Der Kommissar und die Tote von Saint-Georges - Maria Dries - E-Book
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Der Kommissar und die Tote von Saint-Georges E-Book

Maria Dries

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Beschreibung

Bienvenue à Barfleur!

Ein Fahrgast beobachtet durch das Zugfenster, wie ein Mann eine junge Frau überfällt. Als die Polizei eintrifft, findet sie weder ein verletztes Opfer noch eine Leiche. Tage später wird unweit des Bahnhofs eine junge Frau tot aufgefunden. Die Suche nach dem Täter bleibt ohne Ergebnis. Doch die Eltern der Toten bitten Philippe Lagarde um Hilfe. Was er in den Akten liest, macht ihn fassungslos: Ermittlungsfehler in allen Bereichen. Er begreift, dass er einen ungewöhnlichen Weg wählen muss, wenn er herausfinden will, was geschehen ist ...

Monsieur le Commissaire Philippe Lagarde und sein schwierigster Fall.

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Über Maria Dries

Maria Dries wurde in Erlangen geboren und hat Sozialpädagogik und Betriebswirtschaftslehre studiert. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Fränkischen Schweiz. Schon seit vielen Jahren verbringt sie die Sommer in der Normandie.

Im Aufbau Taschenbuch sind bisher ihre Krimis »Der Kommissar von Barfleur«, »Die schöne Tote von Barfleur«, »Der Kommissar und der Orden von Mont-Saint-Michel«, »Der Kommissar und der Mörder vom Cap de la Hague«, »Der Kommissar und der Tote von Gonneville«, »Der Kommissar und die Morde von Verdon«, »Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville«, »Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse« sowie »Der Kommissar und das Biest von Marcouf« erschienen.

Informationen zum Buch

Bienvenue à Barfleur!

Ein Fahrgast beobachtet durch das Zugfenster, wie ein Mann eine junge Frau überfällt. Als die Polizei eintrifft, findet sie weder ein verletztes Opfer noch eine Leiche. Tage später wird unweit des Bahnhofs eine junge Frau tot aufgefunden. Die Suche nach dem Täter bleibt ohne Ergebnis. Doch die Eltern der Toten bitten Philippe Lagarde um Hilfe. Was er in den Akten liest, macht ihn fassungslos: Ermittlungsfehler in allen Bereichen. Er begreift, dass er einen ungewöhnlichen Weg wählen muss, wenn er herausfinden will, was geschehen ist.

Monsieur le Commissaire Philippe Lagarde und sein schwierigster Fall

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Maria Dries

Der Kommissar und die Tote von Saint-Georges

Philippe Lagarde ermittelt

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Maria Dries

Informationen zum Buch

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Aufforderung zur Reise

Prolog: Sonntag, der 28. September 2014 – Basse-Normandie, Halbinsel Cotentin

Erster Tag

Vier Jahre später

Zweiter Tag

Die Seerosen von Villot

Dritter Tag

Freunde am Verdon

Vierter Tag

Diner im Mirabelle

Fünfter Tag

Das Steinkreuz unter der Eiche

Sechster Tag

Das Armband

Siebter Tag

Cap de la Hague

Achter Tag

Flaschenpost

Neunter Tag

Sonnenhof

Zehnter Tag

Montségur

Elfter Tag

Der Touristenzug

Zwei Tage später

Vier Wochen später

Epilog

Impressum

Für meinen geliebten Ehemann Herbert, meinen besten Freund, Erstlektor, Diskussionspartner, Manager und Reisebegleiter bei Recherchen in Frankreich. Mit Dir ist eine Ära zu Ende gegangen. Du fehlst!

Aufforderung zur Reise

Kind, Schwester, hold ist’s zu träumen,

Wir zögen zu zwein ohne Säumen

Nach jenem herrlichen Land.

In Lieb uns verstehend,

In Liebe vergehend,

Dort wo die Welt dir verwandt.

Wo die feuchten Sonnen,

Von Schleiern umsponnen,

Erwecken so seltsame Glut,

So rätselhaft Sehnen

Wie dein Auge voll Tränen,

Drin verräterisch Leuchten ruht.

Charles Baudelaire »Die Blumen des Bösen« »Les Fleurs du Mal«

Prolog Sonntag, der 28. September 2014 Basse-Normandie, Halbinsel Cotentin

Zum letzten Mal in diesem Jahr fuhr der beliebte normannische Touristenzug Train de la Côte des Îles die neun Kilometer lange Strecke von Barneville-Carteret nach Portbail. Die Schienen verliefen entlang der Küste gegenüber den Kanalinseln Jersey, Guernsey und Sark. Die eingleisige Strecke war nicht elektrifiziert und nur noch in den Sommermonaten in Betrieb. Die Lokomotive mit dem Originalanstrich, grün mit gelben Streifen, zog drei grüne Personenwaggons, die aus den fünfziger Jahren stammten. Die Gleise führten über die Haltepunkte Saint-Jean-de-la-Rivière und Saint-Georges-de-la-Rivière durch eine Heckenlandschaft, Dünen, Felder und Buchenwälder.

Die Personenwaggons waren während dieser abendlichen Sonderfahrt wie immer voll besetzt, es herrschte eine heitere Stimmung, und der Zugführer schien noch langsamer zu fahren als sonst. Fast hätte man während der Fahrt Blumen pflücken und Schafe streicheln können. Im ersten Wagen gab es ein Buffet mit normannischen Delikatessen, darunter Rohmilchkäse, Cidre und Calvados.

