Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville & Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse - Maria Dries - E-Book
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Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville & Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse E-Book

Maria Dries

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Beschreibung

Zwei spannende Krimis von Maria Dries in einem E-Book.

Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville.

Ein Jahr ist es her, dass eine junge Frau nicht mehr von ihrem Strandspaziergang zurückgekehrt ist. Seitdem gilt sie als vermisst. Als genau ein Jahr später wieder eine Frau unter ähnlichen Umständen verschwindet und kurz darauf ihre Leiche an den Strand gespült wird, soll Philippe Lagarde ermitteln. Ist es Zufall, dass beide Frauen einander ähnlich sahen? Handelt es sich um das Werk eines Serientäters? Dann verschwindet die nächste Frau spurlos, und Philippe Lagarde darf keine Zeit verlieren ... 

Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse.

Das alte Ehepaar Delcroix wird grausam erschlagen aufgefunden. Zuerst sieht alles nach einem Raubüberfall aus. Doch warum wurden einige wertvolle Gegenstände im Haus zurückgelassen? Philippe Lagarde soll der Sache auf den Grund gehen. Diesmal betrifft ihn der Todesfall auch persönlich, denn das Mordopfer war jahrelang ein Mentor für ihn, und sie standen sich nahe. Hat Bertrand Delcroix etwas beobachtet, wofür er sterben musste? Bei seinen Ermittlungen stößt Philippe Lagarde auf ungeahnte Abgründe – und bald gibt es eine weitere Leiche ...


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Über Maria Dries

Maria Dries wurde in Erlangen geboren. Seit sie mit siebzehn Jahren das erste Mal an der Côte d’Azur war, damals noch mit einem alten Käfer Cabrio, kehrt sie immer wieder nach Frankreich zurück. Jedes Jahr verbringt sie dort längere Zeit, um für ihre Kriminalromane zu recherchieren, die französische Küche auszukosten und das unvergleichliche Lebensgefühl zu genießen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Fränkischen Schweiz.

Im Aufbau Taschenbuch sind bisher erschienen: Der Kommissar von Barfleur, Die schöne Tote von Barfleur, Der Kommissar und der Orden von Mont-Saint-Michel, Der Kommissar und der Mörder vom Cap de la Hague, Der Kommissar und der Tote von Gonneville, Der Kommissar und die Morde von Verdon, Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville, Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse, Der Kommissar und das Biest von Marcouf, Der Kommissar und die Toten von der Loire, Der Kommissar und die Tote von Saint-Georges, Das Grab im Médoc und Der Fluch von Blaye.

Informationen zum Buch

Zwei spannende Krimis von Maria Dries in einem E-Book!

Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville.

Ein Jahr ist es her, dass eine junge Frau nicht mehr von ihrem Strandspaziergang zurückgekehrt ist. Seitdem gilt sie als vermisst. Als genau ein Jahr später wieder eine Frau unter ähnlichen Umständen verschwindet und kurz darauf ihre Leiche an den Strand gespült wird, soll Philippe Lagarde ermitteln. Ist es Zufall, dass beide Frauen einander ähnlich sahen? Handelt es sich um das Werk eines Serientäters? Dann verschwindet die nächste Frau spurlos, und Philippe Lagarde darf keine Zeit verlieren. 

Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse.

Ça va, Monsieur le Commissaire? Das alte Ehepaar Delcroix wird grausam erschlagen aufgefunden. Zuerst sieht alles nach einem Raubüberfall aus. Doch warum wurden einige wertvolle Gegenstände im Haus zurückgelassen? Philippe Lagarde soll der Sache auf den Grund gehen. Diesmal betrifft ihn der Todesfall auch persönlich, denn das Mordopfer war jahrelang ein Mentor für ihn, und sie standen sich nahe. Hat Bertrand Delcroix etwas beobachtet, wofür er sterben musste? Bei seinen Ermittlungen stößt Philippe Lagarde auf ungeahnte Abgründe – und bald gibt es eine weitere Leiche.

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Zwei spannende Krimis von Maria Dries in einem E-Book!

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Newsletter

Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville

Der Unstern

Basse-Normandie

Barneville-Carteret, 05. September 2011

Barneville-Carteret, Dienstag, 06. September 2016 – Café de France

Donnerstag, 08. September 2016 – Austern aus Saint-Vaast

Freitag, 09. September 2016 – Der blaue Hummer

Samstag, 10. September 2016 – Rosa Granit

Sonntag, 11. September 2016 – Der Strandgutsammler

Barneville-Carteret, 05. September 2011

Montag, 12. September 2016 – Die Meerjungfrau aus Jade

Dienstag, 13. September 2016 – Glockengold

Mittwoch, 14. September 2016 – Das Schloss von Surville

Barneville-Carteret, 05. September 2011

Donnerstag, 15. September 2016 – Das Écréhous-Archipel

Freitag, 16. September 2016 – Die Höhle in den Klippen

Was später geschah

Danksagung

Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse

Das Unlösbare

Biscarrosse, Côte d’Argent

Biscarrosse-Plage – Erster Tag

Das Manoir Stella Maris – Zweiter Tag

Die Winterstadt von Arcachon – Dritter Tag

Die Brasserie Der Seestern – Vierter Tag

Das Seerosenbild von Monet – Fünfter Tag

Die Höhlen von Saint-Émilion – Sechster Tag

Schokolade aus Bayonne – Siebter Tag

Der Leuchtturm von Cap Ferret – Achter Tag

Das Sommerhaus in Mimizan-Plage – Neunter Tag

Der Sumpf von Les Landes – Zehnter Tag

Die Hütte am See – Elfter Tag

Die Silberne Auster – Zwölfter Tag

Zwei Wochen später

Nach einigen Wochen

Impressum

Maria Dries

Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville

Ein Kriminalroman aus der Normandie

Für meine Freunde Petra und Uli aus Kalchreuth

Der Unstern

So schwere Lasten zu heben,

Bedarf es des Sisyphus Mut,

Und hätten wir Kraft auch und Glut,

Lang ist die Kunst, flüchtig das Leben.

Fern ruhmreicher Sarkophage,

An des Friedhofs verlassenem Hang,

Wie verdeckter Trommel Gesang

Schlägt mein Herz nun die trauernde Klage.

Manches Kleinod von leuchtender Glut

In finstrer Verborgenheit ruht,

Wohin Sonde und Senkblei nicht gleiten.

Manche Blume der edelsten Art

Strömt Duft wie Geheimnis so zart

In der Wildnis verlorene Weiten.

Charles Baudelaire,

»Die Blumen des Bösen«

(»Les Fleurs Du Mal«)

Basse-Normandie

Die Halbinsel Cotentin, umsäumt von mehr als dreihundert Kilometern Küste, hat auch den Beinamen »normannisches Ende der Welt«. Wildes Heideland wird von aufgeschichteten Steinmauern durchzogen, darüber wölbt sich ein weiter Himmel. Der blaue Horizont des Meeres liegt in der Ferne. Goldener Stechginster und rotes Heidekraut blühen in den Mulden. Die Küste ist durch die Wucht des Ozeans zerklüftet und ausgehöhlt, und Riffe dicht unter der Wasseroberfläche sowie gewaltige Meeresströmungen können den Schiffen gefährlich werden. Das Herz der Halbinsel bilden die Marschen, durchzogen von Kanälen und Flussläufen, die in hügeliges Weideland eingebettet sind. Dieser Naturpark ist ein Paradies für Zugvögel.

Nach Süden hin senkt sich die Küste und wird sandig. Der Strand von Barneville-Carteret, gesäumt von hohen Dünen, erstreckt sich so weit das Auge reicht als breites helles Band. Der beliebte Badeort wird durch die Kanalinseln vor der Meeresbrandung geschützt und vom Golfstrom warm umspült. Auf der Spitze des Caps, nahe dem Zöllnerpfad, erhebt sich der granitgraue Leuchtturm wie ein Wächter.

Das Cotentin ist auch ein Land der Schlösser. Östlich von Cherbourg liegt der berühmte Herrensitz Tourlaville. Hinter dessen Mauern ereignete sich unter der Herrschaft Heinrichs IV. ein Skandal, der in einer Tragödie endete. Die Geschwister Julien und Marguerite wuchsen dort zusammen auf. Beide sollen sehr schön gewesen sein. Schließlich wurden sie Opfer einer Leidenschaft, die weit über ihre Geschwisterliebe hinausging. Als Marguerite vierzehn Jahre alt war, wurde sie mit dem fünfundvierzigjährigen Jean Lefebvre zwangsverheiratet. Durch die Trennung entflammte die Liebe der Geschwister umso mehr. Eines Nachts schwang sich Marguerite auf ihr Pferd und ritt, so schnell sie konnte, zu ihrem Bruder. Die Liebenden flohen nach Paris und versteckten sich dort. In der Metropole wähnten sie sich in Sicherheit. Doch der verlassene Lefebvre spürte sie auf. All das Flehen um Gnade half nicht. Die Geschwister wurden wegen Ehebruch und Inzest auf der Place de Grève enthauptet. In der Kirche Saint-Jean-en-Grève in Paris wies früher eine Inschrift auf einem Grabstein auf die Tragödie hin.

»Hier liegen der Bruder und die Schwester. Der du vorübergehst, forsche nicht nach dem Grund ihres Todes, gehe weiter und bitte bei Gott für ihre Seelen.«

Barneville-Carteret, 05. September 2011

Schleierwolken zogen gemächlich über den pastellblauen Himmel. Ein Fischadler mit leuchtend weißem Rumpf kreiste über dem Hafenbecken. Das Meer hatte sich weit zurückgezogen und eine im Sonnenlicht glitzernde Wattlandschaft hinterlassen. Es roch nach Tang und Fisch. In der Ferne zeichnete sich schemenhaft die Kanalinsel Guernsey ab.

