Der Kommissar und der Tote von Gonneville & Der Kommissar und die Morde von Verdon - Maria Dries - E-Book
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Der Kommissar und der Tote von Gonneville & Der Kommissar und die Morde von Verdon E-Book

Maria Dries

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Beschreibung

Zwei spannende Krimis von Maria Dries in einem E-Book!

Der Kommissar und der Tote von Gonneville.

Mit seiner Freundin Odette verbringt der ehemalige Elitekommissar Philippe Lagarde unbeschwerte Sommertage am Meer und genießt seinen Ruhestand. Doch plötzlich holt ihn sein Beruf wieder ein: Im Wald von Gonneville geschieht ein brutaler Mord. Ein Großindustrieller und seine Verlobte werden auf einem Hochsitz getötet. Sein ehemaliger Kollege bittet ihn um Hilfe. Offenbar hatte der Tote viele Feinde – alte Geschäftsfreunde und zahlreiche Exfrauen. Und wer ist das Mädchen, das plötzlich im Wald auftaucht? Dann gibt es einen weiteren Toten ...

Der Kommissar und die Morde von Verdon.

Der geplante Urlaub von Philippe Lagarde und seiner Lebensgefährtin Odette fällt ins Wasser. Nachdem der Ehemann von Odettes Freundin in der Schlucht von Verdon verunglückt ist, reisen sie zur Beerdigung. Obwohl die Polizei von einem Selbstmord ausgeht, ist die Witwe sicher, dass ihr Mann ermordet wurde. Als sich Ungereimtheiten häufen, kommen auch Lagarde Zweifel an der Geschichte. Warum jedoch sollte die Polizei einen Mord vertuschen? Und dann gibt es einen weiteren Toten: Auch der Bürgermeister des Ortes verunglückt in der Schlucht von Verdon …

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Zwei spannende Krimis von Maria Dries in einem E-Book.

Der Kommissar und der Tote von Gonneville.

Mit seiner Freundin Odette verbringt der ehemalige Elitekommissar Philippe Lagarde unbeschwerte Sommertage am Meer und genießt seinen Ruhestand. Doch plötzlich holt ihn sein Beruf wieder ein: Im Wald von Gonneville geschieht ein brutaler Mord. Ein Großindustrieller und seine Verlobte werden auf einem Hochsitz getötet. Sein ehemaliger Kollege bittet ihn um Hilfe. Offenbar hatte der Tote viele Feinde – alte Geschäftsfreunde und zahlreiche Exfrauen. Und wer ist das Mädchen, das plötzlich im Wald auftaucht? Dann gibt es einen weiteren Toten...

Der Kommissar und die Morde von Verdon.

Der geplante Urlaub von Philippe Lagarde und seiner Lebensgefährtin Odette fällt ins Wasser. Nachdem der Ehemann von Odettes Freundin in der Schlucht von Verdon verunglückt ist, reisen sie zur Beerdigung. Obwohl die Polizei von einem Selbstmord ausgeht, ist die Witwe sicher, dass ihr Mann ermordet wurde. Als sich Ungereimtheiten häufen, kommen auch Lagarde Zweifel an der Geschichte. Warum jedoch sollte die Polizei einen Mord vertuschen? Und dann gibt es einen weiteren Toten: Auch der Bürgermeister des Ortes verunglückt in der Schlucht von Verdon …

Über Maria Dries

Maria Dries wurde in Erlangen geboren und hat Sozialpädagogik und Betriebswirtschaftslehre studiert. Heute lebt sie in der Fränkischen Schweiz. Schon seit vielen Jahren verbringt sie die Sommer in Frankreich.  

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Der Kommissar und der Tote von Gonneville&Der Kommissar und die Morde von Verdon

Zwei spannende Krimis von Maria Dries in einem E-Book.

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

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Der Kommissar und der Tote von Gonneville

Die Eulen

Der Wald von Gonneville

Höllenottern

Picknick am Meer

»Die rote Ziege«

Etwa 10 000 km von Frankreich entfernt

Das Schloss am Kap

Die Galerie in Paris

Das Gestüt auf dem Land

Seeräuberparadies

Palmenhain

Der goldene Engel

Karima

Zwei Wochen später

Der Kommissar und die Morde von Verdon

Karte

Die Zersprungene Glocke

Lac de Sainte-Croix, Alpes-de-Haute-Provence

Acht Tage später

Barfleur, Normandie, eine Woche später

Der fliegende Fisch

Schwarzes Gold

Der Felsbalkon von Mescla

Der Schrotthändler von Riez

Kastanienfest

Die Schlucht von Verdon

Pétanque-Spiel in Tourtour

Mariette

Die Glocken von Les Salles

Das Haus mit den vier Türmen

Barbecue

Was danach geschah

Impressum

Maria Dries

Der Kommissar und der Tote von Gonneville

Ein Kriminalroman aus der Normandie

Für Patric

Die Eulen

Im Schutz von schwarzen Eibenbäumen

In Reihen sitzt der Eulen Schar,

Wie Götter fremd und sonderbar,

Ihr rotes Auge glüht. Sie träumen.

Sie sitzen starr und ohne Laut,

Bis zu den schwermutvollen Stunden,

Da schräg der letzte Strahl entschwunden,

Und Finsternis ihr Reich sich baut.

Den Weisen lehrt ihr still Gebaren,

Wie er sich hüte vor Gefahren,

Die Hast und Lärmen bringt zu Tag.

Dem Menschen, toll von Schein und Schimmer,

Ward es zum Fluche, dass er nimmer

An einem Platze rasten mag.

Charles Baudelaire,

»Die Blumen des Bösen«

(»Les Fleurs Du Mal«)

Der Wald von Gonneville

Freitag, 31. Mai

Der Blutmond stand riesig über dem Horizont. Fast berührte er ihn. Die Dunkelheit im Jagdforst war von seinem glutroten Schein geprägt. Der Wald lag in der Nähe von Valognes in der nördlichen Normandie, eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft. Zwischen den imponierenden alten Baumbeständen aus Eichen, Buchen und Eschen stieg Nebel auf und verfing sich in den Zweigen. Durch das Hirschtal, das inmitten der weitläufigen Parzelle lag, wand sich ein Bach über glattgeschliffene Steine und eine grüne Moosdecke. Leises Plätschern war zu vernehmen. Auf einem Hang erhob sich düster ein Hochsitz. Ein farbenprächtig gefiederter Fasan ruhte auf seinem Schlafbaum. Er wurde von einem plötzlichen Rascheln geweckt. Hinter einem Mehlbeerstrauch trat eine Person hervor. Langsam und zielstrebig bewegte sie sich durch das Unterholz. Sie trug lodengrüne Kleidung und hatte einen Hut auf, dessen Zierfeder bei jedem Schritt wippte. An ihrem Gürtel, die Füße verschnürt, baumelten kopfüber zwei braunweiß gesprenkelte Rebhühner.

Aimée saß auf dem Beifahrersitz des großen schwarzen Geländewagens und starrte gelangweilt auf die Landschaft, die an ihr vorbeizog. Unter einem hohen, azurblauen, wolkenlosen Himmel erstreckten sich von Hecken umgrenzte Weiden, Gemüseäcker und Marschland. Ab und zu tauchte in der Ferne eine granitsteinerne Ansiedlung mit einem Kirchturm auf. Seit ihrer Abreise in Paris waren bereits mehr als vier Stunden vergangen. Charles hatte nur einmal an einer Autobahnraststätte kurz vor Caen eine Pause eingelegt, um zu tanken und rasch zwei Kaffee aus dem Automaten zu holen. Als sich bei Bayeux der Verkehr wegen eines Unfalls staute, hatte er gereizt reagiert. Er wollte am späten Nachmittag in seiner Jagdhütte eintreffen. Sie lag irgendwo in der Nähe von Valognes mitten im Wald. Aimée hatte bei seiner begeisterten Schilderung des einsam gelegenen Hauses, des ausgedehnten Jagdreviers und der stillen Friedlichkeit nicht richtig zugehört. Es interessierte sie nicht. Nur ihm zuliebe war sie mitgekommen. Sie würde an diesem Wochenende einen glamourösen Sektempfang, eine wilde Party auf einem Hausboot auf der Seine und eine Vernissage in einer angesagten Galerie im Künstlerviertel Belleville verpassen. Stattdessen würde sie in der Pampa festsitzen. Sie unterdrückte einen tiefen Seufzer. Ihr war heiß. Genervt schlüpfte sie aus den hochhackigen goldenen Sandalen und stemmte die bloßen Füße gegen das Armaturenbrett.

Charles, der den Wagen lässig mit einer Hand steuerte, drehte kurz den Kopf und blickte voller Besitzerstolz auf seine jüngste Eroberung. Seit drei Wochen waren sie verlobt. Seine Anwälte regelten die Scheidung von seiner dritten Ehefrau Caroline, die aufgrund beiderseitigen Einvernehmens in einigen Monaten rechtskräftig werden würde. Die fünfundzwanzigjährige Aimée war eine Schönheit, die vollkommen seinem Beuteschema entsprach. Sie hatte glatte rötliche Haare, die im Licht golden schimmerten. Auf seinen Wunsch hin trug sie die volle Mähne jetzt kinnlang geschnitten. Ihre Nase war fein, gerade und ein wenig breit. Die Augen groß und bernsteinfarben. Die vollen Lippen verlockend. An ihrem Finger funkelte der Ring, den er ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Er war aus Platin gefertigt, mit fünf Diamanten besetzt und hatte ein kleines Vermögen gekostet. Aimée trug ein kurzes salbeigrünes Sommerkleid, dessen Ausschnitt ihre großen Brüste betonte. Die schlanken langen Beine schienen kein Ende zu nehmen.