Eine junge Frau in blauem Fischerhemd und mit einem rot-weiß karierten Schal saß auf der Holzbank, auf dem Kopf eine schwarze Kappe, und spielte auf einem Akkordeon Seemannslieder. In dem Hut vor ihr auf dem Boden lagen bereits zahlreiche Münzen. Im zweiten Waggon lauschten Touristen den Ausführungen des Reiseleiters, der sie auf Sehenswürdigkeiten aufmerksam machte. Gerade passierten sie das Manoir de Rossignol, das mit seinen Türmchen, Gauben, Kaminen und Pechnasen stolz auf einem Hügel thronte. Strahler tauchten es in goldgelbes Licht, das an das Gefieder einer Nachtigall erinnerte.

Die Dämmerung senkte sich über den Landstrich, und die Dächer und der Kirchturm von Barneville waren nur noch schemenhaft zu erkennen. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden und glutrot in den Ozean eingetaucht. Durch die halb geöffneten Fenster drang der Geruch von Wildblumen, Gras und Meer herein. Die Dampflok schnaubte.

Im dritten Abteil gab es noch einige freie Plätze, und es war ruhiger. Dort saßen auch Einheimische, die den Bummelzug nutzten, um nach der Arbeit nach Hause zu fahren.

Vincent Guyon stand an einem der Fenster und starrte in die Dämmerung, doch er nahm das Gebüsch und die Bäume, die an ihm vorbeihuschten, gar nicht wahr. Er war tief in Gedanken versunken und fühlte sich hoffnungslos. Normalerweise machte er in den Sommermonaten früher Feierabend. Doch heute hatte ihn sein Chef Monsieur Lepraël zum Abendessen eingeladen, weil er etwas mit ihm besprechen wollte. Guyon hatte sofort ein ungutes Gefühl beschlichen. Diese Vorahnung hatte sich während des Gesprächs bestätigt. Lepraël war Eigentümer einer Fischfabrik in der Nähe des Cap de Carteret. Der Umsatz hatte inzwischen durch die Konkurrenz größerer Unternehmen seinen Tiefpunkt erreicht. Über die prekäre finanzielle Situation war Guyon sehr gut informiert, schließlich war er der Chefbuchhalter. Lepraël hatte erklärt, dass die bisherigen Sparmaßnahmen nicht gefruchtet hatten. Er würde die Personalabteilung und die Buchhaltung outsourcen müssen, um sein Geschäft wieder auf eine solide Basis zu stellen. Halbherzig hatte er Guyon einen Arbeitsplatz in der Produktion angeboten, aber das kam für ihn nicht infrage.

Guyon fragte sich, wie er in dieser ländlich geprägten Region und in seinem Alter einen neuen Arbeitsplatz finden sollte. Seine Frau verdiente als ungelernte Kraft in einem ambulanten Pflegedienst nicht viel, und ihr Haus war noch lange nicht abbezahlt. Ihr Sohn Paul besuchte noch die Schule, und sie hatten sich immer bemüht, ihm seine Wünsche zu erfüllen: ein neues Moped, ein teurer Computer, das beste Smartphone. Marie-Lise, ihrem Nesthäkchen, reichten ihr Hund und ihr Pferd, um glücklich zu sein.

Vincent Guyon seufzte tief. Was sollte er nur machen?

Claire Lamare stand an der Theke der Disco Le Phare Jaune, Der Gelbe Leuchtturm, und trank ihre Cola aus. Die honigblonden Haare fielen weich um ihr herzförmiges Gesicht mit den weit auseinander stehenden veilchenblauen Augen. Es war ihr nicht bewusst, wie schön sie war, und sie machte auch kein großes Aufsehen um ihr äußeres Erscheinungsbild. Sie galt eher als ernsthaft und introvertiert, lernte ehrgeizig für das Baccalauréat, las viel und spielte leidenschaftlich gerne Klavier.

Sie war nur Carine zuliebe mit in die Disco gekommen, und nun knutschte ihre Freundin in einer schwach beleuchteten Sitzecke mit einem Jungen, den Claire noch nie gesehen hatte. Sie langweilte sich, die hartnäckigen Avancen der jungen Männer nervten sie, und die Musik, die aus der Anlage dröhnte, war einfach schrecklich. Sie konnte Rap nicht ausstehen. Schließlich bezahlte sie und trat aus dem Gebäude. Tief sog sie die frische Luft ein und genoss die Stille. Neben der Tür stand Gilles, ein Schulkollege, und rauchte.

»Salut, Claire, willst du schon gehen?«

»Ja, ich bin müde.«

»Soll ich dich nach Hause fahren?«

»Das ist nett von dir, aber ich gehe lieber zu Fuß. Es ist ja nicht weit.«

»Wie du willst. Bis morgen.«

»Bonne nuit, Gilles.«

Kurz winkte sie ihm zu und verschwand bald darauf in der Dämmerung. Von der Disco in Saint-Jean-de-la-Rivière bis zu dem Weiler Villot, wo sie wohnte, waren es, wenn sie über die Landstraße ginge, vier Kilometer, deshalb entschied sie sich für den kürzeren Weg über den Feldweg, der an den Bahngleisen entlangführte. Spätestens in einer halben Stunde würde sie in ihrem Bett liegen und die Lateinvokabeln für die Schulaufgabe am nächsten Tag noch einmal durchgehen.

