Der Kolibri - Premio Strega 2020 - Sandro Veronesi - E-Book

Der Kolibri - Premio Strega 2020 E-Book

Sandro Veronesi

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Beschreibung

„Meisterhaft: ein Kuriositäten- und Genusskabinett voller kleiner Wunder“ Ian McEwan. „Unkonventionell, entwaffnend und zutiefst menschlich. ‚Der Kolibri‘ ist eine neue Art der Familiensaga.“ Jhumpa Lahiri
Ein Schock, der heftigste vielleicht in einem an Schocks reichen Leben: Vom Psychoanalytiker seiner Frau erfährt der Augenarzt Marco Carrera, dass sie ihn wegen eines deutschen Piloten verlassen werde, von dem sie schwanger ist. Damit beginnt Sandro Veronesis mit dem Premio Strega ausgezeichneter Roman „Der Kolibri“. Auf psychologisch raffinierte Weise erzählt er darin von einer Achterbahn der Gefühle, die das Schicksal dieses sensiblen Mannes prägen, von unvergleichlichen Charakteren, denen er auf dem Tennisplatz oder am Spieltisch begegnet, von familiärem Unglück und von einer großen, lebenslänglichen Liebe … Marcos Dasein gleicht dabei dem eines Kolibris: Auf der Suche nach Ruhe ist er ständig in Bewegung.
Ein großartiger polyphoner Roman, ein Jonathan Franzen Italian Style.

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Über das Buch

Ein Schock, der heftigste vielleicht in einem an Schocks reichen Leben: Vom Psychoanalytiker seiner Frau erfährt der Augenarzt Marco Carrera, dass sie ihn wegen eines deutschen Piloten verlassen werde, von dem sie schwanger ist. Damit beginnt Sandro Veronesis mit dem Premio Strega ausgezeichneter Roman »Der Kolibri«. Auf psychologisch raffinierte Weise erzählt er darin von einer Achterbahn der Gefühle, die das Schicksal dieses sensiblen Mannes prägen, von unvergleichlichen Charakteren, denen er auf dem Tennisplatz oder am Spieltisch begegnet, von familiärem Unglück und von einer großen, lebenslänglichen Liebe … Marcos Dasein gleicht dabei dem eines Kolibris: Auf der Suche nach Ruhe ist er ständig in Bewegung. Ein großartiger polyphoner Roman, ein Jonathan Franzen Italian Style.

Sandro Veronesi

Der Kolibri

Roman

Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn

Paul Zsolnay Verlag

Für Giovanni,

Bruder und Schwester

Ich kann nicht weitermachen.

Ich mache weiter.

Samuel Beckett

Man kann sagen

(1999)

Man kann sagen, dass das römische Viertel Trieste ein Zentrum dieser Geschichte unter vielen anderen ist. Schon seit jeher schwankte das Quartier zwischen Eleganz und Verfall, Prunk und Mittelmaß, Bedeutsamkeit und Alltäglichkeit. Fürs Erste reicht das; eine ausführlichere Beschreibung könnte am Beginn langweilig wirken, ja geradezu kontraproduktiv sein. Im Übrigen beschreibt man einen Ort am besten dadurch, indem man erzählt, was dort geschieht, und hier wird etwas Wichtiges geschehen.

Sagen wir es so: Eines der Ereignisse, das hier neben vielen anderen passiert, geschieht im Viertel Trieste in Rom, an einem Morgen Mitte Oktober 1999, und zwar an der Ecke Via Chiana und Via Reno, im ersten Stock eines jener Häuser, die wir hier nicht beschreiben und in dem schon tausende Dinge geschehen sind. Nur dass das, was gleich geschehen wird, entscheidend, und man kann sagen potenziell verhängnisvoll für das Leben des Protagonisten dieser Geschichte ist. Dr. Marco Carrera, Facharzt für Augenheilkunde, sagt das Schild an der Tür seiner Praxis, die ihn im Augenblick noch vom kritischsten Moment von vielen anderen kritischen Momenten seines Lebens trennt. Denn in der Praxis im ersten Stock eines jener Häuser et cetera schreibt er gerade ein Rezept für eine alte Dame, die an Blepharitis, Lidrandentzündung, leidet — antibiotische Augentropfen, nach einer innovativen, ja man kann sagen revolutionären Behandlung auf der Grundlage von N-Acetylcystein, das ins Auge getropft wird und schon bei anderen seiner Patienten das größte Problem dieser Krankheit behoben hat, nämlich die Tendenz, chronisch zu werden. Draußen hingegen wartet das Schicksal darauf, ihn in Gestalt eines kleinen Männleins namens Danile Carradoro umzuhauen, kahl und bärtig, aber ausgestattet mit einem man kann sagen magnetischen Blick, der sich in Kürze auf die Augen des Augenarztes konzentrieren und ihnen zuerst Ungläubigkeit, dann Verblüffung und schließlich einen Schmerz einträufeln wird, die durch sein Wissen (als Augenarzt) nicht kuriert werden können. Es handelt sich um eine Entscheidung, die das Männlein getroffen und die ihn in das Wartezimmer getrieben hat, in dem er jetzt sitzt und seine Schuhe betrachtet, ohne das reiche Angebot brandneuer, nicht ganz zerlesener, Monate alter Zeitschriften, die auf den Tischchen liegen, eines Blicks zu würdigen. Sinnlos, darauf zu hoffen, dass er sich eines anderen besinnt.

Es ist so weit. Die Tür des Sprechzimmers öffnet sich, die blepharitische Alte tritt über die Schwelle, dreht sich um, um dem Doktor die Hand zu schütteln, und wendet sich zur Sprechstundenhilfe, um die Behandlung zu bezahlen (120.000 Lire), während Carrera mit einer Kopfbewegung den nächsten Patienten auffordert einzutreten. Das Männlein steht auf, geht hinein, Carrera schüttelt ihm die Hand und fordert ihn auf, sich zu setzen. Der Vintage-Plattenspieler der Marke Thorens, nicht mehr sehr zeitgemäß — zu seiner Zeit allerdings, das heißt vor einem Vierteljahrhundert, einer der besten —, der zusammen mit dem teuren Verstärker von Marantz und den beiden AR6-Lautspecherboxen aus Mahagoni im Regal steht, spielt ganz leise die Platte von Graham Nash mit dem Titel Songs for Beginners (1971), deren rätselhafte Hülle, die an besagtem Regal lehnt und besagten Graham Nash mit einem Fotoapparat in der Hand in einem schwer zu deutenden Kontext abbildet, der auffälligste Gegenstand im Raum ist. Die Tür schließt sich wieder. Es ist so weit. Die Membran, die Doktor Carrera vom heftigsten Gefühlsschock eines an heftigen Gefühlsschocks reichen Lebens trennte, ist gefallen.

Beten wir für ihn, und für alle Schiffe auf den Meeren.

Postkarte, postlagernd

(1998)

Luisa LATTES

Poste Restante

59—78 Rue des Archives

75003 Paris

France

Rom, 17. April 1998

Ich arbeite und denke an Dich

M.

Ja oder nein

(1999)

»Guten Tag. Ich heiße Daniele Carradori.«

»Marco Carrera, guten Tag.«

»Mein Name sagt Ihnen nichts?«

»Sollte er?«

»Ja, sollte er.«

»Sagen Sie ihn mir bitte noch einmal?«

»Daniele Carradori.«

»Ist das der Name des Psychoanalytikers meiner Frau?«

»Richtig.«

»Oh. Entschuldigen Sie, aber ich dachte, ich wäre Ihnen nie begegnet. Nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?«

»Mich anhören, Doktor Carrera. Und nachdem ich Ihnen gesagt habe, was ich Ihnen zu sagen habe, wenn möglich darauf verzichten, mich bei der Ärztekammer oder, schlimmer noch, bei der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft anzuzeigen, was Ihnen als Kollege durchaus möglich wäre.«

»Sie anzeigen? Warum denn?«

»Weil das, was ich tun werde, verboten ist und in meinem Beruf streng bestraft wird. Ich habe nie auch nur im Entferntesten daran gedacht, so etwas in meinem Leben zu tun, und auch nicht geglaubt, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen, aber ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie sich in großer Gefahr befinden, und ich bin die einzige Person auf der Welt, die das weiß. Daher habe ich beschlossen, Sie zu informieren, auch wenn ich dadurch gegen eine der grundlegenden Regeln meines Berufs verstoße.«

»Donnerwetter! Ich höre.«

»Vorher muss ich Sie allerdings um einen Gefallen bitten.«

»Stört Sie die Musik?«

»Welche Musik?«

»Nein, nichts. Worum müssen Sie mich bitten?«

»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, nur zur Bestätigung der Dinge, die mir über Sie und Ihre Familie gesagt wurden, und um auszuschließen, dass man mir ein falsches Bild von Ihnen gegeben hat, was mir ziemlich unwahrscheinlich vorkommt, aber trotzdem nicht ausgeschlossen werden kann. Verstehen Sie?