»Wir sind bald da, mein Liebling«, sagte er. »Du wirst staunen, wie schön es an der Nordküste der Halbinsel Cotentin ist. Freust du dich auf unser Wochenende?«

Seine Verlobte strahlte ihn an. »Ja, sehr, Charles. Es wird bestimmt wunderschön.«

»Das glaube ich auch. Die Woche war anstrengend. Ich hatte viel Stress in der Firma. Wir machen es uns richtig gemütlich und entspannen uns.«

»Das machen wir, Chéri.«

Charles fuhr von der Nationalstraße, die über Quettehou nach Barfleur führte, ab und bog links in eine schmale Landstraße ein. Sie folgten ihr einige Kilometer durch Wiesen und Lauchfelder. Dann begann das große Waldgebiet von Gonneville. Auf einem Forstweg fuhren sie durch einen dichter werdenden Laubwald über lichte Anhöhen und durch dunkle Täler. Aimée wähnte sich am Ende der Welt. Die einsame düstere Landschaft kam ihr unheimlich vor. Warum hatte sie sich nur auf diesen Ausflug eingelassen? Endlich gelangten sie auf eine Lichtung. Auf einer saftig grünen Wiese stand eine Blockhütte, umsäumt von hohen Ahornbäumen und Kastanien. Davor gab es einen alten Brunnen mit einer Pumpe. Sonnenstrahlen drangen durch das Laub und tauchten die malerische Kulisse in warmes gelbes Licht. Charles parkte den Mercedes Benz GL 350 direkt vor dem Haus, stellte den Motor ab und zeigte stolz auf die Behausung.

»Das ist sie«, erklärte er. »Meine Jagdhütte. Mein Refugium. Ist es nicht bezaubernd?«

Aimée versuchte verzweifelt, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Sie wollte ihren enthusiastischen Verlobten nicht enttäuschen. Allerdings wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte ein nobles Jagdschlösschen erwartet, das über jeden Komfort verfügte. Keine Blockhütte mit geschnitzten Herzen in den Fensterläden. Keinen Bretterverhau ohne beflissenes Dienstpersonal. Keine hölzerne Behausung mit einem roten Tongockel auf dem Kamin. Charles sprang aus dem Wagen, baute sich vor der Hütte auf und streckte die Arme aus.

»Willkommen, Aimée.«

Langsam stieg seine Verlobte aus dem Wagen und lief lächelnd auf ihn zu. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er umarmte sie mit einem strahlenden Lächeln und küsste sie auf den Mund. Seine haselnussbraunen Augen blitzten.

»Gefällt es dir hier?« fragte er.

»Ja, Charles. Es ist wirklich schön hier. So still und … grün.«

»Genau so ist es. Und es ist ein Liebesnest. Wir werden viel Spaß haben.«

»Ja, bestimmt. Gibt es hier Strom, Charles?«

»Natürlich gibt es Strom. Ich habe extra eine Leitung legen lassen. Ins Internet kann man auch.«

Er zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und sperrte die Eingangstür auf.

»Sieh dich schon mal um. Ich hole unser Gepäck aus dem Wagen.«

Voller Elan machte er sich an die Arbeit. Aimée stand unschlüssig auf der hölzernen überdachten Veranda und musste achtgeben, dass keiner ihrer hohen Absätze in einem Dielenspalt versank. Sie roch nicht den erdigen Duft des Waldes, sie hörte nicht den fröhlichen Gesang eines Pirols und sie nahm die Schönheit der Landschaft nicht wahr. Missmutig verscheuchte sie eine aufdringliche Biene und musterte ihren Verlobten, der gerade ihren überdimensionalen Koffer aus dem Laderaum hievte. Munter rief er ihr die Frage zu, ob sie plane, vier Wochen zu bleiben. Gott bewahre. Charles war einen Kopf kleiner als sie. Über dem Jeansbund wölbte sich ein dicker Bauch. Die enge Hose betonte seine o-förmigen Beine. Aus dem Sporthemdausschnitt kräuselten sich weiße borstige Brusthaare. Sein Gesicht war rund und von Lachfältchen durchzogen. Er hatte eine Knollennase wie ein Gnom. Die beginnende Glatze glänzte vom Schweiß. Am liebsten mochte sie seine lustigen warmen Augen. Sie hatten sich vor zwei Monaten an dem Crêpesstand kennengelernt, wo sie als Verkäuferin angestellt gewesen war. Sie hatte ihren Job gehasst. Die eintönige, schlecht bezahlte Arbeit war ihr zuwider gewesen. Dann war er plötzlich aufgetaucht. Am meisten hatten sein charmantes, unaufdringliches Werben und sein Humor sie beeindruckt. Und vor allem seine Großzügigkeit und sein offensichtlicher Reichtum. Ihr neuer Liebhaber war als erfolgreicher Unternehmer tätig und führte eine Firma, die Autoreifen herstellte.

Charles trug das Gepäck in das Jagdhaus und stellte es mitten im Salon ab. Einen Korridor gab es nicht. Das Wohnzimmer wurde von einem großen gemauerten Kamin dominiert. Auf den Holzdielen lagen bunte Läufer. Die rau verputzten weißen Wände waren mit Jagdtrophäen geschmückt. Wildschweinköpfe, die dicken Rüssel vorgeschoben, glotzten mit Glasaugen in den Raum. Hirschgeweihe prangten dazwischen. Ein ausgestopfter Fasan sah aus, als lebe er noch und würde Aimée beobachten. Es gab einen Essplatz mit grob geschreinerten Eichenmöbeln und eine Sitzecke. Sie bestand aus einem ausladenden braunen Ledersofa und zwei Sesseln. Ein halbierter Baumstamm diente als Tisch. Zwischen zwei Fenstern reichte ein Regal bis zur Decke. Darin standen aufgereiht französische Klassiker, Sachbücher über die Jagd, Reiseberichte und Kriminalromane. Bildbände, Landkarten und Yachtbroschüren stapelten sich auf den Buchreihen. Einen Fernseher konnte Aimée nirgends entdecken. Sie hoffte, dass wenigstens ein Apparat im Schlafzimmer stand.

»Es gibt in der Hütte noch zwei Schlafzimmer, eine kleine Küche und ein Bad«, erklärte Charles eifrig. »Im Anbau befindet sich die Waschküche. Dort wird auch das erlegte Wild ausgenommen. Ich zeige ihn dir später. Schauen wir doch mal, ob Beatrice für unser leibliches Wohl gesorgt hat.«

Beatrice war seine erste Ehefrau gewesen und genauso alt wie er. Sechzig Jahre. Sie wohnte nicht weit vom Jagdhaus entfernt in einem kleinen Schloss auf den Klippen. Mit unbeirrbarer Fürsorge kümmerte sie sich darum, dass der Kühlschrank und die Vorratskammer gut gefüllt waren, wenn Charles sich ankündigte.

Er öffnete den Kühlschrank und spähte hinein.

»Frische Goldbrassen, Steaks, Salat, verschiedene normannische Käse, Mousse au Chocolat, Wein und Champagner. Perfekt. Auf Beatrice ist Verlass. Was hältst du von einem kleinen Nickerchen? Vorher trinken wir ein Glas kühlen weißen Bordeaux und kuscheln. Nach der Siesta koche ich uns ein wunderbares Abendessen.«

Aimée nickte. »Das hört sich großartig an.«

»Ich bringe unser Gepäck ins Schlafzimmer«, erklärte Charles. »Anschließend hole ich den Wein.«

Aimée inspizierte währenddessen das Badezimmer. Es war mit schwarzen Marmorplatten gefliest, die matt glänzten. Erleichtert stellte sie fest, dass es ein Bidet gab. Die große, mit Glastrennwänden verkleidete Dusche war begehbar. Sie hatte schon befürchtet, sich am Brunnen waschen zu müssen. Über dem ausladenden schwarzen Waschbecken hing ein goldgerahmter Spiegel. Aimée betrachtete sich kritisch und war mit dem Ergebnis zufrieden.

Langsam schlenderte sie in das Schlafzimmer, während sie Charles in der Küche werkeln hörte. Der Raum war geschmackvoll eingerichtet und ganz in Cremeweiß gehalten. Weiße Vorhänge flatterten vor den beiden kleinen Fenstern in der Sommerbrise. Über das riesige französische Bett war eine helle Tagesdecke gebreitet. Perlweiße gespannte Stoffbahnen bildeten den Himmel. Dicke Schafswollteppiche lagen auf dem lasierten Holzboden. Auf einer kleinen Kommode in der Ecke stand eine Vase mit elfenbeinfarbenen Hortensien. Auf dem Bett entdeckte sie eine silbern glänzende Schachtel mit einer grünen Schleife. Aimée lächelte. Charles hatte ein Geschenk für sie bereitgelegt.

»Mach es auf«, sagte er, als er den Raum betrat. Er balancierte ein Tablett mit zwei Kristallgläsern und einem Sektkübel, aus dem ein grüner Flaschenhals ragte. Aimée löste die Schleife und hob den Deckel von der Schachtel. Auf schwarzen Spitzendessous glitzerten ein Paar Ohrringe. Platin und Diamanten, perfekt passend zum Verlobungsring. Aimée freute sich und fiel Charles um den Hals.

»So eine schöne Überraschung. Ich danke dir, Chéri.«

»Magst du in das schwarze Teilchen schlüpfen?«, raunte er in ihr Ohr. »Ich schenke den Wein ein.«

Als sie nebeneinander auf dem Bett lagen, küsste er zärtlich ihre Halsbeuge.

»Ich bin so glücklich, dass du bei mir bist«, sagte er.

Als Aimée zwei Stunden später aufwachte, war die Sonne bereits hinter den Laubkronen verschwunden. Die Dämmerung senkte sich über die Lichtung. Auf der Wiese standen reglos zwei Rehe. Aus der Küche erklang das Klappern von Töpfen und Pfannen. Sie stieg aus dem Bett, zog das Negligé aus und schlüpfte in ihr Kleid. Barfuß tappte sie in die Küche. Charles stand am Herd und briet die Fische.

