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Fall 9 und 10 von Kommissar Phillippe Lagarde in einem E-Book Bundle!
Der Kommissar und das Biest von Marcouf -
Monsieur le Commissaire und die toten Liebenden.
Auf der einsamen Vogelinsel Île de Terre wird ein ermordetes Liebespaar aufgefunden. Jemand hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten und mit dem Blut der Opfer eine Botschaft hinterlassen. Commissaire Philippe Lagarde tappt im Dunkeln, jede Spur scheint ins Leere zu führen. Kurz darauf werden zwei skelettierte Leichen gefunden. Auch an diesem Tatort entdecken die Ermittler eine zynische Botschaft des Mörders. Als ein weiteres Liebespaar plötzlich nicht mehr erreichbar ist, muss der Commissaire sich fragen: Ist er auf der Jagd nach einem Serienmörder?
Der Kommissar und die Toten von der Loire -
Monsieur le Commissaire und der Mord aus dem Hinterhalt.
Nach einem Ritterturnier auf einem Schloss an der Loire machen die Gäste einen grausamen Fund: Ein Mann wurde von Pferden zu Tode getrampelt. Der vermeintliche Unfall entpuppt sich schnell als Mord, das Opfer wurde mit einem Pfeil erschossen. Die örtliche Polizei ist überfordert und holt sich Hilfe von Commissaire Philippe Lagarde. Kurz darauf ereignet sich auf dem Areal eines anderen Schlosses ein ähnlicher Fall. Zwischen den Opfern scheint es keine Verbindung zu geben, doch Lagarde hat einen Verdacht, der ihn an seine Grenzen bringt ...
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Seitenzahl: 614
Veröffentlichungsjahr: 2025
Auf der einsamen Vogelinsel Île de Terre wird ein ermordetes Liebespaar aufgefunden. Jemand hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten und mit dem Blut der Opfer eine Botschaft hinterlassen. Commissaire Philippe Lagarde tappt im Dunkeln, jede Spur scheint ins Leere zu führen. Kurz darauf werden zwei skelettierte Leichen gefunden. Auch an diesem Tatort entdecken die Ermittler eine zynische Botschaft des Mörders. Als ein weiteres Liebespaar plötzlich nicht mehr erreichbar ist, muss der Commissaire sich fragen: Ist er auf der Jagd nach einem Serienmörder?
Nach einem Ritterturnier auf einem Schloss an der Loire machen die Gäste einen grausamen Fund: Ein Mann wurde von Pferden zu Tode getrampelt. Der vermeintliche Unfall entpuppt sich schnell als Mord, das Opfer wurde mit einem Pfeil erschossen. Die örtliche Polizei ist überfordert und holt sich Hilfe von Commissaire Philippe Lagarde. Kurz darauf ereignet sich auf dem Areal eines anderen Schlosses ein ähnlicher Fall. Zwischen den Opfern scheint es keine Verbindung zu geben, doch Lagarde hat einen Verdacht, der ihn an seine Grenzen bringt ...
Maria Dries wurde in Erlangen geboren. Seit sie mit siebzehn Jahren das erste Mal an der Côte d’Azur war, damals noch mit einem alten Käfer Cabrio, kehrt sie immer wieder nach Frankreich zurück. Jedes Jahr verbringt sie dort längere Zeit, um für ihre Kriminalromane zu recherchieren, die französische Küche auszukosten und das unvergleichliche Lebensgefühl zu genießen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Fränkischen Schweiz.
Im Aufbau Taschenbuch liegen von ihr vor: »Der Kommissar von Barfleur«, »Die schöne Tote von Barfleur«, »Der Kommissar und der Orden von Mont-Saint-Michel«, »Der Kommissar und der Mörder vom Cap de la Hague«, »Der Kommissar und der Tote von Gonneville«, »Der Kommissar und die Morde von Verdon«,»Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville«, »Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse«, »Der Kommissar und das Biest von Marcouf«, »Der Kommissar und die Toten von der Loire«, »Der Kommissar und die Tote von Saint-Georges«, »Das Grab im Médoc«, »Der Kommissar und der Teufel von Port Blanc«, »Der Fluch von Blaye«, »Der Kommissar und die Toten im Tal von Barfleur«, »Schatten in der Gironde«.
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Maria Dries
Der Kommissar und das Biest von Marcouf & Der Kommissar und die Toten von der Loire
Philippe Lagarde Ermittelt
Fall 9 und 10 von Kommissar Phillippe Lagarde in einem E-Book Bundle!
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Der Kommissar und das Biest von Marcouf
So bete ich dich an
Îles Saint-Marcouf
Sainte-Mère-Église – Erster Tag
Die Vogelschutzinsel Île de Terre – Zweiter Tag
Das Gehöft in den Marschen – Dritter Tag
Der Wandteppich von Bayeux – Vierter Tag
Das napoleonische Fort – Fünfter Tag
Märchenweiher – Sechster Tag
Der Wolf von Fresville – Siebter Tag
Die Marina von Sainte-Marie-du-Mont – Achter Tag
Die Batterie von Azeville – Neunter Tag
Am nächsten Abend
Fünf Wochen später
Der Kommissar und die Toten von der Loire
Das Unsühnbare
Prolog, Juli 2017
September 2017
Erster Tag
Die Ritterspiele von Chambord
Zweiter Tag
Das Steinkreuz am Brunnen
Barfleur
Dritter Tag
Gespenster
Vierter Tag
Château Saumur
Fünfter Tag
Château Chenonceau
Sechster Tag
Der Troubadour
Siebter Tag
Château Cheverny
Achter Tag
Bébé
Neunter Tag
Der Talisman
Einige Wochen später
Impressum
Cover
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Copyright-Seite
Maria Dries
Der Kommissar und das Biest von Marcouf
Philippe Lagarde Ermittelt
Kriminalroman
Für alle meine treuen Leser
So bete ich dich an, wie nächt’ger Wölbung Neigen,
Urne der Traurigkeit, o großes, dunkles Schweigen,
Und liebe, Schöne, dich gleich heiß, ob du mich fliehst,
Ob du, Zierat der Nacht, durch meine Träume ziehst,
Um lächelnd und voll Spott endlose Kluft zu breiten,
Die meine Arme trennt von blauen Ewigkeiten.
Zum Angriff stürme ich, berenne, dringe vor
Wie an dem Leichnam klimmt der Würmer Schar empor,
Liebkos dich, grausam Tier. – Du höhnst mein Liebesmühen,
Doch deine Kälte lässt nur heißer mich erglühen.
Charles Baudelaire
»Die Blumen des Bösen«
»Les Fleurs du Mal«
Die Saint-Marcouf-Inseln bilden einen kleinen Archipel im Ärmelkanal. Sie liegen sieben Kilometer vor der Ostküste der Halbinsel Cotentin in der Normandie. Die Île de Terre ist ein Vogelschutzgebiet, auf dem sich im Winter Zehntausende von Möwen niederlassen. Die etwas größere Île du Large wird von einer verlassenen Festung aus dem neunzehnten Jahrhundert dominiert. Bei Ebbe ragen die Inseln nicht mehr als zehn Meter aus dem Meer.
1795 eroberten die Engländer den Archipel und behinderten den Warenverkehr in der Bucht Baie de Seine. So kam das erste U-Boot, die »Nautilus«, auf Anweisung von Napoleon zum Einsatz. Im Rahmen des Friedens von Amiens 1802 gingen die Inseln an Frankreich zurück. Daraufhin ließ Napoleon auf der größeren Insel eine Festung, das Fort Circulaire, erbauen, um eine erneute Erstürmung zu verhindern.
Drei Wochen vor der Landung der Alliierten in der Normandie im Jahr 1944 wurde im Fort Circulaire ein schwer bewaffneter deutscher Vorposten vermutet. Ein Kommando schwamm zu den Inseln und stellte fest, dass sich dort keine Deutschen befanden.
Dann wurde die Insel von Amerikanern besetzt. Der südliche Abschnitt der Ostküste wird daher auch als Utah Beach bezeichnet.
Der Zugang zur Île du Large ist verboten, da das Fort einsturzgefährdet ist. Das Betreten der Île de Terre ist ebenfalls untersagt, damit die Vögel nicht beim Nisten und Brüten gestört werden.
Ende August kann das Wetter im Cotentin rasch umschlagen und an manchen Tagen stürmisch und rau sein. Von Ravenoville aus sieht man die Inseln an solchen Tagen schemenhaft und dunkel im Nebel liegen. Auf einer Sandbank suchen Strandläufer nach Würmern. Das Meer ist aufgewühlt, und der Wind peitscht schwarze Wolkengebirge darüber hinweg.
Über dem Archipel ziehen kreischend Möwen ihre Kreise, andere sitzen mit zerzaustem Gefieder auf verfallenen Mauerresten vor den düsteren Schießscharten der Festung. Der Wind heult um die Ruine und über den von Flechten überwachsenen Innenhof. Ungestüm rüttelt er am Strandhafer und wirbelt durch die Dünenrosen, während zwei Meter hohe Wogen grollend gegen die maroden Außendeiche klatschen.
Sainte-Mère-Église war ein beschaulicher Ort mit gut zweitausend Einwohnern, der von Utah Beach zehn Kilometer entfernt im Landesinneren lag. Berühmtheit hatte er dadurch erlangt, dass es das erste Dorf war, das 1944 am D-Day von den Alliierten befreit worden war. Dabei blieb der amerikanische Fallschirmjäger John Steele mit seinem Fallschirm an einem der Ecktürme des Kirchturms hängen. An diesen ungewollten Landepunkt erinnerte eine Puppe, die am Glockenturm der Kirche hing, und ein Kirchenfenster zeigte die Mutter Gottes mit drei Fallschirmjägern zu ihren Füßen.