»Ja.«

»Ich habe mir Notizen gemacht. Bitte antworten Sie nur mit Ja oder Nein.«

»Okay.«

»Ich beginne?«

»Ja, beginnen Sie.«

»Sie sind Doktor Carrera, vierzig, aufgewachsen in Florenz, Abschluss in Medizin und Chirurgie an der Universität La Sapienza in Rom und Facharzt für Augenheilkunde?«

»Ja.«

»Sohn von Letizia Delvecchio und Probo Carrera, beide Architekten, beide in Rente, wohnhaft in Florenz?«

»Ja. Aber mein Vater ist Ingenieur.«

»Oh, okay. Bruder von Giacomo, etwas jünger als Sie, wohnhaft in Amerika und, entschuldigen Sie, von Irene, ertrunken Anfang der achtziger Jahre?«

»Ja.«

»Verheiratet mit Marina Molitor, slowenischer Herkunft, Fluggastbetreuerin am Boden der Lufthansa?«

»Ja.«

»Vater von Adele, zehn, die in die fünfte Klasse einer öffentlichen Schule in der Nähe des Kolosseums geht?«

»Die Vittorino da Feltre, ja.«

»Und die im Alter von drei bis sechs Jahren überzeugt war, einen Faden am Rücken zu haben, was Sie als Eltern veranlasst hat, sich an einen Spezialisten für Kinderpsychologie zu wenden?«

»Den Zauberer Manfrotto …«

»Wie bitte?«

»Nein, so ließ er sich von den Kindern nennen. Aber das Problem mit dem Faden hat nicht er gelöst, auch wenn Marina das immer noch glaubt.«

»Ich verstehe. Dann ist es also richtig, dass Sie sich an einen Spezialisten für Kinderpsychologie gewandt haben?«

»Ja, aber ich verstehe nicht, was das …«

»Sie verstehen, warum ich Ihnen diese Fragen stelle, nicht wahr? Ich habe nur eine Quelle, und ich überprüfe, ob sie zuverlässig ist. Das bin ich meinem Gewissen schuldig, angesichts dessen, was ich Ihnen zu sagen habe.«

»Okay. Und was haben Sie mir zu sagen?«

»Noch ein paar Fragen, wenn Sie erlauben. Es werden etwas intimere Fragen sein, und ich bitte Sie, mit der größten Aufrichtigkeit zu antworten. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«

»Ja.«

»Sie spielen um Geld, ist das richtig?«

»Na ja, jetzt nicht mehr.«

»Aber man kann behaupten, dass Sie in der Vergangenheit um Geld gespielt haben?«

»Ja. In der Vergangenheit schon.«

»Und ist es richtig, dass Sie bis zum Alter von 14 Jahren sehr viel kleiner als Ihre Altersgenossen waren, so dass Ihre Mutter Sie der Kolibri nannte?«

»Ja.«

»Und dass Ihr Vater Sie mit 14 nach Mailand gebracht hat, um Sie einer experimentellen Hormonbehandlung zu unterziehen, durch die Sie eine normale Größe erreichten, indem Sie innerhalb von weniger als einem Jahr um fast 16 Zentimeter gewachsen sind?«

»Innerhalb von acht Monaten, ja.«

»Und ist es richtig, dass Ihre Mutter dagegen war, dass sie wollte, dass Sie klein blieben, und dass es das einzige Mal war, dass Ihr Vater, indem er Sie nach Mailand brachte, in der Ausübung seiner elterlichen Gewalt Autorität bewiesen hat, da er in Ihrer Familie, entschuldigen Sie, dass ich die genauen Worte benutze, mit denen mir die Sache erzählt wurde, einen Scheißdreck zählt?«

»Ah! Das ist nicht richtig, aber wenn man bedenkt, wer Ihnen diese Dinge gesagt hat, ja, Marina ist immer davon überzeugt gewesen.«

»Ist es nicht richtig, dass Ihre Mutter dagegen war oder dass Ihr Vater einen Scheißdreck zählt?«

»Es ist nicht richtig, dass mein Vater einen Scheißdreck zählt. Das ist nur der Eindruck, den so viele immer gehabt haben, vor allem Marina. Sie und mein Vater sind so unterschiedliche Charaktere, dass meist …«

»Sie brauchen mir nichts zu erklären, Doktor Carrera. Sagen Sie einfach nur ja oder nein, einverstanden?«

»Einverstanden.«

»Ist es richtig, dass Sie immer verliebt gewesen sind und seit vielen Jahren eine Beziehung unterhalten mit einer Frau namens Luisa Lattes, aktuell wohn…«

»Was? Wer sagt das?«

»Raten Sie.«

»Ach! Das ist unmöglich, Marina kann Ihnen nicht gesagt haben, dass …«

»Antworten Sie bitte einfach nur mit ja oder nein. Und versuchen Sie, aufrichtig zu sein, damit ich die Glaubwürdigkeit meiner Quelle einschätzen kann. Sind Sie noch verliebt, oder könnten Sie Ihrer Frau den Eindruck vermittelt haben, noch in diese Luisa Lattes verliebt zu sein, ja oder nein?«

»Natürlich nein!«

»Dann treffen Sie sie also nicht heimlich während Fachtagungen, an denen Sie in Frankreich oder Belgien oder Holland teilnehmen, oder an Orten, die nicht allzu weit von Paris entfernt sind, wo die Lattes wohnt? Und auch nicht im Sommer in Bolgheri, wo Sie den Monat August in zwei benachbarten Ferienhäusern verbringen?«

»Das ist doch lächerlich! Wir sehen uns jeden Sommer am Strand mit unseren Kindern, und vielleicht sprechen wir auch miteinander, aber wir haben niemals daran gedacht, ›eine Beziehung zu unterhalten‹, wie Sie sagen, und erst recht nicht, uns heimlich zu treffen, wenn ich eine Tagung besuche.«

»Hören Sie, ich bin nicht hier, um über Sie zu urteilen. Ich versuche nur zu verstehen, ob das, was mir über Sie gesagt worden ist, richtig ist oder nicht. Es ist also nicht richtig, dass Sie diese Frau heimlich treffen?«

»Ja, das ist nicht richtig.«

»Und Sie schließen aus, dass Ihre Frau davon überzeugt sein kann, obwohl es nicht richtig ist?«

»Natürlich schließe ich das aus! Sie sind sogar Freundinnen geworden. Sie reiten zusammen aus, nur sie beide allein; sie überlassen die Kinder uns Männern und reiten den ganzen Vormittag in der Gegend herum.«

»Das beweist gar nichts. Man kann sich mit einer Person anfreunden und sie jeden Tag sehen, gerade weil man krankhaft eifersüchtig ist.«

»Ja, aber das ist nicht der Fall, glauben Sie mir. Marina ist auf niemanden krankhaft eifersüchtig, ich bin ihr treu, und das weiß sie sehr gut. Und würden Sie mir jetzt bitte sagen, warum ich in Gefahr bin?«

»Dann schreiben Sie sich also nicht seit Jahren Briefe, Sie und diese Luisa Lattes?«

