Sebastians Magen grub sich ein tiefes Loch. Die Schule! Rechnen hatte er noch nie gekonnt. Vielleicht hatte Wolf recht. Vielleicht war er zu blöd. Und der ganze Einbruch hatte gar nichts genutzt. Hilflos sah er zu Willi.

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung in Wolfs Richtung und fragte nur: »Und das letzte Bild?«

Wortlos schlug Wolf die Leinwand zurück.

»Was ist das denn?« Er hob das Bild an.

Aus einem dunklen Hintergrund in verschiedenen Brauntönen strahlte eine weißgekleidete Gestalt mit Kerze in der Hand. Ein kleiner Junge. Seine schreckensstarren Augen schienen den Betrachter zu fixieren.

Irritiert untersuchte Wolf das Bild. »Keine Signatur.«

»Keine was?«, fragte Armin.

»Signatur. Die Unterschrift des Malers, du Depp. Wer hat das Bild da mitgenommen?«

»Du hast doch die Bilder ausgesucht.«

»Aber nicht das da!« Wütend blickte Wolf in die Runde.

Sebastian biss sich auf die Unterlippe. Der weiße Raum. Die Bilder, die, verhängt wie Gespenster, überall herumstanden. Das kleine Bild am Eingang.

Besser, er sagte nichts.

»Ist doch egal, oder?«, ließ sich Armin wieder vernehmen. »Haben wir eben eins mehr.«

»Verdammt, wer hat das Bild mitgenommen?«

»Der Kleine sieht komisch aus«, sagte Sebastian schnell. »Als hätte er einen Geist gesehen.«

»Vielleicht ist er aufgewacht und hat gemerkt, dass er allein im Haus ist. Und jetzt rennt er durch den dunklen Flur und sucht seine Eltern.«

Dankbar nahm Sebastian Armins Kommentar auf. Bloß von der Frage ablenken, wer das Bild genommen hatte. »Ist mir früher auch passiert. Aber ich wusste, wo die Alten waren: in der Kneipe.«

Armin lachte.

»Der Kleine hat was angestellt. Der ist auf der Flucht«, sagte Willi.

Alle vier starrten auf den kleinen Jungen, der mit aufgerissenen Augen zurück starrte.

»Der hat aber ein Nachthemd an«, beharrte Armin. »Und die Kerze, guck mal. Der geistert durchs Haus und sucht seine Alten.«

Tatsächlich sah das weiße Gewand, das der Kleine trug, wie ein weites Hemd aus. Man konnte sogar die Struktur des Stoffes erkennen. Sah steif aus. Leinen, tippte Sebastian.

»Da ist Dreck drauf«, bemerkte Armin und zeigte auf einen Ärmel. »Vielleicht guckt er deshalb so. Hat sich sein bestes Hemd versaut und wartet auf Prügel.«

Sebastian beugte sich weiter vor. Tatsächlich waren dort braune Spritzer zu sehen.

»Das Bild ist auch mehr wie ein Foto«, fügte Armin mit Kennermiene hinzu. »Der Typ konnte besser malen als die anderen. Nicht so breite Striche mit dem Pinsel.«

»Quatsch«, unterbrach ihn Wolf. »Das ist einfach ein anderer Stil. Das hat nichts mit besser oder schlechter zu tun. Eine andere Zeit, versteht ihr? Das da sieht aus wie von einem holländischen Porträtmaler. Auch das Licht. Wie die Kerze auf sein Gesicht scheint.«

»Sieht unheimlich aus, mit der Kerze«, meinte Sebastian, froh, dass Wolf nicht mehr darauf herumhackte, wer das Bild genommen hatte.

Die großen, braunen Augen sahen ihn an, als wollte der Junge ihm etwas sagen, ihm etwas anvertrauen. Mühsam löste er den Blick.

»Ich finde, er sieht traurig aus.« Willis Stimme klang nachdenklich. »Mir tut er leid.«

»Mal sehen, was wir mit ihm machen.« Wolf federte hoch und stellte das kleine Bild an das Bücherregal. Sebastian wäre es lieber gewesen, wenn er wie bei den anderen die Leinwand wieder heruntergeklappt hätte.

»Also. Die Bilder bleiben erst mal bei Armin. In ein paar Tagen meldet sich der Kontaktmann. Dann sehen wir weiter.«

Auch die anderen beiden standen auf und setzten sich um Armins kleinen Couchtisch. Nur Sebastian blieb auf dem Boden hocken und betrachtete den kleinen Jungen. Nir halb verfolgte er die Gespräche, die in Fetzen an sein Ohr drangen.