Eine schmale, abschüssige Straße führte sie aus dem Ort, vorbei an Bauernhöfen, Gemüsegärten und Stallungen. Pferde wieherten leise, und ein Hund hinter einem Zaun bellte sie aggressiv an. Am Ortsende breitete sich Stille aus. Der Feldweg verlief an einem von Weiden und Ahornbäumen gesäumten Bach. Sein leises Gluckern begleitete Claire. Nach und nach wich die Dämmerung der Dunkelheit, nur die schmale Mondsichel, eingebettet in einen Wolkenkranz, und vereinzelte Sterne erhellten die Nacht. Ein leichter Wind brachte das Laub zum Wispern, und aus dem Brombeergestrüpp drang ein raschelndes Geräusch, vermutlich einer der Biber oder Bisamratten, die es in Bachnähe gab. Der süße Duft von Jasmin lag in der Luft.

Claire war die Abkürzung schon oft gelaufen und kannte die Gegend wie ihre Westentasche. Nach mehreren hundert Metern schlug der Wasserlauf einen Haken und entfernte sich von der Bahnlinie. Wiesen und Äcker, von Kanälen durchzogen, breiteten sich aus, dazwischen erhoben sich Bauminseln. An einem Wehr staute sich das Wasser und gurgelte in einen Teich.

Dieses Geräusch überdeckte die Schritte, die sich durch Pappeln und Weißdornbüsche ihren Weg bahnten und zielstrebig auf Claire zuhielten. Erst nachdem Claire das Wehr hinter sich gelassen hatte, konnte sie sie hören. Ganz leise nur, aber sie waren da und schienen näher zu kommen. Schnell blickte sie über die Schulter, konnte aber niemanden sehen. Sie versuchte, sich einzureden, dass sie sich getäuscht haben musste, aber sie wusste, dass sie etwas gehört hatte. Die Schritte eines Menschen, kein Tier. Bestimmt war es ein nächtlicher Spaziergänger, der seinen Hund ausführte. Claire beschleunigte ihre Schritte und spürte, wie ihr Herz klopfte. Ihr wurde bewusst, dass sie hier ganz allein unterwegs war. Die letzten Häuser des Dorfes hatte sie weit hinter sich gelassen. Niemand würde sie hören und ihr zu Hilfe kommen. Als ein Rind in seinem Unterstand blökte, fuhr sie zusammen. Claire spürte eine unbestimmte Bedrohung, die ihr Angst machte, und obwohl die Nachtluft warm war, durchfuhr sie Eiseskälte.

Der Mann brach aus dem Gebüsch und packte sie. Claire schrie entsetzt auf. Er griff nach ihrer Bluse und zerriss den Stoff. Grob umfasste er ihre Brust und stieß ein widerliches Grunzen aus. Claire wehrte sich mit aller Kraft und trat nach ihm, doch er hielt sie fest umklammert. Als sie um Hilfe schrie, hielt er ihr den Mund zu und zischte unverständliche Worte in ihr Ohr. Sie hatte Todesangst und sah sich verzweifelt nach jemandem um, der ihr helfen könnte. Dabei bemerkte sie aus den Augenwinkeln, wie zwei kreisrunde Lichter sich stetig näherten.

Der Lokführer hatte den Blick fest auf die Gleise vor ihm gerichtet. Vor einigen Tagen hatte eine Rotte Wildschweine die Trasse überquert und ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt. Beinahe hätte er einen Zusammenstoß nicht mehr verhindern können. Er war froh, dass es seine letzte Fahrt war und er bald in seinen wohlverdienten Feierabend gehen konnte.

Davon, was sich auf dem Feldweg abspielte, bekam er nichts mit. Die Touristen aßen, tranken, unterhielten sich, und einige hatten in die Seemannslieder eingestimmt. Niemand achtete darauf, was draußen geschah. Niemand außer Vincent Guyon.

Als der Lichtkegel der Lok für wenige Sekunden die beiden miteinander ringenden Menschen erfasste, schreckte er aus seinen Gedanken und starrte auf den schwarz gekleideten Mann, der versuchte, einer jungen Frau Gewalt anzutun. Er konnte noch erkennen, dass ihr Oberteil zerrissen war. Die Frau warf einen flehenden Blick auf den Zug, und ihre Blicke trafen sich für einen Moment.

»Lassen Sie die Frau los! Ich rufe die Polizei«, brüllte er aus dem geöffneten Fenster, dann war der Zug schon vorbei. Der verlassene Feldweg lag in der Dunkelheit. Vincent griff nach seinem Handy und stellte fest, dass er keinen Empfang hatte. Hastig bahnte er sich einen Weg durch die Waggons nach vorn und riss die Tür zum Triebwagen auf.

»Halten Sie sofort an!«, verlangte er vom Lokführer, der erschrak.

»Sie können hier nicht einfach hereinkommen.« Er klang verärgert.