Das Haus thronte auf einem grünen Hügel über der Bucht von Carteret. Es war aus Granitsteinen erbaut, und die Laibungen der Bogenfenster bestanden aus weißen und roten Ziegeln. Die Fensterläden waren weiß lackiert. Aus dem steilen Schieferdach lugten Erkerfenster, und beidseitig erhoben sich zwei schlanke Kamine. Das Haus wurde von einer dichten Hecke umsäumt. Im Garten standen alte knorrige Seekiefern. Auf der Terrasse, die zur See hin ausgerichtet war, standen einige Menschen um einen gedeckten Tisch.

Die Flammen der siebzehn Geburtstagskerzen erzitterten in der sanften Meeresbrise. Sie steckten in einer Schokoladensahnetorte, un gâteau à la crème au chocolat. Louise-Anne lächelte übermütig in die Runde, dann blies sie alle auf einmal aus. Ihre Gäste klatschten begeistert in die Hände.

Louise-Anne, von ihren Eltern und ihrem Bruder liebevoll Louanne genannt, war eine schöne junge Frau. Hoch gewachsen und von schlanker Statur. Ihr zartes Gesicht mit der hellen Haut bildete ein perfektes Oval und wurde von mandelförmigen meergrünen Augen dominiert, über die sich feine helle Augenbrauen wölbten. Für ihre Geburtstagsfeier hatte sie sich die honigblonden Locken kurz schneiden lassen. Der Garçon- Schnitt mit den Fransen in der hohen Stirn stand ihr großartig. Louanne trug ihr blaues Lieblingskleid und helle Leinenschuhe. Coco, eine weiße französische Bulldogge mit schwarzen Tupfen, wich ihr nicht von der Seite.

Die Louannes Mutter schnitt die Torte an und verteilte große Stücke auf die Teller. Dazu gab es Kaffee und Wasser aus Karaffen, in denen Eiswürfel und Orangenscheiben schwammen. Die Geburtstagsgesellschaft war bester Laune. Die Gäste unterhielten sich gut und lachten viel, die Stimmung war heiter und unbeschwert.

Nur Louannes Bruder machte einen abwesenden Eindruck. Ein unzufriedener Zug lag um seinen Mund. Die sonst strahlenden Augen wirkten verschleiert. Eine senkrechte Furche war zwischen den Brauen erschienen. Seine Schwester versuchte, Blickkontakt aufzunehmen und ihm zuzuzwinkern, doch er starrte an ihr vorbei auf das Watt.

Barneville-Carteret, Dienstag, 06. September 2016 Café de France

Nathalie Baye wachte mit hämmernden Kopfschmerzen auf. Sie stöhnte. Ein Blick auf den Wecker sagte ihr, dass es elf Uhr war. Die Party von gestern, am Plage de la Vieille Église, am Strand der Alten Kirche fiel ihr wieder ein. Wann war sie eigentlich nach Hause gegangen? Nach wie vielen Gläsern Bier und Tequila? Wie war sie heimgekommen? Hatte sie einen Typen abgeschleppt? Dunkel erinnerte sie sich an einen deutschen Urlauber mit dunklen Haaren und einer niedlichen Lücke zwischen den Schneidezähnen, der so charmant mit ihr geflirtet hatte. Erschrocken schaute sie neben sich. Niemand lag in ihrem Bett. Mon Dieu! Sie hatte einen Filmriss. Aber offensichtlich war sie unversehrt und ohne Begleitung nach Hause gekommen.

Vorsichtig stieg sie aus dem Bett und rieb sich die Schläfen. Jetzt brauchte sie dringend zwei Aspirin und einen starken Kaffee. Bekleidet mit einem rosafarbenen Hello-Kitty-Slip und einem weißen Top tappte sie barfuß in die Küche. Nathalie war klein und ein wenig pummelig. Die roten Locken standen drahtig vom Kopf ab. Sie setzte Kaffee auf und rührte das Aspirinpulver in ein Glas mit kaltem Wasser, das sie in einem Zug leer trank.

Mit der dampfenden Kaffeetasse in der Hand öffnete sie die unverschlossene Haustür und trat auf den kleinen gepflasterten Vorplatz. Er war von einer verwitterten Steinmauer begrenzt. Zur Wiese hin bildeten Büsche eine natürliche Barriere. Nach Westen öffnete sich der Blick auf den Ozean, weshalb Anouk und sie die Terrasse zu ihrem Lieblingsplatz erkoren und Gartenmöbel aufgestellt hatten. Einen runden Tisch und bequeme Stühle mit bunten Polstern. Nathalie ließ sich auf einen Stuhl sinken, trank einen Schluck Kaffee und blinzelte in die Sonne. In weiter Ferne glitzerte das Meer. Langsam konnte sie wieder klarer denken. Wo war eigentlich Anouk? Wo war ihr Hund? Nathalie nahm an, dass sie alleine war, denn im Haus war es ganz still gewesen. Normalerweise hätte der Hund, ein weiß-braun gefleckter Jack Russell Terrier mit dem Namen Filou, sofort auf sich aufmerksam gemacht und sich die Schlappohren streicheln lassen. War ihre Freundin mit auf der Strandparty gewesen? Angestrengt überlegte sie. Nein, sie war alleine hingegangen. Am Hafen entlang und dann auf dem Zöllnerpfad um das Cap. Auch im Laufe des feuchtfröhlichen Abends war Anouk nicht aufgetaucht, da war sie sich ziemlich sicher. Entschlossen erhob sie sich. Sie musste sich Gewissheit verschaffen.

Nathalie ging ins Haus und lief über die alte knarrende Holzstiege in den ersten Stock, wo das Schlafzimmer von Anouk lag. Sie klopfte, rief den Namen ihrer Mitbewohnerin und öffnete die Tür. Aufmerksam sah sie sich um. Der Raum war leer, das Bett ihrer Freundin unberührt. Auch der Hund lag nicht in seinem Körbchen. Wo steckten sie bloß? Gähnend lief sie wieder nach draußen zu ihrem Kaffee.

Anouk und sie studierten Psychologie an der Universität von Cherbourg. Nathalie stammte aus einem kleinen Dorf in der Auvergne. Ihr Vater züchtete Schafe und Ziegen und produzierte Käse. Anouk kam aus Grandcamp-Maisy, einem ehemaligen Fischerdorf mit einem sehr schönen kleinen Hafen, das die Côte de Nacre nach Westen begrenzte. Es hatte sich längst zu einem beliebten Badeort entwickelt.

Die beiden Frauen hatten in Cherbourg in einem Studentenwohnheim gelebt und waren mit der Situation ziemlich unglücklich gewesen. Die Einzimmerappartements waren winzig. Das sterile Gebäude lag an einer vielbefahrenen Straße und verfügte weder über einen Garten noch über eine Terrasse. Beide waren es nicht gewohnt, in einer Großstadt zu leben, und vermissten die Natur, frische Luft und Ruhe. Anouk musste mit Filou einen Park aufsuchen, wenn sie ihn frei laufen lassen wollte.

Nachdem die Studentinnen sich angefreundet hatten, unternahmen sie an den Wochenenden Ausflüge ins Hinterland und ans Meer. Bei einem Spaziergang hatten sie das kleine Haus entdeckt. Es lag inmitten von Feldern und Wiesen etwas außerhalb von Barneville. Im Garten stand ein Schild mit der Aufschrift À louer, zu vermieten. Außerdem war eine Handynummer angegeben. Auf der Stelle verliebten sie sich in das alte Granitsteinhaus mit den himmelblauen Fensterläden und dem verwilderten Garten. Sie riefen den Eigentümer an, der kurze Zeit später auf seinem Traktor angetuckert kam und den Studentinnen das Haus zeigte. Die beiden Schlafzimmer waren zwar klein, dafür gab es einen Salon mit einem Kaminofen, sowie eine Küche mit einem Essplatz. Das Badezimmer verfügte sogar über eine altmodische Badewanne mit Klauenfüßen. Im Garten standen Obstbäume, die reife Früchte trugen.

Das Gebäude stand schon einige Zeit leer, doch es hatte sich noch kein Mieter gefunden. Den bisherigen Interessenten war die Ausstattung zu einfach und die Lage zu einsam gewesen. Der Landwirt fand die beiden Frauen bezaubernd, und sie einigten sich auf eine günstige Miete. Seit fast einem Jahr lebten sie nun schon hier und hatten es nie bereut. Nach Cherbourg waren es nur etwa dreißig Kilometer. Anouk besaß einen kleinen Renault, mit dem sie zur Uni fuhren. Manchmal nahmen sie auch den Bus.

Nathalie beschloss heiß zu duschen. Vielleicht würde ihr benebelter Kopf dann klarer werden.

Schließlich lief sie, gehüllt in ein Frotteetuch, in ihr Schlafzimmer. Ihr Handy fand sie unter dem Bett. Sie tippte auf den Namen ihrer Freundin, und sofort sprang die Mailbox an. Nathalie hinterließ eine Nachricht und bat um einen Rückruf. Sorgen machte sie sich keine. Anouk fuhr manchmal mit ihrem Hund ins Blaue hinein, gerade jetzt in den Semesterferien. Sie war gerne für sich und hatte immer ihre Fotoausrüstung dabei. Einige Schwarz-Weiß-Fotos hingen, schlicht gerahmt, im Wohnzimmer. Sie zeigten den aufgewühlten Ozean, Wolkengebirge, Dünen mit windgepeitschtem Strandhafer und verlassene Strände. Wenn sie lange unterwegs war, übernachtete sie in kleinen günstigen Pensionen. War das Geld knapp, schlief sie einfach im Auto.