»So normal wie möglich …« »Nur ein paar Tage …« »… Übergabe … «

Der Junge auf dem Bild starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sein mittelbraunes, halblanges Haar war nach hinten gekämmt. Nur eine Strähne fiel ihm in die Stirn. Sebastian konnte jedes Härchen auf der glatten Kinderstirn sehen. Die vollen Lippen hatte der Kleine abwehrend zusammengepresst – als dürften sie nicht sagen, was die Augen erzählten.

»Hey, Küchenschabe«, riss ihn Willis Stimme in die Realität. Blinzelnd wendete er sich den anderen zu.

»Morgen um sieben ist die Nacht zu Ende. Spätestens um acht müssen wir zum Großmarkt. Alles klar?«

Sie hatte sich vom Sofa erhoben und zog ihre Jacke an. Sebastian nickte und stand auf.

»Wir sehen uns heute Nacht. Nach eurer Schicht. Und nicht quatschen. Alles klar?« Wolf bedachte jeden in der Runde mit einem forschenden Blick.

»Hey! Alles wird gut«, sagte Armin und zwinkerte ihnen zu.

Sebastian hätte ihm gerne geglaubt.

03.

Der Wind hatte sich gelegt.

Willi hob ihr Gesicht in den Himmel und betrachtete den Mond, der rund und kalt am Ende der Häuserschlucht stand.

»Was heißt das eigentlich, wenn der Mond so einen großen Hof hat?«, fragte Sebastian, der neben ihr stehen geblieben war.

Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Guck mal, ganz bunt.«

Ein Farbenkranz hatte sich um den hellen Hof des Mondes gelegt. Willi kniff die Augen zusammen. Farben wie in einem Hallenbad. Ein schmutziges Kachelgrün ging in giftiges Blau über, durchbrochen von violetten Streifen.

»Bestimmt heißt das was Gutes«, meinte Sebastian. Seine Stimme klang nicht sehr fest. »Schönes Wetter oder so.«

Willi wandte den Kopf. Der vierschrötige Junge neben ihr mit der eingedellten Boxernase und der sorgenvoll gerunzelten Stirn starrte weiter in den Himmel.

»Was ist los?«, fragte sie leise.

Sebastian grub die Hände in seine Hosentasche. »Es ist auf einmal, ich weiß nicht … so wirklich. Der Einbruch. Die Bilder.«

Sie nickte. Es hatte wie ein Witz begonnen. Eine harmlose Idee, um an Kohle zu kommen. Geld für ein eigenes Restaurant, den Traum, den sie schon seit Jahren träumten.

»Aus dem Restaurant kann wirklich was werden«, sagte sie schließlich. »Armin ist super, der geborene Gastronom, auch wenn er oft Schwachsinn quatscht. Er hat einen Riecher, was angesagt ist, und er kann ackern wie ein Bekloppter.«

»Wenn all seine Weiber kommen, die Verflossenen und Zukünftigen, dann haben wir jedenfalls keine Umsatzprobleme.« Sebastian grinste.

Willi lachte. »Stimmt.«

Beide sahen wieder zum Mond hoch.

»Sieht unheimlich aus«, sagte Sebastian nach einer Weile.

Sie sah ihn an. »Es wird alles gut, bestimmt. Versuch noch ein bisschen zu schlafen. Und sei pünktlich morgen früh.«

»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann bis später.«

Sie nickte und ging die leere Straße hinunter.

Sebastian steckte mit klammen Fingern den Schlüssel in sein Motorradschloss. Mit einem Ruck bockte er die Maschine herunter und schwang sich auf den Sattel. Wider Erwarten sprang sie sofort an.

Als er in die Hauptstraße bog, waren schon die ersten Autos unterwegs. Fünf Uhr. Wenn er Glück hatte, konnte er sich noch ein halbes Stündchen hinlegen, bevor er wieder los musste. Idiotisch, dafür durch die Nacht zu fahren.

Die letzten Häuser von Kaiserslautern verschwanden und er ließ seine Gedanken schweifen. Hier musste er sich nicht mehr auf das Fahren konzentrieren. Um diese frühe Stunde waren im Wald keine Autos unterwegs, und die Kurven kannte er im Schlaf.

Zwischen den Bäumen war es noch kälter als in der Innenstadt. Rechts von ihm lagen Wiesen, über denen der Nebel dampfte. Vielleicht hatten sie zu Weihnachten schon eine Wohnung in Lautern. Und im Februar wären sie zu dritt.

Sein Sohn. Hoffentlich würde der nie so gucken, wie der Junge auf dem Bild. So erschreckt und allein. Wie ein kleines aufgescheuchtes Tier. Komisch, dass die braunen Augen so lebendig wirkten. Gar nicht wie gemalt.

Ohne es zu merken, war Sebastian auf die Mitte der Fahrbahn geraten. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos leuchteten auf. Hastig zog er die Maschine an den Rand zurück.