»Da draußen wird eine Frau überfallen, ich habe es gesehen. Stoppen Sie den Zug, wir müssen ihr helfen!«

»Was reden Sie denn da? Kann es sein, dass Sie zu viel Calvados getrunken haben? Verlassen Sie sofort den Triebwagen, ich muss hier meine Arbeit machen.«

»Ich habe nichts getrunken, ich bitte Sie, halten Sie an.«

Seine eindringliche Stimme ließ den Zugleiter zögern. »Ich kann hier nicht anhalten. Es ist strengstens untersagt, auf offener Strecke stehen zu bleiben. Wenn ein Kontrollwagen kommt, kann es einen Unfall geben.«

»Dann rufen Sie die Polizei!«

»Wir befinden uns hier in einem Funkloch.«

»Aber irgendetwas müssen wir doch tun.«

»Wir legen einen Stopp in Saint-Georges ein, bis dorthin sind es nur noch wenige Minuten. Dann rufen wir über das Festnetz die Polizei.«

»Mon Dieu, dann kann es schon zu spät sein.«

Die Gendarmerie von Barneville-Carteret traf bereits zwanzig Minuten später an der Stelle ein, wo Vincent Guyon die Frau gesehen zu haben glaubte. Er konnte sich an ein Steinkreuz unter einem gewaltigen Laubbaum erinnern. Doch als die beiden Gendarmen eintrafen, war dort niemand, weder ein verletztes Opfer noch eine Leiche. Sie informierten die Feuerwehren von Saint-Jean und Saint-Georges sowie das technische Hilfswerk, das in Le Mesnil stationiert war, und forderten Unterstützung an.

Sie leuchteten den Feldweg aus und suchten ihn Schritt für Schritt ab. Man fand ein Armband, dessen Gummi zerrissen war. Bunte Glasperlen lagen verstreut auf der Erde, dazwischen ein kleiner Schutzengel aus massivem Silber. Im hohen Gras am Wegesrand wurde ein Klappmesser gefunden. Die Kollegen teilten sich in Trupps auf und durchsuchten mit Taschenlampen und Stirnleuchten das weitläufige Gelände, liefen in beide Richtungen am Bach entlang, suchten auf sumpfigen Wiesen und kämpften sich durch dorniges Buschwerk. Feuerwehrmänner in Wathosen stapften durch das gestaute Wasser am Wehr und in den flachen Teich.

Anschließend nahmen sie sich den dichten Schilfteppich vor. Dort schlug ihnen auf einmal bestialischer Gestank entgegen. Im Schlick zwischen den Halmen lag ein verendetes Reh, dessen Verwesung schon fortgeschritten war.

Die Suchmannschaften waren die ganze Nacht unterwegs, doch von der Frau fehlte jede Spur. Als der Morgen dämmerte, beschlossen sie weitere Unterstützung anzufordern.

Gegen Mitternacht hatte Claires Vater, Alphonse Lamare, in heller Aufregung bei der Polizei angerufen und seine Tochter als vermisst gemeldet. Nachdem sie am darauffolgenden Morgen noch immer nicht nach Hause gekommen war, waren alle Beteiligten in größter Sorge. Bei einer Befragung der Eltern durch die Polizei bestätigten sie, dass ihre Tochter ein Armband getragen hatte, auf das neben bunten Perlen zwei Schutzengel gefädelt waren, einer aus Silber, der andere aus Rosenquarz.

Weiter sagten sie aus, dass Claire kein Klappmesser besessen hatte. Nach diesem Gespräch brach Claires Mutter Ernestine zusammen und musste mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden.

Drei Tage, nachdem Vincent Guyon den Überfall beobachtet hatte, lag in den frühen Morgenstunden dichter Nebel über den Wiesen. Die dunklen Zweige der Pappeln stachen in den grauen Himmel. Nieselregen hatte eingesetzt, und es war kalt. Ein Suchtrupp mit einem Hundeführer folgte einem Seitenarm des Baches und kämpfte sich über morastigen Boden durch dichtes Unterholz und Gestrüpp. Der Wasserlauf war eher ein flaches Rinnsal mit Sandbänken und umgestürzten Bäumen, an denen sich das schlammige Wasser staute. Auf beiden Seiten erstreckte sich Brachland, das mit Wasserlöchern und Tümpeln übersät war.

Plötzlich schlug einer der Schäferhunde an und zerrte an der Leine. Er führte die Hundeführerin zu einem Wasserloch, das mit Zweigen und Gras abgedeckt war. Sie bahnte sich einen Weg durch Himbeersträucher, die ihr, obwohl sie sich mit einem Arm schützte, das Gesicht zerkratzten. Doch sie merkte es nicht. In dem Wasserloch sah sie etwas Blaues, das sie trotz ihres Grauens anzog. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es sich nicht um die verschwundene Frau handeln möge, sondern nur um eine der unzähligen blauen Kunststofftonnen, die von den Bauern der Region benutzt wurden. Doch als sie am Rand des Tümpels stand, erkannte sie voller Entsetzen, was sie vor sich sah: die blaue Jeans einer Frau, die mit dem Gesicht nach unten im Schlammwasser lag. Ihre honigblonden Haare schwammen wie ein Fächer um ihren Kopf.

Nachdem die Feuerwehr den leblosen Körper geborgen hatte, stand schnell fest, dass es sich um die Leiche von Claire Lamare handelte.

Erster Tag

Vier Jahre später

Die gotische Kirche von Saint-Jean-de-la-Rivière und der Friedhof lag mitten in der Ortschaft. Eine prächtige weiße Statue überragte die anderen Grabstätten. In die Marmorsäule war eine Fotografie mit einem goldenen Rahmen eingelassen, die eine junge Frau mit honigblonden Haaren und veilchenblauen Augen zeigte. Sie lächelte. Darunter stand:

Claire Lamare 12.Juni 1994–28.September 2014

Unser Engel hat uns verlassen und wird doch immer in unseren Herzen sein.