»Das Essen ist gleich fertig«, verkündete er. »Ich habe auf der Veranda gedeckt. Es ist ein wunderbarer lauer Sommerabend. Nimm doch schon mal Platz. Ich bin gleich bei dir.«

Als sie auf die Terrasse trat, erschraken die Rehe und stoben davon. Mit eleganten weiten Sprüngen verschwanden sie im Wald. Charles hatte ein weißes Tischtuch über den Holztisch gebreitet. Darauf standen Porzellanteller, daneben lag Silberbesteck auf Stoffservietten aufgereiht. Die Weingläser waren mit weißem Bordeaux gefüllt. Kerzen in Glasschalen flackerten im Wind. Aimée setzte sich, trank einen Schluck Wein und war erstaunt über die Stille, die sie umgab. In Paris war es nie still. Nur das leise Rauschen der Blätter war zu vernehmen. Glühwürmchen schwirrten wie kleine rote Laternen im dunklen Wald. Äste knarzten. Dann meinte sie ein scharrendes Geräusch und ein sonderbares Kratzen zu hören. Schlich da ein wildes Tier durch das Gebüsch? Als ihr bewusst wurde, dass sich außer ihr und Charles vermutlich niemand in dieser Gegend aufhielt, schauderte sie. Alleine würde sie sich hier zu Tode fürchten. Ihr Verlobter trat mit einem Tablett auf die Terrasse und riss sie aus ihren Überlegungen.

»Gibt es hier wilde Tiere, Charles?«

Er lachte. »Aber nein, keine Angst, mein Engel. Die wildesten Tiere, die es hier gibt, sind Wildschweine. Wenn sie auf Menschen treffen, flüchten sie. Allerdings soll seit einiger Zeit ein Bär hier sein Unwesen treiben. Wenn du ihm begegnest, klettere bloß nicht auf einen Baum. Das kann er nämlich besser als du.«

Als er den erschrockenen Gesichtsausdruck seiner Verlobten bemerkte, konnte er sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. »Das war ein Scherz.«

Er stellte eine Platte mit den gebratenen Goldbrassen, eine Schüssel Salat und ein Körbchen mit aufgeschnittenem Baguette auf den Tisch und setzte sich ihr gegenüber.

»Greif zu, Aimée. Ich hoffe, es schmeckt dir.«

Er griff nach dem Weinglas und stieß mit ihr an.

»Auf unser schönes Wochenende.«

»Auf unser schönes Wochenende. Guten Appetit. Das Dîner duftet herrlich.«

Das Essen schmeckte Aimée sehr gut. Sie mochte Fisch. Charles konnte wirklich ausgezeichnet kochen. Sie nahm sich noch eine Portion Salat und sah ihn lächelnd an.

»Was wollen wir morgen unternehmen?«, fragte sie.

»Wir stehen im Morgengrauen auf und gehen auf die Jagd«, antwortete er. »Darauf freue ich mich schon seit Wochen. Anfang Juni beginnt die Jagdsaison.«

Seine Verlobte sah ihn entsetzt an. »Ich kann überhaupt nicht schießen, und ich will auch keine Tiere töten.«

Charles winkte ungeduldig ab. »Du sollst auch nicht schießen. Ich schieße und du begleitest mich.« Er legte den Kopf schief und lächelte sie nachsichtig an. »Aimée! Jagen ist meine große Leidenschaft. Deshalb bin ich hier. Aber weißt du was? Morgen Nachmittag fahren wir an den Strand und gehen schwimmen. Wenn du willst, können wir auch mit meinem Boot rausfahren. Danach kaufen wir auf dem Markt frische Langusten und Miesmuscheln für morgen Abend. Ich dämpfe sie in Cidresauce und Schalotten. Einverstanden?«

Sie nickte zögerlich.

»Einverstanden.«

Nachdem sie die rosa gebratenen Steaks als Hauptgang, einen sahnigen, würzigen Livarot mit der roten Rinde und das Dessert verspeist hatten, servierte Charles den Mokka.

»Es hat dir geschmeckt und du hast ordentlich zugelangt«, meinte er zufrieden. »Ich mag es nicht, wenn Frauen sich beim Essen so zieren. Trink bitte deinen Kaffee aus, ich habe eine Überraschung für dich.«

Er führte sie in die Küche. Dort gab es eine schmale Hintertür, die Aimée bisher gar nicht bemerkt hatte. Charles holte eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank und nahm zwei Kristallgläser aus einem Sideboard. Dann öffnete er den Ausgang mit dem Ellbogen. »Komm mit«, forderte er sie auf. Sie stiegen eine steile Holztreppe hinauf und gelangten auf eine Dachterrasse. In der Mitte stand ein abgedeckter Whirlpool. Charles hatte ihn gleich nach ihrer Ankunft in Betrieb gesetzt. Jetzt zog er die Plane weg. Das warme Wasser blubberte und schäumte. Dampfschwaden stiegen auf. In der Luft hing betörender Lavendelduft. Aimée war begeistert. »Ein Whirlpool«, hauchte sie. »Mitten in der Wildnis. Damit hätte ich hier überhaupt nicht gerechnet. Toll.«

»Wenn du mit mir zusammen bist, musst du mit allem rechnen, mein Liebling. Zieh dich doch aus. Wir nehmen ein entspannendes Bad direkt unter dem Sternenzelt.«

Aimée sah sich unsicher um. Sie konnte den Wald in der Dunkelheit nur ahnen. Düstere Schemen zeichneten sich ab und schienen sich zu bewegen.

»Und wenn uns jemand beobachtet?«

Charles lachte. »Hier ist kein Mensch, mein Schatz. Nur wir beide.«

Sie ließen ihre Kleider auf den Boden fallen, stiegen über zwei Trittstufen in den Pool und glitten in das warme, seidige Wasser. Dabei ließ Charles seine Blicke bewundernd über ihren Körper streifen. »Du bist wunderschön, Aimée.«

Er reichte ihr ein Glas Champagner. »Stoßen wir auf unsere baldige Hochzeit an. Ich werde die schönste Frau der Welt heiraten. Dann gehörst du mir.«

Still lagen sie im Whirlpool. Aimée bewunderte das tintenblaue Firmament, das sich hoch über ihnen wölbte. Hunderte von Sternen funkelten wie Edelsteine. Der Wind wisperte in den Baumwipfeln. Ein Waldkauz stieß einen lauten Lockruf aus. Sie erschrak. Plötzlich schossen Gedanken durch ihren Kopf, die die friedliche Idylle störten. Das Telefonat, das sie vor einigen Tagen geführt hatte, kam ihr in den Sinn. War sie zu voreilig gewesen? Zu unüberlegt? Zu gierig? Hatte sie einen Fehler gemacht? Was, wenn Charles davon erfuhr? Rasch wischte sie ihre Zweifel beiseite und betrachtete den weißen Vollmond, der noch immer riesig war.

Höllenottern

Samstag, 1. Juni

Aimée wurde durch ein sanftes Rütteln an der Schulter geweckt. Die Berührung riss sie aus einem wirren Traum. Sie drehte sich auf den Rücken und rieb sich verschlafen die Augen. Die Lampe auf dem Nachttisch war eingeschaltet. Draußen war es stockfinster.

»Aufwachen, mein Liebling«, flüsterte Charles zärtlich. »Wir gehen auf die Jagd. Ich habe dir Kaffee gebracht.«

Aimée blinzelte und setzte sich auf. Sie gähnte. Charles saß auf der Bettkante und hielt ihr eine Tasse hin. »Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?«

»Guten Morgen, Charles. Ich habe ein wenig unruhig geschlafen. Die Einsamkeit und die Stille hier bin ich nicht gewohnt. Warum weckst du mich mitten in der Nacht? Ich möchte weiterschlafen.« Sie wollte sich wieder auf die Seite drehen und sich in die Bettdecke rollen.

»Jetzt wird aufgestanden!«, verkündete Charles mit munterer Stimme. »Wenn wir nicht bald aufbrechen, hat sich das Wild verzogen. Jäger schießen gerne in der Morgendämmerung. Das ist die beste Zeit. In diesem Revier gibt es Schwarzwild, Rotwild und Rehe in großer Zahl. Vielleicht schieße ich auch einige Fasanen und Rebhühner mit der Schrotflinte, mal sehen.« Er drückte ihr die Tasse mit dem dampfenden Kaffee in die Hand. »Ziehe dir bequeme warme Kleidung und festes Schuhwerk an. Morgens ist es noch kühl. Frühstück ist fertig, beeil dich! Mich hat das Jagdfieber gepackt.« Schon war er verschwunden. Benommen trank Aimée einen Schluck Kaffee. Sie war hundemüde und wollte einfach nur weiterschlafen. Doch dann würde Charles ärgerlich werden. Das konnte sie nicht riskieren. Mühsam kroch sie aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Rasch putzte sie sich die Zähne, wusch das Gesicht mit kaltem Wasser und bürstete ihre Haare. Zurück im Schlafzimmer, wühlte sie in ihrem Koffer, bis sie eine bequeme Jeans gefunden hatte. Sie zog Socken über die kalten Füße. Zum Glück hatte sie Lederschuhe mit flachen Absätzen eingepackt. Sie schlüpfte in ein T-Shirt und einen dicken Wollpullover. Mit der Regenjacke über der Schulter lief sie zur Essecke. Dabei trank sie die Tasse leer. Sie brauchte dringend Koffein. Charles saß am Tisch und wartete auf sie.