Mist! Warum ging ihm das Bild nicht aus dem Kopf? Dieser kleine Kerl mit den komischen Augen hatte ihn beobachtet – aus dem Bild heraus.

Schwachsinn. Das ging doch gar nicht.

Trotzdem – da war das Gefühl gewesen, der Kleine würde ihm direkt in die Augen sehen. Um Hilfe rufen. Dieses Braun, wie Schatten. Da war noch etwas. Auf dem Grund dieser Augen. Etwas Kaltes, ein hart schimmernder Glanz.

Vor Konzentration kniff Sebastian seine Augen zusammen. Irgendetwas war da gewesen. In den Augen. Etwas, das ihn frösteln ließ. Und dieses Frösteln kam nicht von der Nachtluft. Etwas Unbeugsames.

So unbeugsam, wie der Baum, der plötzlich vor ihm auftauchte. Das Letzte, was Sebastian sah, war braun. Aber nicht das Braun der Augen, sondern das harte, splitternde Braun von Holz.

04.

Hauptkommissar Büchner kniff die Augen zusammen, blies Luft durch die gespitzten Lippen und beobachtete die Wölkchen, zu denen sein Atem kondensierte. Die Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen huschten wie Gespenster durch den langsam steigenden Nebel. Die einzige Farbe in dieser farblosen Welt: eine schwarze Krähe auf einem blattlosen Baumgerippe und eine massige Gestalt in einer schwarzen Lederjacke.

Aus den Augenwinkeln musterte er den Mann, der wie eine Bulldogge die Absperrung umkreiste. Mindestens eins neunzig groß und eins neunzig breit. Manfred Boger, sein neuer Kollege. Natürlich hatte er ihn schon mal gesehen. In den Gängen des Landeskriminalamts, in der Kantine, bei irgendeiner Feier. Immer schon war ihm dieser Kollege aufgefallen. Zu groß. Zu massig. Körperlich zu präsent.

Die Komplexe eines kleinen Mannes. Vielleicht sollte er doch mal eine Therapie machen? Riet ihm seine Tante doch ständig.

Als eine der weißen Gestalten winkte, duckte sich die Bulldogge erstaunlich geschmeidig unter das Absperrband und hastete zum Gebäude.

Büchner schob seine Hände in die Taschen seines Kaschmirmantels und schlenderte zur Absperrung.

»Ahh! Die Herren vom Dezernat 42. Welche Ehre«, rief ihnen der winkende Weiße entgegen.

»Morgen, Thomas.« Büchner nickte kurz. Nicht nur ein neuer Kollege, auch noch Thomas Lücke von der Kriminaltechnik. Ausgerechnet dieses Waschweib. Der Morgen konnte nur besser werden.

Die Bulldogge kam auf ihn zu. Eine Hand wie eine Kehrschaufel wedelte vor seiner Nase. Unwillkürlich reckte er sich, straffte die Schultern.

»Manfred Boger. Du weißt Bescheid?«

»Herr Boger! Mein Name ist Büchner.«

Der Angesprochene sah ihm in die Augen. Braune Augen, untermauert von wulstigen Tränensäcken, die ihn wach und penetrant musterten.

Merkwürdig, er hatte Boger noch nie wirklich ins Gesicht gesehen. Ein verlebtes Gesicht mit fleischiger Nase und einem erstaunlich großen Mund. Die blonden Haare, die in der Mitte gescheitelt waren und die er eine Spur zu lang trug, verliehen ihm etwas Jugendliches. Vor allem, wenn er sie sich, wie jetzt, mit einer Hand aus der Stirn strich. Nur mit Mühe konnte sich Büchner verkneifen, über die eigenen Geheimratsecken zu fahren. Was wollte dieser Boger? Herzlich Willkommen in der Abteilung? Das war ein bisschen viel verlangt.

»Hier sind sie rein?«, fragte Büchner mit einer Kopfdrehung den Kriminaltechniker.

Thomas Lücke wies auf ein zwanzig Zentimeter über dem Boden liegendes Kellerfenster. »Mit einem Meißel aufgestemmt. Haben wir schon untersucht, die Spuren sind mikroskopisch aufgenommen. Bringt mir einfach den richtigen Meißel, und ihr habt sie.«

»Fingerabdrücke?«

»Handschuhe. Leder und Wolle. Fasern jede Menge. Also, die richtigen Handschuhe tun’s auch.«

»Witzbold«, knurrte Boger und spähte durch das Fenster.

»Nach den Fußspuren zu urteilen drei bis dreieinhalb Mann. Allerdings kaum verwertbar. Keine Reifenabdrücke im erweiterten Tatumfeld«, fuhr Lücke fort.

»Dreieinhalb?«, hakte Boger nach.