Über den Friedhof fegte ein kalter Westwind und rüttelte an Bäumen und Büschen. Ernestine und Alphonse Lamare standen schweigend am Grab ihrer Tochter. Ernestine hatte einen Strauß weißer Rosen niedergelegt und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»›Die Zeit heilt alle Wunden‹ ist der dümmste Spruch, den es gibt. Es hört nie auf, nicht wahr?«

»Natürlich hört es nie auf.«

»Wenn die Polizei wenigstens ihren Mörder gefunden hätte.«

»Ich hätte ihn abgeknallt wie eine Ratte, bevor sie ihn hätten verurteilen können.«

»Ich will wissen, wer unserer Claire das angetan hat. Können wir denn gar nichts mehr tun, Alphonse?«

»Wir haben alles getan, chérie, mir fällt nichts mehr ein.«

»Ich habe von einem Kommissar gehört, der in Barfleur wohnt. Philippe Lagarde. Er soll richtig gut sein. Vor einiger Zeit hat er einen äußerst komplizierten Mordfall im Loire-Tal gelöst und vorher eine Mordserie auf den Marcouf-Inseln aufgeklärt. Die Zeitungen haben viel darüber berichtet. Er wird immer hinzugezogen, wenn die anderen nicht mehr weiterwissen.«

»Soll ich ihn mal anrufen?«

»Ja, lass es uns versuchen.«

Am späten Nachmittag ging bei der Gendarmerie von Barfleur ein Anruf ein, den der Chef Roselin Dumas entgegennahm. Alphonse Lamare bat um die Telefonnummer von Philippe Lagarde.

»Er ist bereits im Ruhestand«, erklärte Dumas.

»Ich habe gehört, dass er noch als Sonderermittler arbeitet.«

»Das ist richtig, aber ich kann seine Nummer nicht einfach herausgeben, das verstehen Sie doch sicher.«

»Ich muss ihn in einer sehr wichtigen Angelegenheit sprechen. Machen wir es doch so, Sie geben ihm meine Telefonnummer mit der Bitte, mich zurückzurufen.«

Dumas überlegte. »Was soll ich ihm denn sagen, worum es geht?«

»Sagen Sie, es geht um meine Tochter Claire Lamare.«

Dumas stutzte. Der Name kam ihm bekannt vor.

»Sie wurde vor vier Jahren ermordet, in der Nähe von Saint-Jean-de-la-Rivière. Man hat den Täter nie gefasst. Darüber möchte ich mit ihm sprechen. Ich wäre sehr dankbar, wenn er sich melden würde.«

»Also gut, ich werde Ihr Anliegen weitergeben.«

»Merci beaucoup.«

Noch am selben Abend wählte Philippe Lagarde die Nummer. Nach dem zweiten Klingelton war Alphonse Lamare bereits am Telefon.

»Vielen Dank, dass Sie mich zurückrufen«, sagte Lamare. »Hat Monsieur Dumas Ihnen gesagt, worum es geht?«

»Ja, ich kann mich an den Fall erinnern. Die Medien berichteten monatelang darüber.«

»Das ist richtig. Meine Frau und ich wünschen uns nichts sehnlicher, als dass der Mörder unserer Claire gefasst wird.«

»Das kann ich mir vorstellen, aber der Fall ist abgeschlossen, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt.«

»Und worüber wollen Sie dann mit mir sprechen?«

»Meine Frau und ich haben von Ihren Fähigkeiten gehört, und wir möchten, dass Sie den Mörder finden.«

»Ich? Hören Sie, ich bin nicht befugt, einen Kriminalfall wieder aufzugreifen und offiziell zu ermitteln.«

Der Mann schwieg einen Moment. »Warum besuchen Sie uns nicht, und wir unterhalten uns persönlich darüber? Am Telefon ist es schwierig.«

Lagarde überlegte kurz, doch es sprach nichts dagegen. Er wollte den Mann nicht einfach so abfertigen. Er und seine Frau hatten jahrelang Schreckliches durchgemacht. Selbst am Telefon waren sein Schmerz und die Trauer förmlich greifbar.

»Also gut, wann und wo wollen wir uns treffen?«

Lamare wirkte erleichtert. »Was halten Sie von morgen Nachmittag? Wir könnten uns bei mir zu Hause treffen und zusammen Kaffee trinken. Dann sprechen wir in Ruhe miteinander.«

»Einverstanden.«

»Sehr schön, meine Frau wird sich freuen. Sagen wir um fünfzehn Uhr? Wir wohnen in Villot, in der Nähe von Saint-Jean-de-la-Rivière.«

»À demain, Monsieur Lamare.«

»À demain, Monsieur le Commissaire.«

Nach dem Gespräch recherchierte Lagarde ein wenig im Internet und in Polizeidateien über den Mordfall Claire Lamare. Nach einer Weile schüttelte er ungläubig den Kopf. Bei den Ermittlungen schien vieles schiefgelaufen zu sein, so wurden zum Beispiel wichtige Zeugen nicht befragt …

Schließlich schaltete er seinen Laptop aus. Er war mit seiner Lebensgefährtin Odette zum Abendessen verabredet und wollte noch duschen und sich umziehen. Während das warme Wasser auf seinen Körper prasselte, ging ihm das grausame Schicksal von Claire Lamare nicht mehr aus dem Kopf.

Zweiter Tag

Die Seerosen von Villot

Am nächsten Morgen saß Lagarde auf der Terrasse, trank einen café au lait und aß eine Tartine mit Butter und selbstgemachter Erdbeermarmelade, die ihm seine Nachbarin Angélique geschenkt hatte. Sie war köstlich. Er betrachtete den Ärmelkanal, der sich tiefblau bis zum dunstigen Horizont erstreckte. Einige Segler nutzten den kräftigen Wind und kreuzten weit draußen. Wolken zogen über den Himmel, dazwischen spitzte die Sonne hervor. Ein schöner Tag kündigte sich an. Er überlegte, ob er mit seinem Boot aufs Meer hinausfahren sollte, entschied sich dann aber für eine Tour mit seinem Rennrad.