Nathalie ging davon aus, dass ihre Freundin bald zurückkommen würde. Ihr Handy klingelte. Erleichtert sah sie auf das Display, aber es war nicht Anouk. Am Apparat war der süße Tourist aus Deutschland, den sie bei der gestrigen Strandparty kennengelernt hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihm ihre Handynummer gegeben hatte. Seinen Namen wusste sie auch nicht mehr. Er stellte sich als Anton vor und lud sie zu einer Spritztour ein. Er wollte über die Küstenstraße nach Barfleur fahren. Jemand hatte ihm erzählt, dass es ein ganz bezaubernder Fischerort war. Dort wollte er ein, zwei Tage auf einem Campingplatz zelten und die Festung von Vauban in Saint-Vaast-la-Hougue und die kleine Vogelschutzinsel Tatihou besichtigen. Ob sie Lust hätte? Natürlich hatte sie Lust! Der Typ war wirklich charmant und kein bisschen aufdringlich, und außerdem – wenn Anouk einen Ausflug machte, konnte sie das auch. Sie wählte noch einmal die Nummer ihrer Freundin und hinterließ eine Nachricht, dass sie für einige Tage verreisen würde.

Eilig zog sie sich an und packte eine kleine Reisetasche. In zehn Minuten würde er sie abholen. Sie beschloss, ihn Toni zu nennen. Das klang hübsch.

Geneviève Sorel suchte nach ihrer Tochter. Sie suchte immer nach ihrer Tochter, seit sie vor fünf Jahren verschwunden war. Tag und Nacht. Überall. Jetzt irrte sie durch die großflächige weite Dünenlandschaft zwischen Surville und Portbail, die sich südlich von Barneville erstreckte. Sie folgte einem Trampelpfad, der sich durch Flechten und kleine Büsche von blau blühenden Stranddisteln schlängelte. Aufmerksam betrachtete sie ihre Umgebung, blickte in jede Mulde und hinter jeden Fels. Die Sonne brannte vom Himmel und erwärmte den Sand. Sie wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Eine Möwenschar zog kreischend vorbei.

Vor einigen Jahren noch war Madame Sorel eine schöne, charmante Frau mit viel Humor und Unternehmungsgeist gewesen. Inzwischen war sie abgemagert, die einst makellose Haut faltig und grau. Die glänzenden braunen Haare waren schlohweiß und strohig geworden. Wirr und spärlich standen sie von ihrem Kopf ab. Ihre dunklen glanzlosen Augen huschten hin und her. Sie hatte bisher noch keine Spur von ihrer Tochter gefunden, aber sie würde nicht aufgeben. Irgendwo musste sie ja sein.

Als sie müde wurde, beschloss sie, die Suche vorläufig zu beenden und einen Strauß Wildblumen für die Gedenkstätte ihrer Tochter zu pflücken. Nach einem einstündigen Fußmarsch erreichte sie die Stelle. Sie hatte sie ausgesucht, weil ihre Tochter dort zum letzten Mal gesehen worden war. Die Stätte befand sich unterhalb eines alten Wehrturmes aus groben Granitsteinen. Schießscharten bildeten schwarze Höhlungen. Gekrönt wurde er von Rechteckzinnen, die die runde Wehrplattform umgrenzten. An einer Stelle, an der die Steinmauer herausgebrochen war, klaffte ein großes Loch. Das marode Bauwerk erhob sich direkt hinter den Klippen, die fast senkrecht in das brodelnde Meer stürzten. Unterhalb der Abbruchkante gab es einen ebenen Platz, den man über eine Treppe erreichen konnte. Er wurde von einem natürlichen steinernen Dach überspannt. Das Felsgestein formte dort eine kleine Höhle, geschützt vor dem Ozean. Darin hatte sie einen Schrein für ihre Tochter aufgebaut. Den Mittelpunkt bildete eine Fotografie in einem ovalen goldenen Rahmen. Sie war an ihrem Geburtstag aufgenommen worden. Weitere Schnappschüsse zeigten sie als pausbäckiges Kleinkind, als Erstklässlerin mit einer Schultüte, sowie als Jugendliche auf einer Vespa.

Madame Sorel arrangierte die Blumen in einer Vase und entzündete weiße Kerzen. Schließlich faltete sie die Hände, wie zu einem Gebet.

»Komm zurück«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. »Komm doch endlich zurück. Ich warte auf dich, ma chérie.« Ihre Augen wurden feucht. »Mon Dieu, warum hast du mich verlassen?«

Das malerische Dorf Barfleur mit seinem Fischerhafen lag an der Nordostspitze der Halbinsel Cotentin. Mittelalterliche Granitfassaden säumten die Promenade, die zum Wahrzeichen der Ortschaft führte, der Pfarrkirche Saint-Nicolas am Ende des Kais. Daneben befand sich die Seenotrettungsstation, die 1895 gegründet worden war. Im Hafenbecken schaukelten bunte Fischerboote. Bei Ebbe legte ein Tidenhub von zehn Metern den Hafen trocken. Fünf Kilometer weiter nördlich stand der Leuchtturm von Gatteville, das höchste Leuchtfeuer Frankreichs. Von seiner Spitze hatte man einen Ausblick über die ganze Bucht.

Berühmt war Barfleur auch für seine wohlschmeckenden Muscheln mit den goldenen Schalen. Die Miesmuschelbänke erstreckten sich entlang der Ostküste der Halbinsel, so weit das Auge reichte.

Das Haus von Philippe Lagarde lag nördlich von Barfleur oberhalb einer henkelförmigen Bucht und war ein älteres Granitsteingebäude, das er von seiner Großmutter geerbt hatte. Auf dem Schieferdach saßen zwei rote Kamine, und auch die Laibungen der Haustür und der Fenster bestanden aus roten Ziegeln. Neben dem Eingang rankten sich Rosen an einem Spalier empor. Linker Hand gab es einen Anbau mit einem schrägen Dach und einem Holztor, der als Holzlager und Werkstatt diente. Hinter dem Haus erstreckte sich der Garten bis zum Dünensaum, wo sich eine alte knorrige Libanon-Zeder neben einem Feigenbaum erhob. Beidseitig der Terrasse standen Oleandersträucher in prächtiger weißer Blüte. Vom Garten führte ein Pfad durch ein Wäldchen zu der Bucht. Bei Niedrigwasser gab das Meer einen schmalen Sandstrand frei.

An dem Haus waren immer wieder Renovierungsarbeiten erforderlich, die Lagarde meistens selbst ausführte. Er arbeitete gerne mit den Händen und konnte dabei gut nachdenken. Vor einigen Tagen hatte er beschlossen, die Fensterläden zu lackieren. Nach Diskussionen mit seiner Lebensgefährtin Odette hatte er sich für die Farbe Taubenblau entschieden. In seiner Werkstatt lagen die ersten beiden Flügel auf Böcken, um abgeschliffen zu werden.

Der Kommissar im Ruhestand trug eine alte Jeans und ein kurzärmliges T-Shirt. Die bloßen Füße steckten in verblichenen Leinenschuhen. Er war von mittelgroßer Statur und hatte breite Schultern. Sein Körper war durch regelmäßiges Training muskulös, und er unternahm gerne ausgiebige Rennradtouren entlang der Küste. Das von der Sonne gebräunte Gesicht war kantig und attraktiv, die Augen saphirblau, umgeben von Lachfältchen. Die dichten dunklen Haare trug er kurz geschnitten. Ab und zu ließ er sich einen Dreitagebart stehen, weil Odette das sexy fand.

Nach einer komplizierten Schussverletzung an der Schulter hatte er sich entschieden, frühzeitig in den Ruhestand zu gehen, und diesen Entschluss nie bereut. Er genoss das Leben mit Odette an seiner Seite. Wenn sie Zeit hatte, unternahmen sie Ausflüge und besuchten Restaurants. Wenn er alleine war, fuhr er am liebsten mit seinem Boot aufs Meer hinaus und angelte. Er mochte die Einsamkeit, das Rauschen des Meeres und den Geschmack von Salz auf seinen Lippen. Ganz hatte er sich jedoch nicht von seinem Beruf lösen wollen, weshalb er an der Akadémie de Rennes Polizeianwärter unterrichtete. Seine Schwerpunkte waren unter anderem Deeskalation, richtiges Vorgehen bei Geiselnahmen und Vernehmungstechniken. Europaweit wurde er zu Tagungen eingeladen und manchmal bei schwierigen, schier unlösbaren Kriminalfällen als Berater hinzugezogen.

Er begann, die alten Lackschichten abzuschmirgeln. Es dauerte länger, als er gedacht hatte. Der Aufwand war doch ziemlich groß, und als er die Arbeit beendet hatte, war es bereits kurz nach achtzehn Uhr. Um zwanzig Uhr war er mit Frank Lanoux in einem Restaurant in Valognes verabredet. Der Polizeipräsident der Normandie hatte ihn gestern angerufen und zum Abendessen eingeladen. Sein Büro befand sich in Rouen, doch er hatte einen dienstlichen Termin in der Stadt und wollte ihn mit einem Treffen mit Lagarde verbinden. Er hatte am Telefon nicht verraten, worüber er mit ihm sprechen wollte. Der Kommissar war gespannt. Er hatte keine Ahnung, was Lanoux auf dem Herzen haben könnte.

Nachdem er geduscht hatte, zog er eine graue Hose und ein weißes Hemd an. Dazu wählte er ein farblich passendes Jackett. Er bereitete sich einen Milchkaffee zu und trat dann auf die Terrasse. Bevor er sich auf den Weg machte, wollte er nach Alexandre sehen. Der Wildkater war ihm vor einiger Zeit zugelaufen und erwartete jeden Morgen und jeden Abend mit Pâté und Katzenmilch gefüllte Näpfe. Jetzt lag er auf der Gartenmauer und genoss die letzten Sonnenstrahlen. Als er die Schritte von Lagarde vernahm, blinzelte er und hob den Kopf, ehe er mit einem Satz auf die Wiese sprang und zu seiner Futterstelle lief. Er schnüffelte an den leeren Schalen und maunzte empört. Seine gelben Augen richteten sich anklagend auf Lagarde.