Das Rathaus erhob sich am östlichen Rand des Marktplatzes. Von dort aus führte eine breite Treppe zum Eingangsportal, das von blühenden Azaleen in Tontöpfen flankiert wurde. Das Granitsteingebäude war einstöckig und verfügte über bogenförmige weiße Sprossenfenster. Der Mittelbau hatte einen wuchtigen quadratischen Aufsatz, den ein sechseckiger Turm krönte, in dem sich früher die Feuerglocke befunden hatte. An der Fassade flatterte die Trikolore.
Das Büro der Bürgermeisterin befand sich im Erdgeschoss und war schlicht und geschmackvoll eingerichtet. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing ein Porträt von Emmanuel Macron, Frankreichs neuem Staatspräsidenten. Alice Ferrand hatte vor einem Jahr überraschend die Wahl gewonnen und den langjährigen Gemeindechef abgelöst. Der Großbauer war in einen Umweltskandal verwickelt gewesen, hatte jedoch beharrlich seine Unschuld beteuert, und niemand hatte damit gerechnet, dass ihm diese Geschehnisse das Amt kosten würden.
Alice Ferrand war zweiundvierzig Jahre alt und eine sehr attraktive Frau. Ihre schulterlangen braunen Haare hellte sie mit blonden Strähnchen auf. Ihr ovales Gesicht war ebenmäßig, die Nase zart, die Lippen sinnlich. Besonders auffällig waren ihre weit auseinander stehenden smaragdgrünen Augen, über die sich feine Brauen wölbten. Wenn sie im Dienst war, trug sie entweder elegante Kostüme oder Hosenanzüge. Sie war mit François Ferrand, dem Inhaber des Dorfbistros, verheiratet und hatte mit ihm zwei Kinder.
Vor ihr auf dem Schreibtisch lag eine Liste mit den Themen für die morgige Gemeinderatssitzung, die sie noch einmal mit all ihren Anmerkungen konzentriert durchlas. Der Kindergarten benötigte eine weitere Kindertagesstätte für die Gruppe der Ein- bis Dreijährigen, »Die kleinen Strolche« genannt. Weiter lag ein Antrag für die Baugenehmigung eines Einfamilienhauses in der Nähe des Dorfweihers vor. Am ersten Wochenende im September sollte in Ravenoville-Plage das jährliche Fischerfest stattfinden, an dem sich auch andere umliegende Gemeinden beteiligten. Die Freiwillige Feuerwehr und der Sportverein von Sainte-Mère-Église waren für das leibliche Wohl zuständig. Unter dem Punkt Verschiedenes gab es eine Beschwerde über zwei Gemeindearbeiter, die während ihrer Arbeitszeit schon häufiger in einer Kneipe in Montebourg gesehen worden waren. Alice runzelte die Stirn und beschloss zunächst mit den beiden Männern, die sie bisher als sehr zuverlässig und engagiert erlebt hatte, zu sprechen. Als sie sich eine Notiz machte, klopfte es, und ihre Sekretärin Sophie steckte den Kopf durch den Türspalt.
»Monsieur Basson möchte sich verabschieden, er ist mit seiner Arbeit fertig.«
Alice Ferrand lächelte sie freundlich an. »Dann soll er doch bitte hereinkommen.«
»In Ordnung.«
Ein großer, athletisch gebauter Mann betrat das Zimmer. Seine dunklen Haare waren nach hinten gekämmt und ließen Geheimratsecken erkennen. Er hatte eine kräftige, leicht gebogene Nase, volle Lippen und rehbraune Augen. Ein gepflegter Bart betonte seine markanten Gesichtszüge. Er war leger mit einer grauen Cargohose und einem schwarzen T-Shirt bekleidet, sein rechtes Handgelenk zierten mehrere geflochtene Lederbändchen.
Pierre Basson war ein selbständiger Computerspezialist, der alle zwei Wochen in das Rathaus von Sainte-Mère-Église kam, um das Computersystem zu warten. Er strahlte sie an.
»Es ist alles in Ordnung mit der Anlage, Madame Ferrand, ich habe die PCs und den Server überprüft. Im Standesamt gab es ein kleines Problem mit den Mails, das habe ich behoben. Die Installierung der Cloud hat sich bewährt, seitdem können keine verwaltungsinternen Daten mehr auf Sticks gespeichert und mitgenommen werden.«
»Das beruhigt mich sehr, Monsieur Basson.«
Ein Mitarbeiter des Einwohnermeldeamtes hatte kürzlich Dateien auf einen Stick gespeichert, um sie mit nach Hause zu nehmen. Dort hatte er sie angeblich bearbeiten wollen, da er es zeitlich im Büro nicht geschafft hatte. Den Datenträger verlor er jedoch unterwegs in einem Straßencafé. Zum Glück wurde der Stick gefunden und wieder im Rathaus abgeliefert. Wer weiß, was sonst mit den vertraulichen Daten geschehen wäre. Der Mitarbeiter hatte eine Abmahnung bekommen.
»Danke für Ihre Arbeit, Monsieur Basson, dann sehen wir uns in zwei Wochen wieder.«
»Keine Ursache, bis in zwei Wochen. Falls es davor Probleme geben sollte, rufen Sie mich einfach an.«
»Das mache ich, einen schönen Tag noch, und kommen Sie gut nach Hause.«
»Merci, au revoir, Madame Ferrand.«
Sie sah ihm nach, wie er das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr und lächelte versonnen. Dreizehn Uhr, eine Stunde noch. Diszipliniert arbeitete sie weiter, bis es schließlich Zeit war zu gehen. Sie packte ihre Tasche, verabschiedete sich von Sophie und verließ ihre Dienststelle. Gegenüber saßen vor einem Café einige Leute, die ihr zuwinkten. Gutgelaunt winkte sie zurück. Hinter dem Rathaus war für sie ein Parkplatz reserviert. Sie setzte sich in ihr Auto, startete den Motor und machte sich auf den Weg nach Ravenoville-Plage.
Das Dorfbistro von François Ferrand lag südlich der Kirche an der Hauptstraße, die nach Carentan führte. Es befand sich im Erdgeschoss eines Granitsteinhauses, auf dessen Schieferdach sich Gauben reihten. Das Lokal beherbergte einen Bar-Tabac-Laden mit einem Tresen und Barhockern, wo man einen Mokka oder ein Glas Wein trinken konnte. Im Speiseraum nebenan waren Tische eingedeckt. Auf dem Bürgersteig vor dem Lokal standen Bistrotische und Korbstühle unter einer blauen Markise. Dort hatte sich eine Gruppe durstiger Touristen niedergelassen, die gerade bei Beatrice ihre Bestellung aufgaben. Früher hatte auf dem Platz vor der Kirche der größte Viehmarkt der Region stattgefunden, deshalb hieß das Bistro Le Bœuf Rouge, Der Rote Ochse.
Der Eigentümer stand hinter der glänzenden Mahagonitheke, polierte Gläser und hörte mit einem Ohr der Unterhaltung der Männer am Stammtisch zu. Sie tranken Rotwein und diskutierten mit lauten Stimmen und lebhaften Gesten über die Politik des neuen Präsidenten. Einig waren sie sich nur darin, dass er für das tragende Staatsamt zu jung und unerfahren war. Außerdem spekulierten sie darüber, welche öffentlichen Aufgaben seine Frau Brigitte übernehmen werde.
François Ferrand war einundfünfzig Jahre alt, von kleinem Wuchs und hatte einen gewaltigen Bierbauch. Die welligen grauen Haare waren kurz geschnitten, die Nase grob, die Wangen fleischig. Er war kurzsichtig und trug eine randlose Brille. Früher, als aktiver Rugbyspieler, war er schlank und muskulös gewesen.
Nachdem er das letzte Glas auf einem Regal abgestellt hatte, rief er im Rathaus an und wollte seine Frau sprechen. Von ihrer Sekretärin Sophie erfuhr er, dass sie nicht mehr da war, also versuchte er es auf ihrem Handy. Sie nahm das Gespräch jedoch nicht entgegen, und er hinterließ verärgert eine Nachricht auf ihrer Mailbox. Er war sehr eifersüchtig und mochte es nicht, wenn er nicht wusste, wo sie war. Schließlich schenkte er eine Runde Calvados ein und setzte sich zu den Männern an den Stammtisch. Nachdem sie angestoßen und getrunken hatten, musterte sein Freund Jacques ihn. »Du schaust so mürrisch, was ist denn los?«
»Ich kann Alice nicht erreichen und frage mich, wo sie steckt. In der mairie ist sie nicht.«
»Alice ist unsere Bürgermeisterin und hat viel um die Ohren. Wahrscheinlich ist sie bei einem Außentermin. Mach dir keine Gedanken. Wenn sie Feierabend hat, wird sie kommen und ein Glas Wein mit uns trinken, wie immer.«
Der Wirt nickte, Jacques hatte recht.
Aber es wurde später und später, und Alice kam nicht.