Vor längerer Zeit war er bei einer Geiselnahme in die Schulter geschossen worden und hatte daraufhin beschlossen, in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Seit dieser Verletzung konnte er seinen Lieblingssport, das Rudern, nicht mehr ausüben, aber auf das Radfahren musste er nicht verzichten. Hin und wieder wurde er als Sonderermittler bei komplizierten Kriminalfällen hinzugezogen und unterstützte die Kollegen. Darüber hinaus leitete er Seminare an der Polizeiakademie in Rennes und nahm landesweit an Tagungen teil.

Als er sein Frühstück beendet hatte und den Tisch abräumte, huschte Alexandre, ein scheuer, zugelaufener Kater, um die Ecke, prüfte den Inhalt seiner Futternäpfe und schlug mit seinem gestreiften Schwanz auf den Boden. Er maunzte empört. Der Commissaire versorgte ihn mit Wasser, Katzenmilch und Lachspaté, seiner Lieblingsspeise, und redete mit ihm. Dann zog er sich um und holte sein Rennrad aus dem Schuppen. Das eng anliegende Oberteil betonte seinen durchtrainierten Körper. Er trug seine dunklen Haare kurzgeschnitten, sein markantes Gesicht war braungebrannt und attraktiv. Auffällig waren seine saphirblauen Augen, die von Lachfältchen umgeben waren.

Er packte nur sein Portemonnaie und eine große Flasche Wasser in seinen Rucksack. Zu Odettes Leidwesen fuhr er immer ohne Helm. Wenn sie ihn darauf ansprach, grinste er nur und meinte, ein Helm stünde ihm nicht.

Spontan entschied er sich für die Küstenstraße nach Saint-Marcouf und fuhr durch die Marschen, das Ackerland und kleinere Waldgebiete wieder zurück. Er brauchte etwa drei Stunden, er hatte es nicht eilig. In Quettehou machte er eine Pause und aß in einem hübschen Restaurant am Marktplatz Moules Frites, dazu trank er ein Glas Muscadet.

Als er wieder nach Hause kam, war es auch schon Zeit, sich frisch zu machen und nach Villot zu dem Treffen mit dem Ehepaar Lamare zu fahren. Da er sich immer noch kein Navi zugelegt hatte, sah er kurz auf die Landkarte, bevor er seinen alten hellblauen Renault Express startete und sich auf den Weg machte. Er musste sich eingestehen, dass ihn der Gedanke an Claire Lamare nicht mehr losgelassen hatte.

Nach einer knappen Stunde erreichte er den Weiler Villot, der im flachen Marschland der Küste lag. Granitsteinhäuser mit weißen Sprossenfenstern und blauen Türen gruppierten sich um eine Seefahrerkapelle, auf deren Frontfassade ein schlichtes Steinkreuz aufragte. In dem kleinen Ort gab es nur einen Bäcker, einen kleinen Lebensmittelladen und eine Bar-Tabac. Vor dem Lokal standen zwei besetzte Bistrotische. Eine Wandergruppe hatte sich niedergelassen und machte sich gerade über riesige Eisbecher her. Am anderen Tisch saßen zwei ältere Männer, tranken Rotwein und diskutierten mit lebhaften Gesten.

Zum Haus der Lamares führte eine Pappelallee, vorbei an Fischweihern, auf denen Seerosen schaukelten. Das Gittertor stand offen, und über einen Kiesweg erreichte Lagarde die Einfahrt. Er parkte neben einem schwarzen BMW, stieg aus und betrachtete das Anwesen.

Das Haus war eher ein kleines Schloss mit eleganten Bogenfenstern, verspielten Rund- und Ecktürmen und einem schwarzgrauen Schieferdach. Weinlaub rankte sich an der Fassade, vor der prächtige blaue und weiße Hortensien blühten. Der Rasen war anscheinend erst kürzlich gemäht worden, es roch frisch nach Gras.

Lagarde klopfte an die Haustür. Alphonse Lamare öffnete ihm und begrüßte ihn mit Handschlag.

»Merci beaucoup, dass Sie gekommen sind«, sagte Lamare mit einem einnehmenden Lächeln. Er war Anfang sechzig, hatte ein sympathisches Gesicht, kurze graue Haare und wache Augen. Er trug einen eleganten Anzug, dazu ein weißes Hemd und Krawatte. Mit einer einladenden Geste sagte er: »Kommen Sie doch bitte herein, wir haben im Wintergarten gedeckt. Heute weht ein frischer Wind.«

Lagarde folgte ihm. Von dem gläsernen, mit Stechpalmen und Bananenstauden begrünten Pavillon aus hatte man eine schöne Aussicht auf eine Weide mit grasenden Kühen. In einem Korbsessel saß eine Frau in einem Chanel-Kostüm, die sich nun erhob und sich als Ernestine Lamare vorstellte. Sie war mit ihren schwarzen, halblangen Haaren, den dunklen Augen und den feinen Gesichtszügen mit den hohen Wangenknochen eine schöne Frau, doch sie strahlte eine Traurigkeit aus, die beinahe greifbar war.