»Ich bin schon unterwegs, Alexandre«, versicherte er und holte aus der Speisekammer Lachs und Milch. Das scheue Tier beobachtete aus sicherer Entfernung, wie er das Futter in die Näpfe füllte. Erst als Lagarde einige Schritte zurückgetreten war, begann er zu fressen, ließ ihn dabei aber nicht aus den Augen.

Nachdem der Kommissar seinen Kaffee getrunken hatte, verließ er das Haus und stieg in seinen himmelblauen Renault Express. Er fuhr auf der Küstenstraße nach Barfleur. Jenseits der Dünen erstreckte sich die tiefblaue ruhige See. Stetig zog sie sich zurück. Die ersten Pêcheurs à Pied, Wattfischer, waren bereits mit Eimern, Schaufeln und Harken unterwegs. Diese Beschäftigung gehörte zu dem beliebtesten Freizeitvergnügen von Einheimischen und Gästen. Sie suchten den Meeresboden hauptsächlich nach Schalen- und Krustentieren ab.

Von Barfleur nach Valognes waren es etwa fünfundzwanzig Kilometer. Die Strecke verlief durch eine sanfte Hügellandschaft, vorbei an Weiden, Lauchfeldern und Buchenhainen. Ab und zu tauchten kleine Ansiedlungen auf mit geduckten Steinhäusern, einem Kirchturm und den kugeligen Kronen der Esskastanien, umgrenzt von einer geschichteten Steinmauer.

Kurz vor zwanzig Uhr erreichte er Valognes. Die Adeligen und Industriellen des Grand Siècle hatten dort prächtige Herrenhäuser hinterlassen. Wegen ihnen wurde die Gemeinde auch »kleines normannisches Versailles« genannt.

Er fuhr an der Kirche und einem gepflegten Park mit blühenden Azaleenbäumen vorbei und passierte dann eines der schönsten Stadthäuser von Valognes, das Hôtel de Beaumont. Die prächtige Fassade leuchtete golden in der einsetzenden Abenddämmerung.

Die Brasserie Café de France lag in der Rue des Capucins, direkt am Fluss. Auf der anderen Seite begrenzte eine Mauer, durchsetzt von alten Fischhuben, das Gewässer. Dort blühten in steinernen Kästen rote Geranien. Das Lokal war im Erdgeschoss eines einstöckigen Granithauses untergebracht. Lagarde fand einen Parkplatz direkt um die Ecke. Er war mit Odette schon einmal hier gewesen, denn die Brasserie genoss einen ausgezeichneten Ruf. Der Chefkoch verwendete ausschließlich frische saisonale Produkte aus der Region und war experimentierfreudig.

Als der Kommissar ausgestiegen war, schlüpfte er in sein Jackett. Frank Lanoux saß an einem eingedeckten Tisch unter der Markise. Fast alle Tische auf der Terrasse waren bereits besetzt. Als er Lagarde erblickte, lächelte er und stand auf, um ihn zu begrüßen. Der Polizeipräsident war ein großer stämmiger Mann mit einem sympathischen Gesicht und wachsamen hellen Augen. Die Haare waren millimeterkurz rasiert. Er trug einen Anzug und ein hellblaues Hemd, hatte aber auf eine Krawatte verzichtet. Die Männer schüttelten sich die Hände.

»Schön, dass Sie kommen konnten«, begrüßte ihn der Polizeipräsident. »Meine Sekretärin hat einen Tisch reserviert, sonst hätten wir keine Chance gehabt. Setzen wir uns doch.«

Ein Kellner brachte die Speisekarten. »Wir haben heute auch fangfrischen Heilbutt und Rote-Bete-Suppe«, informierte er die Gäste. »Möchten Sie einen Aperitif, Messieurs?«

Lanoux sah Lagarde fragend an. »Was halten Sie von einem Pastis?«

»Gerne. Eine Erfrischung ist genau das Richtige an diesem warmen Abend.«

Als die Bedienung die Getränke gebracht hatte, lasen sie die Menükarte. Der Kommissar entschied sich für gegrillte Jakobsmuscheln auf Blattspinat, und als Hauptgericht für Entenbrust mit Sauerkirschsauce, sowie Mandelkroketten. Lanoux nahm in Knoblauchbutter geschwenkte Garnelen. Als zweiten Gang wählte er Lammrücken mit Kartoffel-Lauch-Talern und mediterranem Gemüse. Zum Hauptgang bestellten sie eine Flasche Wein.

Als sie die Vorspeise genossen, erkundigte sich Lanoux nach dem Befinden von Lagarde und Odette. Er hatte sie auf einem Sektempfang in Rouen kennengelernt.

»Uns geht es gut«, sagte Lagarde. »Odette hat, wie immer, viel Arbeit in ihrem Restaurant.« Seine Freundin war die Eigentümerin eines Feinschmeckerlokals namens Mirabelle, das westlich von Barfleur in einem Apfelgarten lag. »Wenn sie Zeit hat, fahren wir oft mit meinem Boot über das Meer zu einer der wunderschönen Buchten. Am letzten Septemberwochenende wollen wir nach Barcelona fliegen und uns ein paar schöne Tage machen. Wir freuen uns schon sehr.«

»Da war ich vor fünf Jahren zusammen mit meiner Frau und meinen Töchtern. Eine tolle Stadt. Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf, sehen Sie sich den Park Güell, Las Ramblas und das Gotische Viertel an.« Er lachte. »Auf einem Berg über der Stadt befindet sich ein Freizeitpark, aus dem ich meine kleine Tochter kaum mehr herauslocken konnte.«

Lagarde wusste, dass der Polizeipräsident zwei Töchter hatte. Marie, die noch die Grundschule besuchte, und Cécile. Sie musste inzwischen siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein.

Der Kellner schenkte zum Hauptgericht ein wenig Rotwein in ein Glas. Lanoux, als Gastgeber, probierte und war sichtlich beeindruckt. »Großartig. Aromen von Cassis und Veilchen. Wie Seide.« Nun wurden die Gläser gefüllt, und die Männer stießen an.

»Wirklich ein guter Tropfen«, meinte Lagarde. »Danke für die Einladung.«

»Es ist mir ein Vergnügen.« Er sah Lagarde an. »Ich unterhalte mich gerne mit Ihnen, und ich habe ein Anliegen. Ein persönliches Anliegen.«

»Was kann ich für Sie tun, Frank?«

»Meine Tochter Cécile hat diesen Mai Baccalauréat gemacht, mit ausgezeichnetem Erfolg. Meine Frau und ich sind sehr stolz auf sie. Aufgrund der guten Noten hat sie eine Einladung für die Sommerakademie der Normandie bekommen. Dort finden Workshops, Seminare, kulturelle Veranstaltungen und Ausflüge statt. Die jungen Leute sollen sich kennenlernen, sich austauschen und diskutieren. Ein weiteres Ziel ist, sie bei der beruflichen Orientierung zu unterstützen. Cécile ist noch unschlüssig, ob sie Biologie oder Mathematik studieren soll. Das Treffen findet vom 13. bis zum 30. September in Bricquebec statt, ganz schön weit weg von Rouen, wo meine Familie und ich leben, aber das wissen Sie ja. Sie wohnen in Barfleur, also erheblich näher. Deshalb meine Bitte: Darf ich Cécile Ihre Handynummer geben, für den Fall, dass sie einen Ansprechpartner braucht, der sie auch kurzfristig in diesem Sommercamp besuchen und ihr helfen könnte, nur für den Notfall.« Er lächelte. »Meine Frau würde mich jetzt Glucke nennen. Wahrscheinschlich zu Recht. Aber mich würde es beruhigen. Höchstwahrscheinlich wird Cécile Sie sowieso nicht anrufen. Sie ist eine selbständige junge Frau. Außerdem gibt es in dem Camp natürlich Betreuer, die sich um die jungen Leute kümmern.«

»Das mache ich gerne. Wenn Cécile meine Hilfe braucht, soll sie mich einfach anrufen.« Er bat den Kellner um einen Stift und ein Stück Papier, schrieb seine Handynummer auf und reichte die Notiz Lanoux. »Ich kann sie auch gerne mal in Bricquebec besuchen und einen Kaffee mit ihr trinken.«

»Danke, Philippe.«

»De rien. Wie schmeckt das Lamm?«

»Ausgezeichnet. Und Ihre Ente?«

»Hervorragend.«

Als sie die Rohmilchkäseplatte vor sich stehen hatten, räusperte sich Lanoux. »Jetzt möchte ich zu dem eigentlichen Grund unseres Gespräches kommen.«

Lagarde war erstaunt. Er hatte angenommen, dass der Grund für das Treffen Cécile war, auf die er ein Auge haben sollte.