Alice erreichte Ravenoville-Plage nach knapp fünfzehn Minuten. Vom Ort führte eine befestigte schmale Straße durch weites Marschland, das von Prielen durchzogen war, zur Küste. Hin und wieder kam sie an einem Gehöft vorbei. Sie fuhr an einer hüfthohen, verwitterten Mauer entlang, die die Straße vom Strand trennte. Dieser Strandabschnitt war schmal und von Muschelschalen übersät. Schließlich erreichte sie die bunten, liebevoll restaurierten Fischerhäuschen, die sich am Ufer aneinanderreihten. Früher hatten dort tatsächlich Fischer mit ihren Familien gewohnt, jetzt dienten sie als Ferienhäuser. Nicht weit hinter der Ansiedlung lag die kleine Marina. Dort parkte sie, griff nach ihrer Tasche und stieg aus. Da die helle Augustsonne sie blendete, setzte sie ihre Sonnenbrille auf. Vor ihr lagen der glitzernde Ozean und die Marcouf-Inseln, Möwengeschrei erfüllte die Luft. In dem kleinen Hafen lag ihr Boot, die Adrien I, ein robuster Einkieler mit Innenbordmotor und Steuerkabine, der für den rauen Ärmelkanal gut geeignet war. Es schaukelte sanft neben zwei weiteren Booten, weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nicht einmal die Angler standen an ihren gewohnten Plätzen. Ihr Mann François nutzte das Boot so gut wie nie, er hielt sich am liebsten in seinem Bistro auf. Alice dagegen liebte es, auf dem Meer unterwegs zu sein und die salzige Luft zu atmen. Es war eine willkommene Abwechslung zu ihrer anstrengenden politischen Arbeit. Außerdem war sie Mitglied im Vogelschutzverein und besuchte manchmal die Île de Terre, um die Vögel zu beobachten und Ruhe zu finden. Für die Allgemeinheit war es verboten, die Insel zu betreten, die Naturschützer jedoch hatten freien Zugang.
Über glitschige Steinstufen gelangte sie auf einen Absatz, der um das winzige Hafenbecken herum führte. Von dort aus stieg sie auf ihr Boot. Sie tauschte das Kostüm gegen Jeans, Fischerpullover und Leinenschuhe, die sie immer in einer Seekiste auf dem Boot hatte. Dann löste sie das Tau, trat in den Steuerstand und ließ den Motor an. Langsam fuhr sie aus der Marina. Den einsamen Angler, der sie beobachtete, bemerkte sie nicht.
Das Meer lag ruhig und azurblau vor ihr, und sie nahm Kurs nach Norden. Ihr Ziel war eine kleine Bucht südlich von Quinéville, die zwei Seemeilen entfernt lag und von der Küste aus nur über einen Fußweg zu erreichen war. Als sie auf den henkelförmigen Sandstrand zusteuerte, stand dort bereits Pierre Basson und wartete auf sie. Als er das Boot entdeckte, winkte er ihr zu. Im seichten Wasser drosselte sie den Motor, und er watete barfuß und mit hochgekrempelten Hosen durch die Brandung. Über der Schulter trug er einen Rucksack. Er kletterte über die Leiter an Deck. Als sie sich gegenüberstanden, schenkte er ihr sein schönstes Lächeln und schloss sie in die Arme.
»Endlich«, murmelte er in ihr Ohr. »Ich hatte solche Sehnsucht nach dir.« Er küsste sie leidenschaftlich, seine Hand wanderte unter ihren Pullover und streichelte eine Brust. Entschlossen schob sie ihn weg.
»Nicht hier, mein Liebster. Von der Küste aus kann uns jeder sehen. Lass uns auf die Insel fahren, dort sind wir ungestört.«
Widerstrebend ließ er sie los. »Also gut, fahren wir.«
Je weiter sie sich von der Küste entfernten, desto unruhiger wurde die See. Schaumkronen tanzten auf den Wellen, das wuchtige Fort Circulaire auf der Île du Large nahm immer mehr Gestalt an. Nach fünfunddreißig Minuten erreichten sie die Île de Terre. Sie hatte die Form eines Halbmondes und war vierhundert Meter lang sowie hundert Meter breit. Auf dem flachen Eiland gab es zerklüftete Felsen, dorniges Gestrüpp, Teppiche aus Strandsegge sowie unzählige Möwen und Kormorane. Das einzige steinerne Gebäude auf der Insel war das verfallene Wachhaus einer ehemaligen Verteidigungsanlage, an dessen Mauern sich Stranddisteln krallten.
Alice ankerte in einer kleinen Bucht an der Südwestküste, die zwischen Klippen verborgen lag. Über die Leiter gelangten sie in das kühle flache Wasser und wateten über den weichen Sand an Land. Ihr Ziel war eine Blockhütte in einer geschützten Senke in der Nähe des Wachhauses, die der Vogelschutzverein vor sechs Jahren gebaut hatte. Dort konnten Mitglieder, Ornithologen, Studenten oder Helfer bei schlechtem Wetter Unterschlupf finden und auch übernachten. Meistens jedoch stand sie leer.
Alice hatte einen Schlüssel. Im Holzhaus gab es neben einem Abstellraum noch einen Wohnraum mit einer Schlafcouch, einer Sitzecke, einem Schrank und einem Regal. Auf einem Campingtisch stand ein Gaskocher. Die Einrichtung war einfach und zweckmäßig. Durch das einzige Fenster sah man eine kleine Düne, die mit Strandgras überwachsen war und über der sich ein lichtblauer Himmel wölbte.
Alice und Pierre küssten sich, zogen sich gegenseitig aus und liebten sich leidenschaftlich auf der Couch. Sie waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht bemerkten, wie jemand sie durch die Fensterscheibe anstarrte.
Er beobachtete sie. Hass loderte in seinen Augen, und die Eingeweide krampften sich vor Zorn zusammen. Als sich das Paar voneinander löste, zog er sich vorsichtig und lautlos zurück.
Vor drei Monaten war er zufällig auf der Insel gewesen, als die beiden mit dem Boot kamen, ankerten, in der Hütte verschwanden und sich liebten. Das war an einem Dienstagnachmittag im Mai gewesen. Daraufhin hatte er die Bürgermeisterin beobachtet und auf der Insel in einem Versteck auf sie gewartet. Schnell fand er heraus, dass das Paar jeden zweiten Dienstag etwa um dieselbe Zeit auf das Eiland kam. Einmal waren sie nicht gekommen. An dem Tag war ein Orkan über das Cotentin hinweggefegt. Er zitterte vor Erregung. Heute war der große Tag, der Tag, den er ausgewählt hatte. Er würde über das Schicksal der beiden entscheiden.
Alice und Pierre beschlossen auf dem kleinen Kiesstrand vor dem Wachhaus zu picknicken, da sie sich sicher waren, dass sich außer ihnen niemand auf der Insel aufhielt. Sie verzichteten auf ihre Kleidung.
Alice breitete eine Decke aus, auf der sie sich am Ufer niederließen. Kleine Wellen glitten über die Kieselsteine. Das Rauschen der Brandung und das Geschrei der Kormorane, die sich wie schwarze Wolken über die Insel bewegten, waren die einzigen Geräusche. Pierre holte aus seinem Rucksack gegrilltes Hähnchen, Baguette, Tomaten und eine Flasche Champagner hervor. Aus der Hütte hatte er zwei einfache Gläser mitgebracht. Gekonnt entfernte er den Korken, schenkte ein und reichte ihr ein Glas. Dabei strahlte er sie verliebt an. »Auf uns beide.«
Alice erwiderte seinen Blick zärtlich. »Auf uns beide.«
Sie stießen an und genossen das perlende Getränk. Alice nahm sich ein Hühnerbein und biss hungrig hinein. Pierre sah ihr dabei zu. Er mochte es, wie sie aß, ohne falsche Zurückhaltung und mit Appetit. Er schnitt ein Stück Baguette für sie ab und reichte es ihr, dann strich er ihr liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich möchte öfter mit dir zusammen sein. Eigentlich immer.«
»Ich auch, das weißt du, aber so einfach ist es nicht.«
»Doch, wir lassen uns beide scheiden und fangen zusammen ein neues Leben an.«
»Und was ist mit unseren Kindern?«
»Wir finden auch dafür eine Lösung. Entweder wohnen sie bei uns, oder sie können uns besuchen, so oft sie wollen.«
Alice seufzte. »Lass uns den schönen Nachmittag genießen. Wir reden ein andermal darüber, einverstanden?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Weißt du, was? Nächste Woche bin ich auf einer Tagung in der Gegend, wo du wohnst. Wir treffen uns dort und reden. Und jetzt komm, ich will ins Wasser und mich abkühlen.«
Hand in Hand rannten sie ins Meer, schwammen ein Stück hinaus und ließen sich treiben. Sie beobachteten die Wolken und die Vögel. Zurück in Ufernähe bespritzten sie sich ausgelassen wie Kinder mit Wasser. Eng umschlungen kehrten sie zum Strand zurück, sanken auf die Decke und liebten sich erneut. Schließlich rollten sie sich auf den Bauch, erschöpft von der Liebe und schläfrig vom Champagner, und dösten ein. Pierre hatte den Arm um Alice’ Schultern gelegt und bedauerte schon jetzt, dass sie bald zurückmussten.
Sie waren beide in Gedanken versunken und bemerkten nicht die tödliche Gefahr, die immer näher kam.