»Setz dich, mein Liebling. Ich habe Baguette aufgebacken. Dazu gibt es Butter, Marmelade und Käse. Wir essen nur eine Kleinigkeit, nach der Jagd machen wir ordentlich Brotzeit.«

Er aß mit großem Appetit drei Baguettehälften mit Camembert und Brombeermarmelade. Aimée knabberte an einem Butterbrot und trank noch eine Tasse Kaffee. Charles nahm noch einen großen Schluck von seinem Tee, dann erhob er sich. »Wir brechen auf.« Er schulterte zwei seiner Jagdgewehre und setzte einen breitkrempigen Hut mit einer Feder auf. Gemeinsam traten sie auf die Veranda. Charles verschloss die Tür. »Wir machen jetzt einen halbstündigen Fußmarsch zu meinem Hochsitz«, erläuterte er. »Du hältst dich dicht hinter mir. Wir reden nicht und versuchen, so leise wie möglich zu marschieren. Auf geht’s!«

Im Gänsemarsch überquerten sie die Lichtung. Es nieselte. Ein frischer Wind fegte über die Lichtung. Das Gras war feucht, die Erde aufgeweicht. In der Morgendämmerung traten die ersten Umrisse der Bäume hervor. Der Wald wirkte abweisend und bedrohlich. Aimée starrte wütend auf den breiten Rücken ihres Verlobten und zog sich die Kapuze der Regenjacke über den Kopf. Er legte ein flottes Tempo vor. Sie hatte Mühe, Schritt zu halten. Ihr Atem ging schnell. Im Wald war es noch dunkler als auf der Lichtung. Aimée konzentrierte sich auf den Weg. Es war ein schmaler gewundener Pfad, über den dicke Wurzeln krochen und der steil bergauf führte. Sie musste aufpassen, dass sie auf dem glitschigen Laub nicht ausrutschte. Der Weg führte sie über einen Kamm, dann ging es bergab. Plötzlich tauchte im Nebel ein Jägerstand auf. Er erhob sich zwischen alten knorrigen Ebereschen, deren Blätter vom Regen dunkelgrün glänzten. Um seine hohen schlanken Holzstützen schwebten Dunstschleier. Eine steile Sprossenleiter führte auf den überdachten Sitzplatz. Unten im Tal, verborgen vom Bodennebel, plätscherte ein Bach. Aimées Fuß rutschte auf einer Erdscholle weg und sie fiel in ein Himbeergebüsch.

»Pass doch auf!«, ermahnte Charles sie mit gedämpfter Stimme. »Wenn du so weitermachst, wird das Wild aufgescheucht und flüchtet.«

Aimée versuchte sich aufzurappeln. Eine Hand versank im Morast. Als sie endlich wieder auf den Füßen stand, keuchte sie verhalten. Wut brodelte in ihr. Charles hatte ihr nicht aufgeholfen. Er hatte nur noch seine blöden Wildschweine im Kopf. Am liebsten hätte sie ihm eine gescheuert. Da bemerkte sie eine Bewegung auf dem Waldboden, wo sich eine Kuhle befand. Sie kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Da waren Dutzende von kleinen schwarzen Schlangen, die sich in einem Nest wanden. Aimée musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzuschreien. Charles sah sie irritiert an. »Was ist denn mir dir?«, fragte er flüsternd. Mit zitternden Fingern zeigte sie auf ihre Entdeckung.

»Ein Schlangennest«, hauchte sie entsetzt. »Sind die giftig? Ich glaube, eine hat mich gebissen.«

»Schwarze Kreuzottern heißen Höllenottern«, belehrte Charles sie. »Ihre Giftigkeit wird maßlos übertrieben. Ein gesunder Mensch wie du überlebt den Biss ohne weiteres. Das sind aber keine Höllenottern, sondern Blindschleichen. Völlig harmlos. Du brauchst keine Angst zu haben. Komm, mein Schatz. Wir steigen auf den Hochsitz. Sei vorsichtig! Die Tritte sind rutschig. Sonst fällst du mir noch in das Schlangennest.«

Aimée folgte ihm mit wackligen Beinen auf den Jägerstand. Sie klammerte sich so fest an die kalten, nassen Sprossen, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Als sie die Plattform endlich erreicht hatte, ließ sie sich vorsichtig neben ihrem Verlobten nieder. Sie fror erbärmlich und fürchtete sich vor dem kriechenden Getier, das im Wald lauerte. Wenigstens schützte sie das leicht schräge Holzdach vor dem Nieselregen. Sie kuschelte sich an Charles. Er zog einen silbernen Flachmann aus seiner Jackentasche, schraubte ihn auf und hielt ihr die Flasche hin. »Trink einen Schluck Calvados. Das beruhigt die Nerven. Und du musst jetzt bitte still sein.«

Aimée nahm einen winzigen Schluck. Ein Brennen jagte durch ihren Magen. Charles spähte durch den Feldstecher. »Da unten«, flüsterte er. »Auf der Wiese vor dem Bach. Da äst ein kapitaler Rehbock. Ein Sechserbock mit ausgeprägten Rosen, die Lauscher halb gegen das Geweih. Auf so einen Prachtkerl habe ich schon lange gewartet.« Er griff nach seinem schussbereiten Jagdgewehr, legte an und nahm sein Ziel ins Visier. Aimée konnte das schöne Tier mit dem rötlich braunen Fell und dem prächtigen Geweih nun ebenfalls sehen und hätte es am liebsten mit einem Schrei verscheucht. Es tat ihr von Herzen leid. Sie wollte nicht, dass es starb. »Lass ihn leben«, bat sie.

»Spinnst du? Ich bin Jäger. So ein gewaltiges Tier habe ich schon lange nicht mehr geschossen. Es ist ein Prachtexemplar.«

Aimée hielt sich die Ohren zu und wartete auf den unvermeidlichen Schuss.

Doch nicht nur der Rehbock war in das Tal gekommen. Auch jemand anderes hatte sich bereits vor ihnen dorthin geschlichen und lauerte verborgen hinter dichtem Gestrüpp auf einer Kuppe gegenüber dem Jägerstand. Ein Schuss hallte durch den Forst. Aimée kreischte auf. Charles erstarrte. »Was war das?«

Ein zweiter Schuss knallte und das Projektil traf Charles mitten in die Stirn. Bevor seine Verlobte reagieren konnte, ertönte ein dritter Schuss. Auch Aimée wurde von einer Kugel exakt in die Stirnmitte getroffen. Beide waren sofort tot und sackten zusammen. Charles kippte nach vorne. Das Geländer hielt ihn aufrecht. Hoch zufrieden mit ihrem grausamen Werk, trat die verborgene Person leise den Rückzug an. Es war ihr jedoch entgangen, dass sich noch jemand im Hirschtal aufhielt. Hinter einem dornigen Schlehendickicht kauerte ein Schatten, der die Szene genau beobachtet hatte.

Picknick am Meer

Montag, 3. Juni

Das weiße Motorboot mit den rosa Fendern ankerte vor der Nordostküste der Halbinsel Cotentin. Es handelte sich um einen robusten Dreikieler, der für Rauwasser besonders gut geeignet war und bei Ebbe nicht in den Schlick kippte. Das tiefblaue Meer glitzerte in der Sonne. Wellen rollten gemächlich auf das Ufer zu. Dort erhob sich der fünfundsiebzig Meter hohe Leuchtturm von Gatteville auf einer weiten, von Strandgras und stacheligen Dünenrosen überwachsenen Ebene. Daneben stand das alte Signalfeuer mit bescheidenen zwanzig Metern Höhe. Die aufkommende Flut hatte die felsige zerklüftete Küste bis auf einen schmalen Streifen überschwemmt. Dort, zwischen dunkelgrauen abgeschliffenen Gesteinsquadern, suchten Pêcheurs à pied, Fischer zu Fuß, vor allem nach Wellhornschnecken. Diese Meeresfrüchte waren in feuchten Ritzen und Spalten in großer Zahl zu finden. Im kleinen Hafen von Gatteville-le-Phare schaukelten grüne und blaue Fischerboote auf dem hereinströmenden Wasser. Hinter der Kaimauer wuchsen silbergrüne Zedern und hohes Schlickgras. Von dem pittoresken Weiler waren nur das Steinkreuz auf dem First der Seefahrerkirche und einige Kamine zu sehen.

Philippe Lagarde stand auf dem Deck seines Bootes und blinzelte in die Sonne. Für Anfang Juni war es ein erstaunlich heißer Tag. Deshalb hatten Amélie und Odette vorgeschlagen, am Nachmittag einen Ausflug zu machen. Sie wollten mit dem Schiff hinausfahren und im Meer schwimmen. Anschließend war ein Picknick geplant. Lagarde hatte zwei Angelruten in die dafür vorgesehenen Halterungen gesteckt und beobachtete die hüpfenden Schwimmer. Drei Heringe und zwei Seeteufel hatten bereits angebissen. Inzwischen waren sie ausgenommen, geputzt, mariniert und auf Eis gelagert. Später würde er die Fische über einem Lagerfeuer grillen.

Der Kommissar war aufgrund einer Schussverletzung frühzeitig in den Ruhestand gegangen. Bei einer Geiselnahme hatte ihn der amoklaufende Einzeltäter in die linke Schulter geschossen und schwer verletzt. In der Zwischenzeit war die Schussverletzung gut verheilt und er konnte seinen Arm und das Schultergelenk fast ohne Einschränkungen bewegen. Jetzt genoss er die freie Zeit, die ihm zur Verfügung stand. Er fuhr zum Angeln auf das Meer hinaus, werkelte an seinem alten Granitsteinhaus und unternahm ausgiebige Touren mit dem Rennrad. Da er jedoch seinen Beruf geliebt hatte, konnte er nicht ganz loslassen. Deshalb unterrichtete er Polizeianwärter, die auf der Akademie von Rennes ihre Ausbildung absolvierten. Immer wieder wurde er europaweit zu Tagungen eingeladen, um über für die Polizei relevante aktuelle Themen zu referieren. Außerdem wurde er manchmal bei komplizierten Kriminalfällen und schier unlösbaren, grausamen Verbrechen als Berater hinzugezogen.

Kommissar Philippe Lagarde war von mittelgroßer kräftiger Statur, durchtrainiert und muskulös. Über den Badeshorts straffte sich ein flacher Waschbrettbauch ohne ein Gramm Fett. Die dichten dunklen Haare trug er kurz geschnitten. Sein Gesicht war ebenmäßig, markant und wirkte besonders auf Frauen ansprechend. Die saphirblauen Augen mit den Lachfältchen bildeten zu der sonnengebräunten Haut einen attraktiven Kontrast.