»Nein!«

»Liebesbriefe?«

»Natürlich nicht!«

»Sind Sie aufrichtig, Doktor Carrera?«

»Natürlich!«

»Ich frage Sie noch einmal: Sind Sie aufrichtig?«

»Natürlich bin ich aufrichtig! Wollen Sie mir etwa sagen …«

»Dann muss ich mich entschuldigen, aber gegen meine Überzeugungen, die fundiert waren, das versichere ich Ihnen, sonst wäre ich nicht gekommen, ist Ihre Frau nicht aufrichtig zu mir gewesen, und daher sind Sie nicht mehr in Gefahr, wie ich glaubte, weswegen ich Sie auch nicht länger belästigen werde. Ich bitte Sie, meinen Besuch zu vergessen und mit niemandem darüber zu reden.«

»Was ist los? Warum stehen Sie auf? Wohin gehen Sie?«

»Ich bitte Sie noch einmal um Entschuldigung, ich habe die Angelegenheit völlig falsch eingeschätzt. Auf Wiedersehen. Ich kenne den Weg …«

»Halt, so geht das nicht! Sie können nicht einfach so hierherkommen, mir sagen, dass ich in großer Gefahr bin aufgrund von irgendwelchen Dingen, die meine Frau Ihnen gesagt hat, mich ins Kreuzverhör nehmen und dann gehen, ohne mir etwas zu sagen! Jetzt reden Sie, oder ich zeige Sie bei der Ärztekammer an!«

»Bitte beruhigen Sie sich. Die Wahrheit ist, dass ich nicht hätte herkommen dürfen, und damit Schluss. Ich habe immer gedacht, ich könnte glauben, was Ihre Frau mir von sich und von Ihnen erzählte, und habe mir eine genaue Vorstellung von der Störung gemacht, unter der sie leidet, weil ich ihr immer geglaubt habe. Infolgedessen habe ich angesichts einer Situation, die ich für sehr ernst gehalten habe, geglaubt, ich müsste außerhalb der Grenzen handeln, die mir vom Pflichtenkatalog meines Berufs gesetzt sind, aber jetzt sagen Sie mir, dass Ihre Frau hinsichtlich einer so grundsätzlichen Sache nicht aufrichtig zu mir gewesen sei, und wenn das so ist, dann ist sie es auch in Bezug auf viele andere Dinge nicht gewesen, einschließlich derjenigen, die mich haben glauben lassen, dass Sie in Gefahr seien. Ich wiederhole, es war mein Fehler, und ich kann mich nur noch einmal dafür entschuldigen, aber seit Ihre Frau nicht mehr zu mir kommt, frage ich mich …«

»Was denn? Meine Frau kommt nicht mehr zu Ihnen?«

»Ja.«

»Und seit wann?«

»Seit mehr als einem Monat.«

»Sie scherzen.«

»Wussten Sie das nicht?«

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Sie kommt nicht mehr seit der Sitzung am … am 16. September.«

»Aber sie sagt mir, dass sie weiterhin zu Ihnen geht. Dienstags und donnerstags um Viertel nach drei hole ich wie immer Adele von der Schule ab, weil Marina einen Termin bei Ihnen hat. Auch heute Nachmittag hätte sie zu Ihnen gehen sollen.«

»Dass sie Sie belügt, wundert mich nicht besonders, Doktor Carrera. Das Problem ist, dass sie auch mich belogen hat.«

»Na ja, sie hat Sie in einem Punkt belogen. Und, Entschuldigung, sind denn für Sie die Lügen nicht aufschlussreicher als die Wahrheit, die sie verbergen?«

»Für wen Sie?«

»Na für Sie Analytiker. Ist es nicht so, dass Ihnen alles nützt, Wahrheit und Lügen, et cetera, et cetera?«

»Und wer sagt das?«

»Na ja, ich weiß nicht, Sie … die Psychoanalytiker. Die Psychoanalytiker. Nein? Von klein auf bin ich von Leuten umgeben, die eine Therapie machen, und ich habe immer gehört, dass, na ja, das Setting, die Übertragung, die Träume, die Lügen, alles seine Bedeutung hat, gerade weil die Wahrheit, die der Patient verschweigt, sich darin verbirgt. Oder nicht? Wo ist das Problem, dass Marina sich jetzt etwas erfunden hat?«

»Wenn das über Luisa Lattes nur in ihrer Phantasie existiert, dann ändert das alles, dann ist Ihre Frau in Gefahr.«

»Aber warum? Was für eine Gefahr?«

»Hören Sie, es tut mir sehr leid, aber es gibt keinen Grund mehr, dass ich mit Ihnen spreche. Und sagen Sie Ihrer Frau nicht, dass ich hier war, ich flehe Sie an.«

»Was veranlasst Sie zu der Annahme, dass ich Sie gehen lasse nach allem, was Sie mir gesagt haben? Ich verlange, dass Sie mir jetzt …«

»Lassen Sie es gut sein, Doktor Carrera. Zeigen Sie mich ruhig bei der Ärztekammer an, wenn Ihnen danach ist. Im Übrigen verdiene ich es in Anbetracht des Fehlers, den ich gemacht habe. Aber Sie können mich nicht zwingen, Ihnen zu sagen, was …«

»Hören Sie, das ist keine Phantasie.«

»Was sagen Sie?«

»Was Marina über Luisa Lattes gesagt hat, ist keine Phantasie. Es stimmt, wir sehen uns, wir schreiben uns. Allerdings ist es keine Beziehung, und vor allem keine eheliche Untreue; es ist etwas zwischen uns, das ich überhaupt nicht benennen und auch nicht verstehen kann, wie Marina es anscheinend tut.«

»Sind Sie noch in sie verliebt?«

»Hören Sie, das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass …«

»Verzeihen Sie mir, dass ich darauf bestehe: Sind Sie noch in sie verliebt?«

»Ja.«

»Haben Sie sich im vergangenen Juni in Lovanio gesehen?«

»Ja, aber …«

»Vor ein paar Jahren hat sie Ihnen in einem Brief geschrieben, dass ihr die Art gefällt, wie Sie sich vom Ufer aus ins Wasser stürzen?«

»Ja, aber wie …«

»Haben Sie ein Keuschheitsgelübde abgelegt, das heißt, keinen Sex zu haben, auch wenn Sie es sich wünschen?«

»Ja, aber wirklich, wie kommt es, dass Marina diese Dinge weiß? Und warum sagen Sie mir nicht geradeheraus, was Sie mir zu sagen haben? Wir sind verheiratet, verdammt, wir haben eine Tochter!«

»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Ihre Ehe ist schon seit geraumer Weile am Ende, Doktor Carrera. Und schon bald wird es ein weiteres Kind geben, aber es wird nicht von Ihnen sein.«

Leider

(1981)

Luisa Lattes

Via Frusa 14

50131 Firenze

Bolgheri, 11. September 1981

Luisa, meine Luisa,

nein, nicht meine, leider, Luisa, Punktum (Luisa Luisa Luisa Luisa Luisa Luisa Luisa Luisa, Dein Name hämmert in meinem Kopf, und ich weiß nicht, wie ich das abstellen soll): Ich bin davongelaufen, sagst Du. Das stimmt, aber nach dem, was geschehen ist, und dem Schuldgefühl, das mich überfallen hat, bin ich lange unglaubliche Tage niemand mehr gewesen, nicht ich und auch kein anderer. Ich war wie in Trance, ich dachte, ich wäre an allem schuld, weil ich bei Dir war, als es geschah, weil ich glücklich war mit Dir. Das denke ich immer noch.

Jetzt sagen alle, es sei Gottes Wille gewesen, oder es sei Schicksal gewesen, und all dieser Scheiß, und ich habe bis aufs Messer mit Giacomo gestritten und ihm die Schuld gegeben und will auch meinen Eltern nicht ins Gesicht sehen. Zu wissen, wo sie sind, dient mir nur dazu, mich woanders aufzuhalten. Ich bin zwar weggelaufen, meine Luisa, nein, nicht meine, leider, Luisa, Punktum (Luisa Luisa Luisa Luisa Luisa, Dein Name hämmert in meinem Kopf, und ich will es nicht abstellen), aber in die falsche Richtung, wie die Fasane bei den Waldbränden, die ich gesehen habe, als ich Feuerwehrmann war, wie sie zu Tode erschrocken aufflogen und wie wahnsinnig auf das Feuer zuflogen, sich ihm näherten, anstatt sich von ihm zu entfernen, ihm zu nahe kamen, bis sie hineinstürzten. Ich war mir nicht bewusst wegzulaufen, es gab so viele schreckliche Dinge zu tun, und da war diese Posse der Montecchi und Capuleti, die es unmöglich machte, durch die Hecke zu gehen (aber ich war geschockt, es war trotzdem möglich, Luisa, ich leugne es nicht, Luisa Luisa Luisa Luisa), und ich bin nicht durch sie gegangen, ich habe Dich nicht einmal gegrüßt.