Er schlich von hinten heran, stellte sich breitbeinig über Pierre, beugte sich blitzschnell vor, packte ihn bei den Haaren und riss seinen Kopf zurück. Bevor er reagieren konnte, durchtrennte er mit einem einzigen Schnitt seine Kehle. Alice fuhr hoch und starrte ihn entsetzt an. Trotz ihrer Panik nahm sie im Bruchteil einer Sekunde wahr, dass die Glatze des Mörders seltsam hell und matt schien. Bevor sie schreien oder gar flüchten konnte, hatte er ihre Haare gepackt und das Messer an ihren Hals gelegt. Ein schneller, tiefer Schnitt von einem Ohr zum anderen, und sie brach gurgelnd zusammen. Ihr Herz blieb stehen.
Er trat vor das Paar und betrachtete zufrieden sein Werk. Dann ging er zum Ufer und reinigte in aller Ruhe das Messer, bevor er es zurück in die Scheide steckte. Jetzt hatte er nur noch drei Aufgaben zu erledigen, bevor er verschwinden würde. Niemand würde jemals herausfinden, wer er war. Er war perfekt.
Gegen dreiundzwanzig Uhr löste sich der Stammtisch im Le Bœuf Rouge auf. François Ferrand hatte sich kaum an den Gesprächen beteiligt. Er versuchte immer wieder, seine Frau auf ihrem Smartphone zu erreichen. Inzwischen kam nur noch die automatische Ansage, dass sie nicht erreichbar war. Eine Zornesfalte erschien auf seiner Stirn, und er knallte sein Handy auf den Tisch, so dass die Abdeckung absprang.
»Ich rufe jetzt die Gendarmerie an«, verkündete er. »Etwas muss mit Alice passiert sein.«
Sein Freund Jacques versuchte, ihn zu beruhigen. »Die Wache ist um diese Zeit nicht mehr besetzt, das weißt du doch. Willst du unsere Gendarmen aus dem Bett klingeln? Oder willst du einen Notruf absetzen, während deine Frau vielleicht in einer Bar nach einem schönen Abendessen noch einen Drink nimmt? Es kann doch sein, dass sie eine Freundin getroffen hat und mit ihr essen gegangen ist. Du weißt doch selbst, wie schnell man dann die Zeit vergisst.«
»Dann kann sie doch wenigstens Bescheid sagen.«
»François, sie ist eine erwachsene Frau und kann machen, was sie will. Sie muss sich nicht bei dir abmelden. Pass auf, wir gehen jetzt alle nach Hause, und wenn sie morgen früh immer noch nicht da ist, melden wir sie bei der Gendarmerie als vermisst und suchen sie.«
»Aber …«
»Nichts aber, denk doch mal nach. Womöglich ist sie ja auch zur Île de Terre gefahren, das ist doch einer ihrer Lieblingsplätze. Sie hat die Zeit vergessen, dann ist die Nacht hereingebrochen, Wind kam auf, und sie hat sich nicht getraut, in der Dunkelheit zurückzufahren. Das Gewässer um den Archipel ist tückisch.«
Die anderen Männer stimmten ihm zu. Ferrand gab nach. Er war hundemüde, und wenn er ehrlich war, machte er sich keine Sorgen, dass Alice etwas passiert war. Sie konnte sehr gut auf sich aufpassen. Vielmehr hatte er schreckliche Angst davor, dass sie einen anderen Mann kennenlernen und ihn verlassen könnte. Vielleicht lag sie gerade mit jemandem im Bett. Diese Vorstellung war unerträglich. Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen.
Zusammen verließen die Männer das Bistro, und der Wirt verriegelte die Eingangstür.
Als Ferrand zu Hause feststellte, dass seine siebzehnjährige Tochter Charline ebenfalls nicht da war, beschloss er wütend, beide Frauen am nächsten Tag zur Rede zu stellen. So durften sie nicht mit ihm umgehen. Dann ging er zu Bett und zog die Decke über den Kopf. Lange Zeit konnte er nicht einschlafen.
Während Alpträume ihn peinigten, drang aus dem Fort Circulaire auf der Île du Large ein diffuser Lichtschein, und Schatten huschten über die Mauern der Ruine.
Das kleine weiße Fischerhaus mit dem Bullauge und den blauen Fensterläden lag im ersten Licht der Sonne, die sich hinter dem Marcouf-Archipel erhob. Drei Heringsmöwen saßen wie Statuen auf der Mauer, hinter der sich der Strand von Ravenoville-Plage erstreckte. Kleine Wellen überspülten die golden schimmernden Muschelschalen und ließen sie leise klackern. Ein zwei Meter hoher Oleanderbusch verströmte einen süßen Duft.
Simone Groult und ihre Tante Eugénie saßen in der Küche beim Frühstück. Die zart gebaute, zweiundfünfzigjährige Frau mit den ungebändigten schwarzen Locken war seit drei Wochen bei ihrer Tante zu Besuch, doch in Wirklichkeit waren die Tante und das kleine Fischerhäuschen ihr Zufluchtsort. Vor vierundzwanzig Tagen war ihr Mann Benoît aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Er war Professor für französische Literatur und Literaturgeschichte an der Universität von Le Mans und hatte sich vor einigen Monaten in eine seiner Studentinnen verliebt. Danielle erwiderte seine Liebe, und jetzt war er zu ihr gezogen, nur einen Tag, nachdem er seine völlig überrumpelte Frau um Verständnis und eine Auszeit gebeten hatte. Daraufhin hatte Simone sich in ihr Auto gesetzt und bei Eugénie Unterschlupf gefunden.
Die einundachtzigjährige alte Dame freute sich sehr über diesen Besuch, war sie doch seit vielen Jahren Witwe und vermisste die Gesellschaft eines vertrauten Menschen. Außerdem war sie in letzter Zeit immer gebrechlicher geworden und hatte inzwischen sogar Mühe, mit dem Rad zum nächsten Bäcker zu fahren. Simone erledigte für sie die Einkäufe, unternahm Ausflüge mit ihr und half ihr im Haushalt. Am Abend sahen sie zusammen fern, hörten Musik oder spielten Schach.
All das lenkte sie wenigstens für einige Stunden von ihrem Kummer ab. Die Frauen unterhielten sich ausgiebig. Oft ging es um Benoît, und Tante Eugénie, die geistig absolut auf der Höhe war, prophezeite, dass die Studentin den alten Mann bald vor die Tür setzen werde. Ihre Argumente waren stichhaltig. Er werde auf Dauer den Anforderungen der jungen Frau nicht gewachsen sein, außer in finanzieller Hinsicht, und das reiche nun mal nicht, basta.
Simone war sich da nicht so sicher und ärgerte sich sehr über diesen Verrat. Jeden Morgen betrachtete sie sich mit kritischen Blicken im Spiegel und entdeckte immer neue Falten.
Eugénie liebte Vögel und war schon viele Jahre Mitglied im Vogelschutzverein. Als Simone vor drei Wochen völlig verzweifelt zu ihrer Tante gekommen war, hatte Eugénie sie ebenfalls dort angemeldet. Ein Freund von Eugénie, Edmond-Marie, hatte sie einige Male mit auf die Île de Terre genommen und ihr die Regeln erklärt, die im Vogelschutzgebiet zu beachten waren. Er hatte ihr die ungestüme Schönheit dieses Eilandes vor Augen geführt, und sie hatte sich in das karge Kleinod verliebt. Er hatte ihr auch beigebracht, wie man einen kleinen Außenborder steuerte, und sie über die Gefahren des Ärmelkanales aufgeklärt. Er ließ sie das Boot benutzen, wann immer sie wollte, und sie fuhr jeden Tag, wenn das Wetter es erlaubte, auf die Insel und zeichnete Vögel. Das beruhigte sie nicht nur, sondern weckte in ihr eine Begeisterung, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Während Simone unterwegs war, backte Tante Eugénie wunderbare Früchtetartes, arbeitete in ihrem winzigen Garten oder tratschte mit den Nachbarn.
Auch an diesem Morgen wollte Simone früh los, um an ihren Kormoranskizzen weiterzuzeichnen. Edmond war so angetan von ihren feinen und präzisen Zeichnungen, dass er sie in einer ornithologischen Fachzeitschrift, zu dessen Herausgeber er einen guten Kontakt hatte, veröffentlichen lassen wollte.
Simone gab Butter und Marmelade auf eine Scheibe Baguette.
»So ein verdammtes Klischee«, schimpfte sie. »Ein Professor verliebt sich in seine Studentin, warum muss das ausgerechnet uns passieren? Ich dachte, er liebt mich.«
Eugénie legte den Kopf schief und lächelte sie an. »Das sagst du jeden Morgen, meine Liebe. Du drehst dich im Kreis, hör auf damit. Erzähl mir lieber, wie es Paul geht.«
Paul war Simones und Benoîts Sohn. Er war über die plötzliche Trennung seiner Eltern zuerst total schockiert gewesen, versuchte jetzt aber, zwischen ihnen zu vermitteln und sie wieder zusammenzubringen. Er hatte bereits vor dem Frühstück angerufen und mit seiner Mutter gesprochen.
»Es geht ihm gut. Er wollte mir nur erzählen, dass er seinen Vater in der Stadt vor einem Waschsalon getroffen hat. Er wollte dort seine Wäsche waschen, weil seine neue Freundin sich weigerte, das zu tun.«
Eugénie grinste zufrieden. »Das sind doch erfreuliche Neuigkeiten.«
Simone räumte den Tisch ab.