Seine Lebensgefährtin Odette de Crézy und Amélie, die Tochter einer Freundin, saßen beide im Schneidersitz auf einem Badetuch, das sie auf dem Bootsdeck ausgebreitet hatten. Ein Sonnenschirm spendete Schatten. Zwischen ihnen lag ein aufgeklapptes Spielbrett mit jeweils zwölf schwarzen und roten Dreiecken. Odette brachte dem Mädchen Backgammon bei. Amélie begriff die Regeln für eine Erstklässlerin erstaunlich schnell. Sie rüttelte die beiden Würfel in den kleinen Händen, warf sie erwartungsvoll auf das Brett und platzierte anschließend die runden weißen Steine. Dabei kommentierte sie pausenlos den Spielverlauf und wollte unbedingt gewinnen. Wenn es ihr gelang, einen schwarzen Stein zu schlagen, klatschte sie begeistert in die Hände. Lagarde lehnte an der Reling und beobachtete amüsiert das Gefecht, das sich die beiden lieferten. Auch Odette war in das schneller werdende Spiel vertieft. Er betrachtete sie liebevoll. Die sandfarbene Baseballkappe hatte sie lässig in die Stirn gezogen. Ihre langen dunklen Haare fielen weich über den gebräunten Rücken. An den Ohren baumelten goldene Kreolen. Der bronzefarbene Bikini betonte ihre schlanke Figur. Sie würfelte und setzte unter den wachsamen Blicken von Amélie konzentriert die schwarzen Steine. Lagarde fand seine Freundin wunderschön und sehr sexy. Sie war eine warmherzige, humorvolle Frau, mit der man lachen und Spaß haben konnte.

»Gewonnen.« Amélie riss die Arme zur Siegerpose in die Luft. »Jetzt habe ich Durst«, verkündete sie. Auf der hölzernen Sitzbank standen drei große Gläser mit Fruchtsaftcocktail, den Odette gemixt hatte. Das Mädchen sprang auf und griff nach ihrem Glas, aus dem ein langer Strohhalm ragte. Zum Knabbern hatte Odette gesalzene Pistazien in eine Schale gefüllt. Sie knackte einige grüne Nüsse für Amélie. Anschließend cremte sie das Mädchen von Kopf bis Fuß mit Sonnenöl ein und wollte ihr eine Kappe aufsetzen.

»Jetzt nicht, Odette. Wir wollen doch schwimmen gehen. Ich möchte ins Meer springen. Mit euch.«

»In Ordnung.« Lagarde lachte sie an. »Aber nur mit Schwimmflügeln, Prinzessin Pipinette.« Diesen Kosenamen hatte er sich für sie ausgedacht.

»Aber, Onkel Philippe«, setzte sie zum Protest an.

»Keine Diskussion. Auf dem Meer werden Schwimmflügel getragen. Ich weiß, dass du schwimmen kannst. Am Strand ist das etwas anderes. Aber hier draußen gehe ich kein Risiko ein. Und bitte kühle dich unter der Dusche kurz ab.«

»Also gut. Wenn du meinst.« Sie gab erstaunlich schnell nach. Er hatte schon öfter die Erfahrung gemacht, dass sie sich am schnellsten einigten, wenn er eine klare Ansage machte. Mit gerümpfter Nase zog sie mit Hilfe von Odette die Flügel über die Arme. Dann spritzte sie sich unter der Dusche mit Meerwasser ab. Lagarde ging währenddessen zum Heck des Bootes und klappte den Metallsteg aus. »Von hier aus kannst du springen. Aber ich bin der Erste im Wasser. Dann bist du an der Reihe.«

Lagarde rannte über den Steg und sprang kopfüber in das kühle Nass. Prustend tauchte er wieder auf.

»Los geht’s«, rief er.

Amélie balancierte über die schmale Plattform. An ihrem Ende blieb sie zögernd stehen und sah nach unten.

»Das ist ganz schön tief«, meinte sie.

»Du kannst auch über die Leiter ins Wasser steigen.«

»Nein, ich will auch springen, so wie du.«

Entschlossen hielt sie sich die Nase zu und hüpfte vom Steg. Die Schwimmflügel trugen sie und hielten sie über Wasser. Das Mädchen ruderte mit Armen und Beinen und strahlte ihren großen Freund an.

»Ich habe es geschafft.«

»Toll hast du das gemacht«, lobte er sie.

Odette saß auf der Reling und winkte den beiden zu. Dann stieß sie sich ab und hechtete mit dem Kopf voraus in den Ozean. Gemeinsam schwammen sie eine Runde um das Schiff, ließen sich auf den Wellen treiben, beobachteten eine Möwenschar und sahen den Wolken nach. Als es ihnen zu kalt wurde, kletterten sie über die Leiter zurück an Deck. Lagarde hüllte das Mädchen in ein Handtuch.

»Wenn wir noch ein Picknick am Strand machen wollen, sollten wir jetzt starten«, meinte er. »Wir ziehen uns um und dann fahren wir zurück.«

Nach einer halben Stunde ankerte er in einer kleinen einsamen Bucht, die nur vom Meer her zugänglich war. Sie wurde von schroff abfallenden grauen Felsen begrenzt. Die See hatte sich im Laufe der Jahrhunderte durch die steilen Klippen hindurchgefressen, so dass imposante steinerne Bögen entstanden waren, durch die das Wasser schäumend gurgelte. Über einer mit Macchia und rosarot blühenden Grasnelken dicht bewachsenen Anhöhe erhob sich ein Pinienwäldchen. Sie wateten durch das flache türkise Wasser zum Strand. Der feine weiße Sand fühlte sich unter den Fußsohlen warm an. Während Amélie und Odette mit Hilfe von zwei flachen Kieselsteinen eine Mulde gruben, sammelte Lagarde in dem Wäldchen dürre Zweige, Äste und Pinienzapfen. Er schichtete sie in der Feuerstelle auf mitgebrachtes Zeitungspapier, schüttete Holzkohle dazu und verteilte einige Grillanzünder. Amélie durfte das Papier mit einem langen Streichholz anzünden. Als das Feuer kräftig loderte, spießten sie die Fische auf Äste und brieten sie über den Flammen. Odette zauberte aus ihrem Rucksack Teller, Besteck, Servietten, ein frisches Baguette und eine Schüssel mit Tomaten-Paprika-Salat. Amélie und sie tranken stilles Wasser, für Lagarde gab es eine Flasche Bier. Der frische gegrillte Fisch schmeckte köstlich. Anschließend saßen sie um das Lagerfeuer und sangen Seemannslieder. Wenn ihnen der Text nicht einfiel, dachten sie sich selbst einen aus. Sie lachten und amüsierten sich großartig, bis es Zeit war aufzubrechen. Amélie hatte am nächsten Tag Schule und sollte nicht zu spät nach Hause kommen.

Als sie den Hafen von Barfleur erreichten, dämmerte es bereits. Lagarde schipperte durch die Hafeneinfahrt, vorbei an der alten Werft und der Kirche Saint-Nicolas, und steuerte auf die breite Treppe an der Mole zu. Er stellte den Motor ab und verließ den Steuerstand. Dann griff er nach einem Eisenring und hielt das Boot dicht an der Kaimauer, so dass Odette und Amélie bequem aussteigen konnten. Schließlich vertäute er sein Schiff an einer Boje und paddelte mit dem Ruderboot zum Kai zurück. Über steile, mit Tang überzogene Steinstufen erreichten sie die Promenade. Spaziergänger flanierten in der lauen Abendluft auf der Mole. Die Tische vor den Restaurants und Cafés waren fast alle besetzt. Hand in Hand liefen sie den kurzen Weg zu dem Haus, in dem Amélie mit ihrer Mutter Camille wohnte. Sie arbeitete als Lehrerin für Französisch und Deutsch am Gymnasium von Saint-Vaast-la-Hougue. An diesem Nachmittag hatte sie einen kranken Kollegen vertreten müssen, so dass Odette und Philippe gerne als Babysitter eingesprungen waren. Als sie das Haus erreichten, stieg Camille gerade aus ihrem Auto und winkte ihnen zu.

»Hallo ihr drei, da seid ihr ja. Braungebrannt, wie die Seeräuber.«

Amélie fiel ihrer Mutter um den Hals.

»Ich bin vom Steg aus ins Meer gesprungen«, fing sie an zu erzählen. »Das war ganz schön hoch, aber ich habe mich getraut.«

»Deine Tochter ist sehr mutig«, bestätigte Lagarde. »Und ich glaube, inzwischen ist sie auch sehr müde von den Abenteuern, die sie erlebt hat.«

Camille lächelte ihn an. »Das glaube ich auch. Wir holen Lali und dann geht es ab ins Bett, mein Schatz.«

Lali war Amélies Hund, der ihr normalerweise nicht von der Seite wich. Aber Bootfahren mochte sie nicht. Dabei wurde ihr übel. Deshalb hatte das Tier den Nachmittag bei einem freundlichen Nachbarn verbracht.

Odette und Philippe verabschiedeten sich herzlich von Amélie und Camille, die sich für die Betreuung ihrer Tochter bedankte. Nach dem langen Arbeitstag wirkte sie erschöpft. Arm in Arm schlenderten Lagarde und seine Lebensgefährtin zur Hafenpromenade zurück.

»Was hältst du davon, wenn wir den schönen Tag mit einem Glas Wein im ›Im Wind der Inseln‹ beschließen«, schlug Lagarde vor. Das Bistro, direkt an der Hafenmole gelegen, war seine Stammkneipe.