Jetzt bin ich hier, allein, ich meine wirklich allein, alle sind abgefahren, sie haben gesagt, dass sie nie mehr den Fuß auf einen Strand setzen würden, dass sie nie wieder Ferien machen würden; und auch ihr seid abgefahren, und ich gehe immer und immer wieder durch die Hecke, jetzt, und niemand sieht mich, und ich gehe zum Strand, ich gehe zu den Mulinelli, ich gehe hinter die Dünen, und ich denke an Dich, ich denke an Irene, an das Glück und an die Verzweiflung, die im selben Augenblick und am selben Ort über mich hereingebrochen sind, und möchte beide nicht verlieren, ja, ich will beide, dabei habe ich Angst, auch sie zu verlieren, diesen Schmerz zu verlieren, das Glück zu verlieren, dich zu verlieren, Luisa, wie ich meine Schwester verloren habe, und vielleicht habe ich Dich schon verloren, weil Du sagst, ich sei weggelaufen, und leider stimmt es, ich bin weggelaufen, aber nicht vor Dir, ich bin nur in die falsche Richtung weggelaufen, wie diese Fasane, Luisa Luisa Luisa Luisa Luisa, ich bitte dich, Du bist gerade erst geboren worden, stirb nicht auch Du, und auch wenn ich weggelaufen bin, warte auf mich, verzeih mir, umarme mich, küss mich, der Brief ist nicht zu Ende, nur das Blatt ist zu Ende,

Marco

Das Auge des Zyklons

(1970 bis 1979)

Duccio Chilleri war ein hochgewachsener und plumper Junge, aber auch sportlich, wenn auch weniger, als sein Vater gedacht hatte. Schwarzhaarig, pferdhaftes Lächeln und so mager, dass er immer wie im Profil wirkte, begleitete ihn der Ruf, Unglück zu bringen. Niemand weiß, wie und wann dieses Gerücht aufgekommen war, und daher schien es schon immer an ihm zu kleben, ebenso wie der Spitzname, der daraus resultierte — der Unaussprechliche. Während seiner Kindheit hatte er einen anderen Spitznamen getragen — Blizzard —, wegen der Skimarke, die er bei den Nachwuchsrennen im Toskanisch-Emilianischen Appenin fuhr, als er als Zukunftshoffnung galt. Tatsächlich stand ein Skirennen am Anfang, ein Riesenslalom im Skigebiet Zum Zeri —Passo dei Due Santi für die internationalen Qualifikationen. Duccio Chilleri hatte den ersten Durchgang auf dem zweiten Platz in seiner Klasse beendet, hinter einem unsympathischen kleinen Kerl aus Modena namens Tavella. Die Wetterbedingungen waren schwierig, es blies ein heftiger Wind, und trotzdem lag die Piste im Nebel, so dass die Jury daran dachte, das Rennen abzubrechen. Dann hatte der Wind nachgelassen, der zweite Durchgang konnte durchgeführt werden, obwohl der Nebel dichter geworden war. Während er auf den Start wartete, wärmte Duccios Vater, der auch sein Trainer war, seine Beinmuskeln und munterte ihn auf, den Lauf ohne Angst in Angriff zu nehmen, bis zum Äußersten zu gehen, um Tavella zu schlagen. Als er im Starthäuschen stand, bereit, sich auf die schier unsichtbare Piste zu stürzen, und sein Trainervater nicht müde wurde zu wiederholen, er könne es schaffen, könne siegen, könne Tavella schlagen, da hörte man, wie Duccio Chilleri den folgenden Satz sagte: »Er wird sowieso stürzen und sich dabei auch weh tun.« Er kam mit Bestzeit ins Ziel, gleich nach ihm war Tavella an der Reihe. Niemand konnte genau sehen, wie es geschah, so dicht war der Nebel, aber kurz vor der Zwischenzeit, in einem Flachstück nach der sogenannten Mauer, hörte man einen markerschütternden Schrei von der Strecke, und als die Torrichter herbeiliefen, fanden sie Tavella bewusstlos am Boden, ein Skistock steckte halb in seinem Oberschenkel — damals benutzte man noch Skistöcke aus Holz, und manchmal splitterte das Holz —, und eine Blutlache überzog die milchige Fläche aus Schnee und Nebel. Man hätte meinen können, Indianer hätten ihn überfallen. Der Junge verblutete nicht, da der Skistock zwar den Muskel durchbohrt, die Oberschenkelarterie aber nur gestreift hatte, doch es handelte sich um den schlimmsten Unfall in der Geschichte dieses Skigebiets, der über Saisonen hinweg Gesprächsstoff blieb zusammen mit den Worten, die Duccio Chilleri gesagt hatte, bevor er gestartet war.

Und so hatte er bereits zu Beginn der Jugend den Ruf eines Unglücksbringers, ganz unerwartet und ohne die Möglichkeit, ihn wieder loszuwerden. Niemand hatte sich, auch später nicht, die Mühe gemacht, anzumerken, dass blizzard im Englischen »Sturm« bedeutet; von Kindheit an hing ihm ein Karma an, das dieser Spitzname treffend bezeichnete, treffender als der, der ihn als Erwachsener erwartete. Schon gar nicht hatte man in Erwägung gezogen, sein Nachname — der sich ziemlich selten in Italien und nur in einigen Gegenden der Toskana findet — könnte sich (eine sehr suggestive Annahme in seinem Fall) von dem englischen killer herleiten; man wäre damit auf dem Holzweg gewesen, denn die Entstehung dieses Nachnamens verdankt sich vermutlich der Verwechslung eines Konsonanten mit dem geläufigeren Namen Chillemi, der in seinem adligen Zweig aus der Lombardei stammt und im plebejischen auf Sizilien sehr verbreitet ist, oder der Einwanderung einiger Mitglieder der französischen Vicomte de Chiller nach Italien. Dies sei nur deshalb erwähnt, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, mit welch unglaublicher Oberflächlichkeit man das Phänomen behandelte, wie wenig man es für notwendig hielt, diese Angelegenheit zu hinterfragen. Er brachte Unglück, Punktum, wozu noch nachfragen?

In den Übergangsjahren von Blizzard zu der Unaussprechliche war die Zahl der während der aktiven Zeit als Sportler erworbenen Freundschaften immer weniger geworden, und im Alter von 16 war der einzige Freund, der ihm in ganz Florenz geblieben war, Marco Carrera. Sie waren Banknachbarn in der Grund- und Mittelschule gewesen, Tennispartner im C. T. Firenze, Kameraden im Skiclub, bis Marco aufhörte, an Rennen teilzunehmen, und obwohl sie auf verschiedene Gymnasien gingen, trafen sie sich weiter Tag für Tag, auch aus Gründen, die nichts mit Sport zu tun hatten; in erster Linie der amerikanischen West-Coast-Musik wegen — Eagles, Crosby, Stills, Nash & Young, Poco, Grateful Dead —, die beide leidenschaftlich gern hörten. Was aber vor allem, vor allem ihre Freundschaft festigte, war das Glücksspiel. Duccio war derjenige, der es im Blut hatte. Marco ließ sich eher von seinem Freund mitreißen, er genoss das phantastische Freiheits-, man könnte auch sagen Befreiungsgefühl, das diese Wende in ihrem Leben ausgelöst hatte. Denn keiner von beiden stammte aus einer Familie, die irgendwann von diesem Dämon besessen gewesen wäre, und sei es auch nur am Rand oder in längst vergangenen Zeiten; kein Großonkel, der in den Bakkaratsälen der faschistischen Aristokratie verarmt wäre, kein Vermögen aus dem 19. Jahrhundert, das sich durch einen im Ersten Weltkrieg verrückt gewordenen Urgroßvater im Handumdrehen in Luft aufgelöst hatte. Sie hatten das Glücksspiel schlicht für sich entdeckt. Vor allem Duccio nutzte es, um aus dem goldenen Käfig (so sagte man damals) auszubrechen, in den seine Eltern ihn gesperrt hatten, und die Aussicht, ihr Vermögen in den Spielhöllen und Casinos zu verschleudern, verlockte ihn mindestens so sehr, wie es sie verlockt hatte, es mit Bekleidungsgeschäften anzuhäufen. Dabei war er 15, 16, 17 — was will man in diesem Alter schon verschleudern? So großzügig sein wöchentliches Taschengeld auch war (mehr oder weniger doppelt so hoch wie das von Marco), mit einem solchen Budget war es schwerlich möglich, den Wohlstand seiner Familie anzukratzen; allenfalls konnte man sich in schwierigen Zeiten im Mondo Disco, dem Plattengeschäft in der Via dei Conti, verschulden, wo er und Marco sich mit internationaler Musik eindeckten — eine Schuld, die er innerhalb weniger Wochen stets ganz allein zu tilgen vermochte, ohne dass seine Eltern irgendetwas bemerkten.