Der Polizeipräsident fuhr fort. »Bei der letzten Besprechung der Polizeipräsidenten im Innenministerium in Paris ging es unter anderem um den Mangel an geeignetem Personal, vor allem bei schwierigen Kriminalfällen. Sie haben uns ja schon ein paarmal geholfen, immer sehr erfolgreich. Ich denke nur an die Geschichte diesen Sommer am Lac de Sainte-Croix. Ohne Sie und Ihre Freunde wären die Verbrechen vermutlich nie aufgeklärt worden.« Er grinste breit. »Der dortige Polizeichef ist sogar befördert worden.«

»Ich habe es gehört.«

»Das hätte ich mir denken können. Nun, jetzt haben wir uns überlegt, dass wir gerne einen offiziellen Status für Sie einrichten möchten, als Berater, beziehungsweise als Profiler bei Kapitalverbrechen. Weil Sie im Ruhestand sind, könnten Sie kurzfristig überall eingesetzt werden. Es wären höchstens zwei oder drei Fälle im Jahr, wenn die zuständigen Ermittler nicht mehr weiterkommen und Unterstützung brauchen. Ihr Aufgabenbereich und Ihre Befugnisse werden schriftlich festgelegt, und Sie werden gut honoriert. Sehr gut sogar.«

Er lächelte ihn an. »Und Sie bekommen einen neuen Dienstausweis, dann müssen Sie nicht immer auf Ihre überholten Dokumente zurückgreifen und sich durchmogeln.« Aufmerksam sah er Lagarde an. »Was halten Sie von meinem Vorschlag?«

»Das ist eine interessante Idee. Die Aufgabe würde mich durchaus reizen.«

»Sie müssen sich ja nicht gleich entscheiden. Wenn Sie eine Nacht darüber schlafen und sich vielleicht mit Ihrer Lebensgefährtin besprechen wollen? Es eilt nicht so. Aktuell steht auch nichts an.«

Lagarde überlegte kurz. »Ich rufe Sie morgen an. Einverstanden?«

»Einverstanden. Danke! Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie diese Aufgabe übernehmen würden. Möchten Sie einen Nachtisch?«

»Warum nicht? Runden wir das Mahl ab.«

Lanoux bat den Kellner um die Dessertkarte. Sie entschieden sich für Îles flottantes, schwimmende Inseln. Dabei handelte es sich um süße, mit Mandelplättchen bestreute Klößchen in Vanillesauce.

Beim Mokka bot Lanoux ihm das Du an, worüber der Kommissar sich freute. Der Mann war ihm sympathisch. Außerdem schätzte er dessen hohe Kompetenz und seine Fairness.

Nachdem der Polizeipräsident die Rechnung bezahlt und ein großzügiges Trinkgeld in das Ebenholzkästchen gelegt hatte, verabschiedeten sich die Männer und machten sich auf den Heimweg.

Als Lagarde Valognes verließ, sah er auf die Leuchtziffern der Uhr am Armaturenbrett. Es war halb elf. Kurz überlegte er, ob er noch auf ein Glas Wein bei Odette vorbeischauen sollte. Er wollte gerne mit ihr über den Vorschlag von Lanoux sprechen. Wahrscheinlich war sie noch im Restaurant oder in der Küche beschäftigt. Das Restaurant schloss normalerweise gegen dreiundzwanzig Uhr, außer es galt eine Feier auszurichten. In einer halben Stunde konnte er dort sein.

Entschlossen trat er auf das Gaspedal. Als er Barfleur erreichte, waren nur noch wenige Fahrzeuge um diese Zeit unterwegs. Nachdem er einen dichten Buchenwald hinter sich gelassen hatte, verließ er die Nationalstraße und hielt sich rechts. Er passierte einen Campingplatz, der noch hell erleuchtet war. Camper saßen vor ihren Wohnmobilen und Zelten und genossen bei einem Glas Wein die laue Septemberbrise. Er fuhr auf einem schmalen Weg noch einige hundert Meter, bis er schließlich den Parkplatz des Mirabelle erreichte, wo er sein Auto abstellte und über einen gepflasterten Fußweg zum Restaurant lief. Auf der linken Seite erstreckte sich ein flaches Gebäude, das als Lagerraum genutzt wurde. Rechter Hand erhob sich das einstöckige Hauptgebäude, in dem Odette wohnte. Im halbmondförmigen Fenster ihres Schlafzimmers spiegelte sich der runde Mond. An der Mauer befand sich ein Spalier, um das sich rote Nachtnelken rankten. Sie verbreiteten einen süßen Duft. Der Weg, beleuchtet von weißen Glaskugeln in den Blumenbeeten, führte direkt auf die Terrasse. Auf den Pfosten eines Lattenzaunes, hinter dem sich ein Apfelgarten ausdehnte, saßen winzige funkelnde Laternen. Die Sitzgruppen waren bereits verlassen, und die schwere alte Eichenholztür des Restaurants stand weit offen.

Odette de Crézy stand an einem Tisch und unterhielt sich mit einem Paar, das noch einen Schlummertrunk zu sich nahm. Ihr weißes, weich fallendes Baumwollkleid reichte ihr bis zu den Waden. Um die Hüfte hatte sie einen goldenen Gürtel geschlungen. Die dunklen Haare waren locker hochgesteckt und ließen die Ohren frei, an denen winzige goldene Kreolen funkelten. Das schmale Gesicht mit den großen Augen und der feinen Nase war kaum geschminkt, nur die Lippen glänzten korallenrot. Lagarde fand sie wunderschön.

Als die Gäste ausgetrunken hatten, begleitete Odette sie bis zur Tür und verabschiedete sich mit freundlichen Worten von ihnen. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit ihrem Lebensgefährten zu und strahlte ihn an. »Bonsoir, Philippe. Schön, dass du noch kommst.«

Sie tauschten Wangenküsschen. »Wie war das Essen mit Lanoux?«

»Das Essen war gut.«

»Besser als bei mir?«

Er grinste. »Natürlich nicht. Dem Koch fehlt es irgendwie ein wenig an Inspiration.«

Sie musterte ihn misstrauisch. »Willst du dich über mich lustig machen?«

»Das würde mir niemals einfallen, chérie.«

»Dann ist es ja gut. Ich mache jetzt Feierabend, die Küche ist schon geschlossen. Jacques ist vorhin nach Hause gegangen, weil er ein Kratzen im Hals verspürte.« Jacques war ihr sensibler, mimosenhafter Chefkoch. »Ziehen wir uns zurück. Ich muss nur noch das Hauptportal abschließen.«

Gemeinsam überquerten sie die Terrasse und liefen über eine Außentreppe in den ersten Stock des Haupthauses. »Wollen wir noch ein Glas Champagner zusammen trinken?«, fragte sie.

»Sehr gerne.«

»Geh doch schon ins Schlafzimmer vor. Ich komme gleich.«

Kurz darauf kehrte sie mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Kristallflöten und eine Flasche Veuve Clicquot, ihr Lieblingschampagner, standen. Gekonnt entfernte sie den Korken und schenkte ein. Sie setzten sich auf das Bett und stießen an.

»Auf Barcelona!«, sagte er.

»Auf Barcelona!«

»Wie war dein Abend?«, erkundigte er sich.

»Es war viel los, alle Tische auf der Terrasse waren besetzt und im Speiseraum auch einige.«

»Schön. Die Leute mögen dein Restaurant.«

»Und wie war es bei dir? Was wollte Lanoux?«

»Er will, dass ich bei komplexen Kapitalverbrechen offiziell als Berater hinzugezogen werden kann, wenn die Ermittlungen festgefahren sind. Im Prinzip in ganz Frankreich.«

»Das hört sich spannend an. Ich bin mir sicher, dass dich diese Aufgabe reizt. Hast du zugesagt?«

»Ich wollte erst mit dir sprechen.«

»Warum sollte ich etwas dagegen haben? Du liebst knifflige Kriminalfälle. Wenn du einen Einsatz auf Martinique hast, will ich aber mit.«

Er lachte. »Das ist eine gute Idee. Dann rufe ich ihn morgen an und sage zu.«

»In Ordnung.« Sie stellte ihr Glas ab und kuschelte sich in seinen Arm. »Ich bin müde.« Wenig später war sie eingeschlafen. Er schaltete das Licht aus und lauschte lächelnd ihren ruhigen Atemzügen.

Donnerstag, 08. September 2016 Austern aus Saint-Vaast

Am späten Nachmittag kehrte Nathalie Baye mit Toni, ihrem neuen Freund, von der Spritztour zurück. Der Ausflug war schön gewesen, und sie hatten viel Spaß gehabt. Beide waren von dem Fischerort Barfleur begeistert. Sie hatten die Stufen des Leuchtturms von Gatteville erklommen und die phantastische Aussicht bewundert. Natürlich hatten sie auch die Muscheln mit den goldenen Schalen probiert. Auf die kleine Insel Tatihou waren sie mit einem Amphibienboot gefahren, und in einer bezaubernden Brasserie am Hafen von Saint-Vaast-la-Hougue hatte Toni ein Dutzend Austern bestellt, für die der Fischerort berühmt war. Dazu hatten sie einen gekühlten Muscadet aus dem Loire-Tal getrunken. Seit diesem kulinarischen Experiment war Nathalie ein Fan dieser Meeresfrüchte.

Auf dem Rückweg hatte Toni vorgeschlagen, als krönenden Abschluss ihrer Tour das Cap de la Hague zu umrunden. Die Studentin war fasziniert von der wilden Halbinsel im Nordwesten des Cotentin. Das Landschaftsbild war geprägt von zerklüfteten Felsen, heckenumsäumten Weiden, Heidekraut und Stechginster. In den Weilern trotzten geduckte Steinhäuser aus Granit den Winterstürmen. Die schmalen gewundenen Straßen verliefen mancherorts unter einem Baldachin aus Blättern.

In einem kleinen Café oberhalb der Klippen von Jobourg machten sie eine Pause und aßen hauchdünne, mit Zucker bestreute Crêpes. Dort erzählte Toni zum ersten Mal ein wenig über sich. Er war zweiunddreißig Jahre alt und stammte aus Bamberg, einer Kleinstadt in Bayern, von der Nathalie noch nie gehört hatte. Dort hatte er Abitur gemacht und anschließend Deutsch, Französisch sowie Sport studiert. Seit sechs Jahren war er Lehrer. Da er Frankreich liebte, verbrachte er seit einigen Jahren die Sommerferien immer dort, vorzugsweise an der rauen Nordküste.

Nathalie erzählte von dem einfachen, beschaulichen Leben in der Auvergne, das sie manchmal schmerzlich vermisste.