»Gute Idee, das machen wir. Lassen wir den Abend dort ausklingen. Morgen wartet viel Arbeit auf mich. Für den Abend liegen bereits sechs größere Reservierungen vor.«

Odette war die Eigentümerin eines exklusiven Feinschmeckerrestaurants, dem »Mirabelle«, das sie mit viel Charme und Geschäftssinn führte. Es lag nicht weit von Barfleur entfernt in einem romantischen Apfelgarten. Am Montag war Ruhetag und sie hatte sich den Tag ausnahmsweise freigenommen. Ansonsten gab es auch, wenn das Restaurant geschlossen hatte, viel zu erledigen. Das Paar fand einen freien Tisch vor dem Bistro unter der weiß-rot gestreiften Markise. Daneben erhob sich eine alte Platane, deren Stamm glatt und marmoriert war. Sie setzten sich und Odette streckte die langen Beine aus. Schon eilte Gaston, der Wirt, herbei.

»Guten Abend, ihr beiden. Wie geht es euch?«

»Wir haben einen kleinen Ausflug gemacht«, erzählte Lagarde. »Und jetzt haben wir Durst.«

»Was darf ich euch bringen?«

»Was möchtest du trinken, Odette?«

Sie überlegte kurz. »Einen roten Landwein, bitte.«

»Eine Karaffe vom Hauswein, Gaston«, bat Lagarde. »Und eine Flasche Mineralwasser.«

»Ich habe eine Tomaten-Mangold-Zwiebel-Quiche«, informierte der Wirt seine Gäste. »Falls ihr möchtet?«

»Gerne«, antwortete Odette. Sie war immer neugierig auf die kulinarischen Kreationen von Kollegen.

»Kommt sofort.«

Kurz darauf brachte Gaston die Bestellung. Lagarde bedankte sich und füllte die Gläser.

»Zum Wohl, mein Liebling. Auf unseren schönen Nachmittag.«

»Zum Wohl, Philippe. Es hat Spaß gemacht, mit der Kleinen einen Ausflug zu unternehmen.«

In einträchtigem Schweigen genossen sie den trockenen fruchtigen Wein sowie die Aussicht auf die beleuchtete Promenade und die dunklen Silhouetten der Boote, die im Hafen lagen. Es roch nach Fisch, Salz und Tang. Gerade als Gaston die Quiche servierte, klingelte Lagardes Handy. Er entschuldigte sich bei Odette und drückte auf Empfang. Die Nummer kannte er.

»Bonsoir, Ludovic.«

Ludovic Cleroc war Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei von Cherbourg. Sie hatten schon öfter bei komplizierten Fällen zusammengearbeitet.

»Bonsoir, Philippe.« Er hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf, sondern kam sofort zur Sache. »Ich brauche deine Hilfe.« Seine Stimme klang angespannt und gehetzt. Normalerweise war der Polizist ein besonnener Mann, der bestimmt und ruhig agierte.

»Was ist denn los, Ludovic? Natürlich helfe ich dir. Aber erzähle erst einmal, was passiert ist.«

Odette trank einen Schluck von ihrem Wein und sah ihren Lebensgefährten fragend an.

»Wir haben einen Mordfall«, erklärte Ludovic. »Genauer gesagt einen Doppelmord. Zwei Leichen im Forst von Gonneville. Eine Frau und ein Mann. Auf einem Hochsitz erschossen. Man könnte denken, es war eine Hinrichtung.«

»Ich habe den Bericht in der Zeitung gelesen.«

»Es steht in allen Zeitungen. Die Presse überschlägt sich förmlich. Ein Wildhüter hat die Leichen gestern am frühen Morgen gefunden.«

»Wie kann ich dir helfen?«

»Der erschossene Mann, Charles Mirbeau, ist ein französischer Großindustrieller.«

Lagarde hatte schon von ihm gehört. Den Namen kannte in Frankreich jeder.

»Er hat in den obersten gesellschaftlichen Kreisen verkehrt«, fuhr der Hauptkommissar fort. »Mit dem Wirtschaftsminister hat er Golf gespielt. Das Innenministerium und die oberste Polizeibehörde in Paris haben sofort einen Druck aufgebaut, das kannst du dir nicht vorstellen.«

Doch, das konnte er sich sogar sehr gut vorstellen.

»Wir haben gerade erst angefangen zu ermitteln und einflussreiche Persönlichkeiten fordern bereits die schnelle Aufklärung dieses Falles.«

Lagarde überlegte. »Ich muss dir nicht sagen, dass es bei prominenten Leuten immer so abläuft. Das weißt du selbst. Am besten fährt man meiner Ansicht nach, wenn man alle Forderungen, so gut es geht, ignoriert und seine Arbeit macht.«

»Du hast natürlich recht. Aber ich habe ein Problem. Ich sage es jetzt freiheraus.«

»Selbstverständlich, sag mir, was los ist. Wir sind doch Freunde.«

Der Hauptkommissar seufzte schwer.

»Es geht um Suzanne«, sagte er schließlich. Lagarde erschrak. Suzanne war Clerocs Freundin. Nach einem langen, verheerenden Rosenkrieg mit seiner Exfrau hatte er sie kennengelernt und sich in sie verliebt. Das war vor etwa einem Jahr gewesen.

»Was ist denn mit Suzanne?«

»Sie ist schwanger. Es ist eine Risikoschwangerschaft. Wie du weißt, ist sie neununddreißig. Es geht ihr nicht gut. Ich muss mich um sie kümmern.«

Sein Freund klang völlig verzweifelt.

»Wir wünschen uns dieses Kind so sehr. Wir wollen eine Familie gründen. Philippe, ich will diese Beziehung auf keinen Fall gefährden. Ich habe schon eine gescheiterte Ehe hinter mir. Wir wollen einfach glücklich sein. Und jetzt wird von mir verlangt, dass ich mein Privatleben beiseiteschiebe und mich ausschließlich auf diesen Fall konzentriere. Er hat höchste Priorität. Ich denke, ich schaffe das nicht alleine mit meiner Truppe.«

»Hast du keine Vertretung?«

»Du kennst unsere Personalengpässe doch nur zu gut. Weißt du, wie viele Polizistenehen jährlich zerbrechen?«

Die niederschmetternde Statistik war Lagarde bekannt und er zögerte keine Sekunde.

»Natürlich unterstütze ich dich. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen früh um zehn Uhr im Forst von Gonneville. Du zeigst mir den Tatort und berichtest, was du bisher herausgefunden hast. Dann legen wir eine Strategie fest. Wir arbeiten zusammen und ich halte dir den Rücken frei, wenn es erforderlich ist.« Er dachte nach. »Wir brauchen das Einverständnis von Frank Lanoux.«

Lanoux war der Polizeipräsident der Normandie.

»Ich habe gerade mit ihm telefoniert. Er ist einverstanden.«

Lagarde grinste. Ludovic hatte schon vorgesorgt. »Wunderbar. Dann treffen wir uns morgen früh. Wo soll ich hinkommen?«

»Zum großen Wanderparkplatz südlich des Manoir von Gonneville.«

»Alles klar. Mach dir keine Sorgen. Wir schaffen das.«

»Danke. Dann bis morgen.«

»Bis morgen, Ludovic.«

»Was ist denn los?«, wollte Odette wissen.

Er sah sie ernst an. »Ludovic braucht meine Hilfe. Im Wald von Gonneville ist ein Verbrechen geschehen. Ein prominenter Unternehmer, Charles Mirbeau, und seine Begleiterin wurden erschossen.«

»Der Charles Mirbeau?«

»Ja, genau der.«

»Und die Frau?«

»Das hat Ludovic nicht gesagt.«

Seine Freundin wurde blass und schauderte. »Ein zweifacher Mord, hier bei uns in der Nähe. Das ist ja entsetzlich.«

»Die rote Ziege«

Dienstag, 4. Juni

Lagarde wachte kurz nach sieben auf. Hinter den Birken, die vor dem großen halbmondförmigen Schlafzimmerfenster von Odette wuchsen, stand die aufgehende Sonne als gelber Feuerball. Es würde wieder ein heißer Tag werden. Neben ihm lag Odette auf dem Bauch und schlief. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und stieg leise aus dem Bett. In der Küche setzte er Kaffee auf und nahm eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank. Anschließend ging er in das Badezimmer. Frisch rasiert und geduscht, genoss er die erste Tasse Milchkaffee und beschloss, den Frühstückstisch im Garten zu decken. Er trug ein beladenes Tablett über die Galerie im ersten Stock und die Außentreppe hinunter. Auf der Terrasse unter den riesigen Kronen der Walnussbäume war die Luft noch frisch und kühl. Deshalb wählte er einen Tisch, der neben dem Fußweg in der Sonne stand. Hinter dem Restaurant befand sich der von einer Hecke umsäumte Gemüsegarten. Dort pflückte er frische Erdbeeren, säuberte sie unter einem Wasserhahn und gab sie in eine Porzellanschale. Das süße Aroma der reifen Früchte stieg ihm in die Nase. Zufrieden mit seinen Vorbereitungen setzte er sich an den Tisch und schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein. Er lauschte dem Gesang eines Rotkehlchens und bewunderte die großen runden Blumenrabatten, in denen orange Feuerlilien und blauvioletter Rittersporn üppig blühten.

Seine Gedanken wanderten zu dem Verbrechen im Jagdrevier. Aufgrund der Popularität von Charles Mirbeau mussten sie damit rechnen, dass Journalisten sich wie Kletten an sie heften würden. In solchen Fällen verhielten sie sich wie Hyänen. Sie bissen sich fest und ließen nicht mehr los. Täglich würden sie zweifelhafte Neuigkeiten und gewagte Spekulationen verbreiten. Als er Schritte auf der Treppe hörte, lächelte er seiner Freundin entgegen und goss Kaffee für sie ein. Sie war ungeschminkt, hatte die langen Haare zu einem losen Zopf geflochten und sah hinreißend aus.