»Ein Abdruck ist merkwürdig.« Mit der Hand deutete er vor sich auf den lehmigen Boden. Büchner beugte sich vor, konnte aber nur undeutlich mehrere Vertiefungen im Boden erkennen.

»Größe 38, schätze ich. Eine halbe Person. Oder ein Zwerg.«

Missmutig musterte Büchner den Fuß seines Kollegen, der überproportioniert neben dem schmalen Abdruck wirkte.

»Vielleicht eine Frau«, sagte er.

»Dann muss die Dame aber sportlich sein«, meinte Lücke munter. »Über zwei Meter bis runter zum Keller. Die mussten runterspringen. Und auf demselben Weg wieder raus.«

»Das ist doch kein Problem«, sagte Boger und bückte sich tiefer zum Fenster.

»Versuch’s«, erklärte Lücke grinsend. »Aber bleib nicht stecken.«

Boger zögerte. Dann zwängte er sich mit einer geschickten Drehung in das schmale Fenster. Eine Sekunde lang sah es so aus, als würde er tatsächlich steckenbleiben. Dann gab es ein leises Ploppen, und wie ein befreiter Korken aus einem zu engen Flaschenhals flutschte Boger nach unten. Merkwürdigerweise hörten sie keinen Aufprall, kein Poltern, nichts.

»Na? Alle Gräten noch heil?«, rief Thomas Lücke nach unten. Dann wandte er sich an Büchner: »Echt sportlich bei dem Gewicht! Kommt unten an wie ’ne Katze. Auch Lust auf ein bisschen Frühsport?«

Büchner vergrub die Hände in seinem Wollmantel. »Danke. Ich gehe lieber außen herum.«

»Hätte ich mir denken können.«

Büchner konnte nicht erkennen, ob das abschätzig oder anerkennend gemeint war.

»Ist Boger jetzt zu euch strafversetzt worden?«, fragte der Spurensicherer, erhob sich aus der Hocke und begann, seine Tasche zu packen.

»Wie meinst du das?«

Mit einer Kopfbewegung wies der Techniker nach unten. »Gab doch eine polizeiinterne Untersuchung, oder? Von Drogen zu Eigentumskriminalität. Sie konnten Boger wohl nichts nachweisen, sonst wäre er doch weg vom Fenster. Stattdessen Dezernat 42. Aber ich sage immer: Kein Rauch ohne Feuer.«

Büchner zuckte die Achseln. Er hatte einfach keine Lust mit der Spurensicherung, die so tratschsüchtig wie eine Hausfrau beim Vormittagseinkauf war, seinen neuen Kollegen durchzuhecheln. Also fragte er: »Gibt es sonst noch etwas?«

Thomas Lücke kapierte. »Wenn ihr mich fragt: Das waren Amateure.« Er wies zum Fenster. »Der Meißel ist ein paar Mal abgerutscht. Und wer macht schon einen Bruch mit stinknormalen Winterhandschuhen?« Bedächtig zog er selber seine Latexhandschuhe aus.

Büchner nickte, hob grüßend die Hand und schlenderte um das Haus herum.

Unangenehm, aber er wusste nichts über diesen Manfred Boger. Es hatte keinen Einstand gegeben, keine Vorstellung, kein Geplauder. Nur die offizielle Mitteilung vom Dezernatsleiter, dass Kriminalkommissar Boger jetzt zu ihrer Abteilung gehörte. Und Büchner kannte Rainer Liebs. Wie der Chef dagestanden hatte, verschränkte Arme, die Mundwinkel nach unten, nein, Rainer war nicht glücklich über den Neuzugang. Und Boger? Hatte daneben gestanden wie ein geprügelter Hund, niemandem in die Augen gesehen, nichts gesagt. Ein Klotz von Mann mit hochgezogenen Schultern, als wolle er sich gegen hämische Bemerkungen abschirmen.

An der Eingangstür kam Büchner ein Trupp Uniformierter entgegen. Sie nickten, einer sagte: »Die Kellertreppe runter, geradeaus, dann rechts.«

Auch hier war alles weiß. Die Wände, der Fußboden und die Bilder, die, mit weißen Leinen abgedeckt, auf Holzstellagen lagerten. Alles weiß.

Ein weiterer Mann der Spurensicherung stand mit Boger neben der Eisentür. Büchner hörte, wie er erklärte: »Ein ganz normaler Dietrich. Den kriegen Sie in jedem Eisenwarengeschäft. Und die Tür ist auch kein Problem. Die würde ich sogar mit einem Zahnstocher aufbekommen. Alles völlig ungesichert. Sie kommen schwerer ins Häuschen ihrer Oma als in dieses Museum.« Kopfschüttelnd entfernte er sich.

Büchner stellte sich neben seinen neuen Kollegen. »Sieht wirklich nach Amateuren aus.« Er blickte sich in dem weißen Raum um.