Als Toni vor Nathalies Haus hielt, stellte er den Motor aus und sah sie mit verliebten Augen an. »Ich möchte dich gerne wiedersehen.«

»Ich dich auch.« Sie fand den Mann interessant, attraktiv und charmant. »Wir könnten morgen nach Guernsey übersetzen, eine Küstenwanderung unternehmen und anschließend Fish and Chips essen.«

»Das hört sich gut an.« Toni freute sich. »Ich hole dich morgen früh um neun Uhr ab. Einverstanden?«

»Ja. Bis morgen.« Sie wollte aussteigen.

»Darf ich dir einen Abschiedskuss geben?«, fragte er.

Sie nickte. Er strich ihr zärtlich eine rote Locke aus der Stirn und küsste sie auf den Mund. »Bis morgen.« Mit ausdrucksloser Miene sah er ihr nach, bis sie im Haus verschwunden war.

Nathalie sperrte die Haustür auf und stellte ihre Reisetasche ab. »Anouk, ich bin wieder da.« Sie bekam keine Antwort. Die Fröhlichkeit verschwand aus ihrem Gesicht. Warum antwortete sie denn nicht? Warum kam Filou ihr nicht entgegengesprungen und kläffte vor Freude? Ihr fiel Anouks Auto ein. Hatte es in der Zufahrt gestanden? In Gedanken war sie noch bei Toni gewesen, sie hatte nicht darauf geachtet.

Sie lief aus dem Haus und um die Ecke. Der kleine orange Renault stand nicht auf seinem Platz. Vielleicht hatte ihre Freundin ihn in die Werkstatt gebracht und war zu Fuß heimgegangen. Das Auto war schon ziemlich alt und machte manchmal Zicken. Eilig ging sie zurück ins Haus und rannte über die Treppe in den ersten Stock. Anouks Zimmer war leer. Nichts schien sich verändert zu haben. Im Bad war sie auch nicht, und es gab keinen Hinweis, dass sie während Nathalies Abwesenheit hier gewesen war. Sie lief wieder hinunter und sah in der Küche und im Salon nach. Da war niemand. Zurück in der Küche inspizierte sie den Brotkasten, in dem ein halbes Baguette lag, das inzwischen hart geworden war. Die Milch im Kühlschrank roch sauer. Sie schüttete die Flüssigkeit in den Ausguss. In einem Fach lagen ein in Folie gewickelter Camembert und verpackter Schinken. Diese Lebensmittel hatte sie vor ein paar Tagen gekauft. Alles deutete darauf hin, dass Anouk die ganze Zeit nicht hier gewesen war. Sie hatte auch nicht zurückgerufen.

Nathalie begann sich Sorgen zu machen. Anouk war noch nie so lange weggewesen, ohne sich wenigstens per SMS oder WhatsApp zu melden. Sie wühlte in der Reisetasche, holte ihr Smartphone heraus und versuchte, sie anzurufen. Offensichtlich war der Akku von Anouks Handy leer. Nervös setzte Nathalie Kaffee auf. Während er in die Glaskanne tröpfelte und ein aromatischer Duft durch die Küche zog, trommelte sie unbewusst mit den Fingern auf die Arbeitsfläche. Sie schenkte sich eine Tasse ein, nahm sie mit auf die Terrasse und setzte sich. Nachdenklich starrte sie auf den heranrollenden Ozean, ohne ihn wahrzunehmen. In ihrem Kopf nahm ein schrecklicher Gedanke Gestalt an. Was, wenn ihr etwas zugestoßen war? Wenn sie einen Unfall gehabt hatte? Anouk schwamm manchmal trotz aller Warnungen weit ins Meer hinaus, obwohl die Strömungen vor der Küste tückisch und die Unterwasserstrudel gefährlich waren. Ihre Freundin fuhr dort sogar Kajak. Wenn sie verunglückt wäre, hätte Filou doch Hilfe geholt, oder? Sie beschloss, die Gendarmerie von Barneville anzurufen. Dort wurde sie mit einem Polizisten verbunden, der sich ihr Anliegen geduldig anhörte und ihre Frage beantwortete. Es hatte in den letzten Tagen keinen gravierenden Unfall gegeben, weder im Straßenverkehr noch am Meer. Von einer Anouk Coudrin hatte er noch nie etwas gehört. Er riet ihr, am nächsten Morgen persönlich und mit ihrem Personalausweis auf die Wache zu kommen und eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Auch ein Foto von Anouk sollte sie mitbringen. Am Ende des Gesprächs versuchte der hilfsbereite Mann, sie zu trösten. Ihre Freundin werde bestimmt bis dahin zurückkommen. In diesem Fall solle sie ihn bitte anrufen und ihn informieren. Nathalie bedankte sich, und sie beendeten das Gespräch.

Als sie Schritte herannahen hörte, blickte sie hoffnungsvoll auf, aber es war nur ein Wanderer, der sie freundlich grüßte. Nathalie fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare und begann eine Locke um ihren Finger zu wickeln. Das machte sie immer, wenn sie extrem nervös war. Hoffentlich hatte der nette Gendarm recht, und Anouk würde bald zurückkommen. Vielleicht hatte sie unterwegs eine Autopanne gehabt? Sie wusste jedoch genau, dass sie sich etwas vormachte. Anouk hätte sich gemeldet. Schließlich waren sie nicht nur eine Wohngemeinschaft, sondern richtige Freundinnen. Ein Gefühl der Panik begann sich in ihr auszubreiten. Als eine Möwe hoch über ihrem Kopf kreischte, fuhr sie heftig zusammen. Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte, aber ihr fiel nichts ein. Sie würde einfach hier sitzen bleiben und auf Anouk warten.

Freitag, 09. September 2016 Der blaue Hummer

Am nächsten Morgen zeigte sich das Wetter von seiner schönsten Seite. Am Himmel schwebten vereinzelte Wolken wie Wattebällchen, und vom Meer her wehte eine leichte Brise. Die ersten Sonnenstrahlen erwärmten die Luft. In den letzten Stunden hatte sich das Meer zurückgezogen, jetzt war Ebbe, und das Watt schien sich bis zum Horizont zu erstrecken. Schwarze Felsen glänzten im Sonnenlicht, grüne und braune Algenteppiche breiteten sich aus, Priele durchzogen die Fläche, und tiefe Wasserlöcher waren zurückgeblieben. Es herrschten ideale Bedingungen für das Pêche à Pied, das Wattfischen.

Catherine Lamy saß an einem Bistrotisch unter der blau-weiß gestreiften Markise des Café Picasso und frühstückte. Sie tunkte ein Croissant in ihren Milchkaffee und genoss das buttrige Gebäck. Das Lokal lag direkt am Hafen von Barneville-Carteret und war gut besucht. Einige Gäste waren in die Tageszeitung Ouest-France vertieft, andere unterhielten sich und lachten hin und wieder. Die Fischerboote lagen im Schlick, Einkieler waren auf die Seite gekippt. Die fünf Meter hohe Kaimauer war mit Tang überzogen, verwitterte Holzleitern führten zur Promenade. Dicke Eisenringe waren in die feuchten Quader eingelassen.

Catherine war eine attraktive junge Frau mit einem schmalen Gesicht und blonden Strähnchen in den braunen Haaren, die sie hochgesteckt hatte. Sie trug Jeans, ein Fischerhemd und Gummistiefel. Vor einem halben Jahr hatte sie das Studium der Meeresbiologie abgeschlossen. Weil die Stellen rar waren, hatte sie sich auf Ausschreibungen in ganz Europa beworben und war noch nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden. Ihr Vater, Besitzer eines gut gehenden Sägewerks in Les Pieux, hatte ihr angeboten, dort im Büro zu arbeiten, sie könnte die Buchhaltung machen. Empört hatte sie abgelehnt. Sie konnte es sich überhaupt nicht vorstellen, den ganzen Tag in einem Büro zu verbringen. Sie wollte im Freien arbeiten, am Meer, den Wind spüren und den archaischen Duft einatmen.

Sie hatte fast alle Orte an der Westküste des Cotentin besucht und mit den Bürgermeistern gesprochen. Schließlich war es ihr gelungen, das Oberhaupt von Barneville-Carteret von ihrer Idee zu überzeugen. Seitdem bot sie Führungen durch das Watt für Touristen, aber auch für Schulklassen an und erklärte ihnen das Pêche à Pied. Nach den Wanderungen lud sie die Teilnehmer in das Haus des Gastes ein. Dort zeigte sie ihnen, wie die Meeresfrüchte und die Algen zubereitet wurden. Als Höhepunkt fand immer ein gemeinsames Essen statt. Dieses Angebot wurde mit großer Begeisterung angenommen.

Catherine sah auf ihre Armbanduhr. Es war acht Uhr fünfzig. In zehn Minuten begann eine Führung. Der Treffpunkt war der Strand von Potinière, die jeweilige Uhrzeit richtete sich natürlich nach den Gezeiten und variierte daher ständig. Ein Plan hing im Tourismusbüro. Die Meeresbiologin bezahlte und machte sich auf den Weg.

Neben der Rettungsstation am Strand warteten bereits sieben Personen. Ein Paar mit zwei Kindern und ein älterer Herr in Begleitung von zwei Damen. Sie trugen bequeme Freizeitkleidung, Plastikbadeschuhe oder Gummistiefel. Alle hatten die erforderliche Ausrüstung dabei: einen Eimer, eine Schaufel, eine kleine Harke und einen Kescher. Catherine freute sich immer, wenn Kinder dabei waren. Ihre Begeisterungsfähigkeit war ansteckend, und man hatte viel Spaß mit ihnen. Catherine begrüßte die Gruppe und stellte sich vor. Bei der Familie handelte es sich um Touristen aus Holland. Der ältere Herr stellte sich als Maxwell Briggs aus England vor. Begleitet wurde er von seiner Frau Maude und deren Schwester Liza.