»Ich mache das schon«, sagte ihre Tante. »Fahr rüber auf die Insel und verbring einen schönen Tag. Ich weiß doch, dass du weiter an den Kormoranskizzen arbeiten willst.« Sie deutete auf die Anrichte. »In der Kühlbox sind ein Schinkenbaguette mit Ei und Salat und Madeleines für Mittag, dazu zwei Flaschen Wasser. Zum Abendessen gibt es ein köstliches Kaninchenragout.«
Simone gab ihr einen Kuss. »Toll, du bist ein Schatz. Bis später.«
»Bis später! Ach, und halte dich von der Île du Large fern. Dort gehen seltsame Dinge vor sich, besonders nachts. Beim letzten Seniorennachmittag wurde wieder erzählt, dass die Insel am Samstag in einem eigenartigen Feuerschein lag.«
Simone grinste. »Alles klar.«
Der kleine Außenborder schaukelte neben dem Holzsteg. Simone kletterte über eine Leiter an Bord, verstaute ihre Tasche mit den Zeichenutensilien sowie den Proviant und startete den Motor. Sie nahm Kurs auf den Archipel und genoss den frischen salzigen Wind, der ihr ins Gesicht blies. Das Boot pflügte ruhig durch die Wellen, und nach einer Dreiviertelstunde erreichte sie ihr Ziel. Auf der Westseite der Île de Terre gab es eine Mole, die früher zur Festung gehört hatte. Die Mitglieder des Vogelschutzvereins nutzten sie häufig als Anlegestelle.
Als Simone dort ankam, vertäute sie ihr Boot an einem Eisenring und gelangte über einige Stufen ans Ufer. Sie war stolz, dass sie die Überfahrt gut gemeistert hatte. Edmond-Marie war ein guter Lehrer gewesen.
Auf ihrem Weg zu den Klippen im Norden führte ein Trampelpfad an der alten Festung und dem Blockhaus vorbei, gegenüber lag der kleine Strand. Dort hatte sie sich in den vergangenen Tagen schon einmal niedergelassen, ihren Proviant verzehrt und die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut genossen. Dabei waren nur das Rauschen der Wellen und die Schreie der Vögel zu hören gewesen.
Plötzlich stutzte sie und blieb stehen. Da lag etwas auf den Kieselsteinen, das dort auf keinen Fall hingehörte. Verwundert trat sie näher. Es war eine karierte Decke, die der Wind zerknüllt hatte, und die an einem Büschel von Strandastern hängen geblieben war. Nicht weit davon entfernt standen zwei Gläser und eine Champagnerflasche auf einem flachen Stein. Davor lag ein Rucksack. Die Steine um die Decke herum sahen seltsam aus. Sie waren nicht weiß wie die anderen, sie waren rötlich verfärbt. Es sah aus wie Blut. Was hatte das zu bedeuten? War hier ein Unfall passiert oder gar ein Verbrechen geschehen?
Unruhe beschlich sie. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie einsam ihr Lieblingsplatz mitten im Meer lag. Als sie hinter ihrem Rücken ein Geräusch vernahm, fuhr sie erschrocken herum. Ein Mann stand dort und starrte sie an. Der kräftige Hüne hatte lange helle Haare, einen wilden Bart und durchdringende Augen, die jetzt zwischen ihr und den rötlichen Steinen hin und her wanderten. Simone erinnerte sich, dass sie ihn schon zwei-, dreimal auf der Insel gesehen hatte. Er hatte Vögel beobachtet, die Nachgelege kontrolliert und sich Notizen auf einem Klemmbrett gemacht. Einmal hatte er sie bemerkt und kurz die Hand zum Gruß erhoben, das war alles gewesen. Sie hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Bisher war sie davon überzeugt gewesen, dass es sich bei diesem Mann um einen harmlosen Vogelschützer handelte. Auch jetzt blieb er stumm. Dann löste er den Blick von ihr, drehte sich abrupt um und ging auf die Schutzhütte zu. Kurz zögerte er, dann riss er die Tür auf und verschwand darin.
Das schauerliche Geheul, das kurz darauf aus dem Inneren der Hütte drang, ließ Simone das Blut in den Adern gefrieren. So ein Geräusch hatte sie noch nie gehört. Es klang eher wie die Laute eines Tieres als die eines Menschen. Sie überlegte, was sie machen sollte. Sollte sie ihm folgen? Was hatte er nur entdeckt, dass er so schrie?
Sie gab sich einen Ruck und folgte ihm in das Blockhaus. Als sie realisierte, was der seltsame Mann dort vorgefunden hatte, blieb ihr die Luft weg. So etwas Entsetzliches hatte sie noch nie gesehen.
Ein Mann und eine Frau lagen nackt auf dem Schlafsofa. An ihren Hälsen klafften grauenvolle Wunden, die Augen waren aus den Höhlen getreten, alles war voller Blut. Der Geruch des Todes war unerträglich.
Simone taumelte an dem erstarrten Mann vorbei, lief aus der Hütte und übergab sich. Als sie sich keuchend aufrichtete und versuchte, regelmäßig zu atmen, hörte sie Stimmen und sah sich um. Von der Mole her näherten sich vier Personen, eine junge Frau und ein älterer Mann in Uniform sowie zwei weitere Männer, ein kleiner Dicker und ein größerer Mann in Zivilkleidung.
Der heute Morgen eilig zusammengestellte Suchtrupp hatte das Auto von Alice Ferrand an der Marina von Ravenoville-Plage entdeckt und festgestellt, dass die Adrien I ausgelaufen war. Als die Gruppe näher gekommen war, sprach Simone die Gendarmen an.
»Wie gut, dass Sie da sind. Es ist etwas Schreckliches passiert.« Mit zitternden Fingern wies sie auf das Blockhaus. »Dort, in der Hütte«, brachte sie mühsam hervor. Die Gendarmen gingen mit entschlossenen Schritten auf das Haus zu, gleichzeitig rannte der kleine dicke Mann an ihnen vorbei und stürmte hinein. »Nein«, schrie er, »das darf nicht sein!« Dann war es still.
François Ferrand hatte das Bewusstsein verloren und war auf dem Boden zusammengebrochen. Sein Freund Jacques kniete sich neben ihn und sah ihn hilflos an. Die Gendarmin Annie Lucas stand wie festgewurzelt da und konnte den Blick nicht von den Toten abwenden. Ihr Chef Arsène Ruet rang um Fassung. Schließlich zog er sein Handy aus der Hemdtasche. »Wir müssen die Kripo benachrichtigen.«
Simone sah sich erstaunt um. »Der Mann ist weg«, stellte sie fest.
»Welcher Mann?«, fragte Gendarmin Lucas.
»Der Mann, der die Toten gefunden hat.« Ein furchtbarer Verdacht keimte in ihr auf. War er der Mörder? Aber warum hatte er dann so furchtbar geschrien?
Das alte Granitsteinhaus mit den taubenblauen Fensterläden befand sich nördlich von Barfleur. Philippe Lagarde saß auf der Terrasse und frühstückte. Von dort aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Ärmelkanal, der sich unterhalb der Dünen tintenblau ausdehnte und schließlich mit dem Horizont zu einem silbergrauen Band verschmolz. Die Sonne lag eingebettet in Wolkengebilden, die wie Perlmutt schimmerten. Vor der Küste erstreckten sich kilometerlange Muschelbänke bis zur Insel Tatihou. Der Wind wehte eine feuchte Brise heran, die nach Tang und Fisch roch. Ab und zu war der Schrei eines Seevogels zu hören. An der Nordostspitze der Halbinsel erhob sich stolz der Leuchtturm von Gatteville.
Der Kommissar im Ruhestand hatte kurzes dunkles Haar über einem markanten Gesicht, das von saphirblauen Augen und einem kantigen Kinn geprägt war. Seine Freizeit verbrachte er am liebsten mit seiner Freundin Odette. Sie fuhren mit seinem Boot zum Angeln aufs Meer hinaus oder probierten neue Restaurants. Um sich fit zu halten, fuhr er häufig mit seinem Rennrad kreuz und quer über die Halbinsel Cotentin. Den Rudersport hatte er wegen einer Schussverletzung an der linken Schulter aufgeben müssen. Da er seinen geliebten Beruf nicht ganz an den Nagel hängen konnte, hielt er Vorlesungen und Seminare für Anwärter an der Polizeiakademie in Rennes, hin und wieder wurde er bei komplizierten Kriminalfällen als Berater hinzugezogen.
Er las gerade einen interessanten Artikel in der Tageszeitung über eine Mordserie an alten alleinstehenden Frauen in Paris, als sich der zugelaufene Wildkater Alexandre auf den Tisch plumpsen ließ und ihn mit seinen gelben Augen fixierte. Gleichzeitig klingelte Philippes Handy. Er legte die Zeitung zur Seite, stand auf und fand das Telefon auf dem Esszimmertisch. Es war Frank Lanoux, der Polizeipräsident der Normandie.
»Bonjour, Philippe.«
»Bonjour, Frank.« Seit ihrem letzten gemeinsamen Fall, bei dem es um verschwundene Frauen ging, duzten sie sich.
»Störe ich?«, fragte der Polizeichef.
»Aber nein. Was gibt es denn?«
Lanoux rief nie ohne Grund an.