Nach dem Frühstück machte er sich auf den Weg zum Wanderparkplatz im Wald von Gonneville. Er fuhr über die Nationalstraße nach Saint-Pierre-Église und noch einige Kilometer weiter bis zum Ort Gonneville. Auf der einzigen Kreuzung folgte er dem Hinweisschild auf das Herrenhaus und bog links ab. Der Renault Express holperte über das Kopfsteinpflaster der schmalen, von Granitsteinhäusern gesäumten Dorfstraße, vorbei an einer Pâtisserie und einer Bar-Tabac. Vor dem Lokal saßen vier ältere Männer um den einzigen Tisch. Sie tranken schon ihren ersten Rotwein, schauten in ihre Zeitungen und diskutierten mit aufgeregten Gesten. Kurz hinter dem Ortsausgang führte eine kerzengerade verlaufende, geschotterte Forststraße in den Wald. Auf der linken Seite verlief eine alte verwitterte Steinmauer, die den Park des Herrenhauses von Gonneville umgab. Das alte Schloss war in der Mitte des 16. Jahrhunderts von der Familie Pirou zerstört worden, die auf den Überresten einen neuen Adelssitz erbaute. Durch einen Seiteneingang konnte er einen kurzen Blick auf das Manoir werfen. Der Zugang bestand aus zwei gewaltigen runden Pfeilern, gekrönt von jeweils einer Steinkugel, und einem verrosteten schmiedeeisernen Tor, das schief in den Angeln hing. Dahinter lag eine wild wuchernde Wiese, die an eine Allee grenzte. Hoch gewachsene Kastanienbäume bildeten ein Spalier. Zwischen den Laubkronen schimmerte ein bleigraues Schieferdach, auf dem mittig ein imposanter Erker saß. Er wurde von zwei spitzen Türmchen flankiert, die sich über der grauweißen Fassade erhoben. Auf der anderen Seite des Forstweges erstreckte sich ein dichter Buchenwald. Efeu rankte sich um die glatten Stämme. Nach einem Kilometer erreichte Lagarde den Parkplatz. Ludovic hatte seinen Dienstwagen vor einer großen Tafel, auf der eine Wanderkarte abgebildet war, geparkt. Er stand neben dem Auto, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und wartete. Als er seinen ehemaligen Kollegen wahrnahm, winkte er ihm kurz zu. Lagarde stellte sein Auto ebenfalls vor der Tafel ab.

Die Männer begrüßten sich. Cleroc sah übernächtigt aus. Die Wangen waren eingefallen, der Teint bleich, die grauen Augen trübe. Die schmale Nase wirkte noch spitzer als sonst. Wie immer im Dienst hatte er die langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug Anzug, Hemd und Schlips.

»Wir fahren mit meinem Dienstwagen«, entschied der Hauptkommissar. »Zu dem Hochsitz führt ein Forstweg für Holzfäller.«

Cleroc steuerte den Peugeot im Schritttempo über den unebenen Weg, mied tiefe Spurrillen, Schlaglöcher und wich Gesteinsbrocken aus. Durch das dichte Laub der Eichen und Buchen drang wenig Sonnenlicht in den Forst. Zwischen den Stämmen eng stehender, hoher Fichten breiteten sich dunkelgrüne Moosteppiche aus. Dorniges Gestrüpp überwucherte den Waldboden. Es herrschte eine düstere, unheilvolle Atmosphäre. Nach zehn Minuten holpriger Fahrt erreichten sie das Hirschtal und folgten auf einer Schlammpiste einem Bach bis zu einer kleinen Lichtung.

»Hier ist der Forstweg zu Ende«, verkündete Cleroc und stellte den Motor ab. »Ein Trampelpfad führt direkt bis zum Jägerstand. Es ist nicht weit.«

Hintereinander gingen die Männer auf dem gewundenen Weg, der stetig bergan führte, und gelangten nach wenigen Minuten an ihr Ziel. Das Gelände war weiträumig mit weißroten Polizeibändern abgesperrt, die in der lauen Brise flatterten.

»Das ist der Hochsitz.« Cleroc schaute in die Höhe. »Dort oben auf der Plattform fand ein Wildhüter vorgestern am frühen Morgen die beiden Leichen. Die Frau saß zusammengesunken auf dem Sitz. Der Mann hing mit dem Oberkörper über dem Holzgeländer. Der Wildhüter kletterte auf die Plattform und konnte nur noch ihren Tod feststellen. Völlig außer sich über den schrecklichen Fund, setzte er sofort einen Notruf ab.«

»Woher wisst ihr, dass es sich bei dem männlichen Opfer tatsächlich um Charles Mirbeau handelt?«, fragte Lagarde. »Hat ihn jemand identifiziert?«

»Ihm gehörte die Jagd. Der Wildhüter arbeitete für ihn und kümmerte sich um das Revier. Deshalb konnte er ihn identifizieren. Außerdem haben wir in der Jacke des Opfers seine Brieftasche mit den Ausweispapieren gefunden.«

»Und wer ist die Frau?«

»Der Forstangestellte hat sie noch nie gesehen. Aber wir wissen inzwischen, dass es sich um Mirbeaus neue Freundin handelt. Aimée Dupont. Er war noch nicht lange mit ihr zusammen. Die Affäre ging durch die gesamte Regenbogenpresse. Ein Glamour-Paar. Kürzlich kam es zu einem Eklat, als er seine Geliebte mit zu einem Empfang im Élysée-Palast nahm. Denn auch seine Frau Caroline Mirbeau, von der er sich getrennt hat, war eingeladen. Die Fotos dieses Zusammentreffens waren in allen Boulevardblättern abgebildet. Allerdings hatte Aimée Dupont auf dem Hochsitz weder Personalausweis noch Führerschein bei sich. Wahrscheinlich befinden sich die Dokumente in ihrem Gepäck.«

»Wie sind die beiden hierhergekommen? Ihr Wagen muss doch irgendwo stehen. Und wo ist ihr Gepäck?«

»Der Wildhüter berichtete von einem Blockhaus, das sich ungefähr eine halbe Stunde Fußmarsch von hier in südlicher Richtung befindet. Es gehörte ebenfalls Charles Mirbeau. Dort wohnte er immer, wenn er auf die Jagd ging. Er ließ sein Auto bei der Hütte stehen und durchstreifte das Revier zu Fuß.«

»Wir müssen herausfinden, wer wusste, dass er an diesem Wochenende jagen wollte.«

»Laut Aussage des Wildhüters wusste das so ziemlich jeder hier. Mirbeau hat immer Anfang Juni die Jagdsaison eröffnet.«

»Die Opfer wurden erschossen?«

»Ja, eine Kugel mitten in die Stirn. Sie waren sofort tot.«

»Von wo wurde geschossen?«

Cleroc deutete auf eine Anhöhe auf der anderen Seite des Tals. Sie war mit Gestrüpp und jungen Fichten überwachsen und lag vom Jägerstand schätzungsweise vierzig Meter entfernt.

»Vermutlich von dort aus. Das Dickicht und die Büsche wachsen dort so dicht, dass man sich gut verbergen kann. Merkwürdig ist, dass drei Schüsse abgegeben wurden. Wir haben in einem Baumstamm, der zwei Meter vom Hochsitz entfernt steht, ein Projektil gefunden. Es stammt höchstwahrscheinlich aus einem großkalibrigen Jagdgewehr. Auf den ballistischen Bericht warte ich noch.«

Lagarde überlegte. »Interessant ist die Frage, ob die drei Kugeln aus demselben Gewehr stammen.«

»Das werden wir bald wissen. Auf jeden Fall steckte das Projektil noch nicht lange im Baum. Die Splitter an der Rinde und im Holz waren ganz frisch.«

»Das wäre aber sonderbar. Jemand, der in der Lage ist, zwei Menschen eine Kugel präzise in die Stirnmitte zu platzieren, der trifft doch bei einem weiteren Schuss nicht zwei Meter daneben.«

»Das ist wirklich merkwürdig. Dafür habe ich noch keine Erklärung.«

»Habt ihr weitere Spuren gefunden? Fußabdrücke zum Beispiel?«

»Nein. Am Sonntag hat sich die Spurensicherung das Gelände um den Tatort vorgenommen. Sie fanden keine Fußabdrücke, keine Stofffasern, nichts. In der Nacht zuvor hatte es stundenlang genieselt. Falls es Fußabdrücke gab, hat der Regen sie unkenntlich gemacht. Der Waldboden ist mit Unterholz und Blättern bedeckt, was die Suche nicht gerade einfacher gestaltete. Am Montag haben Polizisten mit Spürhunden die gesamte Gegend durchkämmt. Der einzige Gegenstand, den sie gefunden haben, war ein Schmuckstein.«

»Ein Schmuckstein?«

»Ja. Er lag unter einem Pilzgeflecht auf der Anhöhe mit der Fichtenschonung. Der Stein war auf ein Lederbändchen gefädelt. Jemand hat ihn wohl als Kette oder Armband getragen und im Wald verloren.«

»Wie sieht er aus?«

»Das Schmuckstück ist von blaugrüner Farbe, oval und poliert. Der Stein und die Lederschnur werden im Labor auf Fingerabdrücke und DNA untersucht.«

»Immerhin, das könnte ein Hinweis sein«, meinte Lagarde zuversichtlich.