Die Meeresbiologin erklärte der gutgelaunten Gruppe den geplanten Ablauf und machte sie auf die malerische Kulisse aufmerksam. Auf einer Landzunge erhoben sich Seebadvillen und Fachwerkhäuser. Nördlich davon erstreckte sich ein breites Dünenband, bewachsen mit Strandhafer, auf dem ein teilweise verfallener, düsterer Turm thronte. Schließlich liefen sie gemeinsam auf die Wattfläche. Catherine erzählte anschaulich von den Wattbewohnern und ihren Besonderheiten. Der blauschwarze Atlantikhummer zum Beispiel war ein Einzelgänger. Er verbarg sich zwischen Felsriffen und in Bodenspalten.

An einer sandigen, von Algen umgebenen Stelle begann sie mit der Schaufel zu graben. Bald wurde sie fündig. Fünf kleine, sich windende Meeraale mit weißen Bäuchen landeten in ihrem Eimer. Sie machte die Gruppe auf kleine Löcher im Sand aufmerksam und benutzte ihre Harke. Eine Ansammlung von Teppichmuscheln kam zum Vorschein. Die Zuschauer waren restlos begeistert. An einem zerklüfteten Felsen, der wie ein Wal aus dem Schlick ragte, tastete sie mit der Hand vorsichtig die Spalten und Nischen ab und fand auf diese Weise zwei Taschenkrebse sowie eine Languste und holte sie heraus. Sie wies die Gruppe auf Algen hin, die essbar waren. Später, beim Menü im Haus des Gastes, würden sie ein aromatisches Bett für den Fisch abgeben. Nun durften die Teilnehmer selbst ihr Glück versuchen. Sie sollten aber in der Nähe bleiben, einen Bogen um tiefe Wasserstellen machen und sich mit Fragen an sie wenden. Wichtig war es auch, sich an die offiziellen Regeln des Pêche à Pied zu halten. Die Anzahl der gesammelten Meeresfrüchte war limitiert, man musste auf die Mindestgröße achten, außerdem war es erforderlich, die Jahreszeiten zu berücksichtigen.

Die beiden Kinder rannten zu einem flachen Wasserloch, in dem sie eine Scholle und drei Seezungen entdeckten. Mit ihren Keschern versuchten sie, die Fische zu fangen. Ihre Eltern sahen ihnen amüsiert zu. Maxwell Briggs und seine zwei Begleiterinnen waren zu einer Ansammlung von kleineren Felsen gegangen und suchten dort im Sand nach Miesmuscheln. Catherine hatte sie auf die Stelle hingewiesen.

Liza entfernte sich einige Meter und näherte sich einem Wasserlauf. Wenn man Glück hatte, fand man dort Meerspinnen oder sogar Hummer. Behutsam begann sie zu harken. Plötzlich erschien in der Mulde aus Sandkörnern eine orangerote Meerspinne mit dünnen Beinen und gewaltigen Scheren. Stolz betrachtete Liza ihren Fund. Sie richtete sich auf und machte ihrer Schwester und deren Mann ein Zeichen, dass sie zu ihr kommen sollten. Alleine wollte sie das archaische Krustentier mit den Spinnenbeinen nicht aus dem Loch holen. Dabei fiel ihr Blick auf den flachen Wasserlauf, der die Sonne reflektierte. Sie blinzelte verwirrt. Irgendetwas befand sich in der breiten Rinne, etwas Großes. War ein Fisch während der einsetzenden Ebbe dort zurückgeblieben?

Sie ging näher an den Priel heran und schaute genauer hin. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Ihr Gesicht verlor jede Farbe, die Hände begannen zu zittern. Dicht unter der Wasseroberfläche lag ein Mensch. Eine Frau. Sie trug ein blaues Kleid. Die Füße waren nackt, die bloßen Arme ausgestreckt, als wäre sie gekreuzigt worden. Das kurze helle Haar trieb wie ein Kranz um ihren Kopf. An einem Ohr funkelte ein goldener Ring. Am schlimmsten waren die Augen. Sie waren nicht mehr da. Dunkle Höhlungen starrten Liza an. Sie begann zu schreien. Die Entsetzenslaute hallten über die weite Fläche.

Das holländische Paar blickte irritiert in ihre Richtung. Maxwell und Maude rannten schwerfällig über den nassen Sand zu ihr, aber Catherine war schneller und erreichte sie zuerst.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie erschrocken. Liza hörte auf zu schreien und rang nach Worten.

»Da!« Sie zeigte mit der Hand auf die Frau, das Gesicht abgewandt. Entsetzt blickten die anderen auf den schrecklichen Fund. Der Mann fand als Erstes die Sprache wieder.

»Ich bin Arzt.« Er bestätigte, was offensichtlich war. »Sie ist tot«, sagte er. »Wir müssen die Gendarmerie benachrichtigen.«

»Das mache ich«, erklärte Catherine. Sie holte ihr Handy aus der Hosentasche, das sie, seit sie die Führungen machte, immer für den Notfall dabeihatte. Die Nummer war besetzt. Sie versuchte es erneut. Noch immer kam kein Freizeichen. Catherine beschloss, zur Wache zu laufen. Sie befand sich im Zentrum des Ortes und war nur einige hundert Meter entfernt.

»Bleiben Sie bitte hier bei der Frau. Ich beeile mich und komme so schnell wie möglich mit einem Gendarmen zurück«, bat sie die Engländer. Mister Briggs nickte.

Rasch sah sie sich um. Zum Glück waren andere Pêcheurs à Pied ein ganzes Stück weg. Auf dem Weg zum Ufer redete sie kurz mit dem holländischen Ehepaar. Die Kinder sollten die Leiche auf gar keinen Fall zu Gesicht bekommen. Schließlich rannte sie los. Die Familie folgte ihr langsam.

Nathalie Baye saß im Eingangsbereich der Gendarmerie von Barneville-Carteret am Chemin Féron und wartete. Die nette, hochschwangere Polizistin, die hinter dem Empfangstresen stand und jetzt bestimmt schon seit fünf Minuten telefonierte, hatte sie begrüßt und gebeten, noch einige Minuten zu warten. Dann hätte der Chef der Gendarmerie, Monsieur Dillard, Zeit für sie. Hinter dem Tresen saß ein junger Gendarm an einem Schreibtisch und blickte konzentriert auf den Computerbildschirm. Unruhig blätterte sie in der Tageszeitung, um sich abzulenken. Es funktionierte nicht. Sie hatte den ganzen Abend auf Anouk gewartet und immer wieder erfolglos versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Irgendwann spät war sie ins Bett gegangen und hatte vor Sorge kaum schlafen können. Sie war von Alpträumen verfolgt worden und immer wieder hochgeschreckt. Angespannt hatte sie auf jedes Geräusch geachtet und sich danach gesehnt, die Schritte ihrer Freundin auf der Treppe zu hören. Vergeblich, sie war nicht gekommen. In den frühen Morgenstunden musste sie in einen erschöpften Tiefschlaf gefallen sein und war kurz vor acht Uhr aufgewacht. Sie hatte keinen Bissen hinuntergebracht und nur eine Tasse Kaffee getrunken. Dabei war ihr eingefallen, dass sie die Verabredung mit Toni verschieben musste.

Plötzlich kam eine Frau in die Wache gestürmt. Sie sprach kurz mit der Polizistin, die inzwischen ihr Telefonat beendet hatte, dann betraten sie gemeinsam das Büro von Dillard, nachdem seine Kollegin kurz geklopft hatte. In der Eile vergaßen sie, die Tür ganz zu schließen. Sie stand einen winzigen Spaltbreit offen, und Nathalie hörte das Gespräch mit an.

Eine Wasserleiche war gefunden worden. Eine junge Frau in einem Wasserloch im Watt. Dillard sollte sofort mitkommen und über weitere Schritte entscheiden. Nathalie wurde schwarz vor Augen, sie verlor die Kontrolle über ihre Beine, die zu zittern anfingen. Das war nicht Anouk. Nein, nein. Das konnte nicht sein. Der Gendarm, seine Kollegin und die Frau mit dem Fischerpullover eilten an ihr vorbei und verließen die Wache.

»Ein Notfall, entschuldigen Sie bitte«, rief die Polizistin ihr zu. »Der Kollege Lavaine wird sich um Ihr Anliegen kümmern.«

Kurzentschlossen folgte Nathalie ihnen. Noch ehe der Gendarm Luc Lavaine sich von seiner spannenden Computerrecherche losgerissen hatte, war sie verschwunden. Verblüfft blickte er auf den leeren Stuhl.

Nathalies Körper gehorchte ihr wieder, und sie bewegte sich wie ein Roboter. Sie wollte die tote Frau unbedingt sehen. Sie musste sich Gewissheit verschaffen. Die Gendarmen und die Frau mit dem Fischerpullover stiegen in ein weiß-blaues Polizeifahrzeug. Dillard übernahm das Steuer und fuhr die kurze Strecke auf der Hauptstraße, vorbei an der Kirche und dem Fischmarkt, bis zu einem Strandparkplatz. Dort stellten sie den Wagen ab und nahmen den Fußweg, der zum Strand von Potinière führte.

Nathalie war gerannt und erreichte den Platz kurz nach ihnen. Der Plankensteg verlief über eine flache Düne. Vom höchsten Punkt aus konnte Nathalie sehen, wie die drei Personen eilig die Wattfläche überquerten und sich einer Ansammlung von schwarzen Felsen näherten. Dort standen zwei Frauen und ein Mann und schienen auf sie zu warten. Nathalie lief unbeirrt hinterher. Schließlich erreichte auch sie das Gestein. Die Gruppe stand am Rand eines Wasserlaufs und blickte mit ernsten Mienen auf etwas, das Nathalie nicht sehen konnte. Entschlossen trat sie vor.