Tatsache ist, dass er meistens gewann. Er war wirklich gut. Beim Poker mit den Freunden (jene unschuldigen Partien samstagnachts, in denen man maximal 20.000 Lire gewinnen konnte) gab es keinen wirklichen Wettstreit, und daher wurde er aufgrund des Rufs, der ihn mittlerweile in den Unaussprechlichen verwandelt hatte, sehr bald ausgeschlossen. Marco dagegen wurde nicht ausgeschlossen und nahm eine Zeitlang weiter daran teil, und auch er gewann, bis er von sich aus aufhörte, um seinem Freund auf professionelleren Wegen zu folgen. Zunächst die Pferde. Da er noch minderjährig war, hatte Duccio Chilleri keinen Zugang zu den illegalen Spielhöllen, ganz zu schweigen von den Casinos, aber am Schalter der Rennbahn Le Mulina verlangten sie keinen Ausweis. Auch auf diesem Gebiet war er begabt, er improvisierte nicht. Er schwänzte die Schule, um ganze Vormittage auf der Rennbahn zu verbringen und die Pferde laufen zu sehen, in Gesellschaft von Kiebitzen, die ihn in die Geheimnisse der Trabrennen einweihten. Marco war immer häufiger an seiner Seite, sei es beim wichtigen vormittäglichen Training, sei es nachmittags in den Ställen oder erneut auf der Mulina, bei den abendlichen Zusammenkünften, um auf die beobachteten Pferde zu wetten oder auf diejenigen, die in den abgekarteten Rennen laufen sollten, von denen sie erfahren hatten. Erneut gewannen die beiden Freunde häufiger, als sie verloren.

Doch im Unterschied zu Marco, der andere Freundschaften, den Sport und das Interesse an Mädchen nicht aufgegeben und vor seiner Familie stets verborgen gehalten hatte — die es ihm ermöglichte, das glänzende Leben zu führen, das alle ihm prophezeiten —, benutzte Duccio das Spielen und Wetten, um die Verbindungen zum bürgerlichen Leben zu kappen. Der Unaussprechliche geworden zu sein hatte ihn anfangs so sehr gedemütigt, dass er nach und nach lernte, daraus einen Vorteil zu ziehen. Obwohl seine ehemaligen Freunde ihn mieden wie die Pest, sah er sie weiter täglich in der Schule, und da Florenz nicht Los Angeles war, begegnete er ihnen auch in der Stadt, im Kino, in den Bars. Unter diesen Umständen hatte er begriffen, dass jede seiner Äußerungen die mystische Macht eines Anathemas hatte, und da jedem früher oder später etwas Schlimmes passierte, erwiesen sich ein »du siehst aber gut aus« ebenso wie ein »du wirkst etwas deprimiert« gleichermaßen tödlich für seinen Gesprächspartner und hatten augenblicklich eine niederschmetternde Wirkung auf ihn. Denn so überraschend es Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts auch klingen mag, die anderen Jungs glaubten tatsächlich, dass Duccio Chilleri Unglück brachte. Marco glaubte das natürlich nicht, und die Frage, die ihm von allen immer wieder gestellt wurde, war stets die gleiche: »Warum gehst du denn immer noch mit ihm aus?« Und auch die Antwort war stets die gleiche: »Weil er mein Freund ist.«

Marco hätte es zwar niemals zugegeben, doch es gab noch zwei weitere, geringfügigere Gründe, warum er mit ihm verkehrte. Der eine, wir haben es gesagt, war das Spiel; es versetzte Marco unvergleichliche Adrenalinstöße, er verdiente Geld und entdeckte eine Unterwelt, die sich weder seine überaus elegante Mutter noch sein sanftmütiger Vater, und erst recht nicht seine beiden Geschwister — die vier Jahre ältere und ganz mit ihren eigenen Beziehungsproblemen beschäftigte Irene und der nur wenig jüngere und vom Konkurrenzdenken zerfressene Giacomo — im Entferntesten hätten vorstellen können. Der andere Grund war ein hoffnungslos narzisstischer: Die Tatsache, dass er weiterhin mit einem Individuum verkehrte, das die anderen mieden, wurde ihm verziehen; wegen seiner Intelligenz, seines guten Charakters und seiner Großzügigkeit — aus welchem Motiv auch immer hatte Marco die Fähigkeit, sich dem Herdentrieb zu widersetzen, ohne irgendeine Strafe gewärtigen zu müssen, und sich in dieser Macht zu spiegeln befriedigte ihn. Dies waren die einzigen Gründe, die Marco in den folgenden Jahren dazu bewogen, mit Duccio auszugehen, während diejenigen, die ihre frühere Freundschaft genährt hatten, einer nach dem anderen verschwunden waren. Denn Duccio hatte sich verändert, zum Schlechteren, wie Marco allmählich begriff. In physischer Hinsicht war er schlicht nicht mehr präsentabel; beim Sprechen bildete sich weißer Speichel in den Mundwinkeln; das rabenschwarze Haar wurde immer fettiger und schuppiger; er wusch sich selten, meist stank er. Mit der Zeit hatte er jedes Interesse an der Musik verloren; England erlebte eine neue Blüte — The Clash, The Cure, Graham Parker & The Rumour, die funkelnde Welt von Elvis Costello —, aber das interessierte ihn nicht, er kaufte keine Platten mehr und hörte sich auch die Kassetten nicht an, die Marco für ihn aufnahm. Er las auch keine Bücher und Zeitungen mehr, außer Trotto Sportsman. Er verwendete unpassende Ausdrücke, die nicht dem Wortschatz seiner Generation entsprachen: »gut und reichlich«, »oft und gern«, »die Moral von der Geschichte«, »eine Menge Dinge«, »in diesem Sinn«, »zweifellos«. Mädchen interessierten ihn nicht, alles, was er brauchte, fand er bei den Huren im Park Le Cascine.

Nein, Marco mochte ihn noch immer, aber als Freund war Duccio nicht mehr zu gebrauchen, und das nicht wegen seines Rufs als der Unaussprechliche. Im Gegenteil, im Bewusstsein seiner Straffreiheit führte Marco einen erbitterten, ja geradezu heroischen Kampf gegen ihn, wenn es um Mädchen ging, die ihm gefielen: Ihr seid verrückt, sagte er, ich verstehe nicht, wie ihr das wirklich glauben könnt. Und wenn diese die Liste der Unglücks- und Trauerfälle und Streitereien herunterleierten, die sein Auftreten irgendwo ausgelöst hatte, gab er seiner Missbilligung Ausdruck und schleuderte ihnen empört den endgültigen Beweis ins Gesicht: Herrgott noch mal, seht doch mich an. Ich verkehre mit ihm, und mir ist nie etwas passiert. Ihr verkehrt mit mir — nichts. Warum redet ihr einen solchen Mist?