»Entschuldige, aber ich muss gleich mit der Tür ins Haus fallen.«
»Es brennt also mal wieder?«
»Ja, die Gendarmerie von Sainte-Mère-Église hat einen Doppelmord gemeldet. Auf der Vogelschutzinsel Île de Terre wurden ein Mann und eine Frau tot aufgefunden. Beiden hat man die Kehle durchgeschnitten.«
»Also ist Cherbourg zuständig.«
»Ja, aber wie du weißt, befindet sich der zuständige Hauptkommissar Ludovic Cleroc in Elternzeit. Selbstverständlich hat er einen Stellvertreter, der sich am Wochenende unglücklicherweise einen Bandscheibenvorfall zugezogen hat. Jetzt liegt er im Krankenhaus und muss operiert werden. Gerade eben habe ich mit einem jungen Kollegen gesprochen, der kürzlich die Prüfung für die gehobene Laufbahn mit Bravour bestanden hat. Ich habe ihm kurz die Umstände geschildert und ihn gebeten, den Fall zu übernehmen.« Plötzlich verstummte er, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. Lagarde hakte nach.
»Und was hat er gesagt?«
»Er hat abgelehnt. Die erste große Chance, sich zu beweisen und praktische Erfahrungen zu sammeln, hat er abgelehnt, stell dir das vor.«
»Hat er einen Grund genannt?«
»Ja, ein Doppelmord sei ihm eine Nummer zu groß, das traue er sich noch nicht zu, nicht als leitender Ermittler.«
Jetzt war Lagarde klar, was der Polizeipräsident von ihm wollte. »Du möchtest, dass ich den Fall übernehme?«
»So ist es. Du kennst die knappe Personalsituation. Es tut mir leid, dass ich dich so überfalle, aber es ist wirklich dringend. Kannst du dir den Fundort ansehen und dir ein erstes Bild machen? Die Gendarmen warten dort. Danach sehen wir weiter.«
»Ja, das ist kein Problem. Ich mache mich gleich auf den Weg.«
»Nein, warte! Delphine Moreau soll auch mitkommen.« Delphine Moreau war die Leiterin des Rechtsmedizinischen Instituts in Cherbourg. »Ein Polizist fährt sie. Sie sind schon unterwegs und nehmen dich mit. Die Spurensicherung hat sich auch schon auf den Weg gemacht, der Bestatter wurde informiert. In der Marina von Ravenoville-Plage wartet ein Polizeiboot auf euch, das euch auf die Insel bringt. Die Küstenwache ist ebenfalls unterwegs. Offenbar ist eine Zivilperson zusammengebrochen.«
»Alles klar, ich rufe dich später an und berichte.«
»Ich danke dir.«
»De rien.«
Lagarde räumte den Tisch ab, duschte kurz und zog eine Leinenhose und ein Hemd an. Dabei dachte er darüber nach, was Frank ihm erzählt hatte. Er kannte die Marcouf-Inseln. Mit seinem Boot war er schon oft vorbeigefahren, geankert hatte er dort jedoch noch nie. Und jetzt waren zwei Tote auf einer kleinen unbewohnten Insel entdeckt worden, die als Vogelschutzgebiet ausgewiesen war. Er fragte sich, was ihn dort erwarten mochte.
Rasch steckte er Portemonnaie und Handy ein und verließ das Haus. Als er die Gartenpforte hinter sich schloss, näherte sich gerade ein Polizeifahrzeug und hielt neben ihm an. Er öffnete die Tür, nahm auf dem Rücksitz Platz und begrüßte die Kollegen.
Am Steuer saß ein junger Polizist, den er nicht kannte und der sich als Henri Servat vorstellte. Delphine drehte sich kurz um und nickte ihm zu. Dr. Dr. Moreau hatte einen Studienabschluss in Medizin sowie in Rechtswissenschaften und galt in Fachkreisen als absolute Koryphäe in ihrem Fachgebiet. Sie hatten schon häufiger bei Ermittlungen zusammengearbeitet. Wer mit ihr auskommen wollte, musste schnell begreifen, dass man ihre komplizierten Gedankengänge keinesfalls unterbrechen durfte und dass sie immer vollen Einsatz erwartete. Eine Diskussion über ihr Rauchverhalten war völlig ausgeschlossen. Ihr streichholzkurzes Haar war derzeit rabenschwarz mit magentafarbenen Strähnchen und umrahmte ein rundes Gesicht mit einer Knopfnase und wachen Augen, denen nichts entging. Sie war klein, korpulent und hatte eine Vorliebe für farbenfrohe Kostüme und Kleider und farblich dazu passende, hochhackige Pumps. Die Kombination, die sie heute trug, schimmerte kanariengelb. Als der Polizist losfuhr, ließ sie das Fenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Die Augen von Lagarde und dem jungen Mann trafen sich im Rückspiegel. Lagarde schüttelte unmerklich den Kopf, der Polizist verstand und sagte keinen Ton.
Sie fuhren auf der Nationalstraße nach Quettehou und weiter nach Ravenoville, wo sie am einzigen Kreisverkehr links abbogen und der schmalen Straße nach Ravenoville-Plage folgten.
Als Servat vor der Mauer der Marina parkte, meldete sich sein Funkgerät, und eine Kollegin teilte ihm mit, dass die Techniker der Spurensicherung und der Bestatter den kleinen Küstenort in wenigen Minuten erreichen würden. Als alle eingetroffen waren, gingen sie an Bord des Polizeibootes, das der Gendarmerie Maritime gehörte.
In fünfundzwanzig Minuten erreichten sie die Île de Terre. Sie legten an der Mole der alten Festung neben einem kleinen Außenborder und einem weiteren Polizeiboot an und gingen an Land. Das Boot der Küstenwache ankerte unweit des Ufers. Lagarde winkte der Besatzung kurz zu. Delphine sah sich stirnrunzelnd um. Hier gab es anscheinend nur Vögel, Steine und Gestrüpp. Obwohl es noch nicht Mittag war, brannte die Sonne erbarmungslos auf das kleine Eiland herunter und ließ die Luft flimmern. Eine junge Gendarmin kam ihnen entgegen und stellte sich als Annie Lucas vor. Sie führte die Gruppe zu dem Blockhaus. Vor der geschlossenen Tür stand ihr Chef Arsène Ruet und bewachte den Fundort. Einige Meter abseits, im Schatten einer knorrigen Seekiefer, saßen eine Frau und zwei Männer auf einem Felsen. Einer der beiden Männer starrte reglos auf den Boden, der andere Mann hatte tröstend den Arm um ihn gelegt. Die Frau sah ihnen entgegen, in ihrem Gesicht lag Beunruhigung.
Der Chef der Gendarmerie begrüßte die Ankömmlinge, indem er salutierte, und stellte sich ebenfalls vor. Er erklärte dem Kommissar, wer die Zivilpersonen waren.
»Die Dame heißt Simone Groult. Sie kam heute Morgen auf die Insel, um Vögel zu zeichnen. Dabei fielen ihr die seltsamen Flecke auf den Kieselsteinen auf.« Er deutete in Richtung einer zerknüllten Wolldecke. »Plötzlich stand ein Mann hinter ihr, der gleich darauf in die Hütte lief und die Toten entdeckte.«
»Ist der Mann auch hier?«
»Nein, er ist verschwunden, bevor wir die Blockhütte erreichten. Meine Kollegin und ich haben ihn gar nicht gesehen.«
»Wir brauchen eine Beschreibung des Mannes.«
»Jawohl, ich kümmere mich darum.« Er kam auf die beiden Männer zurück. »Der Herr links ist François Ferrand, der Ehemann der toten Frau. Sie heißt Alice Ferrand und ist die Bürgermeisterin von Sainte-Mère-Église. Der Mann daneben ist ein Freund von ihm, Jacques Fitoussi. Sie kamen heute Morgen auf die Gendarmerie, um Alice Ferrand als vermisst zu melden. Sie war gestern nicht nach Hause gekommen. Da sie hin und wieder mit ihrem Boot Adrien I auf die Vogelinsel fuhr, sahen wir als Erstes nach, ob es in der Marina liegt. Dort stand ihr Wagen, und das Boot war weg, deshalb sind wir hierhergefahren. Allerdings ankerte die Adrien I nicht an der Festungsmole. Wir wollten die Suche nach dem Boot schon woanders fortsetzen, als wir von der Insel einen Schrei hörten. Wir legten doch an, um der Sache nachzugehen.«
»Danke für die Informationen«, sagte Lagarde. »Wir gehen jetzt in das Blockhaus. Ich möchte, dass Sie mitkommen.«
»Selbstverständlich, Monsieur le Commissaire.«
»Kollegin Lucas soll bitte die Personalien und die Kontaktdaten dieser Personen aufnehmen. Danach können sie mit der Küstenwache übersetzen. Es ist auch ein Arzt an Bord, der sie, falls erforderlich, medizinisch versorgen kann.«
Lucas nickte. Die Gruppe setzte sich in Bewegung.
Lagarde wandte sich an den Leiter der Spurensicherung.
»Doktor Moreau wird sich jetzt die Toten ansehen, und ihr könnt mit eurer Arbeit anfangen.«
»Das machen wir.«
Als sie die Hütte betraten, schlug ihnen Verwesungsgeruch entgegen. Lagarde zog die Tür hinter sich zu. Zu dritt standen sie vor der Bettcouch und ließen das Szenario auf sich wirken. Der Kommissar hatte schon viel Schlimmes gesehen, aber dieser Anblick war auch für ihn verstörend. Die beiden Toten waren nackt und lagen auf dem Rücken eng beieinander. Die Köpfe waren auf zwei Kissen gebettet, und an den Leichen klebte viel Blut. Die klaffenden Wunden an den Hälsen sahen entsetzlich aus.
Delphine stellte ihre Tasche ab, schlüpfte in einen Schutzanzug und streifte sich Handschuhe über. Sie begann mit der Untersuchung der Leichen.