Sie setzten sich um den Tisch, und Monsieur Lamare schenkte Kaffee ein und bot tarte aux pommes, gedeckten Apfelkuchen mit Sahne, an. Lagarde nahm gern ein Stück. Dann räusperte sich Lamare und verschränkte die Hände.

»Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich gleich zur Sache kommen. Unsere Tochter Claire ist seit vier Jahren tot, und ihr Mörder läuft noch immer frei herum. Dieser Zustand ist für uns absolut unerträglich.«

»Was ist denn damals genau passiert?«

»Claire ist gegen zweiundzwanzig Uhr von der Disco in Saint-Jean-de-la-Rivière nach Hause gegangen. Sie hat eine Abkürzung genommen, an den Bahngleisen entlang.«

Seine Frau fiel ihm ins Wort. »Warum hat sie das nur getan? Es war dunkel, und die Gegend ist einsam, zumindest am späten Abend und nachts. Wenn sie über die Landstraße gelaufen wäre, würde sie jetzt noch leben.«

Ihr Mann sah sie mit liebevoller Geduld an. »Chérie, darüber haben wir doch schon tausendmal gesprochen. Claire wollte einfach eine Abkürzung nehmen.« Er trank einen Schluck Kaffee und fuhr fort. »Dort auf dem Feldweg wurde sie von einem Mann überfallen. Ein Passagier hat es vom vorbeifahrenden Zug aus gesehen und zusammen mit dem Lokführer die Polizei informiert. Allerdings erst in Saint-Georges, weil es an der Bahnlinie ein Funkloch gibt. Dadurch war viel wertvolle Zeit verloren gegangen. Als die Gendarmen den Ort des Überfalls erreichten, fanden sie niemanden vor. Zwei Tage lang waren Suchtrupps unterwegs. Erst am dritten Tag fanden sie Claire in einem Sumpfloch. Sie war tot.« Er schluckte schwer und rang um Fassung. Seine Frau umklammerte ihre Kaffeetasse und starrte abwesend aus dem Fenster.

»Ich mache mir solche Vorwürfe«, flüsterte Monsieur Lamare. »Ich hätte sie von der Disco abholen können, aber sie wollte das nicht. Sie sagte, Gilles, ein Freund von ihr, würde sie mitnehmen, wenn sie ihn darum bäte. Stattdessen ist sie zu Fuß gegangen.«

»War Ihre Tochter häufig in dieser Disco?«

»Nein, sie mochte den Rummel und den Lärm eigentlich nicht so. Sie hat nur manchmal ihre Freundin Carine begleitet. Claire war gerne für sich, hat Klavier gespielt oder gelesen. Sie hat viel für die Schule gelernt, arbeitete zielstrebig auf einen ausgezeichneten Abschluss hin. Danach wollte sie sich in Paris an der Sorbonne bewerben. Sie schwankte noch zwischen Jura und Journalismus.«

»Sie war als Kind einmal schwer krank«, erzählte Madame Lamare plötzlich. »Damals hatte ich solche Angst, dass ich sie verliere, und jetzt ist es tatsächlich passiert.« Wehmütig lächelte sie. »Ich habe sie erst mit fünfunddreißig Jahren bekommen, mein Mann und ich haben nicht mehr mit einer Schwangerschaft gerechnet. Wir haben uns so gefreut. Sie war unser einziges Kind.«

Ihr Mann ergriff das Wort. »Wissen Sie, wir sind keine armen Leute. Ich besitze ein erfolgreiches Softwareunternehmen, das in Kürze an die Börse gehen wird. Selbstverständlich hätte ich Claire ein Auto gekauft, ich hätte das Taxi bezahlt, damit sie sicher nach Hause kommt, aber diese Angebote lehnte sie alle ab, sie wollte selbständig und unabhängig sein.«

»Geld war ihr nicht wichtig«, ergänzte seine Frau.

»Wie ging es dann weiter?«, fragte Lagarde.

Lamare fuhr sich übers Gesicht. »Vielleicht habe ich damals den größten Fehler meines Lebens gemacht. Ich wollte nicht, dass die örtliche police judiciaire ermittelt. Ich hielt sie für unfähig und wollte die besten Kräfte. Ich verfüge über sehr gute Kontakte zum Innenministerium, ein Staatssekretär ist ein Schulfreund von mir. Also wurde die police judiciaire wegen angeblich schleppender Ermittlungsarbeit rasch durch eine Sonderkommission aus Paris ersetzt.«

»Sie war nicht erfolgreich?«

Er lachte bitter. »Erfolgreich? Ganz und gar nicht. Nach einem Jahr wurde die Akte geschlossen und wanderte zu den ungelösten Fällen. Sie waren nicht fähig, den Mörder meiner Tochter zu finden.«

»So wie ich Sie einschätze, haben Sie nichts unversucht gelassen und einen Privatdetektiv beauftragt?«

»Mehrere sogar. Doch niemand hat etwas herausgefunden, zumal die Polizei in dem Fall blockierte.«

Lagarde nickte. »Das ist wirklich tragisch. Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie wissen wollen, wer Ihrer Tochter das angetan hat.«

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Sie sind gut, richtig gut, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Wir sind der festen Überzeugung, dass Sie der Einzige sind, der uns noch helfen und den Mörder finden kann.« Verzweifelt sah Lamare ihn an. »Nehmen Sie sich Spezialisten und Helfer, so viele Sie benötigen und für richtig halten. Mieten Sie ein Büro an, was auch immer Sie brauchen. Ich komme für die gesamten Kosten auf. Ich zahle, was Sie wollen. Geld spielt keine Rolle.«

»Bitte helfen Sie uns«, flehte nun auch Madame Lamare.