Inzwischen war es unmöglich geworden, die Kruste zu entfernen, die sich um Duccio Chilleri gebildet hatte, und daher war, um Marcos Argumentation zu entkräften, die Theorie vom Auge des Zyklons aufgetaucht. Sie lautete so: Da man nichts zu befürchten hat, wenn man sich ins Zentrum der Wirbelstürme begibt, die Küsten und Städte verwüsten, riskierte man nichts, wenn man in engem Kontakt mit dem Unaussprechlichen blieb, so wie Marco; eine leichte Abweichung jedoch — eine zufällige Begegnung, ein Mitfahren im Auto, ja sogar ein einfaches Winken von ferne — bedeutete sofort das Aus für die Dörfer, die von dem Zyklon weggefegt wurden. Das war die Lösung. Sie erlaubte Marcos Freunden zu scherzen, aber auch ernsthaft an das Unglück zu glauben, das Baron Samstag (einer von Duccios Spitznamen, so wie Loa, Bokor, Mephisto und Ypso) brachte, und Marco, weiterhin mit ihnen zu verkehren und sie wegen ihres Aberglaubens zu tadeln. Es war ein Gleichgewicht — das einzig mögliche. Die Theorie vom Auge des Zyklons.

Diese Sache

(1999)

Marco Carrera

c/o Adelino Viespoli

Via Catalani 21

00199 Roma

Italia

Paris, 16. 12. 1999

Es ist passiert, meine Güte, es ist passiert. Es ist passiert, und niemand hat es bemerkt. Das ist ein unverschämter Brief, Marco, und ich weiß nicht, was ich sagen soll, wie immer.

Es stimmt, ich bin nicht glücklich, aber niemand ist schuld daran, die Schuld liegt ganz bei mir. Nein, das ist nicht richtig, ich hätte nicht Schuld schreiben sollen, vielleicht sollte ich »die Sache« sagen, nicht die Schuld.

Ich bin mit dieser Sache geboren worden, ich schleppe sie seit 33 Jahren mit mir herum, und niemand kann etwas dafür, es ist ganz allein meine Sache, wie das Schuldgefühl, dafür ist niemand verantwortlich, es reicht, dass man nicht als Arschloch geboren wurde, und schon hat man es.

Und was sage ich Dir jetzt? Ich sage Dir, ja, Du hättest jetzt die Gelegenheit herauszufinden, ob das, was Du denkst und was Du schreibst, wahr ist, ohne dass Du reich und schön sein musst. Du bist jetzt rein wie ein Spatz, Du hast keine Schuld, Du kannst wieder bei null anfangen, Du kannst auch Fehler machen, wenn Du willst, da Du danach ja noch mal von vorn anfangen kannst.

Ich nicht, Marco, ich befinde mich in einer ganz anderen Situation, und ich sollte sie aus eigenem Antrieb ändern, vielleicht hätte ich dann wirklich keinen Frieden mehr. Aber ich weiß, dass Du mich verstehst, denn Du bist wie ich, Du liebst wie ich, wir leben in der Furcht, denen weh zu tun, die uns nahe sind.

Ich glaube, Du bist der beste Teil meines Lebens, derjenige ohne Lügen, ohne Betrug, ohne Stinkwut (Du hast mich jetzt gerufen, jetzt verliere ich mich), der Teil, den man träumen kann, auch nachts, denn ich träume immer noch von Dir.

Wird es ein Traum bleiben? Wird alles geschehen? Wird etwas geschehen? Ich bin hier, und ich warte auf Dich, ich will nichts tun, ich will, dass die Dinge von allein geschehen. Ich weiß, das ist eine Scheißtheorie, da mir nie etwas passiert, aber ich kann keine Entscheidungen treffen, nicht in dieser Sache, nicht in diesem Augenblick.

Vielleicht habe ich mich in all diesen Jahren darin geübt, nichts zu tun, um in dieser Sache erfolgreich sein zu können. Welche Sache? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich fange an zu phantasieren, ich breche ab.

Luisa

Ein glückliches Kind

(1960 bis 1970)

Während seiner ganzen Kindheit hatte Marco Carrera nichts bemerkt. Er hatte nichts mitbekommen von den Streitereien zwischen seiner Mutter und seinem Vater, von ihrer Ungeduld, von seinem unerträglichen Schweigen, von den nächtlichen Diskussionen, die flüsternd ausgetragen wurden, damit die Kinder sie nicht hörten, die aber doch von seiner älteren Schwester Irene aufmerksam mitangehört und mit masochistischer Genauigkeit im Gedächtnis gespeichert wurden; er hatte nichts mitbekommen von den Gründen für diese Streitigkeiten, diese Ungeduld, diese Ehekräche, die für seine Schwester dagegen so klar gewesen waren, und daher hatte er nicht bemerkt, dass seine Mutter und sein Vater, obwohl beide déracinés, Entwurzelte (sie, Letizia — ein ironischer Name —, Apulierin aus dem Salento; er, Probo — nomen est omen — aus der Provinz Sondrio), nicht füreinander geschaffen waren und praktisch nichts gemeinsam hatten. Möglicherweise gab es sogar keine zwei Personen auf der ganzen Welt, die verschiedener gewesen wären — sie Architektin, ganz Denken und Revolution, er Ingenieur, ganz Berechnung und Fingerfertigkeit, sie erfasst vom Strudel der radikalen Architektur, er der beste Entwickler von Kunststoffen Mittelitaliens —, und daher hatte er nicht bemerkt, dass hinter der Fassade des bescheidenen Wohlstands, in dem er und seine Geschwister aufgezogen wurden, ihre Ehe gescheitert war und nur Verbitterung und Anschuldigungen und Provokationen und Demütigungen und Schuldgefühle und Groll und Resignation hervorbrachte, mit anderen Worten, er hatte nicht bemerkt, dass seine Eltern sich nicht mehr liebten, zumindest nicht in der geläufigen Bedeutung des Verbs »sich lieben«, das Gegenseitigkeit voraussetzt, da es in ihrer Verbindung zwar Liebe gab, jedoch als Einbahnstraße, empfunden nur von ihm für sie, eine unglückliche Liebe also, heroisch, hündisch, irreduzibel, unsagbar, selbstzerstörerisch, die seine Mutter nie anzunehmen und zu erwidern, andererseits aber auch nicht zurückzuweisen vermocht hatte, da es offensichtlich war, dass kein anderer Mann auf der Welt sie je so hätte lieben können, und dass sie auf diese Weise zu einem Tumor geworden war, zu einer bösartigen und wuchernden Raumforderung, die seine Familie von innen her zerfraß und in dem Unglück festhielt, in dem Marco, ohne es zu bemerken, aufgewachsen war. Er hatte nicht bemerkt, dass die fieberhaften Tätigkeiten seiner Mutter — Architektur, Design, Fotografie, Yoga, Psychoanalyse — nur Versuche waren, das Gleichgewicht zu finden, und auch nicht, dass eine dieser Tätigkeiten darin bestand, seinen Vater, wenn auch ungeschickt, mit Männern zu betrügen, die sie unter den Intellektuellen aufgabelte, die damals vielleicht zum letzten Mal in der Geschichte der Stadt Florenz internationales Ansehen verliehen, den »Hirten der Monster« des Superstudios und von Archizoom und ihren Gefolgsleuten, denen sie sich zurechnete, obwohl sie aus einer wohlhabenden Familie stammte, was ihr erlaubte, sich den Initiativen ihrer jungen Idole zu widmen, ohne eine Lira zu verdienen. Er hatte nicht bemerkt, dass sein Vater von dieser ehelichen Untreue wusste. Er, Marco Carrera, hatte nichts bemerkt, seine ganze Kindheit hindurch nicht, und nur deshalb hatte er eine glückliche Kindheit gehabt. Ja mehr noch: Da er nicht, wie seine Schwester, an seinem Vater und seiner Mutter gezweifelt hatte, da er nicht wie sie sofort begriffen hatte, dass sie keineswegs musterhafte Beispiele waren, nahm er sie sich sogar zum Vorbild und eiferte ihnen nach, indem er sich aus einer verschlungenen Mischung aus Eigenschaften formte, die er sich vom einen wie von der anderen entlieh — die gleichen, die sich in ihrem Versuch, eine Ehe zu führen, als unvereinbar erwiesen hatten. Was hatte er in seiner Kindheit von seiner Mutter übernommen, während er nichts bemerkt hatte? Was von seinem Vater? Und was hätte er letztlich umgekehrt für sein ganzes Leben wegen der einen und des anderen abgelehnt, nachdem er sich all dessen bewusst geworden wäre? Von seiner Mutter hatte er die Unrast übernommen, aber nicht die Radikalität; die Neugier, aber nicht die Angst vor Veränderung. Von seinem Vater die Geduld, aber nicht die Vorsicht, die Neigung zu ertragen, aber nicht die zu schweigen. Von ihr die Begabung des Blicks, vor allem durch den Sucher der Kameras. Vom Vater das Geschick mit den Händen. Außerdem hatte, da die enorme Distanz zwischen seinem Vater und seiner Mutter plötzlich keine Rolle mehr spielte, wenn es darum ging, die Gegenstände auszuwählen, die Tatsache, dass sie in diesem Haus aufgewachsen waren (das heißt, sich von Geburt an auf diese Stühle gesetzt hatten, in diesen Sesseln und diesen Sofas eingeschlafen waren, an diesen Tischen gegessen, an diesen Schreibtischen gelernt hatten, im Licht dieser Lampen, umgeben von diesen Bücherregalen et cetera), ihnen ein gewisses arrogantes Überlegenheitsgefühl vermittelt, das für bestimmte bürgerliche Familien der sechziger und siebziger Jahre typisch war; das Gefühl, wenn auch nicht in der besten aller möglichen Welten zu leben, so doch zumindest in der schönsten — eine Vorrangstellung, für die die von seinem Vater und seiner Mutter angehäuften Dinge der Beweis waren. Daher, und nicht aus Sentimentalität, würde es Marco Carrera, auch als ihm all das bewusstgeworden war, was in seiner Familie nicht geklappt hatte, und sogar als es seine Familie praktisch nicht mehr gab, immer schwerfallen, sich von den Gegenständen zu trennen, die ihn umgeben hatten: weil sie schön waren, immer noch schön waren, für immer schön waren — und diese Schönheit war die Spucke gewesen, die seinen Vater und seine Mutter zusammengehalten hatte. Nach ihrem Tod würde er sie sogar inventarisieren müssen, diese Gegenstände, einen nach dem anderen, mit der schmerzlichen Aussicht, sie zusammen mit dem Haus an der Piazza Savonarola zu verkaufen (sein Bruder, der sich hartnäckig an die Entscheidung klammerte, nie mehr nach Italien zurückzukehren, würde am Telefon von »Entsorgen« sprechen), mit dem genau gegenteiligen Ergebnis allerdings, dass er sie sich bis ans Ende seiner Tage ans Bein band.