»Die Kehlen wurden wahrscheinlich mit einem Messer durchtrennt. Die Schnitte sind tief, ich gehe davon aus, dass beide innerhalb von Sekunden tot waren. Ich kann auf den ersten Blick keine Abwehrspuren entdecken. Vielleicht wurden sie überrascht. Sie sind schon einige Zeit tot, der Verwesungsprozess hat bereits eingesetzt.«
»Kannst du ungefähr einschätzen, seit wann sie tot sind?«, fragte Lagarde.
»Grob gesagt, seit gestern Nachmittag. Genaueres kann ich dir nach der Autopsie sagen.« Sie deutete auf die Brust der beiden Opfer. »Da wurde etwas eingeritzt, ebenfalls mit einem Messer oder einem anderen scharfen Gegenstand. Schau mal.«
Lagarde betrachtete die Verletzungen. Bei beiden Leichen verlief ein Schnitt senkrecht von der Halsbeuge bis zum Nabel. Eine zweite Einkerbung zog sich waagrecht unterhalb der Brust über den Leib, wobei die horizontale Linie etwas kürzer war als die vertikale. »Die Male sehen wie Kreuze aus.«
»Ja, das finde ich auch. Der Täter hat eine Nachricht hinterlassen, ebenso wie an der Wand.«
Hinter der Bettcouch an der Holzwand bemerkte Lagarde zwei bräunliche Kreise mit wenigen getrockneten Rinnsalen, die sich überschnitten. Ihr Durchmesser betrug etwa siebzig Zentimeter. In die Mitte des linken Kreises, über der Leiche von Alice Ferrand, war ein A gemalt, im rechten Kreis über dem toten Mann ein S.
Lagarde ging einen Schritt näher heran und betrachtete die Farbe genauer. »Es könnte sich um Blut handeln. Wir nehmen Proben und lassen sie untersuchen.« Er wandte sich an Ruet, der kalkweiß im Gesicht war. »Kennen Sie den Mann?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe ihn noch nie gesehen.«
Lagarde sah sich um. Die Kleidung der Toten lag teils auf dem Boden, teils auf einem Sessel, neben dem eine Handtasche lag. Er streifte Handschuhe über und leerte den Inhalt der Tasche auf den Tisch. Die Tasche hatte Alice Ferrand gehört. In ihrem Portemonnaie befanden sich ihr Personalausweis, ihr Führerschein, zwei Kreditkarten und etwas Bargeld. Außerdem waren ein Autoschlüssel und ein Schlüsselbund herausgefallen, ein Lippenstift, Deo, ein Kamm und Papiertaschentücher. Die Taschen von Alice’ Jeans waren leer. In der Hosentasche des Mannes fand der Kommissar ebenfalls ein Portemonnaie mit einem Fahrzeugschein und einem Ausweis. Er zog ihn aus dem Fach und las die Angaben vor.
»Der Mann hieß Pierre Basson. Er war Franzose, achtunddreißig Jahre alt und wohnte in Bayeux. Wir müssen herausfinden, ob er Familie hatte, und sie gegebenenfalls benachrichtigen.« Er steckte den Ausweis zurück, verschränkte die Arme und betrachtete die beiden Toten. »Waren sie ein Liebespaar? Haben sie sich selbst ausgezogen oder war es der Täter? Hat er es getan, um die Male einzuritzen?«
»Wenn sie Geschlechtsverkehr ohne Kondom hatten, kann ich deine erste Frage bald beantworten«, antwortete Delphine. Sie bat Lagarde, einen Kollegen von der Spurensicherung zu rufen, der ihr helfen sollte, die Toten umzudrehen. Als das geschafft war, setzte sie ihre Untersuchung fort.
»Ich kann weiter nichts Auffälliges entdecken. Die vorhandenen Leichenflecke sind in diesem Stadium üblich. Lassen wir die beiden in mein Institut bringen. Es ist nicht gut, wenn sie hier noch länger in der Wärme liegen und dadurch möglicherweise Untersuchungsergebnisse verfälscht werden. Nach der Autopsie wissen wir mehr.«
»In Ordnung«, stimmte Lagarde zu.
Sie verließen das Blockhaus und erteilten entsprechende Anweisungen. Dann wandten sie sich der Decke und den rostroten Kieselsteinen zu. Ein Polizeifotograf war gerade dabei, die Fundstücke aus allen Perspektiven zu fotografieren.
Lagarde sah sich vorsichtig die Decke an, dann wanderte sein Blick über die Steine, die Erde, die Champagnerflasche, die Gläser und den Rucksack.
»Hier ist überall getrocknetes Blut«, stellte er fest. »Auf der Decke, auf den Steinen und auf der Erde.« Er nahm den Rucksack und überprüfte seinen Inhalt. Er fand einen Autoschlüssel in der Seitentasche und eine gefüllte Plastiktüte mit Essensresten im Hauptfach.
»So wie es aussieht, haben sie hier ein Picknick gemacht, Hühnchen gegessen und Champagner getrunken. Ich gehe davon aus, dass sie auch hier getötet wurden. Wären sie in der Hütte getötet worden, müssten Spritzer an der Wand, auf dem Sofa und auf dem Boden sein. Das ist augenscheinlich nicht der Fall. Wir müssen selbstverständlich die Untersuchungsergebnisse abwarten, aber aller Voraussicht nach ist das hier der Tatort.«
Ruet rieb sich nachdenklich die Stirn. »Wenn sie hier getötet wurden, warum hat der Täter sie dann in die Hütte gebracht?«
»Gute Frage«, erwiderte der Kommissar. »Wenn wir sie beantworten können, sind wir dem Mörder eventuell ein Stück näher.«
Gendarmin Lucas kam über den Trampelpfad auf sie zu. »Die drei Personen werden mit dem Boot der Küstenwache auf das Festland zurückgebracht«, meldete sie. »François Ferrand wird ärztlich versorgt. Er hat einen schweren Schock erlitten. Madame Groult wollte mit dem Außenborder zurückfahren, aber die Ärztin konnte ihr dieses Vorhaben zum Glück ausreden. Sie haben das Boot ins Schlepptau genommen. Bevor sie an Bord ging, habe ich sie um eine Beschreibung des Mannes gebeten, den sie gesehen hat.« Sie holte ihr Notizbuch aus der Jackentasche. »Viel ist es nicht. Sie hat ihn nur ganz kurz gesehen und war erschrocken über sein plötzliches Auftauchen. Der Mann war groß, hatte lange blonde Haare, einen Bart, und er trug eine Art Arbeitsoverall in einer dunklen Farbe. Er war angeblich weder alt noch jung. Sie meinte ihn schon zwei-, dreimal auf der Insel gesehen zu haben, wie er Vögel beobachtete und sich Notizen machte, aber sicher ist sie sich nicht. Er trug dabei nämlich einen Helm, um sich vor den Angriffen der Vögel zu schützen.«
Lagarde bedankte sich bei ihr. Lucas überlegte. »Wenn sie ihn tatsächlich schon einmal hier gesehen hat, könnte es ein Mitglied des Vogelschutzvereines sein.«
»Das ist sicher ein guter Ansatzpunkt, wir werden es überprüfen.«
Sie freute sich über die anerkennenden Worte und lächelte ihn an.
Nachdem die beiden Leichensäcke vom Fundort zur weiteren Untersuchung in der Gerichtsmedizin abtransportiert worden waren, machten sich auch die Polizisten und die Rechtsmedizinerin auf den Weg. Die Techniker der Spurensicherung hatten noch viel Arbeit vor sich. Sie mussten die ganze Insel nach Spuren und möglichen Hinweisen absuchen.
Nachdem das Polizeiboot sie zum Festland zurückgebracht hatte, übernahm der Polizist Henri Servat erneut das Steuer des Dienstwagens, und sie machten sich auf den Weg nach Barfleur. Delphine rauchte und war tief in ihre Gedanken versunken. Sie rekonstruierte im Kopf die vorläufigen Ergebnisse ihrer Erstuntersuchung der Opfer und rätselte, welche Bedeutung die geritzten Male haben könnten. Zeichen dieser Art hatte sie noch nie irgendwo gesehen.
Lagarde telefonierte mit Frank Lanoux und berichtete, was sich bisher ereignet hatte. »Bei den Toten handelt es sich um die Bürgermeisterin von Sainte-Mère-Église, Alice Ferrand. Der Mann heißt Pierre Basson und wohnt in Bayeux, mehr weiß ich noch nicht über ihn.«
»Eine ermordete Bürgermeisterin, mon Dieu! Wenn die Presse das erfährt, wird es eine Menge Wirbel geben.«
»Ja, damit ist zu rechnen.«
»Wie gehst du jetzt weiter vor?«
»Die Mordopfer werden gerade in die Rechtsmedizin gebracht. Delphine will heute Nachmittag mit den Untersuchungen beginnen, danach wissen wir sicher mehr.«
»Das ist gut. Wir müssen den Medien vermitteln, dass wir schnell und kompetent handeln.«
»Das werden wir.«
»Wer könnte dich bei den Ermittlungen unterstützen? Soll ich dir den jungen Kommissar an die Seite stellen, der die Leitung des Falls abgelehnt hat?«
Lagarde überlegte kurz. »Nein, lieber nicht. Einen Bedenkenträger kann ich nicht gebrauchen.«
»Das verstehe ich. Kann Valérie dich nicht unterstützen?«
Valérie war die Assistentin von Roselin Dumas, dem Chef der Gendarmerie von Barfleur, und hatte Lagarde schon einige Male bei schwierigen Ermittlungen geholfen. Die junge Frau galt als sehr engagiert und kompetent.