»Ja, durchaus.« Clerocs Handy klingelte. Genervt starrte er auf die Nummer und drückte das Gespräch weg. »Die rechte Hand des Innenministers«, erklärte er. »Der Wichtigtuer hat mich heute schon dreimal angerufen. Bisher habe ich mehr Zeit für diese Telefonate aufgewendet als für die Ermittlungsarbeit«

»Das glaube ich sofort. Hat Delphine die Leichen schon obduziert?«

»Sie untersucht sie gerade. Gestern war sie nicht da. Aber am Sonntagmorgen kam sie zum Tatort, hat sich die Opfer angesehen und eine vorläufige Untersuchung durchgeführt.«

»Okay.« Lagarde begann die Leiter zur Plattform des Hochsitzes hinaufzusteigen. Die Sprossen waren rutschig. Cleroc folgte ihm. Schweigend sahen sie auf die schmale hölzerne Sitzbank mit der Lehne im Neunziggradwinkel. Sie betrachteten die Kreidezeichnungen, die die Kollegen der Spurensicherung angefertigt hatten. Mirbeau hatte auf der rechten Seite gesessen, als der tödliche Schuss ihn traf, und war nach vorne gekippt. Die Umrisse des Körpers von Aimée Dupont, dicht links davon, zeigten auf, dass sich ihre Position, nachdem der Tod eingetreten war, nicht verändert hatte. Lagarde fragte sich, wer zuerst erschossen worden war. Wie hatte das zweite Opfer reagiert? Hatte es in Panik geschrien? Hatte den Schrei jemand gehört? Hatte es überhaupt noch Zeit gehabt zu reagieren? Oder folgte der zweite Schuss unmittelbar auf den ersten? Wenn die zweite Person mehr Zeit gehabt hätte, hätte sie sicherlich versucht zu flüchten. Oder war sie durch das erlebte Grauen paralysiert gewesen? Hatte ein Täter geschossen oder mehrere? Er sah in die Richtung, aus der die Schüsse aller Wahrscheinlichkeit nach abgefeuert worden sein mussten. Ludovic hatte recht. Eigentlich kam nur die gegenüberliegende Kuppe in Frage. Eindringlich studierte er das Gelände. Im Moment gab es hier nichts mehr zu tun.

»Welcher Punkt steht als Nächstes auf dem Programm, Ludovic?«

»Ich will mir die Jagdhütte von Mirbeau ansehen. Wir haben dafür noch keinen Durchsuchungsbeschluss, weil der Hochsitz der Tatort ist. Der Wildhüter hat sich bereit erklärt, sich mit uns bei dem Gebäude zu treffen und die Tür aufzuschließen. Ich rufe ihn jetzt an und sage ihm Bescheid, dass wir unterwegs sind.«

»In Ordnung.«

Sie stapften über den schlammigen Grund des Hirschtales zu der Forststraße, wo ihr Auto stand. Plötzlich hörten sie Hufgetrappel, das durch den stillen Wald tönte und rasch näher kam. Auf einem Wanderpfad, der ihren Weg kreuzte, galoppierte ein Pferd auf sie zu. Das Mädchen, das das Tier ritt, saß nach vorne gebeugt auf dem Sattel und duckte sich geschickt unter den Fichtenzweigen. Kurz bevor sie die Männer erreicht hatte, stoppte sie das Pferd mit einem knappen Zuruf. Es bäumte sich auf und schnaubte. Die weiße Mähne umwehte den großen Kopf. Dann stand es still.

»Salut!«, rief das Mädchen. Es blickte mit einem bezaubernden Lächeln auf die Kommissare herab. »Ein schöner Tag, um spazieren zu gehen oder auszureiten, nicht wahr?«

»Salut. Du bist ja flott unterwegs«, meinte Lagarde. »Zum Glück ist dein Pferd gut erzogen.«

Sie lachte. »Apollo gehorcht aufs Wort, keine Bange. Sein Name stammt aus der griechischen Mythologie. Er bedeutet Gott des Lichtes. Das finde ich sehr schön.«

»Ja, ein schöner Name«, erwiderte Lagarde. »Und er passt auch gut. Dein Haflinger hat die Farbe von einem hellen Lichtfuchs. Ein prachtvolles Tier.«

»Danke, Monsieur.« Sie freute sich sichtlich über das Lob und strahlte ihn an.

Das Mädchen trug eine Reithose, ein kurzärmliges kariertes Hemd und hohe dunkelbraune Lederstiefel. Keinen Helm. Aus einer Satteltasche ragte der Lauf einer Schrotflinte. Lagarde schätzte sie auf ungefähr sechzehn Jahre. Sie war groß, schlank und wirkte sportlich. Das lange schwarze Haar fiel in wilden dicken Locken auf ihre Schultern und umrahmte ihr hübsches herzförmiges Gesicht mit einer kecken Stupsnase und riesigen veilchenblauen Augen.

»Wie heißt du denn?«, erkundigte sich Cleroc.

»Mariella. Eigentlich heiße ich Mireille, aber der Name gefällt mir nicht so gut. Und wer sind Sie?«

»Wir sind von der Polizei«, antwortete Lagarde und zeigte ihr seinen Dienstausweis. Er überlegte, ob er ihr den Grund für ihre Anwesenheit im Wald sagen sollte. Er wollte sie nicht erschrecken, aber vielleicht hatte sie etwas gesehen. Sie schien sich im Wald wie zu Hause zu fühlen. Außerdem ging er davon aus, dass sich die Nachricht über das Verbrechen hier in der Gegend wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. »Dort drüben auf dem Hochsitz sind zwei Menschen erschossen worden«, fuhr er fort. »Wir ermitteln in dem Fall.«

Mariella nickte. »Ja, ich weiß. Jeder weiß das hier. Charles Mirbeau und seine Freundin wurden getötet. Sein Wildhüter hat sie gefunden.«

Cleroc hatte den Eindruck, dass sie nicht besonders betroffen wirkte. »Kanntest du Mirbeau persönlich?«

»Ja. Ihm gehört das Jagdrevier. Wir sind uns manchmal im Wald begegnet, wenn ich mit Apollo einen Ausritt gemacht habe.«

»Und seine Freundin? Hast du sie auch gekannt?«

»Nein. Das letzte Mal, als ich Charles gesehen habe, war er mit Caroline unterwegs.«

»Hast du keine Angst, alleine durch den Wald zu reiten, nachdem hier ein Verbrechen geschehen ist?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Angst. Niemals. Außerdem habe ich immer mein Gewehr dabei. Ich kann gut schießen.«

Daran hatte Lagarde nicht den geringsten Zweifel. »Sag mal, Mariella. Hast du vielleicht irgendetwas gesehen oder gehört, das dir merkwürdig vorkam?«

»Nein. Gar nichts. Tut mir leid. Dann hätte ich mich selbstverständlich sofort gemeldet. Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich muss weiter.« Sie schnalzte mit der Zunge und der Haflinger setzte sich in Bewegung. Langsam trabte er an den Kommissaren vorbei. Lagarde griff nach dem Halfter von Apollo.

»Eine Frage noch, Mariella. Wo können wir dich finden, wenn wir mit dir reden wollen?«

»Ich wohne in dem Weiler Brillevast, ganz in der Nähe.« Lagarde ließ das Halfter los. Das Mädchen winkte zum Abschied. »Au revoir, Messieurs.«

Dann preschte sie davon und verschwand zwischen den Bäumen.

Cleroc sah ihr nach. »Sie hat eine Schrotflinte.«

»Ab sechzehn darf sie mit Erlaubnis der Eltern solch eine Waffe besitzen. Ich bezweifle, dass das eine gute Idee ist, aber es ist legal. Ob ihr wirklich nichts aufgefallen ist? Ich glaube, sie kennt den Forst so gut wie ihre Westentasche und hält sich oft hier auf.«

»Wenn wir genauere Informationen über den Todeszeitpunkt haben, können wir ja noch einmal mit ihr reden«, entgegnete Cleroc. »Jetzt schauen wir uns erst einmal die Jagdhütte an.«

»Gut.«

Nachdem sie den Wanderparkplatz erreicht hatten, fuhr Hauptkommissar Cleroc voraus. Lagarde folgte ihm. Sie brauchten zwanzig Minuten, bis sie das Blockhaus von Charles Mirbeau erreicht hatten. Der Wildhüter wartete bereits auf der Veranda auf sie. Sein Jeep parkte neben einem schwarzen Benz. »Das ist der Wagen von Mirbeau«, sagte Cleroc. »Der Fahrzeugschein befand sich in seiner Brieftasche.«

Der kernige Hüne in grüner Jagdkleidung drückte ihnen kräftig die Hand, studierte die Dienstausweise genau und schloss schließlich die Eingangstür auf.

»Ich warte auf der Terrasse auf Sie. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

Die Kommissare betraten den Salon und ließen ihre Blicke durch den Raum schweifen.

»Mirbeau hat es sich hier gemütlich eingerichtet«, stellte Lagarde fest. »Er hatte Geschmack. Rustikal, viele Bücher, warme Farben, ein offener Kamin, Jagdtrophäen. Schön. Wer die Ruhe und die Jagd liebt, muss sich hier sehr wohl fühlen.« Auf einem kleinen antiken Schreibtisch unter dem Wildschweinkopf stand ein Laptop. Lagarde klappte ihn auf und schaltete ihn ein. Als das Gerät hochgefahren war, erschien ein Feld für das Passwort. »Das ist ein Fall für unsere Computerspezialisten«, entschied er. »Wir nehmen ihn mit.«

Auf dem Esstisch standen ein Brotkorb und eine Teekanne. »Laut der Aussage des Wildhüters wollte Mirbeau am Freitagnachmittag hier eintreffen«, erläuterte Cleroc. »Das Paar hat in der Hütte übernachtet. Am Samstagmorgen sind sie zeitig aufgestanden und haben gefrühstückt. Anschließend sind sie aufgebrochen, um auf die Jagd zu gehen. Delphine hat bei der vorläufigen Untersuchung am Tatort festgestellt, dass die Opfer bereits ungefähr vierundzwanzig Stunden tot waren.«

»Das heißt, sie sind am Samstagmorgen erschossen worden, nicht am Sonntag, als der Wildhüter sie gefunden hat.«

»Ja.« Cleroc ging in die Küche und schaute in die Spülmaschine. »Hier drin ist das Geschirr vom Abendessen und vom Frühstück.«

Lagarde inspizierte den Kühlschrank. »Champagner, Wein. Wenige Vorräte. Wahrscheinlich wollten sie am Samstag nach dem Jagdausflug einkaufen gehen.«

Cleroc lehnte sich an die Küchenzeile und verschränkte nachdenklich die langen Arme. »Ich glaube, dass dort am Hochsitz jemand auf die beiden gewartet hat. Der Täter hat gewusst, dass sie kommen werden. Und dann hat er geschossen, wie ein Scharfschütze. Es war ein Profi. Jemand, der sehr gut mit einem Gewehr umgehen kann.«