Andererseits machte die manische Ordnung, auf die er bei all seinen Dingen achtete — ohne sie, das muss gesagt werden, von anderen zu verlangen, aber dennoch absolut, einschüchternd und letztlich gewalttätig —, aus ihm eine mit Verachtung gestrafte schlampige Person, während die Mutter für seine unbezwingbare Aversion gegen die Psychoanalyse verantwortlich war, die sich als entscheidend in seinen Beziehungen mit den Frauen erweisen sollte, da das Schicksal wollte, dass alle Frauen in seinem Leben, angefangen natürlich mit seiner Mutter und seiner Schwester Irene, und dann immer so weiter Freundinnen, Verlobte, Kolleginnen, Ehefrauen, Töchter, dass alle, wirklich alle stets von unterschiedlichen Arten von Psychotherapie geleitet werden sollten, was ihm als Sohn, Bruder, Freund, Verlobter, Kollege, Ehemann und Vater seine ursprüngliche Intuition bestätigte: Die »passive Psychoanalyse«, wie er sie nannte, war sehr schädlich. Niemand von ihnen kümmerte sich jedoch darum, nicht einmal, als er begonnen hatte, sich darüber zu beschweren. Schäden, wurde ihm gesagt, gebe es in jeder Familie und jeder Art von Beziehung, egal welcher; die Psychoanalyse verantwortlich zu machen für — sagen wir — die Schachleidenschaft sei ein Vorurteil. Vielleicht hatten sie ja recht, doch der Preis, den Marco Carrera für diese Schäden zahlen sollte, würde dazu führen, dass er sich im Recht fühlte, die Sache so zu sehen: Die Psychoanalyse war wie das Rauchen, es reichte nicht, sie nicht zu praktizieren, man musste sich auch vor denen schützen, die sie praktizierten. Allerdings war die einzige bekannte Möglichkeit, sich vor der Psychoanalyse der anderen zu schützen, selbst zur Analyse zu gehen, und in diesem Punkt war nicht mit ihm zu reden.

Im Übrigen brauchte er keinen Psychoanalytiker, um sich die richtigen Fragen zu stellen: Warum war er angesichts so vieler Frauen, die nicht zum Psychoanalytiker gingen, nur mit solchen zusammen, die hingingen? Und warum erläuterte er seine Theorie der passiven Psychoanalyse lieber ihnen, was zwangsläufig oberflächlich bleiben musste, statt den Frauen, die sie nicht praktizierten, bei denen er einen vorhersehbaren Erfolg gehabt hätte?

Ein Inventar

(2008)

An: Giacomo — [email protected]

Gesendet — Gmail — 19. September 2008 16:39

Betreff: Inventar Piazza Savonarola

Von: Marco Carrera

Lieber Giacomo,

Du antwortest mir weiterhin nicht, und ich schreibe Dir weiterhin. Ich möchte Dich auf dem Laufenden halten über die Arbeit, die ich mache, um das Haus an der Piazza Savonarola zu verkaufen, und Dein Schweigen wird mich gewiss nicht davon abhalten. Die Neuigkeit ist, dass ich Piero Brachi angerufen habe (erinnerst Du Dich? Den vom STUDIO B, wo zwei Jahrzehnte lang alle Möbel unseres Hauses gekauft wurden), der jetzt mit über siebzig eine Auktionsplattform für Wohnungseinrichtung, spezialisiert auf Design der Sechziger und Siebziger, leitet, und die Einrichtungsgegenstände im Haus habe schätzen lassen.

Wie ich mir dachte, sind einige ziemlich wertvoll, und es ist eine eindrucksvolle Summe dabei herausgekommen, nicht zuletzt auch, weil es sich aufgrund der bekannten Ereignisse, die dazu geführt haben, dass das Haus sich geleert hat und unsere Familie den Bach runtergegangen ist, in der Mehrzahl um Gegenstände in einem hervorragenden Zustand handelt. Viele von ihnen, sagt Brachi, sind im MoMa ausgestellt. Daher müssen wir eine Entscheidung treffen, was wir damit tun wollen, wenn wir das Haus verkaufen, denn wenn wir sie im Haus lassen, bekommen wir dafür keinen Aufschlag auf den Verkaufspreis des Hauses. Wir können sie Brachi anvertrauen, der sie nach und nach auf seiner Plattform verkaufen wird, oder sie unter uns nach unseren Bedürfnissen und Vorlieben aufteilen.

Ich bitte Dich, die Frage, die ich Dir stelle, ernst zu nehmen, Giacomo, bei der es aus naheliegenden Gründen nicht nur ums Geld geht; es handelt sich um all das, was von einem Leben und einer Familie übrigbleibt, die es dort nicht mehr gibt, von denen Du und ich aber über zwanzig Jahre ein Teil gewesen sind, und auch wenn die Dinge sich so entwickelt haben, wie sie sich entwickelt haben, gibt es keinen Grund, glaub mir, sie zu »entsorgen«, wie Du gesagt hast, als Du mir das letzte Mal geantwortet hast, Unglück auf Unglück häufend. Kurz und gut, Brachi war bewegt, als er all diese schönen Dinge wiedersah, die er uns selbst verkauft hatte; ich kann nicht glauben, dass es Dich nicht interessiert, bei der Entscheidung, was wir damit machen wollen, mitzureden. Ich garantiere Dir, dass es keinerlei Diskussionen geben wird, ich werde genau das machen, was Du mir sagen wirst, wenn Du nur akzeptieren willst, dass es nicht richtig ist, das alles zu entrümpeln. Die Dinge sind unschuldig, Giacomo.