»Es geht mir nicht ums Geld«, stellte Lagarde klar. »Üblicherweise sollten die zuständigen Organe den Fall aufklären, und sie müssten ihn neu aufrollen. Ich habe keinen Auftrag.«

»Wir haben mit unserem Anwalt gesprochen. Er sieht kein Problem darin, wenn Sie privat ermitteln, in unserem Auftrag. Er kann Ihnen Unterlagen zur Verfügung stellen, denn er hat unsere Interessen gegenüber der Polizei vertreten. Zunächst haben sie sich geweigert, aber dann hat der Innenminister ein Machtwort gesprochen. Er sagte, die Aufklärung des Mordes sei auch im Interesse der öffentlichen Sicherheit, und die Soko habe nichts zu verbergen.«

»Ich bin Polizist, kein Privatdetektiv. Ich brauche das Einverständnis der obersten Polizeibehörde in Paris. Das ist sehr wichtig, weil ich dann Zugriff auf alle Unterlagen habe und mir Indizien aus der Asservatenkammer zur Verfügung stehen. Und ich kann offiziell Zeugen befragen. Wenn ich das Okay habe, soll Ihr Anwalt mir bitte alle verfügbaren Unterlagen zukommen lassen. Ich werde sie unverbindlich durchschauen und mich dann entscheiden. Ist das ein Wort?«

Lamare lächelte erleichtert. »Das ist ein Wort. Ich werde heute noch mit meinem Schulfreund telefonieren.«

Nachdem Lagarde sich von dem Ehepaar verabschiedet hatte, fuhr er in Gedanken versunken zurück nach Barfleur. Der ungeklärte Tod der jungen Frau zog ihn immer mehr in seinen Bann. Wenn er den Fall neu aufrollte, würde er sich nicht nur Freunde machen, aber das spielte keine Rolle. Was ihn beschäftigte, waren die Hürden, denen er begegnen würde, wenn er versuchte, einen Cold Case aufzuklären. Er wusste, wie schwierig das werden konnte. Zeugen waren verschwunden oder erinnerten sich nicht mehr, Spuren waren kalt, Beweise nicht mehr auffindbar. Wenn er sich auf die Sache einließ, stand ihm eine große Herausforderung bevor.

Während er hin und her überlegte, tauchte ein Bild von Claire Lamare auf, das er bei seiner Recherche gefunden hatte. Eine kluge junge Frau mit herausforderndem Blick und vor Lebensfreude sprühenden Augen, die viel zu früh gestorben war. Sollte der Mord an ihr wirklich ungesühnt bleiben?

Das normannische Fachwerkhaus von Angélique und Richard Martinet stand auf einer Düne unweit von Lagardes Zuhause. Sie pflegten eine gute Nachbarschaft und hatten sich schon vor langer Zeit angefreundet. Das Ehepaar war über achtzig Jahre alt, immer guter Dinge und ihrer Umwelt gegenüber warmherzig und aufgeschlossen. Richard hatte Jahrzehnte lang ehrenamtlich bei der Seenotrettung gearbeitet und kannte den Ärmelkanal wie seine Westentasche. Angélique arbeitete gerne in ihrem Garten, kochte Marmelade ein und war Lesepatin in einer Kindertagesstätte in Barfleur. Sie hatten sich im Algerienkrieg kennengelernt, und seitdem waren sie unzertrennlich.

Als Lagarde den Renault vor seinem Haus abgestellt hatte und ausstieg, hörte er eine tiefe Stimme, die seinen Namen rief. Es war Richard, der hinter seinem Zaun stand.

»Bonsoir, Philippe! Hast du Lust, einen Aperitif mit uns zu trinken?«

Lagarde winkte ihm zu. »Gerne, ich bin schon unterwegs.«

Richard wartete auf ihn, dann setzten sie sich unter die alte Zeder, die einen Teil des Gartens beschattete. Angélique warf ihm ein strahlendes Lächeln zu. »Schön, dass du Zeit für einen kleinen Plausch hast.«

Richard zeigte auf die Flasche. »Das ist ein wunderbarer Bordeaux, den musst du unbedingt probieren.« Er schenkte ein, und sie stießen an. »Auf den schönen Abend«, sagte er. »Und auf uns.«

Am Küstenstreifen entlang war der Ozean türkisfarben und verfärbte sich bis zum Horizont kobaltblau, schilfgrün und ultramarin. Darüber schwebte die Sonne als glutroter Feuerball und brachte das Wasser zum Glitzern. Am Strand saßen Jugendliche um ein Treibholzfeuer, andere spielten Volleyball. Ein Spaziergänger ging mit seinem Hund gemächlich am Ufer entlang und bückte sich ab und zu nach einer Muschel. Ein einsamer Surfer wartete auf die nächste Welle, sprang auf sein Board und glitt elegant auf das Ufer zu.

»Geht es euch gut?«, erkundigte sich Lagarde.

»Aber ja.« Richard zwinkerte ihm mit einem Auge zu. »Unkraut vergeht nicht. Sag mal, dein letzter Fall an der Loire war ja wirklich spektakulär. Wir haben alles in den Medien verfolgt. Ein Bogenschütze! Nicht zu fassen.«

Lagarde nickte und musste über Richards Begeisterung schmunzeln. »Der Fall hatte es wirklich in sich.«