»Das geht leider nicht«, entgegnete der Kommissar. »Sie hat Urlaub und ist für zwei Wochen nach Neuseeland geflogen. Machen wir es nicht kompliziert, Frank. Wir warten die Obduktion ab, und ich beginne mit den Vorermittlungen. Die beiden Gendarmen von Sainte-Mère-Église haben einen sehr kooperativen Eindruck auf mich gemacht. Ich werde mich mit ihnen zusammensetzen, vielleicht können sie die eine oder andere Aufgabe übernehmen. Dann sehen wir weiter.«
»Gut, einverstanden. Du machst das schon. Um die Presse kümmere ich mich. Sag mir bitte Bescheid, wenn es Neuigkeiten gibt.«
»Selbstverständlich.«
Die Männer beendeten ihr Gespräch.
Als sie Philippe Lagardes Haus erreicht hatten, fragte er die Rechtsmedizinerin: »Wann bist du so weit, dass wir uns besprechen können?«
»Treffen wir uns doch um neunzehn Uhr im Institut. Bis dahin müsste ich die Untersuchungen beendet haben.«
»In Ordnung, dann bis später.«
Zu Hause machte Lagarde sich einen Café au lait und nahm die Tasse mit auf die Veranda. Alexandres Futterschalen waren leer, und der Wildkater war nirgends zu sehen. Sein neuer Lieblingsplatz war ein sonnenbeschienener Felsblock oberhalb der kleinen Bucht, zu der vom Garten aus ein Pfad durch ein Kiefernwäldchen führte. Dort kauerte er stundenlang und beobachtete Seevögel.
Lagarde setzte sich an den Holztisch und begann seine Notizen durchzulesen und zu ergänzen. Zwischendurch blickte er nachdenklich auf den wogenden Ozean. Der Fall setzte sich allmählich in seinem Kopf fest und ließ ihn nicht mehr los. Auf einer einsam gelegenen Vogelschutzinsel geschah ein Doppelmord. Opfer waren eine verheiratete Kommunalpolitikerin und ein Mann, von dem sie bisher nur den Namen, das Alter und den Wohnort kannten. Waren die beiden ein Liebespaar gewesen oder sollte es nur so aussehen? Waren sie deshalb nackt gewesen? Handelte es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft? Diese Fragen mussten so schnell wie möglich geklärt werden. Er überlegte, welche Schritte die nächsten sein sollten, und stellte eine vorläufige Liste auf. Schließlich fragte er sich, wie er die Zeit bis zu der Besprechung mit Delphine am sinnvollsten nutzen könnte, und beschloss, sich die kleine Insel noch einmal allein und ungestört anzusehen. Er wollte sie auf sich wirken lassen, bis in seinem Kopf Bilder davon erschienen, was sich auf dieser Insel abgespielt haben könnte.
Rasch warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Er konnte es zeitlich schaffen, wenn er sich sofort auf den Weg machte. Da es noch heißer geworden war, ging er nach oben ins Schlafzimmer und tauschte sein Hemd gegen ein T-Shirt. In der Küche belegte er ein halbes Baguette mit Salami und Käse und nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Danach verließ er das Haus und fuhr mit seinem verbeulten, himmelblauen Renault Express nach Barfleur.
Als er die schmale Straße zwischen dem Dünengürtel und dem Strand entlangfuhr, öffnete er das Seitenfenster und schaltete das Radio ein. Leise summte er ein melancholisches Chanson von Joe Dassin mit. Als er das Zentrum des malerischen Fischerdorfes erreichte, fand er einen Parkplatz auf dem Quai Henri Chardon direkt vor der Hafenbefestigung. Auf der anderen Straßenseite, in einem schmalen Granitsteinhaus, befand sich sein Lieblingsbistro, Au Vent des Îles, Im Wind der Inseln. Der Wirt Gaston erinnerte an einen Korsaren und schrieb gerade mit einem Stück Kreide das Tagesmenü auf eine Tafel, die die Form eines Surfbrettes hatte. Als er sich umdrehte, entdeckte er Lagarde und winkte ihm zu.
»Schön dich zu sehen, Philippe! Komm, trinken wir einen Pastis zusammen.«
Der Kommissar grüßte lächelnd zurück. »Keine Zeit, ich bin dienstlich unterwegs. Ein andermal gerne.«
Inzwischen war beinahe Hochflut, und die hereinbrechenden Wellen hatten die Boote aus dem Schlick gehoben, so dass sie jetzt auf dem unruhigen Wasser schaukelten. Barfleur war nicht nur für seine goldenen Muscheln bekannt, sondern auch für einen Tidenhub, der bis zu zwölf Meter erreichte. Bei Ebbe saßen die Boote im Schlamm fest.
Lagarde lief über die steinerne, von Algen überzogene Treppe zur Mole und stieg von dort aus über eine Leiter in sein korallenrotes Ruderboot. Mit wenigen Schlägen erreichte er sein Schiff, das an einer Boje ankerte. Es war ein robuster Dreikieler mit ausgebleichten, ehemals rosa Fendern, der hochseetauglich war. Über eine Leiter kletterte er an Bord und löste den Knoten des Taus. Er betrat den Steuerstand und startete den Motor.
Langsam steuerte er das Boot erst durch den Freizeithafen, dann durch den Fischereihafen. Links der Hafenausfahrt wachte die granitsteinerne Kirche Saint-Nicolas, umgeben vom Friedhof der Seefahrer, über das Dorf, den Hafen und die Flotte. Vor dem Pier lag die Seenotrettungsstation, und direkt neben der Ausfahrt erhob sich stolz die Statue von Wilhelm dem Eroberer.
Als der Kommissar auf das offene Meer hinaussteuerte, fiel sein Blick auf den Leuchtturm von Gatteville, der in der Sonne lag und den Himmel zu berühren schien. Das Bündel an Lichtstrahlen, das er nachts aussendete, erreichte eine beachtliche Distanz von sechsundfünfzig Kilometern.
Das Schiff pflügte sicher durch die Wellen, auf denen weiße Schaumkronen saßen, und kam schnell vorwärts. Schon bald lagen die Marcouf-Inseln in flirrendem Licht vor ihm. Die größere Insel, die Île du Large, lag fünfhundert Meter östlich von der kleineren Île de Terre. Das Fort Circulaire erhob sich düster und abweisend auf dem von einem grünen Teppich überwachsenen steinernen Fundament. Scharen von weißen und schwarzen Vögeln umkreisten das Vogelschutzgebiet. Ihre Schreie hallten weit über das Meer.
Lagarde ankerte an der Mole der alten Festungsanlage und ging an Land. Kein weiteres Boot war zu sehen. Die Techniker der Spurensicherung hatten ihre Arbeit offenbar abgeschlossen und waren bereits abgefahren. Lagarde schien allein auf der Insel zu sein, weit und breit war kein Mensch zu sehen.
Zunächst lief er auf dem Trampelpfad zwischen Ginsterbüschen zu dem kleinen Strand, in dessen Nähe sich die Blockhütte befand. Die Decke war verschwunden, ebenso der Rucksack, die Champagnerflasche und die Gläser. Alle Beweismittel würden im Polizeilabor auf Spuren untersucht werden. Erneut studierte Lagarde das Muster der Blutspritzer auf den Kieselsteinen und der Erde sowie die größeren unförmigen Flecke. Bei kleineren Verletzungen der Halsschlagader kam es zu typischen Formbildungen und Tropfenmustern. Wenn jedoch eine Arterie durchtrennt wurde, ergaben sich andere Spuren. Das Bild, das sich ihm bot, schien beides zu umfassen.
Er riss sich von dem Anblick los und ging zur Hütte. Vorsichtig entfernte er das Polizeisiegel und trat ein. Aufmerksam ließ er seinen Blick durch den Innenraum wandern. Auf dem Überzug der Bettcouch befanden sich ebenfalls Blutflecke. Auf dem Holzboden und der Wand waren mit bloßem Auge jedoch keine Spuren zu erkennen. Die persönlichen Gegenstände der Opfer hatte die Spurensicherung ebenfalls vorerst zur Untersuchung mitgenommen, bevor sie dann den Angehörigen ausgehändigt wurden. In der abgestandenen Luft des Blockhauses lag noch immer ein leichter Verwesungsgeruch. Außerdem roch es nach Holz und Harz und leicht metallisch.
Die beiden sich überschneidenden roten Kreise an der Wand über dem Sofa zogen seinen Blick magisch an. Ob sie tatsächlich mit Blut gemalt waren, würden sie bald erfahren, aber er war schon jetzt überzeugt davon. Lagarde betrachtete die Buchstaben im Zentrum der Ringe und legte den Kopf schief. Ein A und ein S. War mit A Alice gemeint, Alice Ferrand? Aber warum dann ein S? Der tote Mann hieß Pierre mit Vornamen, das passte nicht. Das Bild sollte eine Botschaft sein, da war er sich sicher, aber welche? In der Lösung dieses Rätsels würde er vielleicht das Motiv erkennen.
Er riss seinen Blick von der Zeichnung los und wollte gerade überprüfen, welche Aussicht man aus dem Fenster hatte und ob man von außen in die Hütte sehen konnte, als genau in diesem Moment hinter der Düne ein rundes Gesicht erschien, das gleich darauf wieder verschwunden war. Lagarde rannte aus der Hütte, stürmte den Sandberg hinauf und blickte sich nach allen Seiten um, doch da war niemand.