Ich schicke Dir also im Folgenden das Inventar mit allen Schätzpreisen, das Piero Brachi mir ausgehändigt hat. Es ist sehr nüchtern, unpersönlich, wie ich es von ihm verlangt habe und wie Du es, denke ich mir, vorziehst, obwohl er sogar viele intime Dinge über jeden dieser Gegenstände weiß: von wem er gekauft wurde, in welchem Zimmer er stand, etc.

Inventar der Einrichtung im Haus an der Piazza Savonarola:

—  2 zweisitzige Sofas Le Bambole, Metall, graues Leder, Polyurethan, Mario Bellini für B & B, 1972 (20 000€)

—  3 Amanta-Sessel*, Glasfaser und schwarzes Leder, Mario Bellini für B & B, 1966 (4400€)

—  1 Zelda-Sessel, palisanderfarbenes Holz und lederfarbenes Leder, Sergio Asti, Sergio Favre für Poltronova, 1962 (2200€)

—  1 Soriana-Sessel, Stahl und braunes Anilinleder, Tobia und Afra Scarpa für Cassina, 1970 (4000€)

—  1 Sacco-Sessel*, Polystyrol und braunes Leder, Gatti, Paolini und Teodoro für Zanotta, 1969 (450€)

—  1 Woodline-Sessel, heißgebogenes Holz und schwarzes Leder, Marco Zanuso für Arflex, 1965 (1000€)

—  1 Kaffeetischchen Amanta, schwarze Glasfaser, Mario Bellini für B & B, 1966 (450€)

—  1 niedriger Tisch 748, braunes Teak, Ico Parisi für Cassina, 1961 (1100€)

—  1 niedriger Tisch Demetrio 70, orangefarbenes Plastik, Vico Magistretti für Artemide, 1966 (150€)

—  1 Tisch La Rotonda, natürliches Kirschholz und Glas, Mario Bellini für  Cassina, 1976 (4000€)

—  1 Bücherregal Dodona 300, schwarzes Plastik, Ernesto Gismondi für Artemide, 1970 (4500€)

—  2 Bücherregale Sergesto, weißes Plastik, Sergio Mazza für Artemide, 1973 (1500€)

—  1 Deckenlampe O-Look, Aluminium, Superstudio für Poltronova, 1967 (4400€)

—  1 Tischlampe Passiflora, gelbes Perspex und Opalin, Superstudio für Poltronova, 1968 (1900€)

—  1 Tischlampe Saffo, silbernes Aluminium und Glas, Angelo Mangiarotti für Artemide, 1967 (1650€)

—  1 Lampe Baobab, weißes Plastik, Harvey Guzzini für Guzzini, 1971 (525€)

—  1 Lampe Eclisse, rotes Metall, Vico Magistretti für Artemide, 1967 (125€)

—  1 Tischleuchte Gherpe, Platte aus rotem Perspex und Chromstahl, Superstudio für Poltronova, 1967 (4000€)

—  1 Tischlampe Mezzachimera, weißes Acryl, Vico Magistretti für Artemide, 1970 (450€)

—  1 Deckenlampe Parentesi, Metall und Plastik, Achille Castiglioni und Pio Manzù für Flos, 1971 (750€)

—  12 Decken- und Wandleuchten Teti, weißes Plastik, Vico Magistretti für Artemide, 1974 (1000€)

—  1 Leselampe Hebi, Metall und weißes gewelltes Plastik, Isao Hosoe für Valenti, 1972 (450€)

—  1 Tischlampe Telegono, rotes Plastik, Vico Magistretti für Artemide, 1968 (1800€)

—  3 Schreibtische Graphis, Holz und weißlackiertes Metall, Osvaldo Borsani für Tecno, mit Schubladen, 1968 (3000€)

—  1 Tisch TL 58, Tischlerplatte und massives Walnussholz, Marco Zanuso für Carlo Poggi, 1979 (8500€)

—  3 Wandregale Uten.Silo 1, rotes, gelbes und grünes Plastik, Dorothee Becker für Ingo Maurer, 1965 (1800€)

—  4 Rollwagen Boby, Polypropylen und weiß, grün, rot und schwarz bedrucktes ABS, Joe Colombo für Bieffeplast, 1970 (1000€)

—  7 Stühle mit Rollen Modus, Metall und Plastik in verschiedenen Farben, Osvaldo Borsani für Tecno, 1973 (700€)

—  4 Bürostühle, Chromstahl und Leder, Giovanni Carini für Planula, 1967 (800€)

—  7 Plia-Stühle, Aluminium und transparentes Plexiglas, Giancarlo Piretti für Castelli, 1967 (1050€)

—  4 Loop-Stühle, Korbgeflecht, Frankreich, sechziger Jahre (1200€)

—  4 Selene-Stühle, beiges Polyester, Vico Magistretti für Artemide, 1969 (600€)

—  4 Basket-Stühle*, Stahl und beiges Rattan, Franco Campo und Carlo Graffi für Home, 1956 (1000€)

—  1 Wassily-Stuhl Modell B3, braunes Leder und Stahl mit Chromdublierung, Marcel Breuer für Gavina, 1963 (1800€)

—  1 Reißbrett mit Federn, Holz mit Armen aus Stahl, Ing. M. Sacchi für Ing. M. Sacchi srl, 1922 (4500€)

—  2 Vintage-Nachttische, braunes Teak, Aksel Kjersgaard für Kjersgaard, 1956 (1200€)

—  1 Kleiderständer Sciangai, natürliches Buchenholz, De Pas, D’Urbino und Lomazzi für Zanotta, 1974 (400€)

—  1 Schirmständer Dedalo, organgefarbenes Plastik, Emma Gismondi Schweinberger für Artemide, 1966 (300€)

—  1 Schreibmaschine Valentine, Metall und rotes Plastik, Ettore Sottsass und Perry A. King für Olivetti, 1968 (500€)

—  3 Grillo-Telefone, Marco Zanuso und Richard Sapper für Siemens, 1965 (210€)

—  1 Radio Cubo ts522, Chromstahl und rotes Plastik, Marco Zanuso und Richard Sapper für Brionvega, 1966 (360€)

—  1 Hi-Fi-Kompaktanlage Totem*, Mario Bellini für Brionvega, 1970 (700€)

—  2 Empfänger für Drahtfunk FD 1102 Nr. 5, Marco Zanuso für Brionvega, 1969 (300€)

—  1 Plattenspieler RR 126 Mid-Century*, mit integriertem Verstärker und integrierten Lautsprechern, Bakelit und beiges Holz, Plexiglas, Pier Giacomo und Achille Castiglioni für Brionvega, 1967 (2000€)

—  1 tragbarer Plattenspieler, Musicalsound, 1975 (180€)

Die mit * gekennzeichneten Gegenstände sind mit weniger als 50 Prozent ihres Werts bewertet worden, weil sie nicht funktionieren oder in einem schlechten Zustand sind.

Schätzwert insgesamt 92.800€

Verstehst Du, Giacomo? Dieses Haus ist ein Museum. Sag mir, was du mit diesen Sachen machen willst, ernsthaft, und ich werde es tun. Aber sag mir nicht, ich soll sie entsorgen.

Ach, ich hoffe, ich hoffe, Du hast bemerkt, dass wir hinsichtlich der Asteriske quitt sind: Wir haben jeder einen Plattenspieler kaputtgemacht.

Ich umarme Dich

Marco

Flugzeuge

(2000)

1959, im Jahr seiner Geburt, hatte die Zahl der Flugpassagiere diejenige der Schiffspassagiere übertroffen. Marco Carrera kam es so vor, als hätte er das immer schon gewusst, da sein Vater es ihm schon eingebläut hatte, als er noch gar nicht fähig gewesen war, es zu verstehen; ein epochales Ereignis, seinem Vater zufolge, der ein begeisterter Leser von Science-Fiction-Romanen war, in denen für die Zukunft eine sehr viel größere Mobilität am Himmel als auf der Erde oder auf dem Wasser prophezeit wurde. Wie es so ist mit Dingen, die man immer schon gewusst hatte, unterschätzte Marco Carrera diese Information, die er eher den fixen Ideen seines Vaters zurechnete als den mächtigsten Samen seines Karmas. Und doch …