Anouk trieb unter der klaren Oberfläche. Durch das Wasser wirkte ihr lebloser Körper ein wenig verschwommen. Ihre Haare sahen sonderbar aus, und als sie die leeren Höhlen sah, in denen bisher meergrüne Augen geleuchtet hatten, brach sie schluchzend zusammen.

Am Fundort der toten Frau telefonierte Dillard mit der Kripo in Cherbourg und informierte die Kollegen über den Leichenfund. Wenn die Todesursache eines Menschen unklar war, musste immer die Kriminalpolizei informiert werden. Sie versprachen, so schnell wie möglich zu kommen. Seine Kollegin holte Absperrband aus dem Dienstfahrzeug, und gemeinsam sicherten sie den Fundort, so gut das im Wattenmeer möglich war. Neugierige Pêcheurs à Pied schickten sie weg. Maude und Liza entfernten sich mit Einverständnis von Dillard ebenfalls. Sie wollten ihr Wohnmobil aufsuchen und sich nach der Aufregung ein wenig ausruhen.

Maxwell Briggs blieb und kümmerte sich um Nathalie. Sie hatte sich geweigert, ihre Freundin zu verlassen. Jetzt kauerte sie auf einem flachen Felsen. Der Engländer saß neben ihr und redete beruhigend auf sie ein. Er hatte fürsorglich eine Jacke um ihre Schultern gelegt und ihr eine Flasche Wasser zu trinken gegeben. Ab und zu nahm sie auf seine Bitte hin einen winzigen Schluck. Sie sprach kein Wort mehr und wirkte apathisch. Ihr Gesicht war wachsbleich. Eigentlich hatte er sie ins Krankenhaus bringen wollen. Die junge Frau stand unter Schock und musste dringend medizinisch versorgt werden, doch mit diesem Vorschlag war sie nicht einverstanden gewesen. Sie wollte unbedingt auf die Kripo warten und mit den Beamten sprechen. Nach reiflicher Überlegung ließ er sie gewähren. Ihr Puls hatte sich ein bisschen beruhigt. Wenn er sie zwingen würde, ihn in eine Klinik zu begleiten, würde sie sich noch mehr aufregen. Er hoffte, dass die Polizisten bald eintrafen.

Nach einer Dreiviertelstunde fuhr ein Polizeiwagen auf die Promenade und parkte dort. Ihm folgte ein Kleinbus und schließlich ein Leichenwagen. Dillard hatte sich aufgemacht, um die Kollegen abzuholen und zum Wassergraben zu führen. Bald darauf kam er mit einem großen hageren Mann zurück, der sich als Hauptkommissar Cleroc vorstellte. Er trug einen blauen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte. Die Hosenbeine steckten in Gummistiefeln, und seine gepflegten graumelierten Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. In seiner Begleitung befand sich eine Frau. Briggs schätzte sie auf Anfang, Mitte vierzig. Sie war auffallend klein und korpulent. Die magentafarbenen Haare trug sie kurzgeschnitten. Sie umrahmten ein volles Gesicht, aus dem helle Knopfaugen aufmerksam blickten. Ihnen schien nichts zu entgehen. Bekleidet war sie mit einem zitronengelben Kleid, das über den Knien endete, und mit schlammgrünen Gummistiefeln. Sie nickte kühl in die Runde und stellte sich nicht vor. Die Kippe ihrer Gitanes warf sie auf den Sand.

Bei der Frau handelte es sich um die Rechtsmedizinerin Dr. Dr. Delphine Moreau. In ihrem Fach galt sie als absolute Koryphäe. Sie war meistens in ihre komplizierte Gedankenwelt versunken und konnte äußerst gereizt reagieren, wenn man sie mit Banalitäten belästigte. Cleroc hatte sie in seinem Dienstwagen mitgenommen, da sie nicht gerne Auto fuhr. Überhaupt waren ihr alle profanen Tätigkeiten zuwider. Nach einigen Jahren der nicht immer einfachen Zusammenarbeit verstand Cleroc sich inzwischen gut mit ihr. Seit sie sich im Sommer in einen Professor aus Paris verliebt hatte, war sie auch nicht mehr so kratzbürstig.

Cleroc entdeckte auf dem Felsen Mister Briggs und Nathalie. Catherine hatte sich zu ihnen gesetzt und versuchte, mit der verstörten jungen Frau zu sprechen. Rasch lief er zu ihnen. »Gehen Sie bitte zurück ans Ufer«, forderte er sie auf. »Hier können Sie nicht bleiben.«

»Die junge Frau will unbedingt mit Ihnen sprechen«, erklärte der Engländer.

»Kennen Sie die Tote?«, fragte er sie.

Nathalie nickte.

»Gut, dann warten Sie bitte am Ufer auf uns. Wir müssen hier erst unsere Arbeit machen, haben Sie dafür bitte Verständnis.«

Briggs half Nathalie hoch und führte sie durch den Schlick. Catherine begleitete sie. Sie hatte sich bei ihr untergehakt und hielt ihre Hand. Am Strand setzten sie sich auf eine Bank und sahen dem Treiben im Watt zu.

Zwei Techniker von der Spurensicherung begannen auf ein Zeichen von Cleroc sofort damit, die Wasserleiche und den Fundort zu fotografieren. In solchen Situationen war es wichtig, die zu Tode gekommene Person so schnell wie möglich abzutransportieren. Schließlich stiegen sie in den Wasserlauf, bargen die Leiche und legten sie behutsam auf eine dafür vorgesehene Decke. Moreau betrachtete sie schweigend. Schließlich zog sie Gummihandschuhe über und ging in die Hocke. Vorsichtig tastete sie den Kopf und den Körper der Frau ab.

»Ich kann auf den ersten Blick keine gravierenden äußeren Verletzungen feststellen«, sagte sie. »Nur oberflächliche Abschürfungen und kleinere Prellungen. Wenn sie ertrunken ist, war sie nicht allzu lange im Wasser. Aus dem Körper weicht dann die Luft, und er sinkt. In einem weiteren Stadium entstehen Gase, und er treibt an die Wasseroberfläche zurück, der Körper wäre aufgedunsen. Das ist hier nicht der Fall. Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ich muss sie in meinem Institut untersuchen. Ich schlage vor, wir lassen sie jetzt dorthin bringen. Das Gelände ist frei zugänglich, ich will nicht, dass Neugierige sie anstarren.«

Cleroc nickte zustimmend. Die Polizeitechniker legten die tote Frau in einen schwarzen Kunststoffsack und trugen sie auf einer Bahre zur Promenade, wo der Leichenwagen wartete.

»Wer hat sie gefunden?«, fragte Cleroc den Chef der Gendarmerie.

»Eine Engländerin, Liza Wilkins. Sie nahm an einer Führung durch das Watt teil, dabei hat sie sie entdeckt.«

»Und wo ist die Dame jetzt?«

»Auf dem Campingplatz hinter den Dünen an der Rue de Mimosa. Ihr ging es nicht gut, und sie wollte sich ausruhen. Ihre Schwester hat sie begleitet, Maude Briggs. Sie ist die Frau von Monsieur Briggs, der sich um die verstörte junge Frau kümmert. Er ist Arzt.«

»Und wer ist die Frau in dem Fischerpullover?«

Jetzt klang die Stimme stolz. »Das ist unsere Meeresbiologin Catherine Lamy. Sie macht die Führungen durch die Wattlandschaft und erklärt den Touristen das Pêche à Pied. Es ist schier unglaublich, was sie alles über die Meeresbewohner weiß.«

»In Ordnung. Danke.« Mehr wollte er im Moment nicht wissen. »Wir brauchen die Personalien der Meeresbiologin, der jungen Frau und der englischen Touristen. Die Engländer dürfen vorläufig nicht abreisen. Vielleicht muss ich noch einmal mit ihnen sprechen.«

»Ich kümmere mich darum, Monsieur le Commissaire.«

»Gut. Dann sprechen wir jetzt mit der jungen Frau.«

Gemeinsam gingen sie zum Strand. Cleroc stellte sich vor und sprach sie freundlich an. »Wie heißen Sie bitte?«

»Nathalie Baye.« Ihre Stimme klang heiser.

»Wohnen Sie im Ort?«

»Etwas außerhalb von Barneville.«

»Wie kam es, dass Sie am Fundort waren?«

»Ich war auf der Polizeiwache und wollte meine Freundin als vermisst melden. Sie ist seit fünf Tagen verschwunden. Dann kam Catherine«, sie zeigte mit einer leichten Kopfbewegung auf die Meeresbiologin, die sie gebeten hatte, sie beim Vornamen zu nennen. »Sie hat von einer Wasserleiche gesprochen. Als die Gendarmen mit ihr auf das Watt liefen, bin ich ihnen einfach gefolgt. Ich wollte mir Gewissheit verschaffen, dass es nicht Anouk ist.«

Dillard setzte zu einer Erklärung an, aber Cleroc winkte ab. »Es ist schon gut.« Er wandte sich wieder der Frau zu. »Es war aber Anouk, nicht wahr?«

Sie nickte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Wie ist denn ihr Nachname?«

»Coudrin. Sie heißt Anouk Coudrin. Wir haben zusammen ein Haus gemietet und wohnen dort seit einem Jahr.«

»Danke, dass Sie auf uns gewartet haben. Sie wollen eine Aussage machen?«

Sie nickte, dann platzte es aus ihr heraus. »Das blaue Kleid … Anouk hat nie Kleider getragen, sie besaß überhaupt keines. Den goldenen Ohrring habe ich noch nie bei ihr gesehen.« Sie rang nach Luft und schluchzte. »Wo ist ihr Hund Filou? Und die Haare, was ist mit ihren Haaren passiert? Anouk trug sie schulterlang, jetzt sind sie kürzer. Was hat das alles zu bedeuten?«

Cleroc und Delphine warfen sich einen raschen Blick zu.

»Und die Augen, was ist mit ihren Augen passiert?« Ihr Körper bebte.